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Ich stieg durch das Loch im Fußboden und kam in eine unterirdische Höhle. Sie war gewölbt, ganz ohne Fenster und mit einer riesigen eisernen Tür verschlossen. Zwei Lämplein brannten in dem Raum; vor dem einen saß ein grauhaariger Mann, bei dem andern lag auf einem Strohlager ein Jüngling, der erregt aufsprang, als er mich sah. Auch der Alte wandte sich um.
»Entschuldigen Sie, wenn ich störe,« sagte ich zu den beiden Gefangenen und machte eine artige Verneigung. Der Jüngere kam eilends auf mich zu, schaute mir scharf ins Gesicht, ergriff dann mit einem Gruße meine rechte Hand und zeichnete leise mit seinem Zeigefinger einen Kreis in meinen Handteller.
»Ich verstehe Ihr Geheimzeichen nicht,« sagte ich behutsam zu ihm.
»Oh – oh – Sie verstehen es nicht? Schade!« Sein Gesicht wurde traurig, und er wankte nach seinem Strohlager zurück. Nun wandte ich mich dem Älteren zu.
»Gestatten Sie, daß ich mich vorstelle: Der und der!«
»Ah, das freut mich,« sagte er höflich; »Professor Kardop mein Name! Sie sind Schlesier und wissen viel von schlesischer Geschichte?«
»Nein,« sagte ich ehrlich, »niemand weiß viel von Geschichte.«
»Wieso?«
»Geschichtswissenschaft ist ein Zusammenlesen roher Äußerlichkeiten, zu dem im günstigsten Fall etwas gutmütige Fantasiearbeit kommt; die intimsten Triebfedern und geheimsten Zusammenhänge bleiben uns ja selbst bei der eigenen Zeitgeschichte verborgen. Von der Vergangenheit wissen wir nicht viel mehr als nichts.«
Ich sagte diese tiefsinnigen Sätze in etwas protzigem, dozierendem Tone her.
Der Professor machte ein Gesicht, als wolle er um Hilfe schreien.
»Das ist die größte Brutalität, die mir in diesem Räuberneste widerfahren ist,« rief er.
Ich bat ihn um Entschuldigung und erklärte, daß ich vor jedem ehrlichen historischen Forscher einen riesigen Respekt habe. Darauf hörte er aber nicht. Sein Auge bohrte sich in den kalten grauen Estrich des Fußbodens. Dann sagte er langsam und feierlich:
»Ich möchte Sie um ein Geständnis ersuchen.«
»Bitte!«
Er sah mir starr ins Gesicht.
»Glauben Sie, daß Schweidnitz jemals eine römische Kolonie war?«
»Nein.«
»Nein – natürlich nein! Darauf kommt's auch gar nicht an; die Hypothese, Schweidnitz sei eine römische Kolonie gewesen, ist Blödsinn, ich möchte aber wissen, wie kommen die Diokletianmünzen in diese Schweidnitzer Erde? Auf welchem Wege?«
»Ich weiß es nicht – es ist mir auch völlig gleichgültig.«
Da wandte er sich verächtlich von mir ab.
Ich fühlte mich unbehaglich und wollte trachten, möglichst schnell aus der Höhle wieder hinauf in die tröstliche Nähe der Räuberwirtin zu gelangen, als mich ein Seufzer vom Strohlager her festhielt. Ich ging zu dem jungen Manne, der dort lag, und fragte ihn: »Ist Ihnen nicht wohl?«
»Ich dichte!« sagte er.
»Ah – sie dichten? Dann kann Ihnen ja allerdings nicht wohl sein. Gute Besserung!«
Ich wollte mich auf den Zehenspitzen zurückziehen. Er aber machte eine Gebärde mit seiner müden, weißen Hand, hob den Kopf ein wenig, so daß ihm eine schwarze Locke prächtig in die weiße Stirn fiel, und sah mich mit melancholischen, runden Augen an.
»Ich werde Ihnen etwas vortragen,« sagte er mit apathischer, leidender Stimme. Dann sanken ihm die schweren Lider auf die Augen, seine Lippen zuckten wie im Fieberdurst, und mit matter Stimme sprach er:
»Von den Gründen der Quallen
Zu dem Steinfinger,
Auf dessen morgenroter Fingerspitze
Der morgenrote Falke
Lacht,
Funkelt, mordet –
Geht eine Straße durch triefende Steine,
Irrt durch dunkle Räume,
Und auf ihr wurzeln fort, schleichen, rasen, flattern
Blumen und Molche, weiße Tauben und Tiger.«
Er sah mich erwartungsvoll an. –
»Originell!« sagte ich und lächelte verlegen.
Er war mit diesem Urteil nicht zufrieden und verzog das Gesicht.
»Haben Sie es verstanden?« fragte er, und als er mein betroffenes Gesicht sah, fuhr er gleich fort: »Ich werde es Ihnen noch einmal sagen:
Von den Gründen der Quallen
Zu dem Steinfinger – –«
Als er fertig war, fragte er wieder:
»Haben Sie es verstanden? Ist Ihnen der kalte Hauch einsamen Kampfes wenigstens ins Unterbewußtsein hineingeweht?«
Ich stand ganz hilflos da. Der Schweiß brach mir aus.
»–wurzeln fort, schleichen, rasen, flattern Blumen und Molche, weiße Tauben und Tiger.«
»Ich verstehe es nicht,« sagte ich.
Da wälzte sich der Dichter mit einem Seufzer auf die andere Seite und drehte mir den Rücken zu. In demselben Augenblicke trat der Professor wieder an mich heran.
»Sie haben ein Buch über die Wenden geschrieben?«
»Jawohl,« sagte ich beklommen.
»Also bitte mir Ihre Meinung zu sagen, ob sie glauben, daß die Lausitzer Sorben ihren Swantewit ebenso in Bastschuhen dargestellt haben wie die Wenden von Arkona. In Bastschuhen, mein Herr!«
»Es tut mir leid, Herr Professor, das ist mir nicht bekannt.«
»Er ist ein ganz ungebildeter Mensch,« klagte der Dichter mit weinerlicher Stimme von seinem Strohlager her. Der Professor hörte nicht darauf. Er grübelte.
»So – so – nicht bekannt – ob Bastschuhe? – Ich zweifle daran – woher hatten sie den Bast? – In Arkona stellten sie ihn in Bastschuhen dar, das weiß jedes Kind! Aber in der Lausitz? – Also, Sie wissen es nicht – so, so! Da möchte ich Sie mal was anderes fragen. Neuerdings beschäftige ich mich mit der Frage, wer die Version aufgebracht hat, daß der Name Schlesien aus dem altslavischen ze se slezi (die sich zusammenbetteten) entstanden sei. Können Sie mir sagen –«
Ich ergriff die Flucht. Mit drei Sätzen war ich an der Treppe, die nach oben führte, hörte aber noch, daß mir die beiden Höhlenbewohner Schimpfworte nachriefen. Der Dichter wimmerte: »Banause!« Der Professor sagte etwas schlimmeres, er sagte »Feuilletonist«.
Verängstigt steckte ich den Kopf oben durch die Mordluke und kletterte in die »kalte Küche« zurück, wo mich das Räuberweib, die Ernestine, mit schallendem Gelächter empfing.
Mir wurde wohl, als ich ihre klare Stimme hörte. »Das sind ja – das sind ja entsetzliche Kerle da unten!« keuchte ich. Die Ernestine ergriff mich an der Hand und zog mich hinaus. Die Tür hatte sie inzwischen geöffnet. Draußen sprach sie mit tiefer Stimme:
»von den Gründen der Quallen
Zu dem steinernen Finger –«
Sie sagte das ganze Gedicht her.
»Ernestine – auch du – auch du kannst diesen Blödsinn auswendig?«
»Es ist kein Blödsinn; es ist sein schönstes Gedicht.«
»Verstehst du es denn?«
»O, es ist sehr leicht zu verstehen.«
»Dann muß ich verrückt sein! Wenn du erlaubst, gehe ich ein wenig ins Freie.«
»Spinnst du auch wirklich keinen Verrat gegen uns?«
»Nicht den mindesten; ich gebe dir mein Wort darauf.«
»So geh'! Aber sieh zu, daß du mir die persischen Pantöffelchen nicht schmutzig machst. Und merk' dir die Losung: Die Anrede heißt »Dietrich«, die Antwort heißt »Rache«!«
Ich trat vor die Haustür, der Regen hatte aufgehört, aber der Novembersturm stieß hart um die Hausecke. Die Pappeln rauschten und reckten sich gespenstisch gegen den Nachthimmel. Ein Mann kam das Haus entlang geschlichen. Als er mich gewahrte, erschrak er.
»Dietrich!« sagte er leise.
»Rache!« flüsterte ich. Da kam er vertrauensvoll näher. Er trug eine abscheulich geflickte Jacke, Lederhosen, lange Stiefel, ein dickes Halstuch, einen spitzen Hut mit einer Feder. Der Bart war offenbar falsch, auch trug der Mann eine Perücke. Das auffallendste war, daß ihm auf der kühnen Räubernase ein goldener Kneifer von tadelloser Eleganz sah. Das Gestell wies das neueste Modell auf.
»Kennst du mich?« fragte er.
»Nein, ich hatte noch nicht das Vergnügen. Aber du scheinst ein forscher Junge zu sein.«
Er lächelte geschmeichelt.
»Ich bin der rote Ignaz,« sagte er mit Betonung.
Er erwartete, daß ich eine freudige Überraschung bezeigen würde, aber sie blieb aus.
»Du kennst wohl den roten Ignaz gar nicht?« fragte er verdrossen, »wie kommst du überhaupt in dieser windigen Stadttracht hierher?«
»Ich bin ein alter Freund des Hauses.«
»Hast du einen ›Sieh dich für‹-Namen?«
»Natürlich: der bleiche Emil.«
Er schüttelte den Kopf.
»Ein berühmter Mann scheinst du nicht zu sein; ›der bleiche Emil‹ ist kein bekannter Name.«
»Ich war immer ein Stümper in der Räuberei,« gestand ich verlegen, »und die Ernestine nennt mich meist mit meinem bürgerlichen Namen.«
»Da mußt du nicht viel taugen,« sagte er. »Wie kann nur einer vom roten Ignaz nichts gehört haben!«
»Was hast du denn Großes getan? Wenn du ein so berühmter Räuber bist, warum läufst du dann mit diesem goldenen Gucker herum?«
Es ärgerte ihn, daß ich ihn auf die Stilwidrigkeit seiner äußeren Erscheinung aufmerksam machte. »Mir scheint, ein solcher Gucker,« sagte er, »ist für unser Handwerk immer noch eher zu gebrauchen als eine Bügelfalte in der Hose oder ein seidener Selbstbinder, wie du ihn trägst. Was den Zwicker anbelangt, so ist er nur Notbehelf. Meine Hornbrille hat mir der verliebte Kranz zerschlagen.«
»Der verliebte Kranz hat schlechte Manieren,« warf ich ein, »sonst hätte er der Barbara, dem Gegenstande seiner zarten Verehrung, nicht ein Totengerippe ins Bett gelegt. Woher hast du denn den Zwicker? Gekauft?«
»Na, höre, da kennst du den roten Ignaz schlecht. Erbeutet habe ich ihn. Er paßt mir zwar nicht? die Gläser sind so scharf, daß mir die Augen tränen, wenn ich durchsehe; ich bin überhaupt nicht kurzsichtig, der Zwicker ist bloß ein Siegeszeichen. Er stammt ans dem Überfalle in der Hundekehle.«
»Wann war denn der?«
»Mensch, du weißt rein gar nichts! Vor knapp drei Tagen war's. Da haben wir zwei Pfeffersäcke aufgehoben. Das war ein Hauptspaß!«
»woher waren denn die Pfeffersäcke?«
»Aus Breslau natürlich. Und hatten sich fünf Schergen mitgebracht zum Schutz. Wollten es wagen, zur Nachtzeit mit einem schwerbeladenen Wagen beim ›Sieh dich für‹ vorbeizukommen. Ich sage dir, bleicher Emil, soviel Hiebe wie diese Kerle hat selten jemand gekriegt. Natürlich alles weggenommen, Wagen, Pferde, den Zwicker, und die Kerle selbst eingelocht. Saubere Arbeit!«
»Sind die Gefangenen noch hier?«
»Nein – fort sind sie. Am zweiten Tage. Der glucksende Tobias hat uns verraten, hat sie nächtlicherweise freigelassen. Wenn wir ihn erwischen, bescheint ihn weder Mond noch Sonne mehr.«
»Das kann ich mir denken! Habt ihr sie nicht verfolgt?«
»Natürlich haben wir das! Aber alle im Dunkel entwischt bis auf einen, der sich auf einen Straßenstein gesetzt hatte, weil er mitten auf der Flucht ein Gedicht machen mußte!«
»Ah – der? Von dem Grunde der Quallen bis zu dem steinernen Finger – ?«
»Jawohl, der! Ein ekelhafter Kerl. Warum wir den hier durchfüttern, weiß ich nicht. Er ist völlig übergeschnappt.«
»Höre mal, Ignaz, was hat das eigentlich mit den Schergen auf sich?«
Er sah mich mißtrauisch an.
»Das weißt du auch nicht? – Am Ende – am Ende gehörst du gar nicht zu uns.«
»Würde ich da die Losung wissen, würde ich die Strümpfe der Ernestine und die Pantoffeln der Zigeunerprinzessin tragen? Nein, ich bin bloß zu lange nicht hier gewesen, und so bin ich nicht mehr auf dem laufenden.«
Er überlegte noch hin und her, ich mußte weitere Versicherungen geben; dann sagte er:
Also die Schergen –«
Hier folgte eine Reihe langer, so schwerer Verwünschungen, daß sich das Papier weigert, sie wiederzugeben.
»Also die Schergen sind jetzt eine elende Bande, die sich in Breslau gebildet hat zur Bekämpfung der ›Sieh dich für‹-Leute. Sie haben uns schon kolossale Schabernacke gespielt, aber wir ihnen auch. Ihr Anführer heißt Dietrich. ›Ritter Dietrich‹ nennt sich der Esel und will allen ›Sieh dich-fürlern‹ den Hals absäbeln wie weiland sein Vorgänger in der ›Kalten Küche‹. Das Gericht der Straße will er ausüben, der Trottel!«
»Ach, jetzt verstehe ich die Ernestine. Sie hielt mich für einen Spion der Polizei. – Die eigentliche Polizei – ich meine die öffentliche, amtliche Polizei – hat euch wohl immer in Ruhe gelassen?«
Ignaz lachte.
»Einmal hat der schnöde Wilhelm einen Taler Flurschaden bezahlen müssen, weil er einer Witwe durch die Gerste gegangen war. Sonst tut uns die Polizei nichts. Sie weiß nichts von uns, und das hat seinen Grund.«
»Welchen?«
»Der Amtsvorsteher gehört auch zu uns.«
»Ach,– das ist gut!«
»Natürlich kommt er nur verkleidet. Aber er tut oft mit. Er heißt bei uns das ›zugedrückte Auge‹. Heut sitzt er auch drin. Er ist noch jung und ein strammer Kerl.«
Während der ganzen Zeit war dumpfes Geräusch aus der Gaststube gedrungen.
»Sind viele drin?«
»Sieben.«
»Plant ihr diese Nacht was?«
»Kann man noch nicht sagen.«
»Was macht ihr aber, wenn mal spät abends ein fremder Luchser vorbeigeht und herein will?«
»Dafür stehe ich ja Wache. Dann wird das Licht ausgelöscht; alles schläft, und es wird nicht aufgemacht.«