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Die Gewissenserforschung

Wenn ich jetzt einmal in meine Heimat komme und den großen schöngewachsenen Heinrich Schmitzke des Sonntags zur Kirche gehen sehe, gut gekleidet vom Scheitel bis zu den Zehen, und um ihn her seine Schar Kinder, von denen auch eines so ordentlich aussieht wie das andere, dann freue ich mich dieses braven Arbeitsmannes und denke daran, daß oft ein recht bescheidenes Maß von Schulbildung dazu genügt, im Leben und am gehörigen Platz ein ganzer Kerl zu werden.

 

Denn um Schmitzkes Schulbildung stand es schlecht. Ich kann das sagen; wir waren Kommilitonen, haben als Dorfbüblein acht Jahre lang in derselben Schulstube gesessen.

Als wir dreizehn Jahre alt waren, kam ein Frühlingsmorgen, an welchem unser weißhaariger Lehrer die Hände über seiner kleinen Figur faltete und mit bewegter Stimme sagte:

»Ihr Großen, ihr geht heute nachmittag zur ersten heiligen Beichte. Ihr wißt aus dem Unterricht, welch ein wichtiger Tag das für euch ist. Geht jetzt hinüber in die Kirche und bereitet euch würdig vor!«

 

Darauf erhoben sich die »Großen«, zu denen auch Schmitzke Heinrich und ich gehörten, von ihren Plätzen. Ein jedes entnahm aus der Schultasche einen mächtigen Bogen Papier, der als »Sündenzettel« dienen sollte, nahm ein Tintenfaß aus dem Loch und klemmte einen Federhalter hinters Ohr. So ausgerüstet für unseren Bußgang verließen wir die Bänke, fast ehrfürchtig bestaunt von den kleineren Zurückbleibenden. Einer von uns trat an den alten Lehrer heran und brömmelte etwas Unverständliches, was ungefähr lauten sollte: »Herr Lehrer, wenn wir Sie etwa einmal beleidigt oder gekränkt hätten, bitten wir um Verzeihung.« – »Gehet in Gottes Namen!« sagte der gute Mann mit feuchtem Blick. In diesem Augenblick wußte er wohl selber nicht, ob wir ihn in den sieben langen Jahren der Schulzeit »etwa einmal gekränkt« hätten.

 

Durch den Frühlingssonnenschein zog die kleine Büßerschar über die Dorfstraße der Kirche zu, Büblein und Mägdelein, jedes stumm vor sich hin sehend. O Gott, welch eine Wandlung! Sonst tollten dieselben Jungen und Mädel auf dem »Kirchberg« oft so laut, daß die lieben Toten hinter der Mauer erwacht wären, wenn sie nicht gar so tief geschlafen hätten, und nun sprach keines von der wilden Schar ein Wort, sah keines das andere an.

Im tiefen heiligen Gottesfrieden lag die Kirche. Die Sonne ließ das Kleid des heiligen Michael über dem Hochaltar wie Gold aufleuchten, und ihre Strahlen funkelten in dem roten Glase der ewigen Lampe, daß es wie ein flammender Rubin in silberner Schale war. Behutsam gingen die Kinder, viele auf den Zehenspitzen, und am Altar knieten alle nieder. Ein Mädchen begann, und alle Kinder sprachen mit:

»Komm, heiliger Geist, erfülle die Herzen deiner Gläubigen und entzünde in ihnen das Feuer deiner Liebe!«

Darauf begaben wir uns nach den Bänken. Auf die Kniebänkchen setzten wir uns, die Sitzbänke dienten uns als Schreibfläche. Wer in die Kirche getreten wäre, hätte keine Seele erblickt; denn die kleinen Büßerlein steckten alle in der Tiefe. Es war ganz still; zuweilen nur kratzte eine Feder oder irgendeiner oder eine schlich sich zum Altar zurück, um noch einmal um Gnade und Beistand zu bitten. So erforschte ein jedes sein Gewissen und schrieb die Sünden auf, die es glaubte begangen zu haben.

Endlich ist einer fertig. Sein Kopf taucht aus der Tiefe, um nach den anderen auszuschauen; da aber niemand zu erblicken ist, meint er, zu voreilig gewesen zu sein, und taucht wieder unter. Und währenddessen strahlt immerfort der lichtgoldene Engel über dem Altar, und sein Angesicht lächelt.

Schließlich ist aber doch zu hören, wie eines der Kinder nach dem anderen seinen Sündenzettel zusammenfaltet und behutsam in die Tasche steckt. Die Schar sammelt sich wieder, am Altar wird gemeinsam das Reuegebet gesprochen, und dann wird die Kirche verlassen.

Wir stehen wieder im Frühlingslicht draußen und gehen den Kirchberg hinab. Da gesellt sich mein Spezialfreund, der Siegert Karl, zu mir und sagt mit wichtiger Miene:

»Der Schmitzke Heinrich hat seine sämtlichen Sünden von mir abgefetzt.«

O Schmitzke! Du fetztest ja immer ab: alle Aufsätze, alle Diktate, alle Rechenexempel, alle anderen schriftlichen Aufgaben. Es war selbstverständlich, daß du abfetztest; du hattest dir das Recht dazu durch viele Rüffel, viel Nachsitzen und viel Prügel sauer verdient. Aber die Sünden abfetzen – das ging zu weit!

In der letzten Schulstunde, die wir hatten, wurde ich von schlimmen Gewissenszweifeln geplagt. Wenn Schmitzke – das stand fest bei mir – mit dem abgeschriebenen Sündenzettel zur Beichte ging, ging er unwürdig, beging er einen schweren Frevel. Und ich, der ich darum wußte, mußte diesen Frevel verhüten, sonst machte ich mich selbst schuldig. Ich mußte dem Lehrer oder gar dem Pfarrer mitteilen, was geschehen war. Das aber brachte ich nicht fertig; ich hatte in meinem Leben noch nicht geklatscht. So war ich an dem Tage, der für mich ein Tag tiefsten Seelenfriedens werden sollte, in einer Herzensnot wie nie zuvor im Leben. Endlich verfiel ich auf einen Ausweg.

Auf dem Heimweg aus der Schule nahm ich Schmitzke beiseite.

»Du hast vom Siegert Karl deine Sünden abgeschrieben«, sagte ich mit der Miene eines Inquisitors.

»Das geht dich gar nischt an!« erwiderte der Sünder patzig.

»Das geht mich wohl was an!« entgegnete ich streng und hielt ihm eine religiöse Auseinandersetzung des Standpunktes. Schmitzke senkte den Kopf.

»Ich kann's nich«, sagte er traurig.

Da tat er mir leid.

»Heinrich«, sagte ich milder; »wir gehn erst um drei zur Beichte. Wenn du um zwei in der Kirche bist, werd' ich dir helfen die Gewissenserforschung machen, und die gilt dann. Willst du?«

Schmitzke nickte bloß und ging zu den anderen. Um zwei Uhr holte ich mir die Kirchenschlüssel und schloß die Vorhalle auf. Dort stand eine Bank mit einer Fußbank, auf denen sich gewöhnlich die Paten ausruhten, wenn sie ein wenig mit dem Kinde auf die Taufe warten mußten. Schmitzke Heinrich war schon da.

Ich setzte mich auf die Fußbank und breitete ein großes Blatt Papier auf der Sitzfläche der vor mir stehenden Bank aus.

»Nu, Heinrich, nu mußt du mir aber alles sagen, was du gemacht hast, darfst nischt auslassen, und ich werd' alles richtig aufschreiben«, so sagte ich mild, doch ernst.

Schmitzke nickte. Und ich begann nach den zehn Geboten abzufragen: »Hast du das gemacht? Hast du das gemacht?« Schmitzke nickte oder schüttelte mit dem Kopf, je nachdem er sich schuldig bekannte oder nicht. Wir kamen rasch voran. Auch über das sechste Gebot, das alle Keuschheitssünden umfaßt, kamen wir ganz glatt hinweg.

Nun das siebente Gebot. »Hast du gestohlen?« fragte ich Schmitzke. Da machte er eine grimmige Miene, holte mit der Hand aus und sagte:

»Ich werd' dir gleich eine reinhaun!«

Ich merkte, Schmitzke fühlte sich beleidigt, von mir, seinem Beichthelfer, beleidigt! Ich fand das ungehörig, ich sah aber ein, daß ich mit Strenge nicht weiterkam, und sagte also so nebenher:

»Nu, ich zum Beispiel, ich hab' Äppel gestohlen.« Da besänftigte sich Schmitzke.

»Och«, sagte er, »Äppel hab' ich natürlich ooch gestohlen. Massig!«

»Und Schinkenscheiben abgeschnitten hab' ich«, fuhr ich fort.

»Wir haben keenen Schinken«, sagte Schmitzke.

Da war er mir moralisch über.

Um halb drei waren wir mit der Gewissenserforschung fertig. Ich hatte alles, dessen sich Schmitzke schuldig fühlte, mit kalligraphischen großen Buchstaben auf den Zettel geschrieben, überreichte ihm nun dieses Verzeichnis und sagte:

»Das sind deine Sünden. Die mußt du im Beichtstuhl ablesen. Dann ist alles in Ordnung.«

Schmitzke nickte. Danke sagte er nicht. Das wäre ihm dumm vorgekommen.

Es erschienen nun bald die anderen, und um halb drei kam der Pfarrer, legte sich die blaue Stola um und setzte sich in den Beichtstuhl.

Ohne alle Frömmelei gesprochen: es war eine der gewaltigsten Stunden meines Lebens. Das Bewußtsein, Rechenschaft geben zu müssen über mein Denken und Handeln, schlug sich tief in mein Herz.

Ein Kind nach dem anderen ging an den stillen Beichtstuhl heran und kam bald mit einem heimlichen Glück im Auge zurück. Ich war bei den ersten und hätte die Kirche verlassen können. Doch ich blieb, Schmitzke, mein Gewissens- und Sorgenkind Schmitzke, war noch nicht dran gewesen. Richtig, er hatte sich an den allerletzten Platz gestellt, der arme Zöllner. Ich saß so, daß ich den Beichtstuhl sehen konnte. Jetzt endlich kam Schmitzke dran. In der linken Hand hielt er den von mir geschriebenen Zettel, mit der rechten fuhr er sich ein paarmal durch seine struppigen Haare.

So, jetzt kniet er. Jetzt fängt er an, seine Sünden abzulesen. Aber was ist das? Der Geistliche wendet sich zu ihm, spricht auf ihn ein, und mein Sündenzettel flattert langsam zur Erde. Oh, mir schwante nichts Gutes. Ich schwitzte; ich hatte bei Schmitzkes Beichte viel mehr Angst als bei der eigenen. Ich sehe, daß der Pfarrer immerfort mit Schmitzke spricht. Was hat das nur zu bedeuten? Jetzt endlich – jetzt scheint's zu Ende. Der Pfarrer setzt sich aufrecht, nimmt das Barett vom Kopf, beginnt die Lossprechungsworte zu sagen. Da plötzlich, da reißt Schmitzke aus. Jedenfalls dachte er, seine Bußpredigt habe er nun weg und könne gehen. Ich litt unbeschreiblich. Der Pfarrer kommt aus dem Beichtstuhl, holt den flüchtigen Schmitzke zurück. Noch einmal spricht er lange auf ihn ein, und zum Schluß kniet Schmitzke wie ein Lamm, während der Pfarrer mit erhobener Hand das Ego te absolvo über ihn spricht.

*

Wir gingen nach Hause. Schmitzke gesellte sich zu mir. Ich sagte gar nichts. Da fing er von selber an. Er hatte den von mir geschriebenen Sündenzettel nicht lesen können. Da hatte ihm der Pfarrer gesagt: Sieh mal, Junge, jetzt bist du nun sieben Jahre lang in die Schule gegangen und kannst nicht mal das lesen, was du selber geschrieben hast.

»Und«, sagte Schmitzke, der in gewissen Punkten ein sehr feines Ehrgefühl hatte, »das konnte ich mir doch nicht gefallen lassen. Da hab' ich gesagt: das hab' ich ja gar nich geschrieben, das hat ja der Keller Paul geschrieben.«

Darauf Frage und Antwort, und mein Sündenzettel flatterte zu Boden – der Herr Pfarrer fragte Schmitzke selber ab.

Er wird es besser verstanden haben als ich; aber ich denke noch heute gern an die Stunde, da ich im Abendschein des schönen Frühlingstages im tiefen Herzensfrieden mit Schmitzke Heinrich die Straße meines Heimatdorfes hinaufging, und ich freue mich, sobald ich jetzt einmal nach Hause komme, wenn ich Schmitzke am Sonntag als armen, aber kreuzehrlichen Mann mit seinem Häuflein sauberer Kinder zur Kirche gehen sehe, zur selben Kirche wie einst.


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