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Der Garten des Königs Salomo war groß und weit. Die Bäume darin waren hoch und sehr alt. Von jedem Baume, den es in der Welt gab, war ein Schößling in diesen Garten gekommen und hatte sich dort verwurzelt. Rings um jeden Baum herum wuchsen die Blumen, die ihm zugetan waren, und in den Zweigen jedes Baumes wohnten die Vögel, die zu ihm gehörten und sich bei ihm wohlfühlten. Aber wie sollte es der arme Michael nun fertig bringen, in diesem großen Garten die Nachtigall zu finden?
Da waren Vögel, die sich von selbst verrieten, weil sie so viel Lärm machten. Der Specht schlug immer mit einem hölzernen Hammer gegen den Baumstamm. Die Spatzen klapperten mit kleinen Metallplatten, daß einem die Ohren gellten. Der Rabe fuhr mit dem Schnabel immer über eine alte Baßgeige, die nur eine Saite hatte. Der Papagei sagte ganz laut aramäische Verse her, die er alle falsch gelernt hatte. Aber die Nachtigall schwieg und niemand konnte sie an der Stimme erkennen.
Und es waren andere Vögel da, die sich durch die Farben ihres Gewandes von selbst verrieten. In einem Baume stak eine große Malerpalette, ganz mit Farben überstrichen. Das war der Pfau. Da hing irgendwo in einem Wipfel eine weiße Fahne mit schwarzen Rändern und einem roten Ausrufungszeichen in der Mitte. Das war der Storch. Auf einem Zweig wuchs eine Blume mit blau-grün-kupferner Blüte und langen goldenen Blättern. Aber das war keine Blume, sondern ein Paradies-Vogel. Aber die Nachtigall war grau und bescheiden gekleidet und niemand konnte sie im Schatten der Baumblätter erkennen.
Michael schaute hin und her und in alle Bäume hinein und verrenkte sich beinahe den Hals. Nirgends war die Nachtigall zu sehen. Er rief laut nach ihr, aber der Lärm der anderen Vögel übertönte seine kleine Stimme. »Ach« dachte er, »wenn ich doch jetzt etwas vom Honig des Simson hätte!« Aber den hatten längst die schwarzen Ameisen getrunken. »Ach« dachte er, »wenn doch nur die Biene da wäre mit ihren guten Ratschlägen.« Aber die Biene war im Garten Eden für ihn gestorben. »Ach« dachte er, »wenn mir doch nur etwas Gescheites einfiele, damit ich aus jemandem herausbekommen kann, wo ich die Nachtigall finde.«
Er rieb sich den Kopf, aber ihm fiel trotzdem nichts ein. Da kam plötzlich ein dickes, altes Huhn den Weg daher gegangen. Es war so alt und dick, daß es hin und her watschelte wie eine Ente. Es klappte immer die Augen auf und zu und gackerte: »O ich bin ein so kluges Huhn! O ich habe eine so schöne Stimme! O ich bin so weise, daß niemand zu mir zu sprechen wagt! Oh oh oh!!«
Michael mußte sich das Lachen verbeißen, als er das dumme, aufgeblasene Huhn sah. Und da kam ihm plötzlich eine Idee. Aus so viel Dummheit, dachte er, läßt sich sicher etwas herausfragen. Er trat vor das Huhn hin und sagte höflich: »Guten Morgen, Frau Nachtigall. Könnten Sie mir nicht sagen, wo hier das kluge Huhn wohnt?«
Das Huhn klappte vor Entsetzen das linke Auge zu und sperrte das rechte Auge auf. Dann klappte es das rechte Auge zu und sperrte das linke auf. »O Gott, was für ein dummes Kind« gackerte es. »Das weiß doch jeder Straßenspatz, daß ich keine Nachtigall bin, sondern ein Huhn ... nein: das Huhn!«
Michael tat sehr verlegen. »Ist das wirklich so? Wie sieht dann eine Nachtigall aus?«
»Klein und häßlich« schnaufte das Huhn. »Und man liest ihr die Dummheit vom Gesicht ab. Genau so wie dir!« Und damit wollte es weiter gehen. Aber Michael sagte: »Die Sache ist nämlich die: ich habe einen ungewöhnlich großen und fetten Wurm gefunden, und den wollte ich dem weisen Huhn bringen ...«
»Gib her! Gib her!« rief das Huhn gierig.
Michael ließ sich nicht unterbrechen: »Und man sagte mir, die Nachtigall werde mir sagen, wo ich das Huhn finde. Wenn du mir jetzt wenigstens die Nachtigall zeigen könntest, damit ich ganz sicher bin und den schönen fetten Wurm ...«
»Sofort! Sofort!« gackerte das dicke Huhn. »Komm nur mit mir!« Und es watschelte, heftig nach Luft schnappend, ihm voraus bis zu einem breiten, niedrigen, uralten Olivenbaum. Da saß, auf dem untersten Zweige, grau gegen grau, ein unscheinbarer Vogel. »Da ist sie!« rief das Huhn. »Siehst du jetzt den Unterschied? Und nun gib den Wurm her.«
Michael lachte. »Ich habe dir nicht gesagt, daß ich einen Wurm habe. Ich sagte, daß ich einen gefunden hätte. Und wenn du wirklich ein kluges und nicht ein so schrecklich dummes Huhn wärest, würde ich dir sogar sagen, wo er sich befindet.«
Laut gackernd und schnaufend machte sich das Huhn auf den Weg, während Michael sich zur Nachtigall wandte. Sie schien zu schlafen, denn sie hatte den Kopf tief in die Flügel verborgen und regte sich nicht. Michael berührte sie sehr vorsichtig und zaghaft mit dem Finger. »Nachtigall!« rief er. »Schläfst du?«
Da kam ein leises Stimmchen aus dem Gefieder hervor: »Wer weckt mich auf? Wer läßt mich nicht schlafen?«
»Ich, der Michael.«
Da schaute die Nachtigall mit einem Auge aus dem Gefieder heraus. »Was will der Michael?«
»Er bittet dich, mit ihm zu kommen und ein Lied zu singen.«
»Ich weiß kein Lied mehr« sagte die Nachtigall.
Michael hielt das zusammengefaltete Blatt in seinen Händen. »Der König Salomo hat ein Lied für dich aufgeschrieben.«
Da schaute die Nachtigall mit beiden Augen aus dem Gefieder hervor. »Und wem soll ich das Lied singen?« fragte sie.
»Dem Hirten und seiner Shulamith, die im Bilde eingesperrt sind und nicht hinauskommen können. Ich habe dem Alten vom Buche versprochen, sie zu befreien. Aber ohne dich kann ich es nicht.«
Da reckte die Nachtigall das Köpfchen und putzte ihr Gefieder »Wenn es so ist, dann will ich mit dir kommen. Laß uns gehen.«
»Wie werden wir gehen?« fragte Michael. »Ich habe die ganze Zeit hindurch nicht daran gedacht, wie ich wieder nach Hause komme, und ich bin doch so weit fort!«
»Der große Königs-Adler wird uns tragen« sagte die Nachtigall. »Schließ nur die Augen und hab keine Furcht.«
Michael schloß gehorsam die Augen. Bald hörte er ein großes Rauschen über sich und ein starker Windzug riß ihm beinahe die Füße vom Boden. Und dann fühlte er, wie etwas ihn aufhob und in ein weiches Lager von Daunen bettete. Das Lager erhob sich vom Boden und schwebte in der Luft. Der Wind brauste, streng und kalt. Michael wühlte sich tiefer in die Daunen hinein und schloß fest die Augen. Der Wind begann zu dröhnen wie eine Orgel. Er wußte nicht, wie lange er so in der Höhe und der Kälte dahinschwebte. Es schien ihm Jahre zu dauern. Aber dann senkte sich das Lager steil abwärts. Die Luft wurde milder und wärmer. Es gab einen Ruck, daß Michael taumelte. Er öffnete die Augen ... und siehe: er stand im Garten seines Hauses, an die Türe des alten Schuppen gelehnt.
Er sah sich um. Alles war wie sonst. Das Fenster seines Zimmers, aus dem er in den Garten hinaus gesprungen war, stand noch offen. Oben in der großen Zypresse rief Frau Bülbül immer noch nach ihrem Mann, der wahrscheinlich schon wieder in einen fremden Baum in der Nachbarschaft geflogen war, und im Johannisbrotbaum zankte sich die Spatzenfamilie Staubgrau immer noch darüber, ob die Roggenkörner, die sie soeben in der Straße gefunden hatten, von einem Pferd oder von einem Maulesel stammten.
Also ist eigentlich garnichts geschehen, dachte Michael tief enttäuscht. Er wandte sich traurig ab. Da sah er auf seiner Schulter einen kleinen, grauen, unscheinbaren Vogel sitzen: die Nachtigall! Hastig griff er in seine Tasche. Da knisterte etwas. Er zog es heraus. Ja, das war das Papyrusblatt! Es war also doch alles wirklich und wahrhaftig geschehen. Und mit einem Aufschrei der Freude lief er in den Schuppen hinein.
Der hohe Spiegel blinkte, und aus dem blanken Glas sah ihm schon der Alte vom Buche entgegen und winkte ihm freundlich zu. »Nun, Michael, so schnell zurück?«
»So schnell?« fragte Michael erstaunt. »Mir ist, als sei ich unendlich lange Zeit fortgewesen.«
»Nein« lächelte der Alte. »Es ist nicht einmal eine Stunde gewesen. In der kurzen Zeit hast du wohl nichts ausrichten können, nicht wahr?«
Michael lachte stolz. »Ich glaube, ich habe sehr viel ausgerichtet. Laß mich schnell in den Spiegel und in das Buch hinein.«
Kaum hatte die Nachtigall den Spiegel und das Buch darin erblickt, als sie sich aufschwang und mit leisem Singen durch das schimmernde Glas flog. Die Schließen des großen Buches öffneten sich vor ihr: klick klack, als hätte eine Hand sie berührt. Die Buchseiten fingen an zu rauschen und hoben sich eine nach der anderen von selber auf. Die Nachtigall flog hinein, und all die Alleen der Buchstaben rauschten und neigten sich vor ihr. Michael und der Alte eilten hinter ihr her und konnten kaum mit ihr Schritt halten. Sie flog die Alleen auf und nieder, Vers um Vers, Seite um Seite, Abschnitt um Abschnitt, bis in der Ferne das Bild auftauchte. Da begann sie aufgeregt zu flattern. »Gib mir das Lied!« rief sie Michael zu. »Gib mir das Lied!«
Michael lief hinzu und zog das gefaltete Blatt aus der Tasche. Er kniete sich vor dem Bilde hin und die Nachtigall setzte sich auf seine Schulter. Er entfaltete vorsichtig die Schrift, und rote, schön geformte Lettern glänzten ihm entgegen. Als die Nachtigall die leuchtenden Verse sah, ließ sie einen hohen, hellen Triller erschallen, wie die Einleitung zu einer Melodie. Dann sang sie die Verse, die der König Salomo für sie und für die beiden Menschen im Bilde gedichtet hatte:
»Leg mich wie einen Siegelring an dein Herz, wie einen Siegel auf deinen Arm.
»Denn stark wie der Tod ist die Liebe, und mächtig wie die Unterwelt ihr Eifer.
»Feuersgluten sind ihre Glut, und Gottesflammen.
»Viele Wasser können sie nicht löschen und viele Ströme sie nicht überfluten.
»Gäb einer all seines Hauses Gut um Liebe her,
»man würde sein nur schmähen ... Hohelied 8:6-7.
Da regte sich zögernd das Laub des Mandelbaumes. Zaghaft trat das Mädchen unter dem Baum hervor und tat seine ersten Schritte. Da hob unten im Tale der Hirte langsam den Kopf auf und spähte zum Hügel. Da setzten die Schafe ihr zierlichen Pfoten eine vor die andere und gingen grasend den Abhang hinauf. Da öffneten sich die Blumen, und alle Gräser begannen sich zu neigen. Da legte die Sonne einen Strahl nach dem anderen wärmend und belebend über Menschen und Dinge. Da ging Shulamith den Abhang hinunter, bräunlich und schön; und der Hirte kam ihr entgegen und nahm ihre Hand. Sie lachten, als sie sich sahen. Sie küßten einander. Dann gingen sie, Hand in Hand, aus dem Bilde heraus und in das blühende Land hinein, das auf sie wartete ......
Als am Abend der Vater und die Mutter von ihrem Ausflug zum Toten Meer zurückkamen und die Wohnung betraten, blieben sie im Hausflur verwundert stehen. Aus Michaels Zimmer hörten sie seltsame Geräusche: ein Gemisch von abgerissenen Worten und Ausrufen und Lachen. Sie schlichen sich auf den Zehenspitzen näher und lugten durch die halb offene Türe. Da saß Michael an seinem Tisch und hatte ein Buch aufgeschlagen vor sich. Er las darin, aber es war mehr als ein Lesen. Er sprach vor sich hin, er stampfte mit den Füßen, er schwang die Arme, er lachte und er klagte. Er erlebte die Dinge, die da geschrieben standen. Jedes Abenteuer wurde sein Abenteuer, jedes Lied sein Lied, und alle Schönheit ein Stück Schönheit, das ihm gehörte.
Da sagte der Vater ganz leise zur Mutter: »Das nächste mal, wenn wir einen Ausflug machen, nehmen wir unseren Michael mit uns.«
Ende.
Josef Kastein arbeitete an dem Manuskript mindestens ab 1942. Es trägt keinen Titel. Aus Briefen Josef Kasteins an seine Frau Shulamith Kastein geht hervor, daß er plante, es »Michael und das Buch. Eine palästinensische Geschichte« zu nennen.
Die Anmerkungen folgen sinngemäß den Anweisungen Kasteins in seinem Brief vom 5. Juni 1944. Die Bibelzitate beziehen sich auf die Elberfelder Bibel.
Auf der vorletzten Seite des Manuskriptes ist rechts unten eine Ecke des Blattes abgerissen. Der fehlende Text in »Sie lachten, als sie sich sahen ... in das blühende Land hinein, das auf sie wartete.« wurde sinngemäß nach der ebenfalls als Manuskript vorliegenden englischen Übersetzung ergänzt.
Die Schreibweise des Originals wurde unverändert übernommen. Lediglich offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.