Paul Keller
Hubertus
Paul Keller

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Vierzehntes Kapitel.

Sommerfrischler. – Rettungsversuche. – Balthassar neuer Fährte. – »Krach.«.

Es sind Sommerfrischler bei uns. Unten die »Traube« ist ganz besetzt; auch viele Bauern haben ihre »guten Stuben« vermietet, und mancher kleine Häusler hat sich mit Weib und Kind in einen Winkel zusammengedrängt, nur um seine Wohn- und Schlafstube in der »Saison« nutzbringend zu verwenden.

Es gibt zwei Sorten von Sommerfrischlern: gewöhnliche und bessere.

Der gewöhnliche Sommerfrischler ist ein Städter, der zu wenig Geld hat, um mit seiner Familie in ein Bad zu ziehen, und das auch freimütig sagt; der »bessere« Sommerfrischler hat auch zu wenig Geld, um mit seiner Familie in ein Bad zu gehen, aber wo es nur irgend angängig ist, erzählt er seufzend, daß er des zu geräuschvollen Badelebens mit den Jahren überdrüssig geworden sei und sich nun mal nach Stille und Einfachheit sehne; er beneide seine nächsten Freunde und Verwandten, die in Zoppot, Sylt und Reichenhall säßen, durchaus nicht. Der gewöhnliche Sommerfrischler trägt einfache städtische Kleider und spricht hochdeutsch; der bessere dagegen trägt in Schlesien oder Thüringen oberbayerische Kostüme mit Wadenstrümpfen, Federhütlein und dergleichen und spricht einen Dialekt, der ein Gemisch von Wienerisch, Hamburgisch, Berlinerisch, Mikoschisch, dem eigenen Großstadtjargon und etwa fünf Prozent des Ortsdialektes ist. Das soll spaßig und leutselig sein. Die Bauern lachen ihn aus oder ärgern sich über das Sprachgesudele – je nachdem. Der gewöhnliche Sommerfrischler geht still seiner Wege, zieht mit den Kindern nach dem Felde, schläft, spielt oder botanisiert dort und kommt nur zu den Mahlzeiten zurück; der bessere dagegen ist ein Hans Dampf in allen Gassen, er hält den Bauern überall durch sein »Interesse« von der Arbeit ab und durchstöbert und durchschnuppert Haus und Hof, während seine Kinder im Garten, im Getreidefeld oder auf der hohen Wiese »Blumen pflücken«. Der gewöhnliche Sommerfrischler bezahlt bieder und still die von ihm verlangten Beträge, der bessere ersieht seinen höchsten Triumph darin, billige Bezugsquellen zu entdecken. Der gewöhnliche Sommerfrischler gibt am Schluß den Dienstboten ein anständiges Trinkgeld; der bessere dagegen findet, daß die Dienstboten in den letzten Tagen unaufmerksam und frech gewesen seien, weshalb sie »zur Strafe« von ihm gar kein oder nur ein ganz geringes Trinkgeld erhalten. Der gewöhnliche Sommerfrischler darf wiederkommen; dem besseren passiert es häufig, daß ihm im nächsten Jahre die Wohnung als »schon besetzt« bezeichnet wird.

Mit Balthassar bin ich mal wieder nicht einer Meinung. Ich weiß, wie notwendig die Städter einen Landaufenthalt haben, und wünsche, daß sie immer mehr erzogen werden, sich in das Landleben einzufügen. Balthassar dagegen möchte alle miteinander »rausschmeißen«. Ich habe ihm gesagt, »Rausschmeißer« seien niemals gute Politiker. Er hat entgegnet, was er als Gutsinspektor und Amtsvorsteher für Politik zu treiben habe, werde er sich weder von mir noch von einem anderen sagen lassen.


Ich bin wohl gerade in das lauteste Jahr dieses Waldtales hineingeraten. Wir haben schon wieder neue Aufregung. Die alte Krügeln ist aus dem Untersuchungsgefängnis entlassen worden. Es hat geheißen: das gewaltsame Ende der Bianka sei als Totschlag, begangen durch ihren Mann, erwiesen; der Verdacht, daß die Frau den Sägemüller bestohlen oder seine Gebäude angezündet habe, lasse sich nicht aufrechterhalten, also sei sie zu entlassen.

Die Alte ist zum Sägemüller gegangen, ihn zu bitten, sie in der Moorhütte weiter wohnen zu lassen. Der Sägemüller hat einen Wutanfall bekommen, die Alte am Halse gewürgt und sie hinausgeworfen, sich aber nicht darum gekümmert, als die alte Krügeln doch wieder in die Moorhütte zog.

Bönisch ist sonst ganz teilnahmslos geworden. Er lauert nur alle Tage auf den Briefträger, ob er ihm nicht endlich Kunde von dem Sohne bringe. Der rauhe Alte hat eine abgrundtiefe Liebe zu seinem Sohne. Er hat sechs Kinder gehabt. Drei sind an Kinderkrankheiten gestorben; eines ist beim Schlittschuhlaufen eingebrochen und umgekommen; eines ist im Maschinenhaus der Säge durch einen Treibriemen so verletzt worden, daß es starb. Nur Emil blieb ihm. Und als Emil Wintersport trieb, dachte der Vater an das eingebrochene Kind, und als sich der Emil an der Brettschneide verging, dachte er an das andere, das der Treibriemen erfaßte. Und er wurde rasend.

Wie soll sich auch eine so schlichte Seele, die in so tiefer Einsamkeit und menschlicher Verlassenheit ist, zurechtfinden, wie soll sie solche Schicksalsschläge ertragen?

Es fiel mir oft ein, ich müsse mich um den alten Bönisch bekümmern; er dürfe nicht so einsam und menschenverlassen bleiben. Ich dachte an Erika Isenloh, die überall zugriff, wo sie ein Schicksal in Gefahr glaubte. Aber ich war älter als Erika, viel skeptischer als sie; ich wußte, wie schwer es ist, ein strandendes Schiff zu retten.

Erika ging immer wieder mutig ans Werk. Ich zögerte.

Einmal aber suchte ich den Sägemüller auf. Es bedurfte geraumer Zeit, ehe er mich zu sich ließ. Ich sagte ihm auf den Kopf:

»Lieber Bönisch, Sie sehnen sich nach Ihrem Sohne!«

Er ächzte.

»Sehen Sie, Bönisch, eine Schuld ist ja für Ihren Emil gar nicht erwiesen. Der Steckbrief hat Sie so aufgeregt. Aber das müssen Sie sich ausreden lassen. Das Gericht verfährt nun einmal so. Und Sie sehen ja, wenn nichts erwiesen wird, kommt es zum Freispruch. Das sehen Sie doch sogar an der alten Krügeln.«

Das war ungeschickt. Bönisch kam in unsinnige Wut.

Er verfluchte die Krügeln, den Krügel und ihre Enkeltochter Bianka in alle Abgründe der Hölle.

Gib acht, Hubertus, dachte ich, sonst bringst du bei allem guten Willen dem strandenden Schiff ein neues Leck bei! »Herr Bönisch, ich meine ja bloß: Ich halte Ihren Emil für einen guten Menschen.«

Er sah mich erschrocken an. Dann sagte er lallend:

»Was – was sagten Sie eben?«

»Ich halte Ihren Emil für einen guten Menschen.«

Da weinte er. Weinte bitterlich. Und nickte immerfort mit dem Kopfe.

Ich ließ ihm lange Zeit. Dann sagte ich:

»Sie müssen mir das nicht übelnehmen, wenn ich mich in Ihre Angelegenheit einmische. Aber ich glaube, ich finde mich in der Welt zurecht, und wenn es Ihnen recht wäre, würde ich Ihnen beistehen, Ihren Sohn suchen helfen.«

Er stierte mich an.

»Was wollen Sie?«

»Ihren Emil ausfindig machen helfen.«

Da geriet er abermals in Wut.

»Ich weiß schon, was das heißt – einsperren wollen Sie ihn – einsperren – Sie und der Balthassar – der mein Feind von jeher ist – machen Sie, daß Sie rauskommen!«

Der Alte stand mir schnaubend gegenüber. Ein paar Worte, die ich noch sprach, waren ganz nutzlos; es blieb mir nichts anderes übrig, als zu gehen.

Ich erholte mich erst etwas, dann ging ich nach der Schule. Dort erzählte ich mein ganzes Erlebnis Erika Isenloh.

Sie sah mich freundlich an und sagte:

»Es ist gut von Ihnen, Herr Hubertus, daß Sie es mit dem alten Bönisch versucht haben. Aber es ist schwer, andern zu helfen. Wenn Sie es schon nicht fertig bringen, was soll dann ich sagen?« »Erika, Sie sind geschickter als ich.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein! – Ich habe noch nichts erreicht. Elisabeth Ranke ist – glaube ich – schon heut verloren.«


Die alte Krügeln führte in der Moorhütte ein menschenscheues Dasein. Seit sie im Gefängnis gewesen ist, hat sie als Kartenlegerin an Ruf nur gewonnen. Das Weibsvolk drängt sich zu ihr. Sie läßt aber niemand vor und verschmäht die reichen Einkünfte, die sie haben könnte. Die Frau Staatsanwalt aus der Stadt soll sogar dagewesen sein und zehn Mark geboten haben. Auch sie ist abgewiesen worden.

So sagen die Leute. Weiß nicht, ob's wahr ist.

Bönisch schimpft auf die Krügeln, weiß aber nicht, wie er sie aus der Moorhütte herausbringen soll. Mit dem Wachtmeister mag er nicht reden; er glaubt, daß dieser ständig nur nach seinem Sohne fahnde. Aus dem gleichen Grunde geht er Balthassar und neuerdings auch mir aus dem Wege. Der Sohn – der Sohn!


Ich glaube nicht, daß Balthassar sich durch die Lektüre von Detektivgeschichten die Phantasie erregt hat – ich glaube überhaupt nicht, daß er außer der Zeitung etwas liest –, aber er fühlt nun einmal so ein Stück Geheimpolizisten in sich, und insonderheit der Fall Krügel läßt ihm keine Ruhe.

Gestern kam er in neuer Aufregung zu mir mit einer neuen »Lösung« des »mysteriösen Falles«.

»Es ist doch die alte Krügeln gewesen,« platzte er heraus. »Was ist sie gewesen?«

»Sie hat die Bianka erschlagen.«

»Herr Balthassar! Wenn doch Timm sie erschlagen hat!«

»Ich habe mich inbetreff Timms getäuscht. Selbst ein Amtsvorsteher kann sich mal täuschen. Ich werde die Krügeln überführen, den Krügel aus dem Zuchthause befreien und Herrn Timm jede von ihm gewünschte Ehrenerklärung geben, ebenso natürlich seiner Braut, Fräulein Emilie.«

»Das ist schön von Ihnen, Herr Balthassar. Aber Sie sagten mir selbst, die alte Krügeln hatte gar keine Veranlassung, ihre Enkeltochter zu töten, da diese ihr Anreißer, ihre beste Geldquelle, wie Sie sagten, das beste Pferd in ihrem Stalle war.«

»Stimmt schon! Stimmt aber alles rein gar nicht. War sehr logisch gedacht, aber leider ganz falsch. Das kommt vor bei der Logik. Wissen Sie, was die Alte vorige Weihnachten getan hat? In die Lebensversicherung hat sie ihre Enkeltochter eingekauft. Mit sechstausend Mark. Es ging damals ein Agent hier im Dorfe um, hat mir auch neue fünftausend aufgeschwatzt zu dem ganzen Lastenkram, den ich anhangsloser Mann an Sterbegeldern, Lebensversicherungsprämien, Invalidität usw. schon habe. Also, die Krügeln hat ihre Bianka mit sechstausend versichert. Stellen Sie sich doch das vor von einem solchen Holzhackerweib! Der Mann verdiente in einem Vierteljahr nicht soviel, wie die Prämie betrug.«

»Sie hatte ihre Nebeneinnahmen.«

»Wenn auch! Diese hohe Prämie hätten die Krügelleute auf die Dauer nicht aufgebracht. Nein, die Rechnung der alten Teufelsmegäre war einfach so: Ich versichere die Bianka, dann schlage ich sie tot, und dann kriege ich sechstausend Mark. Glattes und einfaches Geschäft! Ist Ihnen das einleuchtend? Der Kerl, der Agent, war doch heute bei mir. Der Versicherung ist die Sache auch höchst verdächtig.«

Ich zuckte die Achseln.

»Die hohe Versicherung ist ja seltsam; aber sie kann auch einem anderen Gedankengang, als Sie annehmen, entsprungen sein. Die Krügeln glaubte aus den Handlinien ihrer Enkeltochter bestimmt zu wissen, daß diese nur noch ein halbes Jahr leben werde, und kann da schon auf den Gedanken gekommen sein, die Todeskandidatin vorher hoch zu versichern.«

»Handlinien! An so was glauben Sie doch nicht?«

»Freilich nicht! Aber die Krügeln glaubt daran, und das ist's, was hier in Frage kommt.«

»Ah, Sie wollen mir bloß wieder Wasser in meinen Wein schütten. Aber ich lasse mich nicht vom Wege abbringen. Wenn ich mich auch mal täusche – ich suche doch wenigstens; Sie – entschuldigen Sie nur – Sie tun ja gar nichts in der Sache!«

»Oho – ich suche auch!«

»Nach wem?«

»Nach Emil Bönisch.«

»Sie behaupten, daß Emil –«

»Ich behaupte nichts. Ich frage mich nur nach der nächstliegenden Lösung. Emil war mit Bianka zusammen; er lief ihr nach, er war rasend eifersüchtig, Bianka war ein flatterhaftes Ding; was liegt näher als die Annahme, daß er ihr unterwegs begegnet ist, sie vielleicht auf neuer Untreue ertappt und erschlagen hat. Und warum verschwand er?«

»Weil er seinen Vater bestohlen, ihm wahrscheinlich die Mühle angezündet hat.«

»Und wer hat die Bianka getötet?«

»Die Krügeln. Sie benutzte die doppelt gute Gelegenheit, die den Verdacht auf ihren Mann oder auf Emil lenken mußte.«

»Etwas weit hergeholt, Herr Balthassar. Ich bin auch erst nach und nach zu der Meinung von Fräulein Isenloh gekommen, daß Emil die Bianka getötet hat.«

»Auch die Isenloh glaubt das?«

»Ja.«

»Verdammt, da heißt es allerdings aufpassen; denn die hat einen hellen Kopf.«

Ich überhörte das wenig Schmeichelhafte, das in diesen Worten für mich selbst lag; ich freute mich zu sehr, wenn Erika gelobt wurde.

Balthassar wanderte nachdenklich hin und her. Endlich sagte er:

»In der Bibel steht: Unser Wissen ist Stückwerk. Das stimmt auffallend! Na, verfolgen Sie Ihre Spur, ich werde meine Spur weiterverfolgen. Was Herrn Timm anlangt, so habe ich zunächst einen Brief an Fräulein Emilie geschrieben. Bitte, mal Einsicht zu nehmen.«

Er reichte mir einen großen Briefbogen hin.

»Sehr geehrtes Fräulein!

Der Verdacht, den ich in amtlicher Eigenschaft und berufsmäßig auf Herrn Max Timm gerichtet hatte, scheint sich nicht zu bewahrheiten. Ich beeile mich, Sie davon in Kenntnis zu setzen und zugleich als Ehrenmann meinem Bedauern Ausdruck zu geben, falls Ihnen etwa durch mich inbezug auf Ihren Herrn Bräutigam Unannehmlichkeiten erwachsen sein sollten.

Ergebenst

Balthassar, Amtsvorsteher.«

»Nu?« fragte er, auf meine Kritik begierig.

»Gut!« sagte ich. »Sehr gut!«

»Schicke ich heute noch ab!«

Diese Unterredung fand in meiner Sommerlaube statt. Der deus ex machina ist in der Kunst verpönt, im Leben tritt er oft genug in Erscheinung.

Just kam Vater Jensch, unser Briefträger, den Gartenzaun entlang.

»Tag, Herr Hubertus. Wissen Sie, wo Ihr Timm ist? In Bremen. Nächste Woche macht er auf einem Dampfer nach Amerika hinüber.«

»Woher wissen Sie denn das?«

»Auf dieser Postkarte steht's, die ich Ihnen bringe.«

Er reichte mir die Karte über den Zaun, und ich gab ihm erfreut ein Trinkgeld.

»Von Timm?« fragte Balthasar neugierig. Ich las ihm die Karte vor.

»Hochverehrter gnädiger Herr!

Ich bin europamüde. Habe in der alten Welt zu trübe Erfahrungen gemacht. So habe ich eine gute Stelle als stellvertretender Obersteward auf einem der größten Lloyddampfer angenommen und gedenke, schon nächste Woche zunächst nach Amerika abzureisen. Ich beehre mich, Ihnen vor meiner Abreise meine ergebensten Grüße darzubringen.

Max Timm, z.Z. Bremen, Wasserweg 25.«

Der ganze Timm! Ein aufgeblasener, aber treuer Kerl. Jensch, der Briefträger lauerte am Zaun, was ich nun zu dieser Karte sagen würde; ich sagte aber gar nichts, sondern zog Herrn Balthassar tiefer in den Garten hinein.

»Illja!« sagte der. »Wo nun die Adresse feststeht, muß ich wohl auch Herrn Timm eine Ehrenerklärung abgeben. Peinlich – aber es bleibt nichts übrig! Hab's immer gesagt: kommt bei jedem mal vor, daß er sich einem andern gegenüber vergaloppiert; soll aber dann die Courage haben, zu sagen: Ach was! Tut mir leid, es war Quatsch, was ich gesagt habe, bitte um Entschuldigung!«

»Bravo, lieber Herr Balthassar! So spricht ein Ehrenmann!«

Er ging aufrecht neben mir her.

»Ob ich in einer Nachschrift Fräulein Emilie gleich die Adresse von Herrn Timm mitteile?«

»Ja, tun Sie das!«

Er schrieb auf einem Gartentisch zu seinem Briefe noch die Worte:

»Eben erfahre ich von Herrn Hubertus die Adresse Ihres Herrn Bräutigams: Bremen, Wasserweg 25. Er will leider schon nächste Woche nach Amerika abreisen. Also, Eile tut not! Falls ich Ihnen mit irgend etwas zur Vermittlung behilflich sein könnte, würde es mich freuen.

Balthassar.« Der Brief war nicht nötig. Den Bergweg herauf flatterten zwei Gestalten, die Zwillinge aus der »Traube«. Ich begriff die Lage sofort: vornweg das würde das Mielchen sein, das wahrscheinlich durch die Schwatzhaftigkeit des Vater Jensch schon Wind von dem Inhalt meiner Postkarte erhalten hatte und nun mit vollen Segeln zu mir steuerte, und hinterher trabte das quiekende Malchen, das die Schwester abhalten wollte, sich bloßzustellen.

Mielchen war dem Malchen um gut 300 Meter voraus und hörte ihre japsenden, verzweifelnden Zurufe nicht. Ich teilte Balthassar meine Vermutungen mit.

»Ja!« nickte er in schmerzlichem Nachdenken. »Wer hätte das gedacht! Eine von den Zwillingen ist mannstoll! Glücklicherweise das Mielchen! Ich habe mich auch eigentlich immer nur zu dem Malchen hingezogen gefühlt.«

Ich hatte keine Zeit, darüber Betrachtungen anzustellen, wieso auch so ein kreuzehrlicher Kerl wie Balthassar gelegentlich in Heuchelei verfallen könne; denn das Mielchen war schon da. Sie steuerte in den Garten und geradewegs auf mich los.

»Wo ist er? Wo ist er? Ihre Postkarte geben Sie mir heraus!«

Es war peinlich. Der Briefträger Jensch machte über den Gartenzaun einen Hals wie ein alter Gänserich, die Sturz stand mit aufgestemmten Händen über ihrem geschürzten Rock in der Haustür wie das empörteste und robusteste Bild sittlicher Entrüstung.

Ich wandte meinen freundlichsten Tonfall an, um die wildgewordene Traubenmaid zu beschwichtigen.

»Fräulein Emilie, ich will Ihnen gern jeden gewünschten Aufschluß geben, nur, bitte, kommen Sie mit mir ins Haus.«

Sie hörte nicht. Sie wies haßerfüllt auf Balthassar.

»Der ist ja wieder da – der! Der Stänkerfritze, der Schwindler –«

»Weib, was erdreisten Sie sich?«

Herr Balthassar brüllte. Und nun brüllte ich auch.

»Hier bin ich der Herr! Sie – Sturz – scheren Sie sich ins Haus zur Arbeit! – Und Sie, Briefträger, gehen Sie Ihres Weges! Hier haben Sie nichts mehr zu suchen! Und Sie, meine Herrschaften, bitte, folgen Sie mir ins Haus.«

Schlag ins Wasser! Die Sturz ging nicht, der Briefträger ging nicht, die »Herrschaften« folgten nicht. Dagegen flatterte das Malchen heran.

»Mielchen! Mielchen!« quiekte sie. »Was fällt dir ein? Zu dem Herrn laufen – zu dem Herrn – o Himmel – auch der Herr Balthassar!«

Krach!

»Krach« ist ein schönes, lebensvolles Wort der deutschen Sprache und umfaßt eine Summe von Leben, Bewegung, Tragik und Humor.

Bei uns gab es richtigen deutschen Krach!

Über das vielerlei menschliche Gezappele, das da erfolgte, will ich nichts niederschreiben. Es kam dann, wie immer in solchen Fällen, ein Abfluten, ein Nüchternwerden.

Das Ergebnis war eine Depesche, die ich an Timm nach Bremen aufgab und die ihn aufforderte, zurückzukommen, da alles in Ordnung sei.


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