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Der Glücksdoktor.

Selbstädt ist ein kleines, weltentferntes Städtchen, das man schwerlich auf einer gewöhnlichen Karte von Deutschland finden dürfte: aber die Leute von Selbstädt sind wohlbekannt, denn sie haben sich über aller Herren Länder verbreitet.

Einst, als noch keine Eisenbahn nach Selbstädt führte, gab es große Aufregung in dem kleinen Ort. Sowohl in dem »Selbstädter Anzeiger«, wie auch an den Straßenecken fand sich folgende wunderbare Bekanntmachung von einem fremden Doktor: »Als Spezialist für Menschenwohl will ich drei Tage lang im Hotel »zum goldenen Engel« jedermann in meiner Sprechstunde unentgeltlich behandeln. Nur stelle ich die Bedingung, daß man mir offen und ehrlich seine Verhältnisse schildert, damit ich jedem meiner Patienten zum Glück verhelfen kann. Beim Fortgang mag jeder Besucher etwas in eine Büchse legen, deren Ertrag den Stadtarmen zu Gute kommen soll.«

Unter seinem Namen stand dann noch: »Glücksdoktor.«

»Da hört aber alles auf«, sagten manche Leute von Selbstädt, als sie die Anzeige lasen, »das ist doch sicher wieder so ein neumodischer Schwindel aus irgend einer großen Stadt, wo die Leute immer etwas neues erfinden. Briefe wollen sie durch einen hohlen Draht schicken, und Wagen machen sie, die ohne Pferde laufen sollen; aus solch einer Gegend wird auch dieser Herr Glücksdoktor herstammen!«

Ein anderer Spießbürger schob sich die Wollkappe auf das Hinterhaupt und sagte: »Jeder ist sich selbst der Nächste und seines eigenen Glückes Schmied; braucht sich doch wahrhaftig keiner um des anderen Glück zu kümmern!«

Unter den Menschen, die über die Anzeige sich am meisten wunderten, befand sich auch der alte jüdische Wucherer Levi Hirsch. Er las die Anzeige zweimal sorgfältig durch und murmelte vor sich hin: »Glück? Was kann er damit meinen, als wie man viel Geld verdienen kann? Sollte er haben gefunden ein ganz neues Mittelche, um e groß Geschäft zu machen? Schaden kann's nicht, wenn man hingeht und es probiert. Geld kosten tut's ja nicht, und das mit dem Beitrag in die Armenbüchse ist auch nicht schlimm! Hab' noch 'n alten Groschen, der so zerschnitten ist, daß sie ihn in keinem Laden nehmen, – hab' es schon zehnmal versucht, ihn anzubringen, und es hat ihn keiner gewollt.«

Richtig, wie in so vielen anderen Dingen, war der alte Levi Hirsch auch hier einmal wieder all' seinen Mitbürgern voraus. Er war der erste, der den Glücksdoktor in seiner Sprechstunde aufsuchte. Beim Eintreten ließ er seine listigen Augen schnell über die ganze Erscheinung des Doktors laufen, und als Geschäftsmann verstand er, ihn sofort zu taxieren.

Eine hohe, hagere Gestalt in einfacher, aber guter Toilette, blendend weiße Wäsche, einen dunkeln Vollbart und in dem sonst ernsten und festen, männlichen Gesicht ein Paar so freundliche Augen, als lachte ein frohes Kind aus diesen Fenstern der Seele hervor. Mit angenehmer Stimme fragte der Fremde: »Nun, sagen Sie mir, was führt Sie hierher? In welchem Punkte fehlt's Ihnen am Glück?«

Vertraulich lächelnd und mit vielsagendem Augenzwickern sprudelte der alte Jude hervor: »Herr Doktor, wir sein unter uns, was soll man sich denken vom Glück, wenn's nicht ist auf die Art?« – und er machte die Bewegung des Geldzählens – »Sie verstehen mir, Herr Doktor? Man will doch was verdienen bei die schlechten Zeiten, und es ist nicht wahr, was die Leute hier alle sagen, daß der alte Hirsch soll sein ein reicher Mann. Man borgt auf Prozentcher, was will man mehr tun? Man nimmt, so viel man kriegt, und weil sie immer wieder was zu borgen kriegen, so sagen sie, der alte Levi hat Geld. Und was hat man davon, daß man sich plagt und sorgt bei Tag und bei Nacht, daß sie alle einen verfolgen und verspotten, daß man spart und scharrt, es ist doch kein rechtes Glück dabei. Oft geht einem Kapital und Prozentcher um die Ecke und da habe ich so bei mir selber gedenkt, wenn der Herr Doktor doch will kurieren das Glück, dann könnte er einem geben ein Mittelchen, wodurch man Glück hat in all' seinen Geldgeschäften, und wenn das Mittel wär' gut und was wert, dann soll's dem alten Hirsch nicht ankommen aufs Geld, um den Herrn Doktor zu bezahlen für seine Mühe.« Damit ließ er seinen zerschnittenen Groschen mit auffallender Geberde in die bereitstehende Armenbüchse fallen.

Der Doktor machte ein ernstes Gesicht und es flog ein Schatten über seine vorher so freundlichen Augen, als er anhob: »Geldgewinn bedeutet für Sie Unglück. Je mehr Sie bekommen, desto tiefer verstricken Sie sich in die Schlingen des Geizes. Es klebt ein Fluch am Golde und ungestraft hat niemand die Hand darnach ausgestreckt. Mit Wucher sein Brot zu verdienen, das ist ein grausiges Handwerk. Wie vielen mögen Sie schon zum Verderben geworden sein! Mann, retten Sie Ihre Seele und geben Sie all' diese Geschäfte auf! Sie werden es sicher verstehen, mit ehrlichem Handel den nötigen Unterhalt zu verdienen; und reich zu werden, ein Kapital zurück zu legen, dazu hat der allmächtige Gott Ihnen Ihr Leben nicht anvertraut. Sie sind alt und kränklich, Ihre Hände zittern, und Ihr Haar ist weiß; wie lange haben Sie noch bis zu dem Augenblick, wo es heißen wird: Bestelle dein Haus, denn du mußt sterben. Wenn ich Ihnen ein Rezept geben soll nach meiner Art, so würde das lauten: Hören Sie auf zu wuchern und zu scharren, und suchen Sie noch vor Toresschluß gut zu machen, wo Sie gesündigt. Arme Verwandte und sonstige Notleidende werden Sie sicher finden, da helfen Sie, und, wo es nur möglich, unterstützen Sie von Ihrem Überfluß die unglücklichen Opfer Ihrer früheren Geldgeschäfte.«

Der Doktor hatte kaum zu Ende sprechen können, denn der alte Jude zitterte am ganzen Leibe vor Erregung, und doch wagte er diesem ernsten, ruhigen Mann nichts zu erwidern, aber er hatte den Türgriff schon in der Hand und schlich ohne Gruß hinaus. Im Hausflur wischte er sich den Schweiß von der Stirn und murmelte zornig:

»Wie haißt? War das 'ne Hirschjagd! Muß wohl der Herr Doktor sein ein Antisemit.«

Dann überlegte er, was er nun tun solle. Soll er aus Ärger über den Doktor es den Selbstädtern sagen, daß das ein Schwindler sei und ihm so alle Kundschaft verderben? Nein, denkt er dann wieder: Die Selbstädter haben es nicht verdient um den alten Levi, daß er ihnen einen so guten Dienst tut, sie sollen alle zu ihm gehen, und er soll ihnen allen solche Grobheiten sagen wie dem alten Levi.

Diesen Plan führte der alte Jude denn auch gründlich aus und lief noch am selben Tag bei all' den Leuten herum, von denen er sich selbst heimlich sagte: »Der ist gut, der ist wie ein Sieb, was man ihm sagt in's Ohr, das bringt er in wenigen Stunden unter die Leute.« So kam es, daß am ersten Abend nach der Anzeige des Glücksdoktors jedermann auf's Höchste gespannt war, etwas näheres von dem geheimnisvollen Glücksdoktor zu erfahren.

An demselben Abend, an dem der alte Jude den Doktor aufgesucht hatte, klopfte es nochmals an seine Tür und herein trat ein blasser, hoch aufgeschossener Knabe von etwa sechzehn Jahren. Er schien nicht recht mit der Sprache heraus kommen zu können; so wies ihm der Doktor einen Stuhl und sagte freundlich: »Nun setze dich, mein Junge, und sag' mir, wo dirs fehlt.«

Der Knabe seufzte und sah zur Erde, während es um seine Lippen zuckte, als wollte er jeden Augenblick in Tränen ausbrechen. Plötzlich sah er den Fremden mit einem verzweifelten Blick an und rief: »Es ist zu schwer, ich kann's nicht mehr ertragen! Ich muß mir das Leben nehmen, wenn es so fort geht, und dann bin ich ja vollends verloren!«

»Rede nicht so sündhaft, sondern erzähle mir lieber, was dir so schwer ist. Stell' dir vor, ich sei dein bester Freund oder dein Vater« ...

»Mein Vater!« schrie der Junge auf, »das ist's ja gerade, deswegen bin ich so unglücklich. Früher hatte mich mein Vater lieb, und ich konnte mir unser Verhältnis nicht besser wünschen. Da auf einmal in der letzten Zeit scheint es mir, als traute er mir nicht mehr recht. Mehr als einmal hat er mich ungerechter Weise gescholten, ja sogar geschlagen. Wenn er nur in die Stube kommt, erschrecke ich schon und zittere am ganzen Leibe. Bemerkt er das, dann fährt er auf mich los und ruft: »Siehst du, wie du zitterst! Da merkt man dein schlechtes Gewissen! Sag' die Wahrheit, was hältst du hinter dem Berge?« – Und ich hab' doch nichts zu verbergen, ich bin nur in Angst vor ihm, und es macht mich so unsäglich traurig, daß wir so auseinandergekommen sind. Wenn Mutter dabei ist, nimmt sie bisweilen meine Partei, aber das macht den Vater erst recht böse.«

Als der Knabe schwieg, fragte der Doktor: »Und du hast dir nichts vorzuwerfen? Hast du wirklich kein Unrecht dem Vater verborgen?«

»Nein«, erwiderte der Knabe und sah den Frager mit seinen großen Kinderaugen offen an, »ich kann gar nicht sagen, woraus das ganze Unglück kam. Mir fällt das Lernen in den höheren Klassen schwerer, und da bin ich selbst vielleicht stiller geworden als früher, und oft denke ich beim Mittagessen an meinen deutschen Aufsatz und bin zerstreut, und dann wird der Vater so böse.«

»Nun, wenn wirklich nichts weiter zwischen dir und deinem Vater liegt«, sagte der Doktor freundlich, »dann ist durchaus kein Grund zu solcher Verzweiflung. Bete du darum, daß Gott der Herr dir wieder das Herz deines Vaters schenke, und zwar sollst du nicht so im allgemeinen darum beten, sondern jedesmal insbesondere, ehe du mit dem Vater zusammen kommst. Er ist vielleicht sehr beschäftigt und durch seine Erfahrungen außer dem Hause gereizt. Wenn er nun heimkommt, und man ist nicht aufmerksam und freundlich gegen ihn, so entlädt sich die draußen angesammelte Gereiztheit zuhause. Gott kann dir alles geben, sicherlich auch ein ruhiges Herz und einen festen, fröhlichen Blick, wenn du deinen Vater anschaust, und das wird ihn bald versöhnen und gewinnen.«

Nach einer kleinen Pause, während welcher es zwischen den beiden so still war, daß man das Ticken der alten Wanduhr vernahm, stand der Knabe mit einer etwas linkischen Verbeugung auf und sagte leise: »Ich will's versuchen.«

Der Doktor hielt ihm die Hand fest, und ihn freundlich anblickend sagte er: »Nur getrost, dein Unglück ist nur noch ein Kinderspiel! Mit etwas gutem Willen, etwas Anstrengung und Treue im Gebet wird's sicher gut werden.«

Es war schon ziemlich spät, und heute kam niemand mehr. Dafür ward es, dank der geschwätzigen Zunge des alten Hirsch, am andern Morgen schon vor Beginn der Sprechstunde lebendig vor der Tür des Doktors. Als er dieselbe öffnete, schob sich zuerst ein umfangreicher Korb ins Zimmer, dem eine dicke, behäbige Frau folgte. Sie hatte ein buntes Tuch um den Kopf und eine große blau und weiß gestreifte Schürze vorgebunden. Sie stellte den Korb beiseite, ehe sie sich auf den Stuhl neben der Tür niederließ. Dann gings plötzlich wie ein Mühlwerk los: »Schön guten Morgen, Herr Doktor! Nichts vor ungut, daß ich den Korb da mit hereingebracht habe, aber sehen Sie, draußen kann ich ihn nicht lassen, denn entweder stehlen sie mir da die Radieschen heraus, oder es legt mir irgend ein Schlingel was hinein, was nicht zu's Gemüse gehört.«

»Nun lassen Sie den Korb«, unterbrach sie der Doktor, »und fangen Sie lieber gleich davon an, was Sie herführt.«

Die Frau seufzte, trocknete sich den Schweiß von dem breiten gesunden Gesicht und fuhr dann fort: »Es ist wegen meinem Mann, was sonst gar kein übler Mensch war; wie ich ihn geheiratet habe, – man kann doch nicht ewig allein bleiben, Herr Doktor – da war er so weit ordentlich. Er verdiente ein schönes Geld, und ich habe, Gott sei Dank, auch zu leben, denn ich habe den besten Gemüsestand auf dem Markt, wissen Sie, gleich vorn neben dem Brunnen, und was so die besten Familien in der Stadt sind, die kaufen schon kein Gemüse anders als von der alten Mühlenbergern, geborene Klappermeier, so tu ich nämlich heißen, Herr Doktor. Nu, und dann ging es die ersten Jahre bei uns ganz reinlich und appetitlich zu. Bisweilen kam es vor, daß mein Mann so eins über den Durst getrunken hatte, und dann habe ich ihm die Meinung gesagt. Herr Doktor, das versteh' ich aus dem ff, können Sie glauben.«

»Glaube ich schon«, lächelte der Doktor, »aber kommen Sie zur Sache, was führt Sie zu mir?«

»Na ja, also dann kam es wieder vor, und er ließ sich nichts sagen und hat mich, die geborene Klappermeiern, geschlagen und bin doch aus einem guten Hause, mein Vater ist im Kriege Tambourmajor gewesen und hatte immer den Patriotismus im Leibe. Kinder, sagte er«, – und Tränen traten ihr in die Augen und ihre Stimme zitterte – »Kinder, sagte er, wer an Gott nicht glaubt und den König nicht liebt, der ist keinen Schuß Pulver wert.«

»Lassen Sie jetzt Ihren Vater, und erzählen Sie von Ihrem Mann«, mahnte der Doktor.

»Na ja, er hat mich geschlagen und es wurde immer schlimmer, und zuletzt hat er das Arbeiten ganz aufgesteckt, und jetzt muß ich arme Frau ihn noch ernähren, und wenn er nur kann, so geht er mir heimlich ans Geld. Denken Sie nur, Herr Doktor, was habe ich mich gequält, bis ich mir was zusammengespart habe. Im Gemüsehandel und all dem Grünzeug steckt nicht arg viel drin, und wenn ich mir so einen Taler gespart hatte, dann legte ich ihn in unsere alte Kaffeekanne, die wir schon lange nicht mehr brauchen, und die steht oben unter dem Porzellan, und wie soll nun ein vernünftiger Mensch darauf kommen, dort Geld zu suchen, und doch ist er da dran gekommen und hat mir mein ganzes Ersparnis durchgebracht. Wie ich ihm das gehörig angestrichen habe als ein großes Verbrechen und eine schwere Sünde, da hat er mich wieder geschlagen. Ach, ich bin so unglücklich! Sie glauben nicht, Herr Doktor, wie unglücklich ich bin!« Und die Tränen rieselten ihr die Wangen herab.

Nach einer kleinen Pause hob der Doktor an: »Nun will ich Ihnen meinen Rat geben: Erstlich brauchen Sie Ihren Mann nicht zu ernähren, wenn er noch selbst arbeiten kann. Sagen Sie ihm das mal in aller Freundlichkeit, und geben Sie ihm einige Tage Frist, daß er sich Arbeit suchen kann; und zweitens müssen Sie erst selbst besser werden, ehe Sie erwarten können, daß Sie einen guten Einfluß auf Ihren Mann gewinnen.«

»Ich? besser?« unterbrach ihn die Gemüsefrau schnell, »da fragen Sie alle Leute in Selbstädt, ob man mir was nachsagen kann. Da ist der Serschant, der immer auf dem Markt aufpaßt – Oligs heißt er – den können Sie fragen, oder meinen Vetter, den Kantor oder Küster von der Gertrudenkirche, er heißt auch Klappermeier, oder« ...

»Lassen Sie gut sein, ich brauche keine Zeugen, ich habe Sie heute schon beobachtet und bemerkt, daß Sie schneller mit der Zunge sind, als gut tut. Wo so viele Worte sind, gehts ohne Sünde nicht ab. Sie sollen erst einmal selber einsehen, wo es Ihnen fehlt. Suchen Sie Vergebung Ihrer Sünden, und dann beten Sie für Ihren Mann, und suchen Sie ihn mit Freundlichkeit von jeder Gelegenheit abzuhalten, wo er ans Trinken kommen könnte.«

»Ach, du liebe Zeit«, unterbrach ihn die Frau, »ich wollte schon besser werden und freundlich mit ihm sein, aber es wird Schläge setzen, wenn er arbeiten soll und nicht mehr trinken darf.«

»Nun, liebe Frau, Schläge ohne Gebet haben Sie schon bekommen. Glauben Sie mir, diese Schläge tun weniger weh und hören bald auf, wenn man sie mit Gebet empfängt. Sie sehen mir garnicht darnach aus, als ob Sie es nicht fertig bringen sollten, mit Ihrem Mann in Ordnung zu kommen, wenn Sie es nur mit Gebet und redlich versuchen. Wenn er schilt und tobt, dann schweigen Sie mäuschenstill und beten Sie heimlich. Selbst wenn er noch so sehr unrecht hat, antworten Sie nichts als Liebes und Gutes, und Sie sollen sehen, was solche Liebe für Wunder tut.«

»Meinen Sie wirklich, Herr Doktor?« fragte die Betrübte und schaute ihn zweifelhaft von der Seite an.

»Gewiß, das ist mein voller Ernst. Versuchen Sie nur genau nach meinem Rezept zu handeln, und es wird bald anders und besser bei Ihnen werden.«

Kaum war die Gemüsefrau unter Knicksen gegangen, so stand ein junger, elegant gekleideter Herr im Zimmer. Seine Haltung war nachlässig, sein Gesicht sah blaß aus, und als er jetzt den Hut abnahm, konnte man sehen, daß sich sein Scheitel schon vor der Zeit zu lichten begann. Er setzte sich unaufgefordert auf einen Stuhl und spielte mit dem ausgezogenen Handschuh der rechten Hand.

»Sie wünschen?« fragte der Doktor, ihn scharf anblickend.

Er schlug den Blick verlegen nieder und begann in etwas näselndem Tone, der vornehm sein sollte: »Sie gestatten, Herr Doktor, daß ich mich auch an Sie wende, weil ich bei Ihrer Anzeige und nachher infolge der Mitteilung eines gewissen Hirsch von hier den Gedanken bekam, Sie könnten mir am Ende das Glück bringen, das ich suche. Ich verstand unter Ihrer Anzeige so viel, als ob Sie jedem zu dem Glück verhelfen möchten, das er sucht.«

»Gewiß«, erwiderte der Doktor ernst, »also was für ein Glück suchen Sie?«

»Nun«, lächelte der junge Mann und blinzelte den Doktor mit einem Auge von der Seite an, »Sie wissen, beim Kartenspiel kommt es doch darauf an, daß man Glück hat, um zu gewinnen. Dazu gibt es allerlei Mittel; ein paar Kleinigkeiten davon glaube ich auch zu verstehen. Nun dachte ich, Sie wüßten vielleicht noch irgend einen besonderen Trick, der hier nicht so bekannt ist; denn ich hätte es wirklich bei der augenblicklichen Lage meiner Finanzen nötig, einmal wieder so ein paar reiche Landedelleute gehörig zu schröpfen.«

Einen Augenblick schwieg der Doktor, dann sagte er scharf: »Und Sie haben keinen anderen Beruf, als sich mit Kartenspiel, womöglich noch mit falschem Spiel, Ihr Brot zu verdienen?«

»Augenblicklich nicht«, antwortete der Fremde ohne einen Anflug von Verlegenheit, »es ist auch, wenn man seine Sache versteht, ein interessantes und lohnendes Unternehmen. Fühle mich für gewöhnlich sehr wohl dabei, wenn nur nicht die gerupften Hühner so höllisch vorsichtig würden.«

»Dann hören Sie mein Rezept«, sagte der Doktor schnell, »Sie sind ein ganz gemeiner Lump!«

»Herr!« schrie der junge Mann und sprang mit blassem Gesicht und bebenden Lippen auf.

»Ruhig Blut!« fuhr der Doktor fort, »mir imponieren Sie nicht, aber sagen muß ich Ihnen, was ich von solch' einem Menschen halte; und da Sie mich um Rat gefragt, haben Sie kein Recht, sich über mein Rezept zu ärgern. Wenn ein junger Mann in dieser Weise seine Lebenskraft vergeudet, wie es Ihnen auf dem Gesicht geschrieben steht, dann gibt es nur noch ein Mittel, um ihn vor dem schrecklichen Ende, nämlich vor Selbstmord oder Irrsinn, zu bewahren: Bereuen Sie ihren Leichtsinn, bitten Sie Gott, daß er Ihnen Ihre Sünde vergebe, und suchen Sie eine ehrliche Arbeit. Die Folgen Ihrer Sünden kommen sonst über Ihr Haupt, daß Sie noch verzweifeln werden. Die Mädchen, die Sie unglücklich gemacht haben, die Kameraden, die Sie im Spiel betrogen, Alle, die Sie mit Ihrem bösen Beispiel angesteckt haben, die Alle werden Sie verklagen!«

Als der Doktor einen Augenblick innehielt, nahm der junge Mann mit bebender Hand seinen Hut und sagte mit verhaltenem Grimm: »Bin wohl an die falsche Tür gekommen, hatte nicht gemeint, auf einen Moralprediger zu stoßen. Empfehle mich Herr Doktor! Doktorn Sie herum, an wem Sie wollen, nur nicht an mir und Meinesgleichen.«

»Das stimmt«, rief der Doktor dem Forteilenden nach, »denn bei solchen Sklaven ihrer Sünde ist meist schon Hopfen und Malz verloren.« –

Noch ging der Doktor erregt auf und nieder, als es schon wieder klopfte. Auf sein »Herein!« trat ein arm gekleideter, blasser Mann ins Zimmer. Die Kleider waren offenbar nicht für ihn gemacht, und aus den zerrissenen Stiefeln schauten die Strümpfe. Den alten abgetragenen Filzhut drehte er ängstlich in den Händen, und eben so ängstlich suchten seine traurigen Augen des Doktors Blick.

»Setzen Sie sich, guter Freund«, mahnte der Doktor und bot ihm einen Stuhl an.

Mit einem Seufzer wagte es der Mann, sich auf den äußersten Rand des Stuhles zu setzen. Dann erzählte er auf Zureden des Doktors seine Geschichte: Er war Buchhalter auf einer Fabrik gewesen, hatte bei seiner großen Familie von seinem Gehalt wenig oder nichts ersparen können, und als er plötzlich krank wurde und nach einigen Monaten seine Vorgesetzten nicht mehr länger auf ihn warten konnten, war das Schicksal der Familie besiegelt. Doktor und Apotheker hatten den Rest des Ersparnisses gekostet, und man versetzte oder verkaufte ein Stück der Einrichtung nach dem andern. Zuletzt hatte man sich das Notwendigste zum täglichen Unterhalt zusammen geborgt. Jetzt, wo er wieder einigermaßen hergestellt war und kräftige Kost nötig gehabt hätte, war nicht mehr das trockene Brot aufzutreiben. Von einer neuen Anstellung konnte bei seinem Aussehen und seiner Schwachheit nicht die Rede sein.

Als er endlich erschöpft schwieg, fragte der Doktor: »Wie heißen Sie, und wo wohnen Sie?«

Ich heiße Müller und wohne Lindenstraße 10, drei Treppen hoch.«

Der Doktor notierte die Adresse und versprach, sich des Mannes anzunehmen. Dann sagte er: »Lieber Freund, das äußere Elend kann Ihnen Gott der Herr sofort abnehmen, sobald Sie erst innerlich mit ihm in Ordnung sind. Ich bin weit in der Welt umhergekommen und habe vieler Menschen Leben studirt, aber noch nie habe ich einen gefunden, den Gott ohne des Menschen eignes Verschulden in solches Unglück hätte fallen lassen. Gott steht noch heute zu dem Worte, das geschrieben steht: »Ich bin jung gewesen und alt geworden und habe nie gesehen einen Gerechten verlassen oder seinen Samen nach Brot gehen.« Wenden Sie sich von ganzem Herzen zu Ihrem Heiland, lassen Sie sich erst die alten Sünden vergeben und dann erwarten Sie von Ihm voller Vertrauen seine deutliche Hilfe. Wollen Sie mir das versprechen?«

Der Mann nickte stumm, und eine große Träne fiel auf die Hand, die er dem Doktor reichte. »In meiner Jugend«, stammelte er, »hatte ich gute Zeiten, wo ich viel verdiente. Da hab' ich nur an mich selbst und mein Vergnügen gedacht und meinen Vater darben lassen. Gott hat mich heimgesucht, und seine Strafe hat mich ereilt.«

»Wenden Sie sich an Jesum«, sagte der Doktor freundlich, »denn es steht geschrieben: »Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten.« Alles äußere Elend müssen Sie ansehen als die Schäferhunde des guten Hirten, der seine verlorenen Schafe durch ihr Bellen und Beißen zur Herde treiben möchte. Um Ihretwillen und um Ihrer armen hungernden Kinder willen suchen Sie zuerst Frieden mit Ihrem Gott, dann kann heute noch die Hilfe einkehren.«

Mit einem festen Händedruck schieden die Beiden.

Als es bald darauf schüchtern an der Tür klopfte, und der Doktor »herein« rief, trat ein junges, ganz sauber und zierlich, aber ärmlich gekleidetes Mädchen ein. Ein feines Gesicht und ein paar große, blaue Augen, die zaghaft den fremden Mann anschauten, verliehen dem etwa achtzehnjährigen Mädchen das Aussehen eines Kindes. Verlegen errötend kam sie mit der Sprache nicht recht heraus. Endlich fragte der Doktor leutselig nach ihren Verhältnissen. Sie war Ladenmädchen in der Stadt, viele Meilen weit von den armen Eltern, die noch für kleinere Geschwister zu sorgen hatten, und daher mußte ein Teil ihres Verdienstes heimgeschickt werden; aber was eigentlich der Grund ihres Herkommens war, kam doch nicht recht zur Sprache. Plötzlich brach sie in Schluchzen aus und rief: »Ich bin so allein! Ich habe keine Seele in der Stadt, die mich auch nur ein klein bischen lieb hat! Wenn ich ins Geschäft komme, habe ich den ganzen Tag bis spät abends zu tun und bin dann meist so müde, daß ich froh bin, wenn ich meine Schlafstube, die ich bei armen Leuten gemietet habe, aufsuchen kann; aber an Sonn- und Festtagen weiß ich nicht, was ich anfangen soll vor Heimweh und Herzeleid. Ich gehe in die Kirche, aber dann ist auch alles aus; auf meiner kalten Schlafstube kann ich doch den ganzen Sonntag nicht bleiben und in schlechte Gesellschaft wie andere Ladenmädchen möchte ich nicht gehen; meine Mutter sagte beim Abschied: »Henriette, du mußt fromm und rein bleiben. Der Jammer ist zu groß, wenn man arm ist und dann noch schlecht wird.« – Jetzt, was raten Sie mir, Herr Doktor, oder ist mir gar nicht zu helfen?«

Erst schrieb sich der Doktor die Adresse des Mädchens auf, dann aber sprach er in mildem Tone zu ihr: »Liebes Kind, es gibt einen, der braucht die Adresse nicht aufzuschreiben, der weiß, wo Sie wohnen, und wie es Ihnen geht, und er hat Sie lieb und denkt an Sie. Er heißt Jesus Christus und hat es auch Ihnen versprochen: »Ich will dich nicht verlassen noch versäumen.« Beschäftigen Sie sich mit dem, und versuchen Sie beim Lesen der Bibel und anderer guter Bücher recht viel an ihn zu denken bis Jesus Ihre Lust wird, dann sind Sie schon nicht so allein. Außerdem versuchen Sie mal, ob Sie nicht so eine von den ärmsten Familien, die im Laden bei Ihnen kaufen, aufsuchen können, eine, wo kleine Kinder sind, die vielleicht am Sonntagnachmittag ohne Aufsicht verkümmern und verderben. Vielleicht könnten Sie dahin gehen und solchen armen Kindern eine schöne Geschichte erzählen und ihnen die zerrissenen Kleidchen flicken.«

»O ja«, sagte das Mädchen, und ein Aufleuchten ging über ihre Züge, »das will ich versuchen.«

»Also machen Sie ernst mit Ihrer Liebe zum Heiland, dann wird er Ihnen Menschen zuweisen, denen Sie Liebe erweisen können. Dann werden Sie bald sehen, daß es auch Liebe gibt, die sich Ihrer annimmt.«

»Ich danke Ihnen, Herr Doktor«, sagte das Mädchen einfach und drückte ihm die Hand. –

Bald saß an ihrer Stelle eine junge, blühende Arbeiterfrau, die bei den ersten Worten bitterlich anfing zu weinen. Der Doktor ließ sie erst sich eine Weile ausweinen, dann aber bat er, sie solle doch sprechen.

»Ach, Herr Doktor«, hob sie endlich an, »ich und mein Christian haben uns aus purer Liebe geheiratet, und Sie wissen gar nicht, was das für ein Mensch ist, er ist so gut, beinah zu gut. Andere Leute sagen, er sei ein bischen dumm, aber er tut keinem Kinde was zu Leide. Und auf einmal ist alles aus; er ist so böse geworden, daß ich Angst vor ihm habe. Wenn das nicht anders wird, dann nimmt er sich noch das Leben. Ach, was ist das für ein Jammer! Wenn ich nur wüßte, was ich tun sollte, um das Leben wieder so zu kriegen, wie vor einem halben Jahre!«

»Liebe Frau, wissen Sie denn gar keinen Grund?«

»Nein, ich bin ganz unschuldig, aber er denkt auf einmal – vielleicht hat ihn wer verhext – daß ich ihm untreu bin, und spricht immer von andern Männern, die ich lieb haben soll, und Gott ist mein Zeuge, daß ich keinen jemals so geliebt habe wie ihn.«

»Haben Sie vielleicht etwas vor ihm verheimlicht, wodurch er sein Vertrauen zu Ihnen verloren hat?«

»Verheimlicht? nicht daß ich wüßte, ich habe ihm immer alles gesagt. Ach ja, nur das eine, mit meinem Bruder, das war mir zu schenierlich. Wissen Sie, mein Bruder hat mal nicht gut getan, und sie haben ihn dafür drei Monate ins Loch gesteckt, und da fand er nachher lange keine Arbeit, und es ist doch der leibliche Bruder und seine Kinderchen haben mich gedauert, und wissen Sie, Herr Doktor, wir habens ja, der Christian verdient einen schönen Lohn, und wie da mein Bruder zum ersten Mal nach dem Gefängnis zu mir kam, da haben wir uns umgefaßt und mußten beide weinen, und von dann an habe ich ihm manchmal etwas für seine Würmerchen nach Hause mitgegeben. Das ist doch nicht so schlimm, wenn ich ein Töpfchen kalte Kartoffeln und mal ein halbes Brot oder etwas anderes Nachgebliebenes den armen Leutchen zustecke.«

»Weiß Ihr Mann darum, daß Ihr Bruder hier ist?«

»Ach du liebe Zeit«, seufzte die Frau, »wie konnte ich ihm das sagen? Er ist immer so brav und ehrlich gewesen sein Leben lang und hat kein Wurstzipfelchen gestohlen, und wer weiß, was er sagen würde, wenn er hörte, daß mein leiblicher Bruder im Gefängnis gesessen hat. Sie wissen, Herr Doktor, wie die Leute halt reden über einen, der im Zuchthause war.«

»Nun, seien Sie getrost, liebe Frau«, hob der Doktor lächelnd an, »Ihr Unglück kann leicht gehoben werden. Wenn Ihr Mann eine gute Stunde hat, dann sagen Sie ihm frei heraus alles, was zwischen Ihnen und Ihrem Bruder vorgefallen ist; denn zwischen Eheleuten soll kein Geheimnis sein. Vielleicht wird dadurch allein schon alles gut.«

Die junge Frau trocknete sich die Tränen und meinte verlegen: »Wenn Sie meinen, Herr Doktor, will ichs mal probieren, dem Christian alles zu sagen.« Damit schlich sie, wie es schien, nur halb befriedigt davon. –

Der nächste Besuch war eine vornehme, ganz in schwarz gekleidete Dame mit traurigem Gesichtsausdruck. Als der Doktor sie gebeten, zu sagen, was sie herführe, sprach sie mit leiser, monotoner Stimme:

»Eigentlich war es töricht, daß ich Sie aufgesucht habe; mir kann doch niemand helfen! Ich hatte ein einziges liebes Kind, meinen herzigen Alfred, das Glück meines Lebens. Der ist mir vor sechs Monaten nach kurzer, schwerer Krankheit entrissen, und wie viel ich auch geweint und gebetet, und was ich auch alles versucht habe, die Lücke im Hause und im Herzen bleibt leer. Reisen, Zerstreuungen, allerlei Freundlichkeiten, die mein Mann wir erwies, es hilft doch alles nichts, mit meinem Kinde ist meines Lebens Glück ins Grab gesunken!«

»Ihre Geschichte, gnädige Frau«, hob jetzt der Doktor an, »leidet an einem großen Fehler, Sie machen so, als ob Sie Ihr Kind verloren hätten. Das ist nicht der Fall, Jesus, der freundliche Heiland aller Menschen, hat Ihr Kind aus all den Gefahren, Unruhen und Schmerzen des Lebens zu sich genommen. Unverdorben von der Welt, ungeknickt von Enttäuschungen lebt nun ihr Kind ein neues Leben im ewigen Licht. Während Ihnen hier die Augen voller Tränen stehen, sieht Ihr Kind jetzt strahlenden Auges des guten Hirten Angesicht. Sie aber haben die Aufgabe, an die Liebe dieses Ihres Heilandes zu glauben und in seiner Liebe vollen Ersatz zu finden für Ihren herben Verlust. Sie haben noch Pflichten Ihrem armen Gatten gegenüber, der noch schlimmer daran ist als Sie.« –

»Als ich?« rief die Trauernde fast heftig.

»Ja, als Sie, denn er hat nicht nur sein einziges Kind verloren, sondern – wenn Sie so bleiben, wie Sie jetzt sind – auch sein Weib. Was können Sie ihm und dem Hause sein, wenn Sie in dieser verzweifelten Stimmung bleiben? Sie müssen Ihrem Gatten zu Liebe auch Herrin werden über Ihren Schmerz, und da will ich Ihnen ein Mittel angeben: Suchen Sie sich jemand, auf den Sie einen Teil all der Liebe verwenden können, die Sie früher ihrem eignen Kinde geschenkt haben. Es gibt arme Kinder genug, deren Sie sich annehmen könnten, Menschen genug, die verschmachten vor Sehnsucht nach irgend einem freundlichen Herzen.«

»Kennen Sie jemand, der solcher Hilfe bedarf?« fragte die Dame nach einer kleinen Pause.

»O ja!« rief der Dotter eifrig, »hier ist die Adresse eines armen, alleinstehenden Ladenmädchens, die am Sonntag niemand hat, an den sie sich wenden kann. Versuchen Sie mal, sie einzuladen und ihr mütterliche Teilnahme zu schenken; sie ist ein noch ganz unverdorbenes Kind vom Lande. Sie würden sich einen Gotteslohn daran verdienen. Oder wenn Sie wollen, schreibe ich Ihnen noch eine andere Adresse auf: Lindenstraße Nr. 10, drei Treppen hoch, eine arme Familie Müller, der Vater krank und ohne Arbeit und ein Häufchen Kinder am Verhungern. Vielleicht gehen Sie im Andenken an Ihr heimgegangenes Kind dorthin und zeigen den unglücklichen Leuten, was christliche Liebe ist.«

Nach einer Weile erhob sich die Dame, ließ ein Talerstück in die Armenbüchse fallen und steckte den Zettel mit den zwei Adressen ein. Beim Weggehen sagte sie leise: »Noch weiß ich nicht, ob es helfen wird, aber es ist wenigstens eine Aussicht. Ich danke Ihnen, Herr Doktor!«

»Es hilft sicher! Versuchen Sie heute noch, jemandem Liebe zu erweisen, und Ihr eigenes Leid wird schmelzen, wie Märzschnee in per Mittagssonne!«

Jetzt trat die Mittagspause ein, wo Niemand vorgelassen wurde. Als um drei Uhr die Sprechstunde wieder begann, trat ein hochgewachsener Herr – nach Kleidung und Benehmen der besseren Gesellschaft angehörig – ins Zimmer. »Baurat Ostenbruch«, stellte er sich vor.

Als er Platz genommen, begann er stockend: »Es ist mir etwas peinlich, mich überhaupt an Sie zu wenden. Denn, nehmen Sie es mir nicht übel, Herr Doktor, als ich Ihre Anzeige las, teilte ich die Anschauung meiner Kameraden am Stammtisch, daß das wieder irgend ein neumodischer Schwindel sein müsse. Heute Vormittag aber hörte ich auf meinem Bureau von verschiedenen Leuten, denen ein jüdischer Wucherer solche Wunderdinge von Ihrer Menschenkenntnis und Ihren treffenden Ratschlägen erzählt hat, daß ich alle Scheu überwand und hergekommen bin, ob vielleicht der Schatten, der über unser Haus gekommen ist, durch Ihren Rat gehoben werden könnte.«

Der Doktor sah seinen Gast erwartungsvoll an.

Dieser fuhr denn auch gleich fort: »Wir leben in guten Verhältnissen. Ich habe wohl viel zu tun, fühle mich aber in meinem Beruf glücklich. Meine Frau ist ein Engel von Güte, wenn auch schüchterner, zurückhaltender Art. Wir haben einen einzigen Sohn, Bruno, sechzehn Jahre alt, der uns bis vor kurzem nichts als Freude gemacht hat. Da auf einmal muß wohl durch schlechte Kameraden ein böser Geist in den Jungen gekommen sein; er wurde träumerisch und zerstreut. Wenn ich ihm mit einigen scharfen Worten den Kopf zurecht setzen wollte, zitterte er gleich am ganzen Leibe wie Espenlaub, oder er fing gar an zu heulen wie ein altes Weib. Da wars erklärlich, daß ich manchmal auffuhr und ihn barsch angefahren, vielleicht auch geschlagen habe. Dadurch ist der Junge nun vollständig kopfscheu geworden. Er scheint sein Vertrauen zu mir ganz verloren zu haben, und wenn ich aus der Arbeit heimkomme, verstimmt es mich jedesmal, wenn ich sein scheues Wesen sehe. Man merkt ihm an, daß er am liebsten davonschleichen möchte wie das böse Gewissen. Was in aller Welt können Sie mir darauf sagen, Herr Doktor?«

»Daß Ihnen und Ihrem Sohne, Herr Baurat, schon geholfen ist.«

»Geholfen? Wie denn? Ich verstehe Sie nicht!«

»Ihr Bruno war bei mir«, fuhr der Doktor lächelnd fort, »und hat mir sein Herz ausgeschüttet. Er hat nichts auf dem Gewissen; von seinen Schularbeiten mehr eingenommen als früher, ist diese träumerische Art über ihn gekommen. Er mag vielleicht auch von Ihrer Frau Gemahlin eine etwas schüchterne Art geerbt haben; jedenfalls leidet er entsetzlich unter dem Gedanken, daß Sie ihm grollen und ihm mißtrauen. Um alles in der Welt möchte er Ihr Vertrauen und Ihre Liebe wieder haben, und als ich ihn darüber beruhigt hatte, ging er, wie es mir schien, schon halb getröstet davon. Wenn Sie ihn zarter und freundlicher behandeln wollen, können Sie der Liebe und Verehrung Ihres braven Jungen versichert sein. Vertrauen erntet Vertrauen, und ich bin überzeugt, wenn Sie ihm heute noch mit offenen Armen entgegengehen und sagen: »Mein Sohn, ich vertraue dir!« so fällt er Ihnen um den Hals, und der nutzlose Groll der letzten Monate ist verflogen.«

Bewegt stand der Baurat auf. »Wenn das so ist, wie Sie sagen, Herr Doktor, dann bin ich Ihnen von Herzen dankbar. Wie kann ich Ihnen meinen Dank beweisen?«

Der Doktor schüttelte die dargereichte Hand und sagte mit glänzendem Auge: »Ich wünsche keinen besseren Lohn, als daß Sie es lernen, nicht nur Ihrem Sohn, sondern jedem Menschen, der Ihnen näher tritt, Freundlichkeit und Liebe zu erweisen.«

»Wahrhaftig, Herr Doktor, man hat mir nicht zu viel über Sie gesagt. Leben Sie wohl!«

Als es jetzt eine Zeitlang nicht klopfte, öffnete der Doktor verwundert die Tür und schaute hinaus. Fast wäre er erschrocken zurückgefahren, denn dicht vor der Tür stand eine große vierschrötige Gestalt, ein Mann mit geschwärztem Gesicht und roten Händen, in blauer Arbeiterbluse.

»Warum klopfen Sie nicht?« fragte der Doktor.

»Ach wer? ich?« fragte der Riese mit einem dummen Lächeln in dem breiten, gutmütigen Gesicht.

»Nun ja, freilich«, antwortete lachend der Doktor, »wenn Sie hier hinein wollen, hätten Sie ja schon längst anklopfen können. Kommen Sie herein und sagen Sie mir, was Sie herführt.«

Ungelenk schob sich der Mann in die Stube, nahm mit der Linken seine glänzende Lederkappe vom Haupte und kratzte sich mit der rechten Hand hinter dem Ohr. Ein paarmal seufzte er noch tief auf und begann endlich:

»Das ist zum Aufplatzen! Wenn mir das einer vor ein Wochener sechs gesagt hätte, ich hätte ihm eins vor den Schädel gegeben, daß er nicht mehr hätte Amen sagen können.« Dabei hob der Mann seine gewaltige Faust in die Höhe, daß der Doktor über diese Wut ganz betreten wurde. »Ja sehen Sie, Herr Doktor, die Kathrin, was mein Weib ist, ist ein bildsauberes Ding, und wir haben die Jahre hindurch so gut und reell zusammen gelebt, wie Adam und Eva im Paradies, und mit einmal ist alles aus, daß man die Kränke kriegen möchte vor Jammer und Not. Ich wills Ihnen kurz sagen: sie hält sich mit einem anderen. Kein Essen schmeckt mir, seit ich das weiß. Ich habe in der Zeit mehr Hämmer und Eisen zerbrochen, als früher in drei Jahren, weil ich so böse bin, daß ich meine Wut doch irgendwo lassen muß, und dann schlag ich aufs Eisen, daß meine Kameraden spotten und sagen: Jetzt hat er wieder seinen Koller.«

»Woher wissen Sie denn, lieber Mann, daß Ihre Frau Ihnen untreu geworden ist?«

»Woher ichs weiß?« und damit schlug er an seine Brust, daß die Lampe auf dem Tisch klirrte, »weil ichs mit meinen eigenen Augen gesehen habe, und das war so: ich hatte damals in der Fabrik Nachtschicht, ich bin nämlich Schmied, Herr Doktor.«

»Daß Sie kein Schneider sind, sehe ich wohl«, sagte dieser lächelnd.

»Nun, und wenn einer Nachtschicht hat, dann schläft er am Tage, und da bin ich einmal eine Stunde früher als gewöhnlich aufgestanden, und die Kathrin war nicht in der Stube, und wie ich auf den Flur hinausgucke, da steht sie draußen am Treppengeländer mit einem fremden Kerl, und sie halten sich beide umfaßt. Fremden tät ichs nicht glauben, und wenns der Pastor von der Kanzel abverkündigt hätte, aber weil ichs mit meinen beiden leibhaftigen Augen gesehen habe, muß es doch wahr sein. Und sehen Sie, von da an ist alles aus, ich kann ihr kein gutes Wort mehr geben, und manchmal hab ich sie schon im Zorn von mir gestoßen, daß die Schüssel und Teller im Spind übereinander kollerten, weil sie dran geflogen war.«

Der Doktor rieb sich, wie es schien, in bester Laune die Hände und sagte lächelnd: »Sie heißen Christian? Nicht wahr?«

Verwundert blickte der Schmied ihn an, schüttelte den Kopf und sagte: »Ja, woher die klugen Leute doch das gleich alles wissen? Es steht mir doch nicht auf der Stirn geschrieben, daß ich Christian heiße?«

Der Doktor aber fuhr lächelnd fort: »Nun sehen Sie, wenn Sie Christian heißen, dann ist alles in Ordnung, und Sie können heute noch ganz glücklich und zufrieden sein.« Der Mann sah ihn sprachlos und mit offenem Munde an. »Ihre Frau hat einen Bruder.«

»Einen Nichtsnutz!« schrie der Mann dazwischen. »Einerlei«, fuhr der Doktor unbeirrt fort, »dieser Bruder war aus dem Gefängnis entlassen, und da hat er da draußen an der Treppe mit ihr gesprochen, und da haben sie sich umfaßt, und sonst ist nichts Schlimmes passiert. Und wenn sie irgend etwas vor Ihnen verborgen hat, dann galt die ganze Heimlichtuerei nur dem Bruder. Sie hat sich vor Ihnen gefürchtet, daß sie heimlich mal Speisereste der armen Familie des Bruders geschenkt hat, darum seien Sie vernünftig, gehen Sie heim und bitten Sie Ihrer Kathrin ab, was Sie böses von ihr gedacht.«

Der Schmied brauchte offenbar Zeit, um sich von seiner Überraschung zu erholen. Dann sprang er auf und rief laut: »Wenn das wahr ist, dann war ich ein Esel und bin jetzt wieder der glücklichste Mensch von der Welt!«

Schon war er an der Tür, um ohne Gruß fortzueilen, da besann er sich, griff in die Tasche und fragte: »Was machts?«

»Es kostet nichts. Wenn Sie etwas für die Armen opfern wollen, da steht eine Büchse.«

So legte er denn eine Mark in die Büchse und stürmte fort. Drunten warf er die Haustür so hinter sich zu, daß alles im Hause klirrte und krachte, gerade als ob ein Erdbeben wäre.

Es rauschte wie von Seide, als der nächste Besuch eintrat. Es war eine junge, schlanke und elegante Dame in ausgesucht guter Toilette; es hatte alles an ihr Geschmack und feine Art. Als sie den Schleier zurückschlug, sah der Doktor in ein regelmäßiges, gesundes Gesicht, das nur um den Mund einen etwas unzufriedenen Zug hatte. Die junge Dame nahm Platz, und auf die Frage des Doktors, was sie herführe, begann sie in etwas nachlässigem Tone:

»Ja, was soll ich Ihnen eigentlich sagen? Ich bin unzufrieden mit dem Leben und seinen Genüssen und vielleicht infolgedessen unbefriedigt, ja unzufrieden mit mir selbst, ich will Ihnen kurz mein Leben schildern: Mein Vater ist durch Holzhandel und Güterkauf wohlhabend geworden, und sein stehender Ausdruck bei den meisten meiner Wünsche ist: »Wir haben es ja.« So wurde ich besser ausgebildet, da ich das einzige Kind bin; man schickte mich in eine Pension; ich mache jedes Jahr mit den Eltern zwei bis drei Monate lang große Reisen; wobei ich zu bestimmen habe, wohin man geht und was man sieht, denn Papa interessiert sich bei diesen Reisen doch nur für das Essen. Ich stehe gegen neun Uhr auf und trinke den Tee für mich allein, da meine Eltern das frühe Aufstehen aus ihren einstigen ärmlichen Verhältnissen beibehalten haben und schon gleich nach sieben frühstücken. Nachdem ich irgend etwas gelesen oder vielleicht einen Brief geschrieben habe, nehme ich an dem zweiten Frühstück der Eltern um elf Uhr teil. Dann fahren wir spazieren, empfangen oder machen Visiten, bis wir gegen vier Uhr zu Mittag essen. Dabei sind wir selten allein, weil es immer Leute gibt, die sich gern zu einem so guten Tisch, wie Papa ihn liebt, einladen lassen, aber der Besuch langweilt mich ebenso, wie die Braten und Pasteten. Wirklich interessante Leute, deren Unterhaltung mir etwas bieten würde, kommen selten in solch' ein Nest wie unser Selbstädt, und was habe ich davon, wenn die Frau Amtsrichter mit ihren alten Töchtern bei uns ist, oder der Oberförster und seine Frau, da man dann doch gleich nach Tisch sich zur Kartenpartie hinsetzt, und Karten finde ich entsetzlich. Dieses Spiel bedeutet für mich nur die Quittung, daß man zu langweilig ist, um sich zu unterhalten. Bisweilen setze ich mich aus Verzweiflung an meinen schönen Flügel und lasse da meinen Groll über das unnütze und wertlose Leben aus. Ich kann auch nicht behaupten, daß Musik mir eigentlich Freude macht. Wenn wir zum Abend keine Einladung haben, spiele ich wohl aus Barmherzigkeit gegen Papa eine Partie Schach mit ihm, zuweilen lesen wir auch etwas, aber auch das bietet keinen Reiz. Das Theater in Selbstädt besuchen wir nur, wenn irgend ein Schauspieler aus der Residenz Gastrollen gibt, und die Konzerte hier sind auch meistens so mäßig, daß ich mich wenig um sie kümmere. So langweile ich mich, bisweilen etwas besser gelaunt, bisweilen auch in schlechter Stimmung, neun Monate in Selbstädt und drei Monate auf der Reise. Früher freute ich mich wenigstens auf das Reisen, jetzt, wo wir in Paris und Italien, in Ostende und Norwegen gewesen sind, und man schließlich merkt, daß doch alles in der Welt ziemlich egal ist, habe ich auch am Reisen den Geschmack verloren. Romane interessieren mich ebenso wenig, wie das fade Geschwätz unserer Gesellschaften. Ein paar Mal haben junge Leute um meine Hand angehalten, aber da es mir ganz gleichgiltig war, ob sie mich liebten oder nicht, habe ich sie abgewiesen. Nun sagen Sie mir, Herr Doktor, wie komme ich zum Glück, oder gibt es vielleicht gar kein Glück?«

Erst bei den letzten Worten verriet der Ton ihrer Stimme, daß sie innerlich unglücklich und verzweifelt sei.

Der Doktor lächelte, strich sich mit der Hand über die hohe Stirn und sagte freundlich: »Da klagen die meisten Leute, daß sie nicht glücklich sein können, weil ihnen Zeit und Geld fehlt. Sie, wertes Fräulein, haben beides in Überfluß und sind doch unglücklich.«

»Ja, gerade, daß man alles hat«, antwortete sie schnell, »scheint mir das Unglück zu sein. Die andern, die immer nach etwas verlangen und sich der Erreichung irgend eines Zieles im voraus freuen, können eher vergessen, daß das Leben ein ödes, graues wertloses Ding ist.«

»Gemach«, sagte der Doktor, »wie kann jemand über die Beschaffenheit eines Zimmers urteilen, der niemals darin gewesen ist? Sie haben bisher noch keinen Schritt getan, um glücklich zu werden. Man kann nur durch Tun und nicht durch Haben glücklich werden. Wenn die Seele nichts rechtes hat, was sie erfüllt und belebt, bewegt und erfreut, dann erst spürt sie die ungeheure Langeweile. Glücklich wird man nur durch Können und Lieben.«

»Durch Können und Lieben?« wiederholte die junge Dame verwundert, »das müssen Sie mir erst erklären.«

»Können würde bedeuten, daß man etwas gelernt hat, daß man etwas versteht, daß man imstande ist, durch seinen Besitz, durch seine Anstrengung für andere Leute etwas zu werden, anderen zu nützen. Und dieses Können wäre noch nicht imstande, den Tüchtigsten froh zu machen, wenn es nicht durchleuchtet würde von Liebe. Man muß sein Können anstrengen nicht aus Ehrsucht oder Selbstsucht, sondern aus Liebe. Wir müssen suchen, andere glücklich zu machen, dann erst dämmert uns selbst das Glück auf.«

»Andere glücklich zu machen?« fragte das junge Mädchen träumerisch, »was soll das? Haben Sie da nicht nur den Schwerpunkt der Frage verschoben?«

»Durchaus nicht! Wenn Sie merken, daß Sie Ihren Eltern durch Freundlichkeit und Frohsinn Freude machen, dann wäre das schon ein Punkt, auf den Sie mit ganzer Aufmerksamkeit Ihren Blick richten müßten, um für sich selbst Befriedigung und Glück zu finden. Überwinden Sie aus Liebe zu den Eltern jede Verstimmung, jede Unfreundlichkeit, und denken Sie an jedem Tag darüber nach, ob Sie nicht irgend eine Gelegenheit hätten, den Eltern Freude zu machen. Aber bleiben Sie auch dabei nicht stehen. Es gibt andere Menschen genug, denen Sie Freude zu bringen berufen sind. Denken Sie an Ihre Dienstleute. Lassen Sie sich vom Pastor Ihrer Gemeinde einige Arme oder Kranke nennen, die Sie besuchen könnten, denen Sie nicht nur mit kaltem Herzen ein kaltes Geldstück hinlegen, sondern nach deren Ergehen Sie sich erkundigen, auf deren Gedanken Sie eingehen, denen Sie etwas mitteilen von den Schätzen Ihres Geistes und Ihrer Bildung. Welch ein Glück erwächst daraus, wenn so eine alte, kranke Frau die Stunden und Tage bis zu Ihrem nächsten Besuche zählt, wenn sie mit ihren zitternden Händen Ihre Hand faßt und mit Tränen Ihnen dankt für die Liebe, die Sie ihr erwiesen. Oder ich kenne hier in der Stadt ein armes, alleinstehendes Ladenmädchen, – deren es übrigens hier noch viele gibt – welches außer der unwirtlichen Schlafstube keinen Raum hat, in dem es sich am Sonntag Nachmittag aufhalten kann: Es hat eine unsterbliche Seele, es hat den hohen Zug der Seele, sich nicht in den Schmutz der Gemeinheit herabziehen zu lassen. Da gibt es Hände genug, die sich nach solch einer Blume ausstrecken um sie zu verderben. Sollte es nicht auch Hände geben, die sie schützen und pflegen wollen?«

»Aber um alles in der Welt, Herr Doktor«, unterbrach ihn die Dame, »jetzt werden Sie ja praktisch! Dann sagen Sie mir auch gleich, wie soll ich es anfangen, mit solch einem Menschenkinde irgend etwas anzustellen?«

»Nun, laden Sie sie für nächsten Sonntag auf ein paar Stunden zu sich ein, geben Sie ihr eine Tasse Kaffee und ein Stück Kuchen; zeigen Sie ihr die Photographien schöner Landschaften oder großer Städte, die Sie von Ihren Reisen mitgebracht haben und erzählen Sie ihr von diesen Reisen. Oder lesen Sie mit ihr irgend ein gutes Buch, das durch Ihre Erklärung dem Mädchen vielleicht erst verständlich wird. Wenn Sie das nur ein klein wenig verständig und liebevoll anfangen, wird sicherlich solch eine Beschäftigung mit Armen und Verlassenen Ihnen bald ein hoher Genuß werden, und Sie werden selbst mehr Segen haben, als Sie dabei andern austeilen.«

Es trat eine Pause ein, dann sagte das junge Mädchen: »Ich habe aber keine Liebe für andere Menschen.«

»Mein Fräulein, nur eines ist nötig: Sie müssen aus dem Evangelium den kennen gelernt haben, der uns selbst so unaussprechlich liebt: von ihm, dem Heiland, müssen Sie sich vergeben lassen, was Sie bisher in Selbstsucht von Ihrem Leben und seinen Gaben verträumt und versäumt haben. Und dann muß es Sie treiben, die ganze große Liebe dieses Heilandes, die er Ihnen offenbarte, um seinetwillen anderen Menschen zu erweisen, und da kann ich es Ihnen aus meiner eigenen Erfahrung heraus versichern: ich bin erst glücklich geworden, seit ich es zu meiner Lebensaufgabe gemacht habe, andern Menschen Glück, Frieden und Freude zu vermitteln.«

Es klopfte; die Fremde bat: »Geben Sie mir die Adresse jenes Ladenmädchens, ich will versuchen, was ich kann.« Damit legte sie ein Goldstück in die Armenbüchse und reichte dem Doktor die Hand. Ihr Gesicht strahlte, als sie bewegt sagte: »So bin ich doch nicht umsonst hergekommen. Ihre Ratschläge sind mir wirklich etwas ganz neues und unerwartetes gewesen. Ich wills versuchen. Leben Sie wohl!«

In das Zimmer, das die Dame verließ, traten der Baurat und sein Sohn. Man konnte es beiden ansehen, auch wenn sie nichts gesagt hätten, daß sich ihre Herzen wiedergefunden hatten.

»Herr Doktor«, hob der Vater bewegt an, »nach der Aussprache, die ich mit meinem Jungen gehabt habe, hatten wir beide sofort das Gefühl, wir müßten zu Ihnen kommen und Ihnen für den großen Dienst danken, den Sie uns getan. Uns zwei verzweifelte und verstimmte Menschen haben Sie glücklich gemacht.«

Der Doktor reichte seine Rechte dem Vater, während der Sohn seine Linke hielt und erwiderte milde: »Was brauchen Sie mir viel zu danken? Es bedurfte ja nur einer Kleinigkeit, eines einzigen kurzen Winkes, und Ihre Herzen mußten sich wieder finden! O, wenn das doch alle Leute glaubten, daß es so wenig Anstrengung und so wenig Mühe macht, zum Glück hindurchzudringen, wenn man nur selber will. Keine edle kostbare Ware ist so viel begehrt und so heiß gesucht wie das Glück und es ist doch nichts so leicht zu finden. Wer den Willen Gottes in jeder Sache erkennt und dem Zuge seines Gottes nachgibt, an dem wirds alle Tage wieder wahr: »O, daß du auf meine Gebote merktest, so sollte dein Friede sein wie ein Wasserstrom und deine Gerechtigkeit wie die Meereswelle.«

Kaum hatten die beiden Hand in Hand das Zimmer verlassen, da hustete es draußen, und gleich darauf betrat eine merkwürdige Erscheinung das Zimmer des Doktors. In einem wattierten Überrock, ein gelb seidenes Tuch um den Hals geschlungen, eine Affenfellmütze auf dem Haupt und dicke Handschuhe an den Händen, so stand ein beleibter alter Herr vor dem Doktor. Trotz seines gesunden Äußeren sprach sowohl der Ausdruck der Augen als ein Zug um den Mund von höchst trüber Stimmung.

»Vor allen Dingen nehmen Sie Ihre warmen Sachen ab«, sagte lächelnd der Doktor, »es ist hier warm im Zimmer, und Sie könnten sich nachher leicht erkälten.«

Der Fremde gehorchte und setzte sich. Als er die Handschuhe ausgezogen hatte, glänzten mehrere kostbare Ringe an den feisten Fingern.

»Herr Doktor«, hob der Fremde, oft unterbrochen von einem wie es schien nervösen Hüsteln, mit kläglicher Stimme an, »ich bin der Rentier Kälberchen, Junggeselle, seit Jahren nicht gesund und fühle mich höchst unglücklich.«

»Nun«, meinte der Doktor lächelnd, »eigentlich krank sehen Sie nicht aus. Was haben Sie denn für eine Beschäftigung?

»Beschäftigung?« fragte erstaunt der andere, »Beschäftigung eigentlich gar keine. Ich lese meine Zeitung, mache meinen Spaziergang, den mir mein Arzt verordnet, spiele auch wohl dann und wann eine Partie Skat, aber sonst habe ich den größten Teil des Tages für mich.«

»So, so«, entgegnete der Doktor nachdenklich, »und dabei essen und trinken Sie gut?«

»Hm, hm«, antwortete hüstelnd der dicke Herr, »meine Verhältnisse erlauben mir das.«

»Aber nicht Ihr Körper«, antwortete der Arzt schnell. »Es setzt solch ein Leben für Leib und Seele lauter Gebrechen und Beschwerden ab. Darum ist es kein Wunder, wenn sie schwarzgallig und verdrießlich werden. Mein Rat für Sie besteht in zweierlei: erstlich, leben Sie mäßig, essen und trinken Sie, als ob Sie Ihr halbes Vermögen verloren hätten und machen Sie sich die nötige Bewegung. Aber damit allein schaffen sie sich noch lange kein Glück.

»Wehe dem Becher, der zu Scherben geht
Und keinen Durstigen getränkt hat,
Wehe dem Herzen, das zum Sterben geht
Und keinem Liebe geschenkt hat.«

Sie müssen vor allen Dingen sich um anderer Leute Wohl kümmern. Richten Sie sich ein Bureau ein für arme Arbeitslose, und wenn Sie dabei auch jährlich ein paar tausend Mark hineinbrocken, was tut der Mensch nicht alles für sein Glück? Da ist ein armer, stellenloser Buchhalter namens Müller in der Lindenstraße; stellen Sie den Mann, daß er etwas festes für seine Familie hat, mit einem kleinen Gehalt an, und lassen Sie ihn Briefe schreiben an größere Geschäfte und Fabriken, damit Sie die bei Ihnen sich meldenden Arbeitslosen kostenfrei und so schnell als möglich unterbringen können. Es werden sich gewiß einige andere wohlhabende Leute finden, die Ihnen dabei zur Hand gehen können. Vielleicht läßt sich damit irgend eine Beschäftigung für den ersten Augenblick verbinden, damit jeder Bummler, der sich an Sie wendet, gleich auf seinen guten Willen erprobt werden kann. Wenn Sie so für eine ganze Reihe von Menschen zu sorgen haben, dann wird Ihnen die lästige Langeweile und der Druck, den die Leere erzeugt, von Ihrem Herzen und Leben genommen sein, und wenn Sie dann einmal sterben, werden viele, denen Sie so in schweren Lebenslagen zurechtgeholfen, Ihr Andenken segnen; Sie aber haben nicht umsonst gelebt. Versuchen Sie es, mit etwas gutem Willen können Sie viel erreichen, und der Segen Gottes und die Dankbarkeit der Menschen wird Sie reich belohnen.«

Der reiche Herr saß wie versteinert da.

»Hab ich Sie richtig verstanden«, hob er dann nach einer kleinen Pause ängstlich an, »Sie meinen, ich soll mich in solche Unruhe stürzen und mich um all solche Leute kümmern? Das ist ja schrecklich! Ich hab's auch früher anders gehabt und dankte meinem Schöpfer, als ich mich aus dem Geschäftstreiben der großen Fabrikstadt hierher zurückziehen konnte, weil der Gewinnanteil der letzten Jahre mich zum reichen Mann gemacht hatte; und nun soll ich mich selbst wieder in all die Unruhe einer solchen menschenfreundlichen Unternehmung stürzen?«

»Lieber Herr, Ruhe, wie Sie es meinen, ist Selbstsucht und wird Ihnen ein mürrisches Alter und ein böses Sterben einbringen. Man muß das Eisen schmieden, solange es heiß ist. Jetzt haben Sie eine Gelegenheit, schicken Sie heute noch nach jenem Buchhalter, – oder besser wäre es für Ihre Gesundheit, gehen Sie selbst hin, vielleicht fällt dann sofort etwas für die hungernden Kinder des Mannes ab. Und dann kaufen Sie Holz und lassen Sie dasselbe durch Arbeitsuchende zu Kleinholz verarbeiten. Veröffentlichen Sie nur Ihre Absicht, ein solches Bureau zu gründen, und ich versichere Sie, in wenig Wochen hat Ihr Buchhalter und haben Sie selbst genug zu tun.«

»Schrecklich, schrecklich!« keuchte der Herr, »eine Pferdekur, wie mir andere vorgeschlagen haben, keinen Tropfen Wein zu trinken, mich in nasse, kalte Tücher einwickeln und mit der Gießkanne bespritzen zu lassen; das schien mir schon fürchterlich, aber solch eine abscheuliche Kneipkur ist der reine Waisenknabe gegen diesen Selbstmord, den Sie mir zumuten. Ist das Ihr wirklicher Ernst, und halten Sie dergleichen für das einzige Mittel, mir gründlich zu helfen?«

»Gewiß«, antwortete der Doktor fest, »und morgen will ich mich selbst davon überzeugen, was für Schritte Sie getan haben, um mein Rezept in die Wirklichkeit umzusetzen. Vielleicht kann ich Ihnen in Ihrem neuen Bureau noch einige praktische Winke geben.«

Mit komischem Gesichtsausdruck faltete der beleibte Herr die Hände und erwiderte: »Sie sind ein schrecklicher Mensch, Herr Doktor, und ich gäbe was darum, wenn mir der alte Schleicher, der Jude Hirsch, nicht in den Weg gelaufen wäre und mir Ihr Lob gesungen hätte. Denn sehen Sie, wenn ich jetzt Ihren Rat nicht befolge, werde ich mir jedesmal, wenn ich wieder so verstimmt und verzweifelt bin, Vorwürfe machen müssen: Warum hast du des Doktors Rat nicht befolgt? Und dabei – das kann ich sagen – graut es mir vor der Anwendung Ihres Rezepts. Na, in Gottes Namen, man kanns ja versuchen! Auf ein paar tausend Taler soll es mir nicht ankommen. Geben Sie mir die Adresse von Ihrem Henkersknecht, der mir meine behagliche Ruhe von morgen ab langsam aber sicher zu Tode foltern soll. Fällt mir eben ein, ein Bureau hätte ich schon. In einem meiner Häuser ist ein Laden an der Straße schon seit Wochen unvermietet, den könnte ich dazu benutzen und das mit dem Holz ist auch nicht übel. Wenn Sie mich morgen Abend um sieben Uhr mit Ihrem Besuch beehren wollen, will ich Ihnen sagen, ob die erste Pille schon gewirkt hat.«

In ähnlicher Weise, wie bisher beschrieben, arbeitete der Glücksdoktor noch zwei Tage in Selbstädt, und die wunderlichsten Menschen, alt und jung, reich und arm, suchten seine Sprechstunden auf. Aus dem kleinen Städtchen waren wohl hundert bei ihm gewesen. Manche gingen entrüstet fort und schalten ebenso erbittert über den alten Hirsch wie über den Doktor selbst. Den meisten aber hatte der Wink genützt, sie sahen ihr Leben in einem neuen Licht an. Das Glück, das sie bisher in Dingen oder Zuständen gesucht, die außerhalb ihres Könnens lagen, war ihnen plötzlich so handgreiflich und praktisch nahe gerückt, daß sie mit ein ganz klein wenig Selbstverleugnung und Willensanstrengung es zu ergreifen imstande waren.

Es darf daher niemand Wunder nehmen, daß sich bei des Doktors Abreise eine große Menge Menschen vor dem Gasthause einfanden. Schon stand der Reisewagen vor der Tür, nur der Doktor war noch nicht zu sehen. In dem dichten Menschenknäuel aber sprach man nur über ihn und seine Ratschläge. Der eine lobte dies, der andere jenes, und nur einem war höchst unangenehm zu Mut, – das war der alte Hirsch. Wiederholt schüttelte er sein Haupt, wenn er die Lobsprüche in nächster Nähe anhören mußte.

Da plötzlich ging die Tür auf, der Doktor trat reisefertig heraus. Da gab es ein Händeschütteln und Abschiednehmen, als wäre man lebenslang befreundet gewesen.

»Nie vergesse ich's Ihnen, Herr Doktor«, sagte eine feingekleidete junge Dame, »daß Sie mir die Augen für wahres Menschenglück geöffnet haben.«

»Wir bleiben in Ihrer Schuld!« rief der Baurat bewegt aus.

Und so ging es von allen Seiten. Hirsch spitzte die Ohren, um ja kein Wort davon zu verlieren, und gespannt lauschte er, als der Doktor mit bewegter Stimme sprach:

»Liebe Freunde! Einen kleinen Dienst habe ich nur leisten können: danket nicht mir, sondern Gott dafür, und wenn je in eurem Leben ihr euch wieder unglücklich fühlt, dann sucht die Schuld nicht in anderen, sondern in euch selbst. Erst muß das Menschenherz durch Jesu Christi Gnade zum Frieden mit seinem Gott kommen, und dann muß es auf das nächstliegende Glück, das doch nur Flitter und falscher Schein ist, auf die Befriedigung seiner Wünsche verzichten, um ganz für andere leben zu können. Darin werdet ihr immer wieder die Befriedigung und die Freude finden, die euch über Leid und Unglück hinüberhebt, das nicht zu ändern ist. Und dann ruhet nicht eher, bis ihr den Segen und das Glück aller solcher Erfahrungen für euch gewonnen habt, denn es steht sonnenklar in Gottes ewigem Wort geschrieben: »Denen, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Besten dienen.«

Eben wollte der Doktor den Wagen besteigen, da gab es eine unerwartete Störung. Ein vierschrötiger Mann, der eine verlegen errötende junge Frau hinter sich her zog, bahnte sich den Weg durch die Menge.

»Herr Doktor«, schrie er, »ich bin ja der Christian, wissen Sie, wo so dumm gedacht hat über seine Frau, die Kathrin, wissen Sie, und nun ist alles wieder gut, und wir sind gekommen um Ihnen zu danken, daß Sie uns wieder auf den Damm gebracht haben. Und die Kartoffeln und Wurstzipfel und den Kaffeesatz mag sie ihrem Tunichtgut von Bruder und seinen hungrigen Gören meinethalben alle Tage hintragen. Ich bin nur froh, daß das mit der Kathrin doch richtig steht, und ich werde auch kein Eisen mehr zerschlagen vor lauter Grimm und Wütigkeit, es hat jetzt eine andere Bewandtnis mit uns gekriegt.«

Ehe der Doktor auf diese laut und heftig ausgesprudelten Worte antworten konnte, wandte sich der Schmied zu den Umstehenden und sagte mit drohend erhobener Faust:

»Wenn aber noch einer in Selbstädt ist, der über unseren Glücksdoktor ein böses Wort sagt, der hat es mit mir zu tun!« Und er schwenkte seine geballte Faust in der Lust.

Es hatte wohl niemand außer dem Doktor bemerkt, wie bei diesen Worten das spähende Gesicht des alten Juden blitzschnell verschwand. Sein böses Gewissen lehrte ihn wieder einmal sich zu ducken.

Noch einmal verabschiedete sich der Doktor und unter den Zurufen der Dankenden fuhr er davon.

Die Menschen verliefen sich, nur einer blieb noch einen Augenblick, an die Wand des Hauses gelehnt, in tiefen Gedanken stehen. Er legte den Finger an die große Nase und sagte: »Ist der alte Levi Hirsch einmal doch recht dumm gewesen? Gibt es am Ende doch ein Glück, und er hat nur den Anschluß verpaßt? Wie kann es sonst sein? Entweder ist der Doktor ein Narr, und er hat all' diese Leute nur närrisch gemacht, oder der alte Levi Hirsch ist der Narr. Und wie wirds ihm dann gehen, wenn er einsam und unbeweint sterben muß, und sie tragen ihn hinaus auf den Judenkirchhof, und in der Stadt tun sie fragen; Wer ist heute begraben worden? Der alte Levi! Weiß jedes Kind, wer er ist und wird doch keiner eine Träne nach ihm weinen. Am Ende hat der Doktor doch Recht, und es gibt doch noch ein Glück. Soll man versuchen, zu machen dieses letzte Geschäft, was wird sein das Beste und das Größte von allen?«

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