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Drei Tage nur, und die »Regina« verließ innerlich mit Russen vollgestopft und außen frisch bemalt das Trockendock, schwamm mit wehender Rauchfahne durchs Haff und tänzelte in die Ostsee hinein. Bornholm kam in Sicht und verschwand hinter uns wieder in einem blaugrünen Dunst, der aus Meer und Himmel bestand. Der Hirte Mond mit seinen Sternenschafen kam aus dem Osten gezogen und verschwand im Westen wieder, als die »Regina« sich der schlafumfangenen Küste der Insel Gotland näherte. Karls-kö mit seiner schroffen Steilküste und Wisby mit seiner uralten Umfassungsmauer haben wir im Sonnenschein gesehen, und als wir eben den Kurs etwas mehr östlich nehmen, um die Nordspitze der Insel zu umfahren, tut uns die Sonne den Gefallen und taucht in voller, runder Scheibe aus den Fluten auf. Wir bewegen uns noch im minenfreien schwedischen Gewässer, und kein Gedanke an irgendeine Gefahr trübt die heitere Stimmung, die auf dem Schiffe herrscht. Unsere Russen, so nahe an tausend Mann, benehmen sich durchaus bescheiden, ja ehrerbietig gegen einen jeden, der irgendein äußeres Abzeichen der Kommandogewalt trägt und damit kund und zu wissen tun will, daß man seinen Anordnungen gehorchen möge. Sie, die Halbbarbaren haben eben ihre Emailleschüsseln leer gegessen und wissen nun nicht recht, was sie im Tagesscheine mit sich anfangen sollen. Sie warten fast auf eine Aufforderung des Kapitäns, daß sie singen und ihre Nationaltänze zeigen sollen. Herr Zielke gibt ihnen von der Brücke herunter das erwartete Zeichen, und nun stellen sich die strammen Gestalten um einen Dirigenten herum, und die weihevollen Klänge des Wolgaliedes tönen über die silberschimmernden Wogen der Ostsee hin. Späterhin läßt sich ein Tänzer sehen vor seinen Kameraden. Man lacht, man klatscht in die Hände, aber man kreischt nicht, und man zetert und handelt nicht untereinander, und als es Zeit ist zum Frühstück, sucht jeder mit leisen Sohlen die Küche auf. Einer ehrt die Ruhe des anderen. Wenn ich wieder einmal in einem Witzblatte den Russen als besoffenen Bären mit der Deckelmütze schief auf dem Ohre dargestellt sehe, so werde ich pflichtschuldigst lachen, aber über den Darsteller, nicht über den Dargestellten.
›Auch morgen werden wir gutes Wetter haben,‹ so dachte ich mir, als wir gegen Abend das Leuchtschiff von Zaritcheff passierten, und seine Strahlen durchs Bullauge gerade vor mich auf die Bettdecke fielen.
Dem war nicht so. Der letzte Tag des Juli hatte einen blaugrauen Nebel rings um unser Schiff ausgegossen. Man sah um sich her nicht weiter, als man etwa mit einem Steine hätte werfen können, und wir waren im minenverseuchten Gebiet. Gewiß, die Karte zeigte von Swinemünde bis Petersburg herauf einen weißen Strich, der, auf die Meeresfläche übertragen, an sieben Kilometer breit und minensauber sein sollte. Aber wer garantiert uns denn bei dem unsichtigen Wetter, daß unser Kiel gerade auf diesem Felde pflügt? Nebel ist dem Seefahrer stets zuwider, und über Minenfeldern erst recht. Die Fahrt muß verlangsamt werden, und damit vermindert sich noch die Hoffnung, daß so ein gefährliches Minenaas aus dem bewegten Kielwasser seitwärts ins Ungefährliche getrieben werden könne. Die Schiffsoffiziere hängen die Köpfe über den Kartentisch. Die Lampen brennen in den Gängen, und alle drei Minuten heult die Sirene ihre Klage in das graue Elend hinein. Gemütlich ist's da nirgends auf dem Schiffe, am erträglichsten noch in der Einsamkeit meiner Kammer. Ich ziehe mich dahin zurück und will an einem neuen Buche, »Dem faulen Hobel«, arbeiten. Da klopft's an meine Tür, und ich rufe »Herein!« Wer kommt? Der Superkargo. Daß ich den Lesern diesen Herrn vorstelle. Super heißt bekanntlich über und Kargo ist ein spanisches Wort, das die Ladung bedeutet. Der Superkargo ist mithin einer, der die Ladung unter sich hat, und er ist mithin dem Kapitän sozusagen koordiniert und weiß manchmal etwas, was andere nicht wissen.
»Gibt's Neuigkeiten?« fragt er.
»Ja, aber nur solche, die im Lande schon altbackene Semmeln sind.«
»Na, ich kann mit Neuestem dienen. Die ›Ceuta‹, unser Schwesterschiff, ist auf den Strand geraten und sitzt fest bei der Insel Gotska Sando.«
»Was Sie nicht sagen! Die ›Ceuta‹, die im Stettiner Hafen vor der ›Regina‹ gelegen hat?«
»Eben diese ›Ceuta‹. Sie war zwei Tage vor uns die Oder abwärts gedampft mit russischen Kriegsgefangenen für Narva. Die hat sie an Land gesetzt, hat deutsche Internierte, elfhundertachtzig an der Zahl, zumeist Frauen und Kinder, an Bord genommen und mit diesen die Heimreise angetreten.«
»Und nun hängt sie da oben vor Reval an irgendeiner steinernen Klippe? Nein, Herr Millbrodt, das ist schon nicht mehr zum Lachen; woher haben Sie diese Kunde?«
»Gerade ist es eine halbe Stunde her, da erreichte uns der Funkspruch: ›Auf den Grund geraten. Können Sie helfen? Ceuta‹. Und der Kapitän ließ antworten: ›Ja, werden gegen vier Uhr zur Stelle sein.‹«
»Wie spät ist es zur Stunde, Herr Superkargo?« so fragte ich, und erhalte zur Antwort: »Zehn einhalb.«
»Also fünf Stunden noch müssen die Armen auf unsere Hilfe warten, das ist ja eine halbe Ewigkeit.«
»So mag es den Gestrandeten erscheinen. Wir aber können daran nichts ändern. Wir müssen in der herrschenden Dunkelheit die Fahrt verlangsamen und die Brinks aufsuchen, durch welche die Fahrstraße abgesteckt ist, sonst hängen wir in der nächsten Viertelstunde gleichfalls an einem Felsen oder laufen auf eine Mine auf.«
»Schöne Aussichten. Kommen Sie, Herr Millbrodt, und lassen Sie uns auf die Kommandobrücke gehen.«
An der Treppe kommt uns Herr Zielke entgegen mit den Worten: » Die ›Ceuta‹ hat gefunkt: ›Von drei Uhr ab werden wir lange Sirenensignale geben damit Sie uns finden können‹.«
Es war ein Uhr geworden. An der Sonne war die Tatsache nicht zu erkennen, aber an meinem Magen. Ich setzte mich in der Messe zu Tisch, das Gesicht den beiden Bullaugen zugewandt. Rindfleisch gab's, und nach diesem feinen Limburger Käse, den die Amerikaner Sommerville und Davies mit an Bord gebracht hatten. Als ich eben die Augen über den Käsebackstein erhebe, stehen Bäume und niedere Strohhütten im runden Messingrahmen der Scheibe, und zwischen steinigen Klippen erscheint in hellem Sonnenschein vor gelbem Dünensand die »Ceuta«.
Die Sonne hatte gesiegt. Der Nebel war zerrissen. Rasch den Käse in den Schrank. Ohne Beine könnte er bei so viel Fressern um uns her davonlaufen. Und nun an Deck.
An Backbordseite zeigt sich ein Leuchtturm, von einigen niederen Backsteinbauten flankiert. Das ist das Feuer von Kockskär vor der Bucht von Narew. Am Steuerbord steht unbeweglich die »Ceuta«, und ein weißer Nachen von ihr gesendet arbeitet sich mit der Kraft dreier Riemenführer an die »Regina« heran. Über die Brustwehr hinweg wirft man ihm die Strickleiter zu, und ein wettergebräunter, junger Offizier arbeitet sich an der schwarzen Wand des Schiffes zu uns herauf. Er hat die Dienstmütze in der Linken, lehnt müde den rechten Ellenbogen auf die Verschanzung und mit niedergeschlagenen Augen berichtet er vor dem Kapitän:
»Um neun Uhr dreißig verließ gestern abend die ›Ceuta‹ die Reede vor Hungerburg. Zu sehen war nichts, und wie der Blinde am Stab tasteten wir uns mit der Lotleine voran. Genau zwölf Stunden später saßen wir fest, und jetzt, wo die Sonne sich blicken läßt, wissen wir, daß wir einen Kilometer südwärts von der Straße zwischen Groß-Wrangel und Karls-Kär festgerannt sind. Unterm Bug haben wir vier Meter Wassertiefe und fünfe unterm Heck. Die Schotten halten dicht, und die Schiffspassagiere benehmen sich ruhig und gefaßt.«
»Sitzen sie mit dem Schiff auf Sand oder Stein?«
»Wir wissen's nicht. Mein Kapitän ist nur der Ansicht, daß wir durch Zug von achtern wieder flottgemacht werden können.«
»Darüber braucht man nicht zu streiten. Wie der Aal in den Hamen ging, so muß er hinterrücks wieder heraus. Wie weit schätzen Sie die Entfernung von uns hier zur ›Ceuta‹? Zwei Kilometer etwa oder mehr? Wie lang sind die Trossen, die Sie an Bord haben; werden sie mit unsern zusammen ausreichend sein, daß wir den Versuch wagen können, Ihr Schiff abzuschleppen?«
Diese und ähnliche Fragen mußten gestellt und mußten beantwortet werden, bevor die Hilfsaktion in Angriff genommen werden konnte.
Indessen belebte sich das Wasser mit kleinen Booten. Sie kamen aus dem Strohdachdorf, wo man unterm Helme eines spitzen Kirchturms allsonntäglich um einen gesegneten Strand betete. Herrgott, welch ein Phäakenvolk saß da nicht auf den Ruderbänken! Da war ein kupferblondes Mädchen mit einem Kopfe wie die Münchener Bavaria und Hüften wie ein Scheuerkorb. Ich bin überzeugt, daß sie ohne Geburtshelfer mit einer Baßgeige in die Wochen kommen könnte. Und dort in der Nußschale saß ein alter Mann. Ich kenne ihn, ich weiß im Augenblick nur nicht, wo ich ihn kennengelernt habe. Ach richtig, im »Struwelpeter« hab' ich ihn gesehen. Es ist der leibhaftige Nikolas. Nur daß er vor sich kein Tintenfaß hat, sondern einen Ledersack, in welchem man drei Kabinenkoffer bequem verstauen könnte. Gewiß, die frommen Leute betrachten uns als eine Himmelsgabe, die sie nicht zurückweisen dürfen, ohne eine Sünde zu begehen gegen den, der die Sperlinge ernährt und die Lilie kleidet.
Indessen waren auf dem Schauplatz der Ereignisse zwei Helfershelfer angekommen, die nicht nach Räubern aussahen, es aber in höherem Maße waren als all diese Strandpiraten zusammengenommen. Sie hatten gepaarte Schornsteine und führten die blau-schwarz-weiße Flagge am Mast. Schieber waren sie auch, aber Schlepper kann man sie nennen, ohne daß man sie beleidigt. Sie warfen Anker und kündigten sich damit als Zuschauer des interessanten Schauspiels an. Sie tun, als ob sie nicht mitspielen wollten und harren doch mit Zittern auf das Stichwort, das sie auf die Bühne ruft. Wer ihren Edelmut beurteilen will, muß vorher wissen, daß es auf der Welt so etwas gibt, was man »Bergungsgelder« nennt und was zu dem geborgenen Gegenstande in einem erschreckend hohen Prozentsatz mit Seeraub verwandt ist. Der Seefahrer kennt die Biedermänner, die unter diesen Masten nisten, und nennt sie Aasgeier.
Wir verlangen nicht nach ihrer Menschenfreundlichkeit, und die »Regina« macht sich auf eigene Rechnung und Gefahr daran, dem Schwesterschiff zu helfen.
Von vier Uhr bis zur Mitternacht haben wir dreimal die »Ceuta« an unsere Poller gefesselt und suchen sie vom Felsen zu reißen, und dreimal sind die starken Stahltrossen zerrissen. Wir können nicht länger. Unsere Mannschaft ist ermattet. Selbst das Meer will schlafen, und über seiner ölglatten Fläche leuchtet wie eine Riesenmonstranz der Strahlenkranz des Leuchtfeuers der Kockskärer Sandbank.
Als wir morgens wach wurden, hatte der Juli sich ausgelebt, und es war über Nacht August geworden, und zwar in einem hellen und klaren Sonntag. Doch eine Sabbatruhe gibt es heute nicht. Immer wieder wird der Versuch erneuert, die »Ceuta« abzuschleppen, bis mit einem Male die »Regina« der Untiefe zu nahe gekommen war und selber festsaß. Nun hieß es: »Hilf dir selber, wenn du Christus bist!«
Wir nahmen unseren Anker in ein Boot und fuhren ihn einige hundert Meter vor das Bugspriet, ehe wir ihn ins Meer fallen ließen. Als dies geschehen, kommandierten wir all' unsere Russen aufs Vorderschiff, damit der Achterteil erleichtert wurde, denn mit diesem gerade saßen wir auf dem Grund. Von jetzt ab konnte unsere Maschine sich wieder nützlich machen, und sie tat es in der Weise, daß sie die Welle des Gangspills rotieren ließ. Wenn nun der Anker hielt, mußte das Schiff sich nach der Stelle hin voranbewegen, wo das scharf gezahnte schwere Eisen lag. Und er tat's. Wir kamen los und mit besserem Appetit aßen wir zu Mittag, als wenn die schlaue Berechnung nicht gestimmt hätte. Zehn Meter Wasser unter dem Kiel ist dem Seemann lieber, als dem Bergmann hundert Meter Sand überm Kopf.
Als wir eben wieder uns zur Arbeit an die »Ceuta« heranmachen wollten, war aus der im Rücken stehenden Nebelmauer ein deutscher Schleppdampfer herausgetreten. Er warf den Zug seiner Lastschiffe ab und näherte sich, da er nur mit flachem Kiel auf dem Wasser lag, den Gestrandeten auf die Länge eines Glockenseiles. Die kürzeren Trossen spannten sich und in wenigen Minuten war ihm gelungen, was uns mit stundenlanger Arbeit nicht geglückt war.
Die »Regina« verschwand vom Schauplatz ihrer vergeblichen Bemühungen beschwert mit der Beschämung und dem Ärger aller derer, die zu ihren Lenkern gerechnet werden durften. Man überlege nur einmal: Die »Ceuta« stand mit einigen Millionen bei einer Seeversicherung zu Buch. Die Bergungsgelder hätten jeden von uns fünf bezugsberechtigten Offizieren zum reichen Mann gemacht, wenn die »Regina« mit einem flacheren Kiel vom Stapel gelaufen wäre – wenn ihre Trossen sich hätten spannen wollen – wenn sie nicht auf den Sand gelaufen wäre, wenn, ja wenn – –. O, wenn doch einer Pech hat, Pech, Pech hat, dann, ja dann regnet es seinen Schweinen in die Ohren.
Uns lächelte kein Glück. Auch in den folgenden Stunden nur Nebel, Wolken und Sturm. Zur Untätigkeit verurteilt lagen wir auf dem flachen Strand von Hungerburg. Das Meer stürmte mit klatschenden Wellen über das Vorderschiff her, hob und senkte die »Regina«, wälzte sie um ihre Längsachse und machte sie in ihrem Umsichschlagen geradezu gefährlich für einen, der den Versuch wagen wollte, sich ihr zu nahen. Natürlich tat dies auch niemand, und selbst die Leichter von Narva wagten sich nicht heran, um unsere lebende Ladung entgegen zu nehmen.
Herr Zielke, der Kapitän, konnte diesem verheerenden Treiben nicht länger zusehen. Er ließ den Anker hochziehen und richtete den Kurs gegen Finnland hinüber. »Die Finnen sind auf Deutschland gut zu sprechen. Versuchen wir's einmal, ob sie uns unsere gefangenen Russen nicht abnehmen und über die Grenze hinüber weiterbefördern werden,« sagte er und klingelte den Befehl: »Volle Fahrt« in den Maschinenraum hinunter.
»Was wir da vor uns haben, ist die Insel Hochland,« bemerkte nach Zurücklegung von einigen Seemeilen der Alte.
›Wie man sich irren kann‹, dachte ich bei mir. Ich hatte das klumpige Gebilde für eine Nebelbank gehalten, nahm aber das Glas vors Auge und betrachtete mir das Eiland, das nordwärts aus dem Wasser stieg. Es waren in der Tat recht ansehnliche Berge, was sich da zeigte, und wer immer von unsern heimischen Bergfexen mit Eispickel und Steigeisen den Melibokus erstiegen hat, mag diese Attribute einer todesverachtenden Männlichkeit auch hierher mitbringen. Mehr aber noch wird es sich empfehlen, ein paar Handkäse im Rucksack mitzuschleppen, denn die kleine Ortschaft, die da am Ufer ihre Schindeldächer hinter Schründen und Felsenschroffen verbirgt, sieht nicht so aus, als ob sie reichgewordene Gasthofpotentaten zu ihren Ehrenbürgern zählte.
In diesem Moment steigt am Bergesgipfel eine Rakete in den Abendhimmel hinein. Ist sie der Beginn eines Empfangsfeuerwerkes? Wahrhaftig, die drei Handwerksburschen, die vordem nötig waren, um zu Heidelberg eine Schloßbeleuchtung zu veranlassen, die hätten wir an Bord. Doch meine Erwartungen waren überspannt. Das Feuerzeichen war die Antwort auf ein Lotsensignal. Wir brauchten einen Mann zur Schiffsführung in diesen Fjorden, der das Fahrwasser mit seinen tausend Klippen und Untiefen genau kennt, und dann mit der Heimtücke seiner Minen!! Wann wird die Zeit kommen, wo diese giftgeschwollenen Bestien nicht mehr auf den Schiffer lauern? Freiheit der Meere!! Noch höre ich das stolze Wort aus dem angeheiterten Munde unserer Festredner tönen. Wie wär's, wenn die Überlauten von dazumal sich mit den Allzustillen von heutzutage zusammenfänden, um hier oben Minen zu suchen? Zwar gondeln auf halbinvaliden Torpedobooten einige verschandelte Exemplare »unserer göttergleichen blauen Jungen« in der Ostsee herum, ob sie aber neben dem Branntweinschmuggel noch eine andere Tätigkeit entfalten, weiß außer unserem Herrgott niemand, nicht einmal der Bootsmann, der den Lotsen brachte, ein wettergebräuntes Mannsbild, das Tabak kaute und himmelschreiend nach Branntwein stank.
»Wenn wir tüchtig einfeuern und eine Nachtschicht machen, werden wir dann bei Tagesanbruch vor der Birkeninsel sein?« interpellierte ich den wachstuchüberkleideten, steifleinernen Gesellen.
» Cha sin, chan anit sin,« antwortete er im Idiom und auch mit der idealen Wurstigkeit eines alemannischen Holzknechts und stieg die Treppe empor, um sein Handwerkszeug, das Steuerrad, zu ergreifen. Ein edler Mann in einem halben Rausche bleibt sich des rechten Weges noch bewußt, und so fuhr denn unser Schiff mit dem Tagesgrauen im ruhigen Wasser eines strombreiten Fjords der gesuchten Insel entgegen. Das goldig grüne Eiland verbirgt unter seinen hängenden Birkenzweigen ein rotbedachtes Städtchen, Kiovisto geheißen, dem sein einzigartiges Kirchlein ein ganz besonderes Gepräge aufdrückt. Es ist nicht die breite Kuppel des arabischen Baustils, nicht die himmelanstrebende, spitze Pyramide der Gotik, die hier wirken, nein, es ist etwas so ganz anderes, uns Südländern Überraschendes, was an diesem Gotteshaus zur Wirkung kommt und uns mit neuen Göttern in Beziehung setzt. Ein ungeheueres Steildach überdeckt ein schmales Langhaus, dessen Mauern von Lichtöffnungen durchbrochen sind, deren Rahmen die Form eines niegesehenen Blattes darstellen. Das Hauptportal, von einem breiten Bogen überwölbt, scheint eher in eine Tropfsteinhöhle geleiten zu wollen, als vor einen Altar. Aber der spitze Rhombenhelm des die Insel überragenden Turmes weist doch wieder hinauf zu einem Wesen, das, unsichtbar zwar, hoch im Sternenzelt das Weltenschicksal leitet.
Die Geschichte des orginellen Kirchleins ist kurz die folgende. Es war ursprünglich, man weiß nicht von wem, aus Holz hergestellt. Kaiser Nikolaus, er, der letzte der Zaren und letzte Hohepriester der byzantinischen Kirche, hatte Gefallen an dem Bau gefunden und ihn in einen der vielen Parks seiner vielen Schlösser versetzt. Den Bewohnern des Eilandes ließ er genau nach dem Muster der Holzkirche den Steinbau errichten. Möglich, daß die Bewohner von Kiovisto dem ermordeten Weltbeherrscher ob seiner Güte nachtrauern.
Übrigens ist den Inselbewohnern das Ausblicken nach dem Russenreich fast völlig versperrt. Ungeheuere Holzstapel, der Abfuhr harrend, umsäumen den blaßgelben Meeresstrand. Englische Holzspekulanten haben angefangen, die finnischen Forste auszubeuten. Was als einsame Fichte poetisch am Meeresrand rauschte, fault als Grubenholz in irischen Bergwerken.
Zwischen den Holzbarrikaden treibt sich ein halbes Dutzend feldgrauer Soldaten herum. Sie haben trotz des Schießgewehrs und trotz des vollgespickten Patronengürtels um ihre Lenden nichts Furchterweckendes an sich, sondern sehen genau so aus, als ob sie der Unterprima entflohen wären, um eine Zeitlang die Helden selber zu sein, die ihnen in der Homerstunde von bebrillten Professoren so göttergroß und nachahmungswürdig dargestellt werden. Was sie übrigens hier am Brückenkopfe zu bedeuten haben, ist uns schon durch den Hochlandlotsen kund und zu wissen getan worden. Finnland befindet sich im Kriege mit Rußland und über Björkö ist der Belagerungszustand verhängt. Niemand von der Schiffsbesatzung darf die »Regina« verlassen, und nur die Nase unserer Meereskönigin darf den Pier berühren. Und über diese Nase hinweg muß nun ich – ausgerechnet gerade ich mit meinen 68 Jahren – hinunterturnen, um mit dem Hafenarzt darüber zu konferieren, welche Sorte von Krankheitsbazillen wir mitgebracht hätten, und ob man die Bestien an der Leine führen müsse oder frei herumlaufen lassen könne. Als ich eine in dieser Beziehung äußerst beruhigende Erklärung abgegeben hatte, bekam ich als erster einen vom »Landesmann« ausgestellten Paß, daß ich selber durchaus harmlos sei und ohne Maulkorb über das Reich hin verkehren könne, mit wem es mir beliebte.
Da ich mich um die Überführung der Kriegsgefangenen vom Schiff nach dem Bahnhof nicht zu kümmern brauchte, nahm ich den Weg durch die Holzstapel hindurch und kam in eine prächtige Birkenallee. Linksseits plätscherte das Meer zwischen rundgeschliffenen Ufersteinen, und rechts grasten hinter Holzzäunen Pferde, Kühe und Ziegen. Ich ließ die Gegend, wie ich sie gefunden hatte, und wanderte weiter, bis ich an ein weißgestrichenes, sauberes Holzhäuschen kam, vor dem auf grünem Rasen eine weiße Bank stand. Auf der Bank saß ein Mann, dessen Gesicht man am Anfang der Woche als bartlos bezeichnen könnte, während »unrasiert« vom Mittwoch ab die richtige Bezeichnung sein würde. Er hatte einen Sommerhut von Holzspänen auf dem Kopf und las in einem schwarzen Buch. Wer mit mir die Selma Lagerlöf und die anderen Literaturschweden gelesen hat, wird wissen, daß wir hier auf der Bank den Pfarrer von Kiovisto vor uns haben, und der Unbelesene kann es merken an einem Halbdutzend barfüßiger Kinder, die zwischen den Hühnern da im Sande spielen. Ich bedenke mich nun nicht weiter, schreite auf den Herrn zu und sage: »Gott zum Gruß, Herr Pastor! s' ist deutsch, was ich rede, aber, wenn's sein muß, kann ich Ihnen auch mit ein paar lateinischen Brocken aufwarten.«
»Reden Sie nur Ihre Muttersprak. Ich verstehe serr wohl. O Deutschland! Es ist bei uns in gutem Ansehen. Hat es uns doch geholfen in den srecklichen Tagen der roten Invasion. Von Gott waren wir verlassen und von der ganzen Welt. Aber Deutschland hat geschickt seine besten Truppen nach Helsingfors und hat uns erlöst von dem Srecken, von dem roten Terror. Aber gommen Sie, gommen Sie herein in die Stube und trinken Sie mit mir Mölk oder, wenn Sie wollen, lieber einen schwarzen Kornkaffee.«
Ich ging natürlich mit dem freundlichen Herrn, fand ein einfach möbliertes Zimmer vor und hinter einer großen Kaffeekanne das Vollmondgesicht einer klugen Pfarrersfrau. Auch sie beherrschte die deutsche Sprache gut, und bald waren wir mitten in einem lebhaften Gespräche drinnen, natürlich über die Zustände in Rußland und über Zweck und Ziele des Bolschewismus.
»s' ist serr eine alte Frage, die man übers Knie brechen will,« sagte Herr Ronimus, so hieß der Pastor. »Die Frage über arm und reich. Moses suchte sie mit dem Jubeljahre zu lösen, Gautama mit der Abschaffung der Kapitalverzinsung und Christus mit dem Gebote: ›Wer zwei Röcke hat, gebe dem einen, der keinen hat‹. Alle drei Versuche ergaben kein praktisches Resultat, weil der Egoismus das Menschtier beherrscht. Wer im bolschewistischen Weltreich die Staatssuppe zu verteilen hat, wird den Löffel tiefer eintauchen, wenn er sieht, daß sein Teller vor ihm steht oder der seiner Frau.«
»Es ist dies zu natürlich, als daß man nicht denken sollte, die führenden Geister Rußlands müßten dies selber einsehen, trotzdem sie von Tolstoi und anderen beeinflußt sind,« sagte ich.
»Trotzki und Axelrode, das ist keine Frage, lassen die Nächstenliebe bei sich selber anfangen,« bemerkte Frau Ronimus. »O, sie haben wohl große Vermögen gebracht ins Ausland. Bei Lenin ist das etwas anderes.«
»Er ist der Fanatiker seiner eigenen Idee. Wie Mohammed stürmt er aus der Wüste hervor, und mit dem Schwerte sucht er seiner Lehre die Welt zu erobern. Dabei ist er gleich jenem selbstlos. Da haben Sie's, warum eine faszinierende Kraft von ihm auf die Menge ausströmt,« eiferte Herr Ronimus.
Eine Stimme, die von außerhalb der Mauern kam, unterbrach unseren Diskurs und ließ sich folgendermaßen vernehmen:
»Wo 'aben Sie ihren Doktor, Gapitän? Ist er su den Ronimussen gegangen?«
»Ich kann's nicht sagen, Gnädige. Aus der Ferne sah ich, wie er hier herum beim Apfelstehlen war, und nun scheint's, als ob die Hölle ihn verschlungen hätte.«
»Wird wohl im Pfarrhaus stecken, Gapitän, meinen Sie nicht?«
Ich merkte, daß von mir die Rede war, und streckte den Kopf durchs Fenster um nachzusehen, wer draußen sei. Es war Herr Zielke, der Kommandant der »Regina«, und bei ihm stand eine Dame, die mir durch das Fremdartige ihres Gesichtsschnittes in die Augen stach. Das blaßgelbliche Antlitz schimmerte in etwas heran an die Elfenbeingesichter, wie man sie zuweilen an griechischen Heiligenbildern gewahren kann und stak in einem weißen Helme drinnen, der einfach genug, aber äußerst geschmackvoll aus weißem Batist hergestellt war. Wenn ich bemerke, daß der ganze schöne Kopf auf einem schlanken, elastischen Körper saß, der sich nach einer ewigen Melodie rhythmisch in den Hüften wiegte, so wird dies alles genügen, um den indolentesten Leser auf die Bekanntschaft dieser Dame neugierig zu machen. Nun, er soll erfahren, was auch mir erst nachträglich zur Kenntnis kam, nämlich, daß die Schöne eine Frau Cordett ist. Ihr Mann steht neben ihr und sieht einem Schweden ähnlich, ist aber ein geborener Schweizer aus Yverdon am Neuchateler See. Er hatte in Petersburg seine Frau geheiratet, betrieb vor dem Kriege ein einträgliches Geschäft, das er im Stiche ließ, als die Rote Garde sogar vor seiner Schweizer Staatsangehörigkeit wenig Respekt bezeugte. Kurz entschlossen hatte er sich nach Björkö auf sein kleines Gütchen zurückgezogen, und hier auf der stillen Insel machte er sich nützlich, indem er beim Gefangenenaustausch sich und sein Vermögen in den Dienst einer edlen Menschlichkeit stellte.
Nachdem wir also die Neuangekommenen vorgestellt haben, wollen wir sie reden lassen.
»Verzeihen Sie, Herr Gapitän. Das lange Mann hier ist der Doktor von die ›Regina‹?« nahm die Frau Cordett das Wort. »Er soll gommen mit in unser Haus. Überhaupt alle sollen gommen, die Pastorsmenschen auch. Ilona, die Magdstube, wird fangen das Huhn, welcher ist der Hahn, und ihm den Kopf abslagen, bis er ist gestorben. Was verziehst du aber das Gesicht, Rabunski, um auszulachen deine Frau?«
»Weil ich denke, Sonja, du solltest dir das Lehrgeld vor dem wiedergeben lassen, Liebste, der dir dieses Deutsch beigebracht hat. Es heißt nicht Magdstube, sondern Stubenmagd.«
»Magdstube oder Stubenmagd, was ist's für ein Unterschied, wenn sie nur gut kochen kann. Essen Sie übrigens gern Pilse, Doktor?« fügte sie noch hinzu.
Ich nickte mit dem Kopf, und sie nahm mich am Ellenbogen und zog mich in den nahen Wald hinein. Wer hätte da widerstehen können? Wir hatten Glück, fanden, was wir suchten, und wanderten bald dem Strand entlang mit vollen Taschen, dem breiten Hause des Herrn Cordett zu. Die Magd Ilona mußte von dem Feuereifer ihrer Herrin angesteckt sein. Unmöglich, daß sie sonst in so kurzer Zeit ein solches Mahl bereiten konnte. Pasteten, Kalbs- und Fischköpfe blickten von Schüsseln herunter, von denen keine kleiner war als der Hut eines Domdechanten. Daß uns das Wasser im Munde zusammenlief – wie hoffentlich meinen Lesern auch – brauche ich nicht zu erwähnen. Gleichwohl griff keiner zu. Wohl standen Teller vor jedem der Gäste, aber Messer und Gabel lagen nur so viele da herum, als eben nötig waren, um vom Ganzen einen Teil abzutrennen. Für die Weiterbeförderung zwischen die Zähne mochte der Himmel sorgen, der nicht umsonst an jede Menschenhand fünf Finger hatte wachsen lassen. Als wir erst einmal begriffen hatten, was hier Landessitte war, kamen wir in keine weiteren Verlegenheiten mehr und heuchelten nicht einmal Schamröte, was ja auch zwecklos gewesen wäre, da die meisten Köpfe ja doch hinter den Schweizerkäsescheiben verschwunden waren, die Frau Cordett uns zugeschoben hatte.
Als wir gegen Mitternacht das gastliche Haus verließen, begleiteten uns Herr und Frau Cordett bis zum Meeresstrande. Von dort ab überließen wir uns der Leitung des Pastors Ronimus, und als dieser uns Lebewohl gesagt hatte, übernahm seine Führerrolle der gute Mond, der mit feuerrotem Profil durch die Birkenwipfel auf unseren Pfad herunterschaute.
Am Kiele der »Regina« schäpperten leise die Meereswogen, als wir den Pier betraten, sonst aber schlief alles, sogar die zwei finnischen Wachtposten, die auf einem Bretterhaufen saßen und die Gewehre zwischen den Beinen hielten.
Der Himmel segne die Unordnung im russischen Eisenbahnbetrieb. Ihr verdanken wir einen viertägigen Aufenthalt am Gestade von Kiovisto, den wir dazu benutzten, um Heidelbeeren im Walde zu suchen, zu baden am Strande, oder zu essen und zu trinken bei unseren Gastfreunden. Wir nehmen vom Volke der Finnen die besten Eindrücke mit und verzeihen sogar einem seiner Friseure den kleinen Seeraub, daß er mir fürs Kopfwaschen fünfzehn Mark ablauste, so lieber, weil es mit zarten Händen geschah, und der Haarkünstler, wie landesüblich, eine Dame war.
»Gommen Sie wieder!« hat Frau Cordett bei unserer Abreise von der Birkeninsel gesagt, und ihr Mann hat es gesagt und Frau Pastor Ronimus und der Pastor selber. Und wir? Wir haben dies den guten Leuten nur so halb und halber zusagen können. Es ist die Luft nicht sichtig am politischen Himmel. Wenn England dem Sowjetrußland den Krieg erklärt, wird es dann einfach dulden, daß siebenzehn deutsche Schiffe Zug um Zug so an tausend in Deutschland herausgefütterte Gestalten ungefährdet ans russische Gestade werfen, die man nur einzukleiden braucht, um felddienstfähige Soldaten aus ihnen zu machen? Drum lebt wohl einstweilen, ihr guten Leute aus Finnland! Zum Abschied haben wir über die Toppen geflaggt, Tücher wehen, und »das Schiff streicht durch die Wellen, Fridolin«. Es streicht nach der Südküste des Meerbusens, und zwar wieder in die Narowamündung hinein. Wir haben nämlich nur 250 Heimreisende bekommen. Mit so geringer Zahl nach Swinemünde zu fahren, lohnt sich nicht. Geschäft ist Geschäft. Wir müssen sehen, daß wir am Strande von Hungerburg noch Menschenfleisch bekommen. Und wir bekamen es, aber, dem Himmel sei's geklagt, es war kaum noch als solches zu erkennen.
Einhundertunddreißig Geisteskranke waren uns angesagt, und sie kamen, als der Morgen graute, mit dem Leichter an unser Schiff heran. Ein Glück, daß der Frühnebel uns den Gefallen tat, einen Schleier vor das schauervolle Bild zu ziehen. Zweiundfünfzig handfeste Wärter waren den Kranken mitgegeben, aber sie hatten zu tun, daß sie Herr wurden über ihre Schar. Da bäumte sich eine behaarte Männerbrust, in Tischesbreite aus dem Hemdschlitz hervorbrechend, gegen zwei Arme zurück, die von hinten sie umspannten. Die Angst, eine Höllenangst, hat den Kranken erfaßt. Ist es der schwarze Rauch, der sich klumpig und mit Feuerfunken durchsetzt aus dem Schornstein der »Regina« zwängt, was den Verrückten quält? Steht vor ihm leibhaftig die Hölle da, die man ihm in Kindertagen an die Wand gemalt hatte, wenn er auf des Nachbars Kirschbaum ertappt worden war? Mit einem Ruck wirft der Narr die Schwere seines Körpers zurück. Der Kranke und sein Wärter kommen auf dem feuchten Boden des Laufsteges zu Fall. Zwei Riesen ringen miteinander auf dem schmalen Brett. Die Arena ist zu klein für das grauenvolle Kampfspiel. Niemand kann helfend beispringen. Die Ringer müssen sehen, wer von ihnen Sieger bleibt, wenn nicht das Gestänge an der Schutzwehr bricht, und das Meer beide verschlingt, den Kranken und seinen Wärter.
Ein Glück war's, daß man den Tobsüchtigen die Hände auf den Rücken gebunden hatte. Der Wärter wurde Herr über seinen Kranken und kam auf die Füße. Nun faßte der starke Mann seinen Gegner mit eisernen Armen von hinten und riß die Zentnerlast vom Boden auf. Nichts half es mehr, daß der Rasende mit den nackten Füßen um sich trat. Er war wie in Ketten geschmiedet und konnte so in den Bauch des Schiffes gebracht werden, eine wahre Erlösung für jene, die Zuschauer dieses Schauspiels waren.
Ach, und da waren viele, in deren trägen Gehirnmassen sich kein Bild gestalten konnte von der bitteren Notwendigkeit eines solch grausamen Vorgehens. Da waren zunächst eine Anzahl Geisteskranker selber, die von einem panischen Schrecken erfaßt, fliehen wollten und doch nicht wußten wohin. Nach hinten war ihnen der Weg versperrt durch die traurige Prozession ihrer Leidensgenossen. Nach vorn waren die Ringenden. Zur Rechten war die schwarze eiserne Schiffswand. Aber zur Linken, da war Freiheit. Nur übers Gestänge der Notbrücke hinüber, und man war in den blauen Weiten, die über einem Luft hießen und unter einem Wasser. Da hinein, da war Platz für flüchtige Geister, da wollte man hin. Im Nu hatte der und jener das Bein über die Schranke geworfen. Aber die Wärter waren bei der Hand. Man riß die Verzweifelten vom Abgrund zurück, man schob sie voran, einer engen Treppe entgegen, die nach den Verliesen des Zwischendecks hinunterführte.
So wurde stundenlang geschafft. Erleichtert atmete man endlich auf. Die Überführung dieser Unglücklichen vom Leichter auf das Schiff war ohne Unfall gelungen. Was jetzt noch nachtrabte, war eine geduldige Schar abgehetzter Menschen, die auf flüchtigem Fuße oft Tausende von Meilen zurückgelegt hatten, um das wiederzusehen, was das süße Wort Heimat mit seinen sechs Buchstaben zu umfassen vermag. Zerlumpt, zerrissen, zerflickt sahen sie aus, und doch lag in ihren Gesichtern der Widerschein einer himmlischen Glückseligkeit, daß sie nach langer Zeit zum ersten Male wieder das berühren durften, was man das Vaterland nennt.
Nicht allzulange weilt des Menschen Geist in den Sphären des Altruismus. Fremde Schmerzen quälen uns nur, bis wir selber Hunger bekommen. Es war die Frühstückszeit, und durch die Küche bewegte sich eine lange Schlange hohlwangiger Gestalten, von denen jede einzelne ihren Suppennapf nebst dem Löffel vor der Magengrube hertrug. Bald saßen alle Bänke, alle Stufen, alle Rettungsboote voll mit schmatzenden Zaungästen.
Für den Arzt war zunächst nichts zu tun. Höchstens, daß ich einmal ins Zwischendeck hinuntersteigen konnte, um nachzusehen, wie die einhundertdreißig Geisteskranken untergebracht waren. Ich tat's. Der Einstieg ins Inferno ist auf dem Achterdeck. Die Treppe ist eng, und Kartoffel- und Zitronenschalen finden sich nicht selten auf den Stufen. Man sehe vor seine Füße, damit einem die Kleinigkeiten nicht zum Verhängnis werden. Wie meine Augen den Boden mustern, stoßen meine Schultern gegen irgend etwas. Ich schaue auf und habe einen Menschen vor mir. Er ist der geborene Magnat, einer von denen, wie sie nur unter den Fittichen des österreichischen Doppeladlers großgezogen werden konnten. Eine schmalschultrig vornehme Gestalt. Ein Vollbartgesicht mit ausrasiertem Kinn und über dem leichtgebogenen Nasenrücken ein goldener Zwicker. Ein leichter Lodenhut, von den Resten einer Spielhahnfeder überragt, bedeckte das Haupthaar. Der Mann stand stramm in ehrfürchtiger Haltung, so wie er vielleicht dereinst vor Seiner Majestät dem Kaiser Franz Josef gestanden haben mag, nur daß mehr noch als Devotion in dem Gesichte lag, sklavenhafte Demut, wenn nicht gar die Angst des Verbrechers vor der Strenge seines Richters.
›Meine Mütze muß es ihm angetan haben,‹ dachte ich bei mir, und um ihn aufzumuntern, streckte ich ihm die Hand entgegen. Er wagte nicht, sie zu erfassen. Er neigte nur das Haupt und schlug die Augen nieder, während er voll schweren Kummers im Angesicht die demütigen Worte vorbrachte: »O, bitt' schön, Majestät! Euer Gnaden müssen verzeihen, daß ich noch nicht bezahlt habe. Ich weiß wohl, daß ich zur Stunde nicht in der Lage bin, die Schulden meines Vaterlandes zu regeln, aber auf Kavaliersehre, ich werd's tun, sobald ich erst meine Schafwolle verkauft haben werde auf dem Martinimarkt zu Szegedin.«
›O du Ärmster,‹ dachte ich bei mir, ›wieviel Hämmel müßtest du haben, wenn du Österreichs Schulden zahlen wolltest!‹
»Er ist harmlos,« sagte inzwischen ein Wärter mit der Rotenkreuzbinde am Arm.
»So mag er denn an Deck bleiben,« warf ich kurz hin und stieg ins Inferno hinunter. Der ganze Raum, wie er sich, dem Kielschwein entgegen, nach unten zuspitzt, liegt mit seinem Fußboden schon unter der Wasserlinie. Er erhält sein Licht durch eine Anzahl runder Bullaugen, die aber zumeist geschlossen bleiben müssen, weil sonst bei einigermaßen bewegter See die Wogen ins Schiff schlagen würden. Er reicht von Backbord bis Steuerbord, ist genügend hoch, und der Bogen seiner Mitteldecke ruht auf einer Anzahl eiserner Säulen. In diesem Verlies sind eiserne Bettstellen derart untergebracht, daß sie, zu Vierecken nebeneinander gestellt, eine Art von Eierkiste bilden, nur daß in jedem der länglichen Fächer statt des Eies ein Mensch auf dem Rücken liegt, der dann zumeist wieder einen anderen Menschen über sich, unter sich, zu seiner Rechten und zu seiner Linken liegen hat. Im Halbdunkel, das in dem Raume herrschte, war es schwer, zu erkennen, was für einen Kopf man da auf der Matratze vor sich hatte. Aber all diese brennenden Augen, die aus dem Finstern unheimlich genug herausglühten, all diese struppigen Köpfe, diese zerzausten Bärte über lederfarbenen Wangen redeten mit himmelschreienden Worten die Sprache des menschlichen Elends, menschlicher Herabgesunkenheit weit, weit unter die Tierwelt. Was mag in diesen Geistern alles vorgegangen sein, bis sie den Zusammenhang mit dem Weltengeiste verloren, von dem auch sie einmal ein Molekül, ein Atom gewesen sind, ehe sie den verhängnisvollen Zug nach dem Osten angetreten haben. Siegesberauscht haben sie sich aus Vater-, Mutter- und Frauenarmen losgerissen, und wie kehren sie zu ihnen zurück! Wohin nun mit diesen Fratzen von Gottes Ebenbilde? Alle Schreibstuben im deutschen Lande sitzen voll von Parteisekretären. Die Ställe sind leer und die Kornspeicher aufgefressen. Wehe dem Hause, dem über Nacht ein solcher Heimkehrender aufgezwungen wird. Wehe dem verlorenen Sohne, der zu Hause nicht einmal mehr eine Katze findet, die man für ihn schlachten könnte. »O wie glücklich sind die Toten!«
Nun hatte ich aber genug. Ich ertrug die eiserne Decke nicht mehr über meinen Augen. Ich brauchte über mir einen Himmel, zu dem ich aufblicken, aufschreien konnte in meiner Not. Ich stürmte die Treppe hinauf. An ihrem Ende stand noch immer der ergebene Diener ihrer weiland apostolischen Majestät. Sicher bin ich, daß er mich wieder angeredet und mir ein Königreich verpfändet hätte. Mich aber verlangte es nach Einsamkeit. Übers Hauptdeck hinweg arbeitete ich mich zum Promenadendeck empor und von diesem zur Brücke hinauf. Außer dem Kommandanten konnte ich dorten noch seinen Hund zu finden hoffen und einen Matrosen, der das Steuerrad drehte. Ich grüßte und warf mich auf einen Liegestuhl, das Gesicht den Wolken zugekehrt. Der Kapitän arbeitete am Kompaß, und der Hund nagte an einem Renntierknochen. Die Maschine knurrte, und das Kielwasser sang sein altes melancholisches Lied. An all diese Geräusche bin ich gewohnt, wie der Müller ans Geklapper seines Mahlganges. Sie stören mich nicht mehr, und ich konnte meinen Gedanken nachhängen. Was mich aber störte und aus allen meinen Träumen riß, war ein plötzlicher Aufschrei des Kapitäns.
»Haltet ihn fest!« kreischte er übers Vorderschiff hinweg. »Wenn euch euer Leben lieb ist,« rief er noch einmal, »so reißt den Mann von der Ankerwinde los. Er wird uns alle zugrunde richten.«
Ich sprang vom Liegestuhl empor und sah mit Schrecken das gerötete Gesicht und die verzweifelten Gebärden des sonst so stillen Kommandanten. ›Irgend etwas Katastrophales muß sich hier vorbereiten,‹ so dachte ich mir, aber ich wagte es nicht, den Kapitän zu fragen.
Indem er erregt mit der Hand nach der vorderen Back zeigte, schrie er auf mich ein: »Sehen Sie es denn nicht? Einer der Geisteskranken hat sich da vorgeschlichen und – und – versucht es, die Ankerkurbel zu lösen. Wenn es ihm gelingt, so rast in voller Fahrt das schwere Eisen auf den Grund, und was dann?«
Dem Himmel sei's gedankt, die wahnsinnige Tat war nicht gelungen. Auf das Geschrei von der Brücke aus hatten die nächststehenden Leute zugegriffen und hatten meinen gutmütigen Magnaten dingfest gemacht, gerade eben noch im letzten Moment, bevor er den Anker befreien konnte. Bis in die Tiefen meiner Seele erschüttert, schloß ich die Augen und warf mich auf den Liegestuhl. Die Frage zitterte in mir nach: »Und was dann?«
Ich mußte, ob ich wollte oder nicht, ich mußte mir die Konsequenzen einer Tat ausmalen, die, obwohl sie sicher nicht aus verbrecherischer Absicht geboren war, gleichwohl ein Unheil heraufbeschwören konnte, wie es die Statistik der Seefahrt zum Glück nur selten verzeichnet hat. Was also geschah, wenn der Anker fiel?
Bei der relativ geringen Tiefe der Ostsee erreichte er in Bruchteilen von einer Sekunde den Grund und biß sich fest. Und die »Regina«? Sie hatte die Länge der Kette bei einer Geschwindigkeit von zwölf Seemeilen in der Stunde im gleichen Momente abgelaufen, wo der Anker festhing. Jetzt mußte sich ohne Erbarmen von den grausigen Möglichkeiten eine erfüllen. Klammern wir uns mit unseren Hoffnungen an einen Strohhalm, und nehmen wir an: Die Ankerkette riß. Dann kamen wir mit einer Erschütterung des Schiffsrumpfes davon, die vielleicht das Kesselfeuer aus den Büchsen schüttelte, den Schornstein aus den Vernietungen löste, den Mast aus den Verstrebungen. Eisen- und Holztrümmer wären aufs Verdeck niedergehagelt, und ein halbes Dutzend blühender Menschenleiber hätte tot oder verwundet auf den Bohlen herumgelegen. Gewiß, schlimm war das auch schon, aber was hätte es heißen wollen gegenüber von zwei andern Möglichkeiten, die noch größere Chancen hatten, zu Wirklichkeiten zu werden.
Stellen wir uns vor: Die Ankerkette überstand heil und ganz den ungeheueren Ruck von zehntausend Pferdekräften, was dann? Dann waren zwei Dinge möglich. Erstens, die ganze vordere Back würde heruntergerissen und die »Regina« hielt den aufgeschlitzten Brustkasten offenherzig den Bugwellen entgegen. Die schäumenden Wasser füllten das Schiff. Mehr und mehr senkte sich das Deck dem Wasserspiegel entgegen. An den Davitssträngen zerrten hundert Hände, um die Rettungsboote aus den Flaschenzügen zu befreien. Hier und da stieß einer der Korkflötze vom Schiffe los und suchte, von Menschenleibern überladen, das Weite zu gewinnen. Wenn's gut ging, erreichten von tausend Schiffbrüchigen zwanzig die nächste Küste, und sie konnten vor staunenden Ohren berichten, daß die »Regina« abgesackt sei. Wieso und warum wird keiner wissen. Alles ist so schnell, so überraschend gekommen, und der Zusammenhang von kleinen Ursachen und großen Wirkungen kommt dem verbissensten Grübler oft genug nicht zum Bewußtsein.
Nun zur letzten der Möglichkeiten und zugleich zu jener, die am meisten Aussicht hatte, Wirklichkeit zu werden. Setzen wir den Fall, Schiff und Kette hielten beide den Stoß aus. Wie mußten nun die arbeitenden Kräfte die Dinge gestalten? Die Schraube trieb natürlich den Kiel wie die Sehnenkraft den Pfeil nach vorn, so weit wenigstens, als die Kettenlänge es gestattete. War dieser Punkt erreicht, so drehte sich das Schiff um eine Horizontalachse, die von Steuerbord nach Backbord lief. Mit anderen Worten: Die »Regina« stellte sich aufs Bugsprit und schlug dann um, so daß sie mit dem Deck auf dem Wasser schwamm, während der Kiel nach dem Himmel starrte.
Das war ja nun nicht der Fall, aber da half nichts, in meinen Gedanken mußte ich die ganze Situation durchleben. Ich sah den Schreibtisch in meiner Kabine an der Decke kleben. Was nicht niet- und nagelfest war, hatte sich von ihm getrennt und trieb in einer schwarzen Sauce herum, die halb Tinte war und halb Druckwasser. Bis aufs kleinste sah ich alles in meiner Kammer und hatte Mitleid mit den schönen Zigaretten, die ersaufen mußten, während ihre Bestimmung war, daß sie sich in Rauch auflösen sollten. Und nun begegnete mir ein logischer Unsinn. Ich mußte mich zu den Gegenständen meines Zimmers hinzudenken, natürlich auf dem Kopfe stehend. Aber das hielt ich ja nicht lange aus. Wie ein Sack fiel ich in mich selber zusammen, und nun versuchte ich auf allen vieren kriechend die Türe zu öffnen. Lange tat sie sich nicht auf, natürlich weil ich ja nach der verkehrten Richtung auf die Klinke drückte. Doch nun war ich frei und kroch nach der Treppe zu. Was jetzt Boden war, hatte Querriegel wie eine Leiter, die Spanten waren das, die vordem den Plafond trugen. Ich fingerte an ihnen herum und suchte nach dem Loche, in das die Treppe eingefügt sein mußte. Ich fand es auch, aber nun erinnerte ich mich mit Entsetzen, daß es ein Hinauf ja gar nicht mehr gab, sondern nur ein Hinunter, und nun fühlte ich auch schon, daß das Wasser kam, und daß ich naß wurde, naß an der Brust, am Hals, an den Lippen.
»Stirb nun als Held!« sprach ich zu mir selber. Wie viele suchen den Tod und können ihn nicht finden. 45 Sekunden nur das Antlitz unter Wasser, und alles ist egal. Egal ist es, ob der Bolschewismus herrscht oder das Kapital. Egal der Valutastand und die Schnörkel, mit denen sie die deutschen Briefmarken verunzieren. Die Ewigkeit hat für mich begonnen. Erlösung ist da und ich brauch' meinen ehrlichen Namen nicht mehr unter falsche Zeugnisse zu setzen, die Krankenkassensimulanten von mir erpreßt haben.
Eine süße Schlaffheit kam jetzt über mich, und ich wäre vielleicht gestorben, wenn nicht erlösend ein engelgleiches Wesen als Vision an meine Seite getreten wäre. Der Geist von Frau Cordett war es und der ermunternde Klang ihrer Worte: »Gommen Sie wieder.«
Ja, nun müssen wir wohl wiederkommen, nachdem so Schweres sich zu unserem Heile gewendet hatte. England wird sich's nochmals überlegen, bevor es an die Russen den Krieg erklärt, und wenn die Steinpilze auf Björkö abgeerntet sein sollten, so werden wir Preiselbeeren in den Wäldern um Kiovisto suchen.
So denkend, schüttelte ich die düsteren Bilder aus meiner Seele heraus und schlug die Augen auf. Vor mir stand der Kapitän. Aufregung lag nicht mehr in den wetterharten Zügen, aber ein tiefer Ernst, als er zu mir die Worte sprach: »Doktor, nehmen Sie Ihre Leute unter ein besseres Kommando.«
Ich verstand, was das heißen sollte, und ging nach dem Achterdeck, um meine Wärter zu instruieren. Luft und Licht mußten leider den Ärmsten unter uns auch noch beschnitten werden, bis sie sechzig Stunden später unter den gleichen Szenen zu Stettin das Schiff verließen, wie sie es vor Hungerburg betreten hatten.
Landsleute ans Land zu setzen, Russen, Tataren, Samojeden an Bord zu nehmen, das war alles, was die »Regina« zu Stettin schaffte, bevor sie wieder ihr Bugsprit der Odermündung zukehrte. Wer das Rassengemengsel ansah, hätte glauben können, diese Männerwelt käme aus einem Tanzsaal herausgeströmt. Die Soldatenmütze sitzt auf Krakehl, der Anzug ist auf den Leib geschneidert, kaum geflickt und zerrissen gar nie. Kranke bringen ihre Fahrstühle mit und viele Gesunde ihre Fahrräder. Die Zupfgeige, die Ziehharmonika und das Grammophon fehlen bei keinem Transport. Während der Seereise herrscht über Tag eine wohltätige Stille und Ordnung. Kein Zank, kein Streit und eine musterhafte Unterordnung unter jenen Zwang ohne den Menschen nun einmal nicht nebeneinander existieren können. Mit der Kost ist nicht einer unzufrieden, und wohin man auch fragen mag, ob die Suppe geschmeckt habe, immer erhält man ein freundliches Lächeln und ein bejahendes Kopfnicken. Zufriedene Gäste machen einen freigebigen Wirt, und so kommt man den ehemaligen Feinden mit Liebe entgegen. Man steckt den Kranken, den Frauen und Kindern mancherlei zu, und man läßt den Gesunden am Abend Raum, um ihre Beine mit Nationaltänzen müde zu machen und ihre Stimmbänder mit dem Wolgaliede heiser zu schreien. In der Art, sollte man denken, müsse eine nationale Annäherung wenigstens angebahnt werden, wenn auch noch nicht mit Plötzlichkeit verwirklicht. Sehen wir zu, wie der gute Same reift und Früchte bringt!
Hungerburg ist wieder einmal erreicht. Die »Regina« liegt zu tief im Wasser, und sie kann der Barre wegen nicht in den Narowafluß hinein. Ein Motorboot schleppt einen Leichter backbordseits an uns heran. Und die Ausschiffung beginnt. In der Zeit von einer Stunde stehen an tausend Menschen Kopf an Kopf auf dem anderen Deck, und die kreischende Dampfpfeife gibt das Signal zur Abfahrt.
»Doktor,« sagt der Kapitän, »eine schöne Gelegenheit, nach Narwa zu kommen. Wie wär's, der Superkargo geht noch mit. Eine Nacht bei ›Mutter Grün‹ logieren, das ist alles, was wir riskieren.«
Ich laufe schnell nach meinem Überzieher, und bald darauf sitzen wir im Steuerhäuschen des Motorbootes. Es geht an den fünf blauen Kuppeln einer russischen Kirche vorüber, und wir sind zwischen den waldigen Ufern der Narowa drinnen. Wie die Gefangenen den Boden Rußlands unter sich fühlen, scheinen sie sich geändert zu haben. Viele entfernen aus dem Knopfloch das rote Abzeichen des Bolschewismus, das sie ausnahmslos getragen haben, und sie fangen nun an, ein Spottlied auf ihre deutschen Wirte zu singen, das ihnen irgendein sprachenkundiger »Ernst Heiter« zusammengereimt hat.
Rußki, sagen die deutschen Herr'n,
Rußki, wir mögen dich so gern,
Wasser ist für das Panjeschwein,
Selber trinken wir den Wein,
Kreuzelement, verdammter Russ',
Du arbeiten muß!
›Da hätten wir die Quittung auf unsere Gutmütigkeit,‹ dachte ich bei mir und nahm mir vor, diesen Dreiviertelasiaten meine Opiumtropfen künftighin in Haferschleim zu verabreichen statt in Kognak, wie ich es seither getan habe.
Die Fahrt den Fluß hinauf ist ein fortlaufendes Diorama der Kriegsgreuel. Russen, Estländer, Deutsche, Polen und Finnen stießen hier aufeinander und niedergeschossene Schornsteine, ziegellose Dächer, Soldatengräber zwischen spanischen Reitern bilden die stummen Zeugen ihrer Kulturbestrebungen. Man wundert sich, daß hier und da noch ein Kirchturm steht, und daß geschecktes Rindvieh ab und zu im flachen Uferwasser badet.
Länger und dunkler werden indessen die Schatten, die der nahe Wald über den Fluß schiebt. Beinahe fließen sie schon von links und rechts ineinander hinein, und die Buglaternen unseres Schiffes haben ihre liebe Not, auf den schwarzen Hintergrund ein wenig Farbe aufzumalen, als sich im Vorblick ein Ansteuerungssignal als sogenannte Sonnenscheibe bemerkbar macht. Noch fünf Minuten, und wir stehen auf dem Bollwerk von Narwa, der Stadt.
Alle Wetter, was herrscht da für ein Treiben im Dunkeln! Zu den Hunderten, die da stehen, werfen wir noch über Tausend hinzu. Ein Schieben und Drängen grauer Gestalten herüber und hinüber. Ein Fragen und Antworten in allen Sprachen der Welt, aber kein Laut der Begrüßung, kein Hurra zum fröhlichen Willkommen. Wenn man so will, gehört auch Rußland mit zu denen, die Deutschland niedergerungen haben. Ihren Dank mögen sich die Sieger in der Form von Steuerzetteln auf dem Rathaus holen. Der Heroenkultus ist abgetan, und auf dem Elefanten reitet kein Schlachtengewinner durch die volksbelebten Gassen.
Ich will mich eben durch die Menge hindurch nach dem Zollschuppen vorwärts schieben, als mir eine Schwester in hellem Kattunkleid den Weg versperrt. »Gehören Sie zur ›Regina‹?«
»Ja, und komme eben den Fluß herauf.«
»Wo sollen wir mit unseren Kranken hin, so sagen Sie doch! Seit Stunden schon warten wir hier, um eben jetzt zu erfahren, daß der Leichter heute schon gar nicht mehr zu Tal geht. Wir können doch die Leute nicht am Strande liegen lassen! Und zurück zur Burg Iwangorod? Wenn Sie eine Ahnung hätten, was das für ein Weg ist.«
»Und doch, Schwester, es wird nichts anderes übrig bleiben. Der Kapitän traut dem Fahrwasser nicht. Es spiegelt zu sehr in der Nacht, und ehe man sich dessen versieht, sitzt der Kiel auf dem Grund. Wüßten Sie übrigens, Sie Allerbarmerin, keine Stelle, wo drei müde Wanderer ein Nachtlager finden?«
»Gehen Sie den Fluß entlang, dann an den Festungswerken in die Höhe, bis Sie auf eine Terrasse kommen, von der herunter Sie einen Blick auf die Stromschnelle gewinnen. Von diesem Punkte ab haben Sie dann nur wenige Schritte noch nach dem Hotel Petrograd, wo Sie es, so will ich hoffen, für eine Nacht erträglich finden sollen.«
Wir schritten eifrig voran und sahen uns bald, trotzdem wir hoch über der rauschenden Narowa standen, von den finsteren Mauern und Türmen einer riesengroßen Burg umschlossen. Hier und da brannte eine schlecht ernährte Straßenlaterne gerade hell genug, um uns darüber aufzuklären, warum wir stolperten, und warum unsere Hühneraugen so lebhaft gegen russische Einrichtungen protestierten. Im übrigen hatten zwei Damen sich unserer erbarmt und führten uns vors Portal des Petersburger Hofes.
Wir aßen allda recht gut, tranken Wisky dazu und schliefen gut. Das Frühstück am nächsten Morgen ließ mit Ausnahme von Zucker nichts zu wünschen übrig. Für einen Augenblick setzte uns die Rechnung in nicht geringen Schrecken. Sie betrug so nahezu fünfhundert Mark estländischer Währung. Da uns aber der Wirt erlaubte, diese Summe durch sieben zu dividieren, so bekam ich zum erstenmal wieder Respekt vor einem deutschen Fünfmarkschein, mit dessen Hilfe man imstande ist, ein halbes Dutzend Eier aus einem alten Hut zu zaubern, d. h. hier in Estland.
Überhaupt, man muß sich in der Nähe von Petersburg ein wenig an die großen Zahlen gewöhnen. Ein Apothekenprovisor bezieht einen Monatsgehalt von 15 000 Rubeln. Da nun das Pfund Rindfleisch mit 10 000 Rubeln bezahlt werden muß, so kann ein Rekordesser 30 000 Mark beim Frühstück verschlemmern. Wer so viel Geld nicht hat, arbeitet für den Staat und bekommt täglich eine Anweisung auf seine Fischsuppe und Kascha oder Buchweizengrütze.
Dem Petersburger Hof gegenüber liegt ein griechisch-orthodoxes Kloster. Seine Kirche, in einem mißverstandenen gotischen Stile erbaut, enthält eine sonderbare Darstellung der unbefleckten Empfängnis. Maria, in einem aus Silber gestanzten Kleide steckend, hat ein auf Elfenbein gemaltes, durchaus jungfräuliches Gesicht, trotzdem ein Gewandspalt in der Nabelhöhe erkennen läßt, daß sie mit einem frommen Kinde schwanger geht, dessen gefaltete Hände andächtig zum Himmel erhoben sind.
Unglaublich ist es fast, zu sehen, wie in dieser Kirche gesündigt wird, und zwar durch Überladung gegen den guten Geschmack. Die goldstrotzenden Heiligenparvenüs drängen einen förmlich zur Tür hinaus.
Draußen scheint die Sonne auf enge Straßen mit geplätteltem Bürgersteig. Die Häuserfassaden sind im Renaissance- und Zopfstil hergestellt, und wer den Weg vergessen hat, auf dem er hergekommen ist, könnte meinen, er befinde sich in Bellinzona oder Mantua, und diese Meinung verstärkt sich noch, wenn man das Straßengewirr hinter sich hat und auf hoher Terrasse über dem Fluß steht.
Da steigt denn mit einemmal das ganze Mittelalter vor unseren Blicken herauf. Vom linken Ufer der Narowa trotzt mit klobigen Mauern, Zinnen und Erkern die Burg der Deutschordensritter von grauen Ufersteinen herunter, während nicht minder am rechten Gestade ein halbes Dutzend krähenumschwirrter Türme in die Lüfte ragt. Kein Tor, kein Balkon, kein Gesimse, ja nicht einmal ein Fenster ist zu sehen. Nicht die geringste Konzession ist gemacht an das menschliche Schönheitsbedürfnis. Nein, das ganze zyklopische Gemäuer trägt die finsteren Züge seines Erbauers, Iwans des Grausamen. Satanisch war sein Gesicht, und ob er mit einer Bierflasche seinem Sohne den Schädel einschlug, ob er Burgen baute, Städte zerstörte, es blieb sich gleich, und ob er aufbaute oder niederriß, alles was er tat, trug seine Züge, die Züge eines Ungeheuers, das durch einen Zufall in eine Menschenhaut geraten war. Daß um das Bollwerk willkürlicher Gewaltherrschaft moderne Häuser mit leeren Dachsparren in die Lüfte starren, beweist zur Genüge, daß auch die neueste Zeit noch nicht die Kraft verloren hat, das Monströseste auf die Welt zu setzen, was es gibt, nämlich Menschen, die kein Herz haben.
Wer heute leben muß, der tue es, ohne viel zu denken. Wir alle sitzen in einem Kino, und was wir vor uns haben, ist nur ein Schattenspiel, am dem wir weder mit Lachen, noch mit Weinen etwas zu ändern vermögen.
Verlassen wir unsern Platz auf der Galerie, und begeben wir uns auf einer guten Brücke über die schäumende Narowa hinüber und dann steil bergan durch ein finsteres Tor in Iwans Zwinguri hinein. Ein weiter mauerumschlossener Hof liegt vor uns. Vom grünen Rasen ab springen weiße Zeltdächer empor und tragen in die Ruinen hinein ein wenig Farbe. Auch eine griechische Kirche steht auf dem Plan, über den mit geschäftigen Schritten ein paar Rotekreuzschwestern hin- und herlaufen.
»Sind die Herren gekommen, um das Durchgangslager zu besichtigen?« wendete sich eine derselben an uns drei Spaziergänger.
»Wenn's erlaubt ist, möchten wir's wohl tun,« sagte Kapitän Zielke, und wir schritten hinter unserer weiblichen Führung her. Wer kennt nicht die Einrichtung eines Zeltes heutzutage, wo die halbe Menschheit wieder in den Nomadenzustand wie in den Tagen Abrahams zurückgesunken ist? Da sitzen an einem improvisierten Tische ein paar zerlumpte Gestalten und spielen mit Würfeln. Dort flickt einer an seinen Hosen herum, und ein Gigerl von einem Menschen versucht es gar, sich vor einer Scherbe von Spiegelglas zu rasieren.
Ich lasse meine Genossen allein mit der Schwester. Ich habe entdeckt, daß ein gut erhaltener Wehrgang hinter den Zinnen der Umfassungsmauer herläuft. Von dort ab muß sich ein freier Überblick über die Stadt gewinnen lassen und über das Flußtal. Ich klettere über zerfallene Gewölbe hinweg. Menschen der fragwürdigsten Art kriechen, in ihrem Morgenschlaf gestört, aus Löchern hervor und gucken mich mit zornigen Augen verwundert an. An einem nesselbestandenen Schutthaufen suchen ein paar Ziegen nach Genießbarem herum. Ich kümmere mich nicht um Mensch und Vieh. Ich will nur einen Überblick gewinnen über die Gegend und erreiche meinen Zweck in dem Kreuzgewölbe eines der flankierenden Türme. Zu meinen Füßen, dicht an den Felsen heranschäumend, rauscht und tost die Narowa. In einem Dreiviertelkreise umgreift sie den ragenden Stein und obwohl sie an ihm nagt, so schützt sie ihn auch wieder gegen Brecheisen und Sturmleiter der drängenden Feinde. Hier konnte, hier mußte eine Burg entstehen, die als Talsperre wirkte. Und wenn Iwan sie nicht gebaut hätte, so hätt's ein anderer getan in der Zeit der Wegelagerer.
Aus dem Burghof herauf gemahnte mich der Zuruf meiner Begleiter, daß die Zeit vergänglich sei, und es fiel mir ein, daß um zehneinhalb der Passagierdampfer den Strom abwärts gehe. Ich machte mich auf die Socken und lief hinter den anderen her. Es ging durchs enge Tor den Berg hinunter, ging über die Brücke ans linke Ufer des Stromes. Die Steinhäuser nahmen ein Ende, und an ihrer Stelle erschienen zwischen Heuschobern und Ställen niedere Holzbauten mit Stroh- und Schindelbedachung. Vor einem aus Balken konstruierten Bollwerk lag der Passagierdampfer und machte durch ein entsetzliches Heulen der Welt bekannt, daß er nicht länger zu warten gesonnen sei. Wir stiegen ein, und ich hatte kaum auf einer der Bänke Platz genommen, so drehte sich am Achterschiff die Schraube, und ich schlief ein. Ich schlief und träumte von allem anderen eher als von den heiligen Sakramenten, als mir Herr Millbrodt ans Knie griff und mir zurief: »Machen Sie die Augen auf, wenn Sie nicht eine Szene verpassen wollen, die Sie im Leben wohl kaum zum zweiten Male sehen.«
Ich tat, was man von mir verlangte, und gewahrte an einer seichten Stelle des rechten Flußufers eine fromme Schar in weißen wallenden Gewändern. Feierlich wie auf hohem Kothurn schritten diese Auserwählten auf einen Propheten zu, der wie Johann Baptist mit nackten Füßen im Wasser stand, in ekstatischer Beschwörung den rechten Arm erhoben hatte, und nun einen nach dem anderen von diesen weißen Wallern unter das Wasser des Stromes tauchte. Ich kann mir nicht helfen, so malerisch der Zug dieser biblischen Gestalten sich ausnahm, ich mußte doch lachen, wenn so diese von Schleiern umwallten Jungfrauen den Kopf aus dem Wasser hoben und die Ohren schüttelten wie ein Pudel, den man in die Schwemme geworfen hat.
Was mit uns zusammen der Leser hier geschaut hat, ist die Taufe jener, die den Ausspruch Jesu: »Lehret alle Völker und taufet sie« wörtlich nehmen. Man pflegt sie Wiedertäufer zu nennen, obwohl von einem Wieder keine Rede sein kann. Sie taufen nur einmal, und zwar den Erwachsenen, nachdem sie ihn zuvor im Glauben unterrichtet haben, und er so weit gekommen ist, daß er seine Einwilligung zum sakramentalen Akte geben oder verweigern kann, was man als vernünftig bezeichnen muß.
Doch heraus aus den theologischen Streitfragen und zurück ins reale Leben. Wozu der Dampfer auf der Bergfahrt drei Stunden gebraucht hatte, das schafft er in anderthalben, wenn's mit dem Strome geht. Vor Mittag waren wir in Hungerburg und suchten den Lotsenmeister heim, einen alten Bekannten der Herren Zielke und Millbrodt.
»Wie geht's, Herr Peters,« so war die erste Frage, »und was werden Sie machen, wenn die Bolschewisten noch einmal über die estländische Grenze vordrängen sollten?«
»Nicht noch einmal dulden, was wir schon einmal ausgehalten haben,« gab der alte Mann zur Antwort. »Dort im Spind liegt so viel Gift, daß es ausreichend sein wird für mich und meine Alte,« und er wiegte wie schläfrig das schneeweiße Haupt von einer Schulter zur andern.
Durchs Fenster sah man einen Prahm mit einem Gefangenentransport von 700 Personen für die »Regina« den Fluß herabschwimmen. Wir versprachen dem Führer eines Fischkutters, der am Strand sein Netz flickte, einen Korb voll Kohlen, und er willigte ein, uns über die Barre hinweg an die »Regina« zu bringen. So waren wir an Ort und Stelle, als man uns brauchte, damit die Suppe nicht kalt werde und der Koch nicht siedend.
Überm Essen kam die Rede auch auf unsere Seefahrerei. Ich sprach die Ansicht aus, daß wir mit derselben bald zu Ende sein müßten, weil nach den Berichten deutscher Blätter in jeder Schlacht mit den Russen immer nur sieben gemeine Soldaten und ein Offiziersstellvertreter in Gefangenschaft geraten seien.
Dem widerspricht ein mir gegenübersitzender Fahrgast mit der Bemerkung: »Es seien innerhalb der Grenzen Rußlands im Jahre 1917 an drei Millionen Mann des Dreibundes interniert gewesen.«
Die Rede des jungen Mannes ist ernst zu nehmen. Er stammt aus der Mormonenstadt Lake City, ist Student der Medizin und sieht nicht aus, als ob er durch die Vielweiberei seiner Sekte heruntergekommen wäre. Er glich einem Burschenschafter aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, als dieser Studentenbund noch die Courage hatte, keusch zu sein. Was ferner für ihn spricht, ist der Umstand, daß er sich schon seit zwei Jahren auf dem europäisch-asiatischen Kontinent auf seine Kosten herumtreibt und seine reichen Geldmittel in den Dienst der Gefangenenbefreiung stellt. Für sich hat er nur die Kenntnis von sechs lebenden Sprachen eingesammelt. Da er ohne Maturitas in Deutschland nichts werden kann, will er zur Vielweiberei seiner Heimatstadt zurückkehren, sobald der letzte Kriegsgefangene wieder dort ist, wo er hingehört. Alles das, was ich so brockenweise über ihn erfahren haben konnte, stand plötzlich wie ein Fels der Wahrheit vor mir, und ich fragte deshalb mit erregter Stimme: »Und wie lange schätzen Sie demnach, daß unsere Ostseefahrten noch dauern werden?«
»Wenn alles gut geht, zum mindesten bis zur Erdbeerreife im nächsten Jahr. Aber vergessen Sie nicht, wir können einen kalten Winter bekommen, der Finnische Meerbusen kann zufrieren. Was dann?«
»Wenn uns dann der Himmel nicht Kornbranntwein in die Adern gießt und uns Renntierhaare auf dem Rücken wachsen läßt, dann werden wir Frostbeulen auf den Stimmbändern bekommen und wie die Frösche zu quaksen anfangen,« bemerkte ein Walfischfängerkapitän von der Murmanküste.
»Ja, schon vorher, vorm Eingefrieren; was kann sich nicht alles da schon ereignen, wenn der Oktobersturm die schmuddelige See bringt. Wird es da möglich sein, noch einen Leichter mit dem Dampfer so zu vertäuen, daß man Kranke und Krüppel an Bord bringen kann?« bemerkte voller Zweifel einer aus der Tafelrunde.
Dieser verzagten Stimme antwortete eine, die mit gurgelnden Rachenlauten reichlich durchmengt war. Sie gehörte einem Schweizer Infanteriehauptmann, der sich im Bewußtsein schlauer Überlegenheit also vernehmen ließ: »Während Sie hier noch an der Kuh herummelken, haben wir Eidgenossen schon den Käse fertig.«
»Kein Wunder, da ihr die Käsefabrikation schon seit den Tagen des Schafhalters Abraham monopolisiert habt. Aber sagen Sie, was haben Sie getan, um den drohenden Mißständen zu begegnen?« fragte neugierig der erste Maschinist.
»Was ich getan habe? Bin von Pontius bis zu Pilatus gelaufen. Habe dem Landrat auseinandergesetzt, dem Hafenkapitän erklärt, dem Präsident begreiflich gemacht, daß man als Endstation des Überlandtransportes vorm Eintritt der Winterkälte einen südlicher gelegenen Hafen wählen müsse. Hier käme nur Baltischport in Frage, habe ich g'sait. Es isch mit Narwa dorch ene Bahn verbunde, hab' ich g'sait, sein Bassain hat zehn Meter Wassertiefe und isch mit einer Holzmole umgürtelt. An sellere lasse sich kommod zwölf Schiffe anlege un a noch e dreizehntes als Dreinweck wie bei de Semmeln im Bäckerladen. Un noch en Ansteuerungspunkt hat der Gänsepfuhl an einer Windmühl, wie's auf der Welt keen bessere gebe kann, hab' ich abermals g'sait. Und daß Sie's wisse, meine Herre: Die chaibe Kerle ham mir's glaabt.«
Ich sperrte Mund und Nase auf über die nautischen Kenntnisse, die da von einer Rapperswyler Landratte ausgekramt wurden, und um meinerseits doch auch etwas Senf an die Sauce zu tun, sagte ich: »Und wie stellen sich denn die Fachleute zu der angeschnittenen Frage? Man hätte die Kapitäne doch zu Rate ziehen sollen.«
»Ganz und gar nit vonnöten. Die ersparen sich vierzehn Stunden einer gefährlichen Seefahrt um die Klippen von Surop herum, wo augenblicklich wieder ein Amerikaner im Schlick steckt und geleichtert werden muß. Und dann vor allem, meine Herrn, bedenken Sie nur, Baltischport ist kerndütsch und liefert gute Schinken.«
»Welchen Schweizer Panzerkreuzer haben Sie seither kommandiert?« fragte ich.
»Nur einen Bagagewagen,« war die Antwort. »Ich bin Kapitän der Infanterie. Aber wissen's, wir Schwyzer haben einen angeborenen Instinkt fürs Praktische und können, wenn's sein muß, die Nas am Rockärmel putzen.«
Es ließ sich nicht leugnen, alles, was der Mann zur Stütze seiner Ansicht vorbrachte, hatte Hand und Fuß. So lange den Rückwanderern der Landweg durch Polen verschlossen bleibt, sind Baltischport, Libau oder Riga für den Winterbetrieb die geeignetsten Einschiffungspunkte, wenn man ausschließlich mit dem Wohl und Wehe der Heimkehrenden rechnet. Allein, in und an der Narowa kriechen, genau so wie auf deutschen Rathäusern, Bürokratenkäfer über die Dielen, die um ihre Existenz kommen, wenn man das Praktische zur Norm macht. Ihnen zur Liebe wird zwischen dem Ural und dem Stillen Ozean noch mancher ins Gras beißen, der längst an einem deutschen Tische wieder sein Stücklein Brot genießen könnte. Mit bangem Herzeleid gedachte ich dieser Armen, als ich an den vielgewanderten Amerikaner die Frage richtete: »Wie hoch beziffert sich nach Ihrer Auffassung die Zahl der Kriegsgefangenen, die da hinten noch jenseits der Wolga stecken?« Er zuckte mit den Schultern. »Schwer zu sagen,« brachte er endlich heraus. »Manche Lager haben ihre Belegmannschaften bereits abgeschoben, teils zur Bahn, teils zum Kirchhof. Fever – Fever – « machte er.
»Sie meinen Typhus?«
»Yes, Typhus. Im Lager zu Nowo Nikolajewsk starben 8000 von 15 000 an dieser Sickneß. Aber immerhin, was man so hört, sollen noch nahe an einer Viertelmillion Soldaten unterwegs sein nach der deutschen und österreichischen Grenze.«
»Macht Rußland Schwierigkeiten wegen der Herausgabe der Gefangenen?«
»Vielleicht in den Industriezentren. In den Lagern ist man froh, wenn man die Esser los wird. Aber es fehlt an den Transportmitteln. Kleine Interniertengruppen schleichen sich deshalb davon und suchen zu Fuß die Heimat zu erreichen.«
»Und welche Subsistenzmittel führen sie mit?«
»Nun eben Rubelscheine, die aber zum Teil ganz wertlos sind. Die beste Scheidemünze ist Salz. Für eine Obertasse von diesem Stoff erhält man an manchen Stellen sechs Eier. Wenn alle Stränge reißen, geht man zum Betteln vor die Bauern.«
»Die aber selbst nichts haben.«
»Kann man nicht durchweg sagen. Im Tale der Wolga verfault der Überfluß auf den Feldern, und in Petersburg und Moskau verhungert man tatsächlich. Es fehlt an der Organisation. Man hat die Intelligenzen hingemordet. Der Kopf ist fort, und es blieb ein bewegungslos stinkender Kadaver.«
»Und Sie selber,« so fragte ich, »wie sind Sie auf dem langen Wege von Irkutsk bis an die finnische Grenze vorangekommen?«
»O, ohne große Schwierigkeit. Der Dollar ist zur Zeit ein besserer Führer, als es seinerzeit dem Tobias gegenüber der Erzengel Raphael war. Kann man keinen Pullmanwagen haben, so fährt man zur Abwechslung auch einmal auf dem Holzvorrat der Lokomotive.«
»Holzvorrat?« fragte mit Verwunderung der Schweizer Kapitän.
»Yes, Holzvorrat. Man heizt mit dem, was man hat, und je nach der Gegend, in der man sich gerade befindet, wird man bald vom Petroleum, Naphtha, Kohlen oder auch vom Birkenstamm durchs Land gezogen. Solange man sitzen kann, geht's immer noch. Man stemmt die Ellenbogen auf die Knie, die Kinnbacken in die hohlen Hände und spuckt auf alles, was unter einem kriechen und fliegen tut. Wenn man aber so stehen muß und so stundenlang dem einen Bein gute Wort gibt, daß es das andere ablöste, dann, meine Herren, wird die Sache miserabel.«
»Und warum setzten Sie sich denn nicht? Wo zwei Fußsohlen stehen, sollte doch für ein anspruchsloses Hinterviertel Platz sein,« bemerkte ich.
»Well, nicht überall in der Welt, in einem Stolypinski z. B. nicht.«
»Stolypinski, Stolypinski, was versteht man unter diesem Worte?« fragte ich mit Lebhaftigkeit, weil mir ein sonderbarer Gedanke mit einemmal durch das Gehirn schoß.
»Man begreift darunter einen Stehwagen, der nichts hat, als den Boden und vier kahle Wände. Zwischen diese hinein preßt man so viele Menschen, daß einer dem anderen das Umfallen zu einem Kunststück macht. Wer nicht zu kurz geraten war oder einen Koffer mit sich führte, auf den er sich stellen konnte, der mochte immerhin nicht ganz wie ein Blinder die Welt durchfahren, denn ganz oben im Wagen lief wie ein Fries eine Drillage her, die den Blick ins Freie gestattete. Vergessen Sie nicht, meine Herren, das waren die Kupees, in denen man vor dem Kriege die politischen Verbrecher nach Sibirien schaffte.«
»Daran dachte ich schon, ehe Sie dem Gedanken Worte verliehen. Aber sagen Sie mir doch, wie kam der Wagen zu dem sonderbaren Namen Stolypinski?«
»Nun, er trägt ihn nach seinem Erfinder, seinem Erbauer, oder sollten Sie niemals etwas von Stolypin gehört haben?«
Ob ich was von Stolypin gehört hatte? Aber nun freilich. War ich doch mit ihm zusammen unter der hoffnungsfrohen Devise: »Neue Männer« im »Weltspiegel« abgebildet gewesen, als ich meinen ersten Roman, den »Michael Hely« verbrochen hatte. Was mag man sich von uns beiden dazumal versprochen haben? Von mir vermag ich's nicht zu erraten, aber von Stolypin weiß ich es. Er war eben russischer Minister geworden, und man hat ihm nachgesagt, daß er deutschfreundlich sei. Welch' eine Perspektive für politische Schwarmgeister. Deutscher Kopf auf moskowitischem Körper die Welt beherrschend vom Ärmelkanal bis zum Stillen Ozean. In der Tat, man kann fragen, wie würde die Welt heute aussehen, wenn Stolypin nicht durch die Bombe eines Mordbuben in Stücke zerrissen worden wäre?
Indessen das Schicksal nahm seinen Lauf. Der allgewaltige russische Außenminister sank ins Grab, und aus dem andern von den »neuen Männern« ist einer heimatflüchtig geworden, der auf verwanzten Ostseekähnen gefangene Krieger in die Heimat schafft.
›Ach, und was für eine Sorte diesmal,‹ dachte ich, als ich über das Vorderschiff hinweg ostwärts nach der Narowamündung blickte. Da kam der Schlepper aus dem Walde heraus, den Prahmen an seiner Seite und auf diesem nun Mann an Mann so an achthundert Gestalten, die man Stück für Stück mitsamt der Mütze und dem Schuhwerk auf einem Trödelmarkt für einen Groschen kaufen könnte. Dabei hängen den meisten Schnurrbärte aus den Nasenlöchern heraus, daß man sich wundern muß, wie der Schöpfer seine Ebenbilder mit solchem Zierat entstellen mochte. Ungarn sind es, Bosniaken, Böhmen und Slowaken und was wir sonst als Waffenbrüder mit uns ins Feld geführt hatten. Reichsdeutscher war keiner darunter, und das war gut für sie. Man muß an den Knoblauchgeruch gewöhnt sein, wenn man das tagelange Zusammenleben mit diesen Brüdern überleben will. Und dann dies Sprachengewirr, als die Leute an Bord waren. Erst wenn man sie hat singen hören, bewundert man die Zähigkeit, mit welcher der österreichische Kaiserstaat so lange hat zusammenhalten können. Sie brüllten eines Abends derart, daß der Himmel schamrot wurde, was man hierzulande ein Nordlicht nennt.
Wir fütterten die armen Schelme so gut wir konnten, und ich glaube, sie wären ohne gute Worte ewig bei uns geblieben, und zwar trotz der ausgesuchten weißgekleideten Exemplare Stettiner Jungfrauen, die, wie üblich, am Bollwerk stehen und mit gelben Strohblumen zum Empfange winken.
Bevor wir uns nun von diesem Menschengulasch trennen, muß ich noch eines Taubenpaares gedenken, das mir gerade diese Reise unterhaltsam und zugleich gottgefällig gemacht hat. Man stelle sich einmal vor: Als ich eines Morgens vor meine Kammer trete, stoße ich mit dem wenigen, was ich von Bauch besitze, wider eine alte Frau. Sie hat das verschossene Palmenmuster eines dreieckigen Schals um die Schultern hängen und drückt die beiden Vorderzipfel mit knochigen Fingern in den gotischen Bogen der kurzen Rippen. Ich war lange genug Bauernarzt gewesen und hatte gelernt, auch ohne Röntgenstrahlen richtige Diagnosen zu stellen.
»Bauchweh, Bauchweh, Mutterchen,« sagte ich so kurz hin.
»Oh, und wenn Sie wüßten, was für welches! Ein glühender Bügeleisenstahl muß mir zwischen die Därme geraten sein. Die Schmerzen von drei Wochenbetten in eine Stunde zusammengedrängt will ich lieber ertragen, als diese Qualen nur noch eine Minute. Vor die Hunde muß ich mit Leib und Seele gehen, wenn Sie in Ihrer Giftbude nicht einen Kognak für mich haben.«
»Wenn er keinen Champagner hat, säuft der Satan Seifenbrühe, Großmutter. Schnaps ist Schnaps, und wo ein Kognak hilft, verdirbt ein Kornbranntwein auch nichts,« und ich ging nach meiner Arzneikiste und holte eine Literflasche von dem hervor, was mir an Rußland stets als das Wertvollste erschienen ist.
Die Alte schluckte wie ein Trichter, und wie ein solcher gluckste sie auch dazu. Ihr Gesicht überzog sich mit einem freudigen Schimmer, und in der Begeisterung einer herannahenden Trunkenheit fragte sie, ob sich von diesem Göttertrank noch viel in meiner Kiste befände.
»Leider nicht,« mußte ich bekennen, »und das Wenige meines Vorrates ist in Gefahr, mir von den Zollbrüdern geraubt zu werden, die in Swinemünde zu uns an Bord kommen, und die für den Staat alles mit Beschlag belegen, was ihrem eigenen Freßsack gut bekömmlich ist.«
»Und gegen diese Kellerratten wissen Sie sich keinen Rat? Nun Sie haben mich, so wahr ich lebe, soeben vom Tode errettet, und zum Danke dafür will ich Ihnen helfen, so sicher, als ich immer ein ehrliches Mädchen war und bei einem Apotheker in Diensten. Mein Herr, der alte Blutegelbändiger, war ein Geizkragen und gönnte seinem Dienstpersonal die paar Tropfen nicht, die wir beim Abstauben von seinen Himbeerflaschen leckten, und was tut der speckgespickte Teufelsbraten? Ich sag' es Ihnen, denn Sie werden's nie erraten. Verflucht sei er in den tiefsten Höllenpfuhl. Er klebte papierne Totenköpfe auf alle seine Standgläser und schrieb Gift! – Gift! – Gift! darunter.«
»Großmutter, mir gefällt Euer Rat, und ich werde ihn befolgen,« rief ich begeistert aus, »und was darf ich dafür zahlen?«
»Nichts, als daß ich das Urvieh von meinem Mann mitbringen darf, wenn ich wieder Leibweh habe,« und sie schlürfte in ausgetretenen Pantoffeln den Maschinenraum entlang.
Von jetzt ab waren die zwei Alten wie ein Meisenpaar, das nach Nußkernen lüstern ist, regelmäßig dreimal im Tage vor meiner Tür und hatten mit erstaunlicher Regelmäßigkeit Bauchschmerzen.
Daß der gute Rat der Sibylle mir von Nutzen hätte sein können, will ich gerne glauben, wenn nicht, als der Zollschnüffler kam, die Flasche leergetrunken gewesen wäre. Alkoholfrei dampfte die »Regina« dem Stettiner Piere entgegen, und das Völkerkuddelmuddel verließ uns. Die zwei schnapsduftenden Alten waren die einzigen, von denen ich mich ungern trennte.
Nach kaum dreistündigem Aufenthalt fuhren wir in übler Laune wieder die Oder hinunter. Der Kapitän hatte mehr Schmieröl und Kohlen für sein Schiff verlangt von der Admiralität. Sie waren ihm nicht bewilligt worden. Dem Koch hatte man weder Fleischwaren noch Brot und Kartoffeln geliefert, und mich hatte das Rätegesindel auf dem Hafenbüro einfach ausgelacht, als ich für kranke Kolonistenkinder um Konservenmilch und Zwieback gebeten hatte. Während wir drei Abgewiesenen unseren Ärger verbeißend auf der Brücke standen, schaufelte sich eines von des alten Reiches abgängigen Kanonenbooten langsam an uns heran. Seine Masten waren ohne Flaggen und eine dunkelschwarze Rauchwolke war alles, was der Gepanzerte über sich in den Lüften wehen ließ.
»Trauriger Rest unserer Kriegsflotte! Die Vorschrift sagt, daß wir durch Hochziehen der Heckfahne die Blechkiste zu grüßen haben, wenn wir nicht bei unserem nächsten Aufenthalt zu Stettin vors Seegericht geladen werden wollen,« erlaubte ich mir dem Kapitän gegenüber zu bemerken.
»Wir grüßen nicht,« begehrte der Alte auf. »Die Zuhältergesellschaft soll erst einmal am Hintersteven ihre Kontorflagge mit dem grünen Fensterladen und der langen Hausnummer zeigen. Eine Affenschande ist es, was hier vorgeht. Ich wette, daß jeder von den Hanseln, die da drüben ins marineblaue Tuch hineingeschneidert sind, seine Gretel mit an Bord hat. Wer immer ein wenig Zeit hat, wenn's auch nur ene kleene Viertelstunde ist, der sollt' einen von den Marinierten durchhauen, denn die Spitzbuben verdienen's allemal. Minen zu suchen, sind sie ausgeschickt, und an der schwedischen Küste drüben verschachern sie die ärarischen Kohlen und schlemmen, solange das Geld reicht. Die sollen's nur mal wagen, von uns einen Gruß erzwingen zu wollen.«
Das Kanonenboot war an uns vorbeigerauscht, und daß der Kapitän vors Seegericht geladen worden wäre, davon habe ich niemals etwas gehört.
Mit schmutziger Wäsche geht man ungern in die Herberge zur Gerechtigkeit.
Am Leuchtturm von Swinemünde vorüber tanzte die »Regina« mit ihrer Russenladung auf die hohe See hinaus. Abermals glitt die Küste von Gotland vorüber, und der Wächter auf dem Zaritcheff Feuerschiff saß im blendenden Sonnenschein auf dem Deck und sohlte Schuhe. Wir konnten die Schläge seines Hammers auf dem Grauwacken hören, als wir eben an seiner Einsiedelei vorüberfuhren über Fische hinweg, für die der Freitag durch das kirchliche Fastengebot ein verhängnisvoller Tag geworden ist, und lagen an einem Samstag abermals vor der Düne von Hungerburg.
Flache Kähne trugen in der Richtung des Hungerburger Kurhauses unsere Soldatenladung dem Strande entgegen. Breite Prahmen, mit Mitteleuropäern überladen, drängten nach unseres Schiffes Backbordseite. Ein geländerloser Laufsteg war von Fahrzeug zu Fahrzeug rasch genug mit einigen Brettern hergestellt. Die Überwanderung konnte beginnen. Am reginaseitigen Brückenkopf war ich mit dem Obermatrosen Bartels aufgestellt, damit die Überwanderung genau nach den Regeln von Knigges Anstandsbuch vor sich gehe.
»Erst die Weibsmenscher, dann die Mannskerle!« schrie der gebildete Bartels nach dem Prahmen hinüber. Ein paar verwegene Lausbuben, die sich vordrängten, hatten schnell wie's Gewitter ihre Ohrfeigen weggekriegt, damit sie nicht vergessen sollten, daß sie im Begriffe waren, ins Land der Gottesfurcht und guten Sitte zurückzukehren.
Nach diesen Kleinen kam eine Dame, der man von weitem ansah, daß sie aus der großen Welt stammte. Sie schob ein reizendes Mädelchen vor sich her, das in ein vor Zeiten einmal blütenweißes Mäntelchen gehüllt war. »Komm, Charlotte!« sagte der gleiche Bartels, der die Buben gehauen, und er drückte den Kopf des allerliebsten Kindes gegen sein pockennarbiges Gesicht. Nun war die Mutter sicherer und in ihren Bewegungen freier geworden, und aus seinem Schleier trat das edle Oval eines Madonnenantlitzes, wie Andrea del Sarto sie zu malen verstand. Wer mag sie sein, diese Flüchtige nach der deutschen Grenze, und von welcher Höhe mag dieser Stern mit seinem kindlichen Trabanten heruntergestürzt sein? Das Menschenmeer ebbt und flutet zwischen dem Atlantik und dem Stillen Ozean, wer hat Zeit, einer Welle nachzuschauen? Nur weiter und vorbei. Da durchschneidet ein greller Schrei die Luft. Er kommt aus dem zahnlosen Munde einer achtzigjährigen Sibylle. Auf einen neuen Reisigbesen gestützt, wollte sie über die Planke schreiten. Jetzt war ihr der Genosse ihres langen Weges untreu geworden, und er war zwischen dem Prahmen und dem Dampfer ins Wasser gefallen. Die Alte war unglücklich. Vor sechzig Jahren war sie ausgewandert. Welcher Dreck mußte sich angesammelt haben, seitdem sie nicht mehr auf der Rauhen Alb gekehrt hatte! Und dann überhaupt in Deutschland! Ja, sie würde Arbeit finden für ihren Besen aus den schmiegsamen Reisern der sibirischen Zwergbirke. Des war sie sicher. Und nun war er fort, verschwunden. Zwar noch nicht ganz. Noch trieb er am Eisenpanzer der »Regina« hin, aber wessen Arm war lang genug, den Ausreißer vom Meeresspiegel heraufzuholen? Die Alte neigte den grauen Kopf über die Brustwehr, schüttelte ihn bedenklich und humpelte weiter, um sich ein Bett zu suchen.
»Sie ist von der alten Schule,« sagte eine heimliche Stimme in mir, »deine Großmutter hätte es gerade so gemacht,« und ich kam auf den Gedanken, ob ich ihr nicht zu ihrem Eigentum helfen könne. Soeben lief der Küchenjunge übers Vorderschiff. Er trieb Allotria und erschreckte und belustigte gleichzeitig mit Fratzenschneiden das junge Volk der Flüchtlinge.
»Hier, Tagedieb, sind fünf Zigaretten, und hast du nicht vorhin den Besen um die ›Regina‹ schwimmen sehen?«
Er nickte fidel, und noch keine zehn Minuten waren ins Land gegangen, so war ich im Besitze des sibirischen Reisigbesens. Ich suchte nun nach der Sibylle und fand sie schlafend in einer Koje liegen. Still gab ich ihr den Schwervermißten zum Bettgenossen, und ich hoffe, daß sie froh und glücklich gewesen sein wird, als sie erwachte und ihn wiedererkannte.
Zwei Stunden sind vergangen, und Menschen und Gepäck sind auf die »Regina« herübergenommen. Welch ein Gewimmel, wenn man von der Höhe der Brücke aufs Vorderschiff herunter sah! Frauen von allen Umfangsformen, deren der weibliche Organismus fähig ist, beherrschten das Bild, und zwischen ihnen dann Kinder in allem, was man noch als Bekleidung bezeichnen kann, von der Zeitung bis zum verlausten Hundepelz.
Zwölf Uhr ist's schon. Wir müssen weg von der Reede von Hungerburg. Der Nebel hat zwar ein graues Zelt um uns gespannt, aber über unserem Haupte ist die Sonne noch sichtbar, und wenn von der ganzen Schöpfung dem Auge des Seemanns nur irgend etwas erreichbar ist, so bleibt er orientiert. Freilich, freilich, das Ohr muß aufpassen auf die Heultonnen, und so fahren wir nach der Melodie: »Nur immer langsam voran!« in nordwestlicher Richtung dem Eilande Stenskär entgegen. Es muß am Abend ein Sekundenfeuer dort brennen, aber wir sahen es nicht. Das Lot aber klärte uns auf, daß wir mit siebzehn Metern Wassertiefe nordwärts von Kockskär sein mußten. Von da bis in die Bucht von Reval hinein führt eine schmale, klippenreiche Fahrrinne. Herr Zielke verzichtete auf ein Weiterkommen und ließ den Anker fallen. ›Gott sei Dank, eine Nacht ohne Maschinengeräusche,‹ dachte ich und schob den Riegel vor meine Kammer. Wie hatte ich mich getäuscht! Von Stille war keine Rede. Wo ein Weiberrock mit einer Mannshose zusammentraf, ging das Getuschel los. Geschiebe längs der Schottenwände, und vom Deck herunter krächzte eine Drehorgel in die Unendlichkeit hinaus.
Kurz vor Mitternacht drückte sich geheimnisvoll ein Dampfer an uns vorbei. Kein Licht von ihm war zu sehen. Aber wir hörten ihn und fühlten seine gefährliche Nähe schon dicht vor unserm Bugspriet. Bis gegen drei Uhr merkten wir den verwegenen Stromer. Dann wurde der Warnungston seiner Sirene schwächer, und der Unheimliche war fort.
Am nächsten Morgen Nebel. Er ist's, der die Ostseeküste längst nicht zu der Entwicklung heranreifen ließ, wie man dies eigentlich erwarten konnte. Kalt und rücksichtslos ist übrigens dieser baltische Nebel nicht. Er erzeugt nur die Sehnsucht, über ihn hinwegzukommen, um größere Übersicht zu haben. Also hinauf! Drei Stockwerke höher und auf die Brücke, das war meine Losung.
»Wie lange lassen wir den Kahn hier angebunden, Herr Kapitän?«
»Solange wir kein sicheres Besteck haben, sind wir übel oder wohl festgehalten. Damit Sie übrigens keine Langeweile kriegen, Doktor, kommen Sie an die Schutzleinwand heran.«
Wir traten vier Schritte gegen das Achterschiff und gewahrten unter uns auf dem Promenadendeck eine Gruppe von jungen Männern, die anscheinend Vorbereitungen trafen, einen Skat zu dreschen oder dabei zu wanzen. Es waren intelligente Gesichter, und ihre Kleidung war nach der Mode geschneidert und wenig abgetragen.
»Sind die Leute Ihnen noch nicht aufgefallen, Doktor?«
»Nein, vielleicht aber nur deshalb, weil ich sie zufällig nie auf einem Klumpen zusammen sah. Was ist's mit diesen Herren? Sie sehen beinah so aus wie im weiland kaiserlichen Deutschland die Agrarapostel, die sonntäglich herumreisten und mit Vorträgen den deutschen Mittelstand hoben.«
»Nicht weit neben's Ziel geschossen. Sie gehören zum Überschuß der germanischen Intelligenz, für den wir weder Brot noch Stellungen haben. Unentdeckte Genies und Menschenhasser aus dem Gefühle heraus, daß andere da stünden, wo von Gott und Rechts wegen sie hingehörten. Achten Sie doch nur auf die falschen Blicke, die von Zeit zu Zeit einer oder der andere von den Karten weg zu uns heraufwirft. Wir sind für diese Leute die Vertreter des grausamsten Mammonismus, der sie, die Aufstrebenden, Vielversprechenden niederdrückt.«
»Ich werde den Scheelsüchtigen meine Schuhsohlen zeigen, Herr Kapitän, und sie sollen mich nie mehr mit einem Krösus verwechseln. Im übrigen, wer sind die, wie kommen sie zu uns aufs Schiff? Ich denke, wir befassen uns ausschließlich nur mit der Rückbeförderung von Kriegsgefangenen und Ausgewiesenen?«
»Lassen Sie sich, ich bitte darum, die Antwort auf Ihre Fragen von den Leuten selber geben. Wie wär's, wenn Sie in ein Gespräch mit ihnen zu kommen suchten?«
In diesem Augenblicke war ein junger Mann von fast leichtsinnigem, aber gutmütigem Aussehen an den Tisch der Spieler herangetreten. Seine Füße steckten in feudalen Morgenpantoffeln, und alles, was er an Kleidung an sich hatte, roch nach vergangenen besseren Tagen. Schon die Art, wie er die Zigarette im Munde hielt und den Rauch in die Luft blies, gemahnte, daß man sich in ihm nicht täuschen und ihn mit keinem anderen Menschheitsexemplar verwechseln solle.
»Sie kommen von Herrn Davis, dem Amerikander,« rief ich dem Gutedel zu. »Hat er wieder Zigaretten verteilt? Wie schmeckt Ihnen übrigens die Climax?«
»Sie läßt sich rauchen,« bemerkte er gnädigst, »und übrigens, wenn man heutzutage von Moskau kommt, hat man keine verwöhnte Zunge mehr.«
»Sind Sie als Kriegsgefangener dort gewesen?«
»Nein, nur so mal rübergeflutscht, mit 'nem Freibillett von der Regierung.«
»In diplomatischer Mission jedenfalls?«
Der Jüngling blies die Backen auf und drängte seine Hemdenbrust durch den Giletausschnitt hindurch, als er die Mütze in den Nacken rückte und zu mir sagte: »Ein ›Delegierter‹ hat mich zur Reise veranlaßt.«
»Ein Delegierter Rußlands? Junger Mann, stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel! Wenn Sie auch inkognito reisen, so gehören Sie doch wohl zu den prominenten Persönlichkeiten unserer Tage oder sind Sie mit Präsident Ebert verschwägert?«
»Na, zu mir allene is nun gerade der Delegierte nich gekommen, aber an die Gewerkschaft.«
»Und er hat Euch eine schöne Rede gehalten und goldene Berge versprochen im heiligen Rußland?«
»Hm,« schnaubte er, »viertausend Rubel Monatsverdienst bei freier Station, wenn wir in der Lokomotivenfabrik Kolomna Arbeit nehmen wollen.«
»Ich bitt' dich um alles, Fritze, hör mit das Geklöhne auf!« rief einer von denen, die am Kartentische saßen.
›Aha‹, dachte ich bei mir, ›er soll nicht aus der Schule schwätzen. Nun mußt du ihn am Westenknopfe halten, daß er dir nicht davonläuft.‹ Ich näherte mich ihm auf einen Meter Entfernung.
»Sie haben selbstverständlich angenommen und sind nach Moskau gereist? Sechsundneunzigtausend Mark Jahresgehalt ist eine Summe, die einen rasch zum Millionär macht.«
»So dacht' ich auch, und ich bejuckte mir in Berlin die Automobilläden noch einmal gründlich, als ich mit die Genossen zum Bahnhof ging.«
»Waren ihrer viele, die mitreisten?«
»Ja, so an die hundertfünfzig.«
»Nimm deine Karte, Fritze, oder ich werfe dich und die vier Skatbuben über Bord.«
Mit meinem Verhör war ich in gutem Zuge, und ich ließ nicht locker.
»Es soll ja in Rußland die Industrie sich mächtig heben. Ihr habt alle Arbeit gefunden?«
»Ja, aber wir stießen auf die Sabotage der russischen Jenossen. Dem einen von uns fehlte der Hammer, dem zweiten die Feile und einem dritten hatte irgend jemand die Drehbank unbrauchbar jemacht.«
»Na, und wie war's mit dem Essen?«
Er spuckte vor sich hin, ehe er die Worte »Fischsuppe und Kascha« aussprach, und fuhr fort: »Man muß sich noch dazu kaufen zum Offizialfutter.«
»Bei achttausend Mark Monatsgehalt eine leichte Sache.«
»Nun, viel Mühe macht es nicht, bis man mit tausend Rubel fertig ist, wenn das Laibchen Brot 750 Rubel kostet und die Schachtel Streichhölzer 100. Das Pfund Salz muß mit 1500 Rubeln beglichen werden, und ein Stück Seife kostet viertausend.«
»'s jeht übers Bohnenlied mit das Geklöhne von die Spieldose,« rief eine Stimme vom Tisch her, und die Spieler erhoben sich und verließen das Deck.
Ich heuchelte den Naiven und fragte so obenhin: »Wohin sind Ihre Freunde verschwunden?«
»Ins Zwischendeck, diese Überzeugten wollen nicht, daß man über solche Dinge redet. Wenn sie erst in Berlin sind, dann haben sie sich schon auf eine Ausrede besonnen, weshalb sie wegjelaufen sind, und lassen den Bolschewismus hochleben, der Regierung zulieb. Sie hatten doch freie Hin- und Herreise gehabt.«
»Und bringen doch sicher auch noch einiges Geld mit?«
»So viel, daß es für die Funkendepesche reicht: ›Jänzlich abgebrannt. Schickt einen Rettungswagen an den Stettiner Bahnhof!‹«
Bei diesen Worten zog er seine Hosentaschen an die Luft und klopfte sie mit Sorgfalt aus. Ich mußte lachen, und er fragte mich, warum ich mich über ihn lustig mache.
»Weil Ihr Kleeblatt mich an biblische Gestalten erinnert, an Josua und Kaleb, Sie kennen sie doch, die Kundschafter?«
»Ach die ollen Schweden, die den jroßen Traubenhenkel aus Palästina mitgebracht hatten? Na, wissen Sie, den koofen wir uns in Berlin erst noch und hängen ihn für die Dummen an den Durchzugsbalken unseres Vereinslokales.«
Er spuckte den Rest der Zigarette aufs Deck, faltete im Genick die Hände und sagte dann zu mir: »Wenn ick jetzt einen Erdteil wüßte, wo man für kein Geld eine Tasse Kaffee bekommen könnte, nach die Jegend zu würde ich auswandern.«
»Sie brauchen sich keine Blasen zu laufen, um ins Land Ihrer Wünsche zu kommen. Gehen Sie nach der Küche und sagen Sie, der Doktor hätte Sie geschickt einen Mokka zu verlangen.«
»Ist's die Möglichkeit?« schrie er auf, machte einen Luftsprung und war fort.
»Als Gott den Menschen zum Herrn über die Tierwelt setzte, da hatte er noch keine Ahnung davon, wie dumm seine Ebenbilder sind,« sagte ein ungarischer Professor, der wohl schon eine Weile hinter uns gestanden haben mochte. »Sagen Sie selber, meine Herren, wenn ein Stück Papier, auf dem die Zahl ›Hunderttausend‹ aufgedruckt ist, nicht mehr Kaufkraft hat, als ein anderes mit dem Aufdruck ›Ein Rubel‹, warum quält man sich mit den Nullen herum? Man lasse das Brot fünfundsiebenzig Kopeken kosten und die Streichhölzer fünfundzwanzig, und man ist mit einer Mark soweit wie mit einer Million.«
»Wenn man aber die Million nach Deutschland brächte,« so bemerkte Herr Zielke, der nahegekommen war, »da würde sich dann doch vielleicht ein Vorteil ergeben.«
»Fragen Sie bei Ihren Passagieren herum, und Sie werden finden, daß an der Grenze einem jeden die Rubelscheine wieder abgenommen werden. Es ist ein pyramidaler Schwindel von den russischen Machthabern. Mit großen Zahlen hat man die Menge angezogen, mit abgesägten Hosen schickt man sie heim. Freilich, unsere Wiener Gigerl können die Glasscherbe vors Auge stecken und im balzenden Birkhahntone sprechen: ›Fränzle, wenn mir die Hundsknochen meine Millionen nicht gestohlen hätten!‹«
»Man sollte denken, die enttäuschten Glücksritter müßten doch den Schwindel beleuchten, wenn sie zurück sind,« bemerkte ich.
»So wenig wie die Ungeheilten das Treiben des Kurierschäfers. Man schweigt aus Parteirücksicht, man schämt sich, und das Fatum geht mit schweren Schritten durch die Welt. Und so ist es gut. Eine Zeitlang lassen die Nationen Narren und Verbrecher gewähren. Dann besinnen sie sich und setzen Galgen an die Heerstraßen. Glücklich der Handwerksbursche, der solches erlebt! Unterm Hochgericht wird's bei uns demnächst billige Schuhe geben.«
›Für Leute, die nicht empfindlich sind und anziehen, was andere abstreifen,‹ so dachte ich und folgte einem Rufe ins Zwischendeck hinunter.
»Wer in Tränen sät, wird in Freuden ernten,« sagt die Bibel einmal an einer Stelle, wo sie's für nötig hält, uns über das wirre Gemengsel von Verdruß und Genuß zu trösten. In gedrückter Stimmung war ich ins Inferno des Zwischendecks hineingestiegen, als ich wieder kam, war die Welt wie vertauscht. Das Frührot leuchtete und Heiterkeit spiegelte sich auf allen Gesichtern. Das Schiff war in starker Fahrt und rasch vorangekommen. Von den Werften am linken Flußufer herüber hörte man den hellen Ton von unzähligen Kleinhämmern aus dem dumpfen Baß surrender Maschinen heraus. Nun konnte es nicht lange mehr dauern, und die alarmierende Blechmusik der Stettiner Stadtmusikanten mußte vernehmbar werden. Schon sah man diese Biedermänner unter dem Schutz weitüberholender Ziegeldächer auf den Rampen kilometerlanger Zollschuppen stehen. Sie hatten für einen Tagelohn von fünfzehn Mark pro Mann es übernommen, eine summarische Empfangsbegeisterung zu liefern, in die dann die einzelnen Heimgekehrten je nach ihrer Aufnahmefähigkeit sich zu teilen hatten. Vorläufig bereiteten sich die Künstler zu dem löblichen Werke in der Art vor, daß sie aus ihren Blasinstrumenten das Kondenswasser vom vorigen Tage auf die Köpfe einiger Neugieriger herunterleerten, die unter ihnen auf dem Straßenpflaster standen. Diese Übernaiven spannten in der festen Überzeugung, daß ohne Regengüsse an der Odermündung nichts geschehen könne, vorsichtshalber die Regenschirme auf.
Damit mir von der üblichen Begrüßungsfeier ja nichts entgehen möchte, hatte ich mich mit dem ersten Offizier auf die Brücke gestellt, dorthin, wo wir auch gestanden hatten, als unser Schiff mit den ersten Kriegsgefangenen den langen Pier des Zollhafens anlief. Damals, ja damals vor einigen Monaten, wo die hohen Masten noch die nagelneuen bunten Wimpel trugen und mit mannsbeindicken Kränzen prunkten, die wie die Leiber von Riesenschlangen nach ihren Gipfeln hinaufkrochen! – Aber was war aus diesen Dekorationsrequisiten im Laufe des Sommers geworden? Der ewige Wind vom Haff herunter hatte die Buchsschlangen so lange geschüttelt, bis sie wie Regenwürmer dünn und an den Galgen erinnernd unter den zerfetzten Fahnen hingen. Und wo waren sie heute, die gemästeten Ratsherrn mit den goldenen Ketten über den steifgestärkten Hemdbrüsten? Wo die Jungfrauen mit den verschämten Gesichtern und den erbsendicken Tränen in den Augen? Wo die Matronen mit dem heiligen Zorn auf der Stirne und dem Vergeltungstrieb in den straffgespannten Schläfenfalten? Stettin hatte sich gewandelt. Das herzbewegendste Rührstück wird langweilig, wenn wir's allzuoft betrachten sollen.
Nun aber, wir auf unserem bevorrechteten Brückenfreiplatz hatten ja nichts Besonderes zu tun und konnten uns den Empfangsrummel in seiner zentenären Ausführung wieder einmal ansehen. Los dafür!
Die »Regina« hatte sich mit der ganzen Länge der Backbordseite an den Pier gelegt.
»Leiche an Bord!« rief der Kommandant ans Land hinüber.
Die Zuschauer nehmen die Kopfbedeckungen von den Häuptern. Die Blechmusikanten preßten die Mundstücke unter die Schnurrbärte, und während ein Sarg langsam an der Schliepe herunterrauschte, verhallte über dem totenstillen Fahrwasser der feierliche Choral: »Jesus, meine Zuversicht.«
Soweit der Ernst. Gleich kommt auf einem Thespiskarren der Hanswurst. Auf den Schienen, die den Gütertransport längs der Laderampe ermöglichen, kommt eine braungestrichene Riesenkiste angesaust. Mittschiffs von der »Regina« macht die Bundeslade halt, und um diese herum gruppiert sich der Jungfernersatz, den die Patriziertöchter der Stadt, um sich selber zu schonen, in einem öffentlichen Aufgebot zusammengetrommelt haben. Alte Suppenhühner sind es, die hier gegen geringen Tagesverdienst mühsam genug Jungfräulichkeit zu heucheln versuchen. Ihre müdgenähten, halb blindgestichelten Augen irren scheu über die Fahrgäste der »Regina« hin und dann an dem Kasten hinauf, die für diese Enterbten des Glückes wie die Lotterieurne irgend etwas Anbetungswürdiges enthalten mußte.
Und dieses Sanktissimum säumte nicht, sich zu enthüllen. Wie der Bajazzo aus einem Kinderspielzeug schnellte aus der Kiste ein Professionsredner, riß das Maul auf, daß man ihm in den Magen sehen konnte, und hielt mit schallender Stimme nach uns herüber die Wort für Wort auswendig gelernte Empfangstirade:
»Krieger, unvergleichliche Krieger, Helden, wie sie niemals noch die Sonne beschienen, Euch grüßt die Stadt Stettin durch meinen Mund,« und er machte ein Maul wie es die Zahnärzte lieben, bevor er weiterredete: »Stettin hat seine Jungfern ausgesandt, um Euch willkommen zu heißen.«
Nun gab es nichts Ergötzlicheres als den Anblick dieser Frauenskelette und deren Bemühungen, längst entschwundene Organe noch einmal im Kramladen verführerischer Dinge vortäuschen zu wollen. Lange Hälse streckten sich aus bienenkorbmageren Gestalten und die Schlüsselbeine mühten sich umsonst einen Busen zu ersetzen.
»Euch zu holder Schau haben sie ihre Jugend hergetragen,« brüllte indessen überlaut der Festredner, während der gute Bartels mir leise ins Ohr flüsterte: »Da schaun's das Geraffel da unten an, des fünfte in der linken Reihen. Bei dem unsterblichen Urviech is mei' Großmutter schon in die Schule gegangen.«
Um einen Lachkrampf unterdrücken zu können, war ich in die Kapitänskammer geflohen, und so hatte ich mich selber um all die guten Brocken gebracht, die der Festredner wohl noch aufgetischt haben wird. Als Nachspeise aber genoß ich noch die begeisterte Rede eines Deutschtirolers, wie sein Dialekt verriet. Dieser Gotterhalter »Franz des Kaisers« kam aus Sibirien zurück, bestieg auf unserem Deck eine Heringstonne und schmetterte, indem er sein Idiotenhütchen in der rechten Faust zerdrückte, den gleichen Sermon herunter, den ich im Jahre 1862 als Bub von neun Jahren auf dem ersten deutschen Bundesschießen zu Frankfurt am Main gehört hatte, d. h. wie Papst Alexander der Sechste mit dem geistlichen Rotstift Amerika teilte, so zerschnitt er selbstherrlich mit der Zunge den Erdball zugunsten von, ich weiß nicht wem.
Als der überschwengliche Donaustaatler ausgeredet hatte, spielte die Blechmusik die Melodie des Liedes: »Deutschland, Deutschland, über alles«, und der Abmarsch vom Deck herunter begann.
Paarweise marschierten die armen Schlucker über die Laufplanke. Jeder hatte aus dem fernen Osten etwas mitgebracht, was seine Hände füllte. So blieb den meisten, als sie durch die Gasse der klugen und törichten Jungfrauen schritten, zur Entgegennahme ihrer Ehrengabe nur der Mund übrig. Der aber genügte, denn die Tapferkeit wurde vor den Toren Stettins ohne Ansehen der Person großzügig, sage und schreibe, mit einer einzigen Zigarette belohnt.
Bevor die »Regina« abermals in See stach, mußte sie, um ihren Tiefgang zu verringern, von ihren Wanzen befreit werden. Das gab einen zweitägigen Aufenthalt im Trockendock. Dann aber schwamm sie wieder die Oder hinunter. Noch bei keiner anderen Fahrt hat sie so schnell das Meer erreicht, wie diesmal. Nicht aber geschah dies, weil die ungezieferfreien Achsen sich rascher drehten, als weil das Meer uns liebevoll entgegeneilte. Mit Zentnerschwere lag nämlich der Winddruck auf dem Spiegel der Ostsee und preßte das Wasser den Küsten zu und in die Flußmündungen. Ein Naturgesetz war außer Kraft getreten, und das Wasser floß den Berg hinauf. Wie seltsam nun die Landschaft sich verändert hatte! Wiesenflächen waren in Seen verwandelt, und uralte Waldbestände waren zu Buschwerk geworden. Dem Schiff und seiner Besatzung konnte die seltsame Metamorphose gefahrbringend sein, wenn nicht die hohen Masten, die den elektrischen Draht und eine schier unabsehbare Perlenkette von weißen Möwen trugen, den rechten Weg vorgezeigt hätten. Wir fanden Swinemünde und erfuhren dort durch Flaggensignale: »Die ›Lili Woermann‹ ist nicht ausgelaufen wegen starken Nordoststurmes. Haushohe Brecher vorm Leuchtturm draußen.«
Macht nichts, wir kennen keine Furcht und fahren in den schäumenden Gischt hinein.
Der Hafenlotse hatte uns hinter der Mole verlassen. Der Abend dunkelte so heran, und die »Regina« tanzte auf der Ostsee. Sie machte es arg mit ihren Sprüngen. Die Wände meiner Kammer seufzten und stöhnten unablässig. Schlafen konnte ich nicht, wagte mich aber nicht aus dem Bett, um nach einer Lektüre zu greifen. So saß ich auf der Matratze und hörte zu, wie der Sturm heulte und auf den Gängen draußen die Russen ihr Abendessen wieder von sich gaben.
Ein Sonntag war's, was dieser Nacht folgte, aber hell und klar war er nicht. Draußen empörender Seegang, und in der Herzgrube, gerade unter der Kuppel des Zwerchfelles, ein Gefühl, als wenn die Eingeweide von einer starken Faust zu einem winzigen Klumpen zusammengedrückt würden. Nein, hinein in den Magen ging heute sicher nichts. Ich versuchte es nicht einmal, nach der Messe zu gehen. Einen oder den anderen, der zum Verbinden kam, besorgte ich, und im übrigen hatte ich eine unüberwindliche Sehnsucht nach Ruhe in den Augen. Gerade wollen sie mir zufallen, da drückte Herr Millbrodt die Türe meiner Kammer auf.
»Kommen Sie sofort an Deck! Vor uns hat ein Zweimastschoner am vorderen Topp die Notflagge gehißt und am hinteren die deutsche Trikolore zu einem Knoten gebunden mit einem Ball darunter. Er treibt steuerlos als Wrack zwischen den Wellen.«
»Ist er von der Bemannung verlassen?«
»Das eben nicht. Man sieht drei Menschen an Deck, die mit den Armen Signale geben. Sie sind schwer verständlich, und was wir hinüber und sie herüber rufen, das frißt der Sturm vorm Sprachrohr weg.«
Ich warf den Überzieher über die Schulter und lief hinter dem Superkargo her nach der Brücke hinauf. Unser Weg führte über schlafende Russen und Tataren hinweg, die mit ihren Leibern alle Gänge verstopften und die Treppen fast unpassierbar machten. Hier steht eine große Kaffeekanne, dort liegt ein Löffel oder Messer auf den Stufen. Hat man erst die Tür nach dem Brückendeck glücklich aufgedrückt, so fällt ein bissiger Wind über einem her, der uns die Kleider fast vom Leibe reißt. Mit gespreizten Beinen sucht man festen Stand zu bekommen, während die »Regina« von einer Seite zur anderen fällt. Herr Bartels hat den Megaphon-Schallbecher vorm Gesicht. Seine Augen stieren nach einem Punkte hin, der den meinen durch die Schutzleinwand noch verhüllt ist. Die Hände ans Geländer pressend, biege ich um die Ecke der Kartenkammer, und nun sehe ich's vor mir, ein Schiff? –
Nein, zwei Masten und ein Segel schwanken zwischen kämmenden Wellenbergen. Aber halt, nur einen Augenblick! Da kommt ja ein Verdeck zum Vorschein von überschlagenden Wogen ringsum, wie von einer Spitzenkrause eingerahmt. Jetzt ist der Bug im weißen Gischt verschwunden und jetzt das Achterschiff, aber alles ist so flach, so einerlei, daß man kaum zu sagen weiß, was hinten oder vorn ist. Eine Woge kommt, wirft das kämpfende Wrack auf die Seite, und wie ein Turnierstecher mit eingelegter Lanze stürmt es mit seinen Masten auf die »Regina« zu.
Nur eine Sekunde später. Ein Wellenberg hat sich zwischen beiden Schiffen erhoben, an den glatten, grünen Hängen sind sie beide hinabgeglitten, und nun liegen zwei bis drei Kilometer schäumenden Raumes zwischen ihnen. Die Kollision ist vermieden, aber wie vermag das Rettungswerk auf solche Entfernung einzusetzen?
Ich höre den Herrn Bartels durch den Schalltrichter rufen: »Wünschen Sie Ihr Schepp zu verlassen?«
Was zurückkommt ist ein dumpfer Ton, der weder ja sagt noch nein. Aber nun sehe ich, wie drüben drei Männer um den Hintermast geklammert mit den freien Armen allerlei Zeichen in die Luft machen. Die Verständigung ist jetzt möglich.
»Wollen Sie ein Boot aufs Wasser bringen?« ruft Kapitän Zielke.
»Unmöglich!« tönt es zurück, und schon ist das Wrack verschwunden. Glattweg fort ist es. Keine Frage, das Meer muß es verschlungen haben. Aber nein, es war nur Täuschung. Es taucht wieder auf, und diesmal mehr hinter uns, in der Nähe unserer Schraube.
»Nun hat er sich zu unserer Bequemlichkeit gelegt, der Schoner. Leutnant Wilde, Bartels, die Rettungsleine herbei und schnell das Schwimmfloß ins Wasser! Der Strom, der es trägt, wird's den Schiffbrüchigen hoffentlich hintreiben.«
So sagte Herr Zielke, und der erste und zweite Offizier flogen, so schnell sie ihre Beine tragen wollten, übers Deck hin nach dem Achterschiff.
Ein Moment folgte nun von so dramatischer Spannung, daß ich mich heute noch wundern muß, wie ich ihn überleben konnte, ohne zum Narren zu werden.
Das Korkgestell schwamm nämlich auf dem Wasser. Ich verfolgte seinen Lauf, wie der Glücksritter die Kugel am Roulette verfolgt. Das Lattengerüste schwamm, vom Strom getragen, anfangs direkt in mittschifflicher Richtung dem Wrack entgegen. Dem Himmel sei's gedankt, es muß den Schoner an der Backbordseite treffen. Der Kapitän hat richtig gerechnet. Drei Menschen werden aus dem offenen Rachen des Todes gerissen werden.
Aber, o wehe! Kurz vor dem Anprallen am Wrack ändert das Floß eigenwillig seinen Kurs. Es treibt nach rechts ab und wird an der Leine zurückgezogen werden müssen. Wer weiß, ob man es dann nicht noch zwanzigmal wird ins Meer werfen müssen, ohne daß es nur einmal noch so günstig anläuft wie eben. Zeit wird es kosten, und hier ist Zeit mehr als Geld. Menschenleben sind vernichtet, wenn das Rettungswerk sich hinzieht. Schon steht die See dem Schwanzkleid zu gleich. Nur weil der Vordersteven noch einmal die Nase aus dem Wasser hebt, kann man mit dem Glase lesen, daß das Schiff den Namen »Irmgard« trägt. Aber Namen her und Namen hin. Hier hilft nur Handeln, kein Wissen. Das Floß wird abermals geworfen und von uns mit klopfendem Herzen beobachtet.
Aber aufmerksamer noch als von der »Regina« war das Rettungsmittel vom Wrack aus beobachtet worden. Als es eben abermals abtreiben wollte, sprang eine vierte Person am Hinterdecke auf. Wie ein Affe kletterte sie zwischen Seilen und Stangen über die schräge Lukendecke hinweg, ergriff einen langen Bootshaken und warf ihn über die See hin dem Floß entgegen. Wird die Sichelrundung es erreichen, wird sie eingreifen und festhalten, was sie gefaßt hat?
Dank allen heiligen Nothelfern, sie hat's getan, und vier Gestalten in schwarzen Regenmänteln steigen über auf das Lattengestell, setzen sich auf den Rahmen und lassen die Beine ins Wasser hängen.
Schon wollen unsere Leichtmatrosen an der Leine ziehen, da geschieht zu guter Letzt etwas, woran keiner gedacht hätte.
Einer der vier Schiffbrüchigen erhebt sich noch einmal aus seiner Lage und tritt aufs Wrack zurück. Was sucht er dort noch? Hat er etwa seine Pfeife vergessen oder seinen Schnupftabak?
Er verschwindet, für einen Moment zwar nur, unterm Deck des Schoners; dann aber ist er wieder da, und es scheint, als ob er irgendeinen Gegenstand auf dem Arme trüge. Nun aber los, bevor der Strudel des sinkenden Schiffes die Halbgeretteten mit sich in die Tiefe reißt.
Man zieht. Die Leine wird kürzer. Am Bug der »Regina« hängt die Strickleiter aufs Wasser nieder. Schon greifen zwei derbe Hände an ihr Wasserende, und bald wälzt sich in weiter Teerjacke die erste Seemannsgestalt über die Reling. Eine zweite, dritte und vierte folgen nach, und das Rettungswerk war gelungen. Aber was trägt der letzte der Schiffbrüchigen da im Arm?
Ein Kaninchen ist es, so wahr die Sonne scheint, nichts anderes ist's. Und nur um dieses Tierchens willen war der rauhe Seebär noch einmal aus dem Floß gestiegen und auf das Wrack zurückgekehrt! In all seiner Not hatte der Mann den Genossen seiner einsamen Stunden nicht vergessen, und er wollte ihn nicht als einzig lebendes Wesen aus dem Wrack zurücklassen. O Menschenherz, du wie die Schöpfung groß, wer hätte deine Höhen, deine Tiefen jemals ausgemessen?
An Bord der »Regina« gab's nun ein großes Händeschütteln, und breite Fäuste fuhren nieder auf klatschende Seemannsschultern. Alles wollte die Geretteten sehen, ihnen seinen Glückwunsch entgegenbringen. Man drängte die nassen Gestalten in den engen Gängen voran bis in die Kammer des Superkargo hinein. Schulter an Schulter standen die Menschen, und doch war noch Platz genug vorhanden, daß eine viereckige Literflasche mit Magenbitter gefüllt von Mund zu Mund kreisen konnte.
Einer aber von den vieren hatte sich abgesondert. Es war der Mann, der die immense Last der Verantwortung trug, weil er soeben noch der Kapitän der »Irmgard« gewesen war. Mit seinen nassen Transtiefeln stieg er schwerfällig und gedrückt die Treppe hinauf nach der Kommandobrücke, ich hinter ihm drein.
Herr Zielke hielt dem Kollegen die Zigarrentasche entgegen und sagte, indem er mit dem Finger aufs Meer hinaus deutete: »Da schwimmt Ihr Schiff eben weg. Wie lange denken Sie wohl, daß sich das Wrack noch über Wasser halten kann?«
Der Angeredete warf einen traurigen Blick hinter seiner Habe her und sagte unter tiefem Seufzen: »Kaum länger mehr als zwei, drei Stunden. Das Steuer ist gebrochen, die Luken eingeschlagen, der Schoner ist voll Wasser gelaufen. Schade um das neue Segel, das hätten wir auf die ›Regina‹ übernehmen können. Was kostet heute nicht so ein Stück Leinwand, und da schwimmt es hin auf Nimmerwiedersehen.«
»Was nützt ohne den Gaul der Sattel,« warf Herr Zielke dazwischen, »und was hatten Sie denn geladen?«
»Pfeifenton von Harburg nach Gefle in Schweden. Das Schiff stand ohne die Ladung mit viermalhundertneunzigtausend Mark zu Buch. Hätten Sie es nicht ins Schlepptau nehmen können?«
»Wo denken Sie hin? Ich habe über achthundert Menschen an Bord, für die ich verantwortlich bin.«
»'s ist nur, daß ich gefragt, und Sie ›nein‹ gesagt haben. Sie wissen doch, in einigen Wochen stehe ich zu Hamburg vorm Seeamt und kann je nachdem mein Patent behalten oder auch verlieren. Im letzten Fall bin ich brotlos.«
»Haben Sie Steuermanns- oder Kapitänspatent?«
»Ach, daß ich nicht daran gedacht habe, mich vorzustellen. Bundt ist mein Name, und vor dem Kriege machte ich große Fahrt auf der ›Atlantic‹. Jetzt, Sie kennen das ja, nach dem Kriege, da zottelt man mit Schollen und Schuten auf dem Wasser herum fürs liebe Brot von einem Tag zum andern. Gut, daß ich noch mein Kaninchen gerettet habe.«
Herr Zielke sprach dem Manne Mut zu. »Das Seeamt wird Sie nicht verurteilen. Wie ich höre, treiben Sie schon seit drei Tagen mit dem Wrack auf der Ostsee. Sie haben andere Schiffe angerufen und keine Hilfe gefunden. Das Wasser stand Ihnen über Ihr Bett hinaus. Wer wird Sie strafen wollen, wenn Sie endlich die sinkende Kiste dem Schicksal überlassen haben? Gehen Sie jetzt hin, Kollege. Man gibt Ihnen ein Bett, und da schlafen Sie zunächst einmal und träumen nicht von Gerichtsschranken und vom grünen Tisch in Hamburg.«
Mit schweren Schritten ging der Mann nach dem Unterdeck hinunter und verschwand in einer der Kammern, deren Bullaugen der Steuerbordseite entlang aufs Meer hinaussehen. Ob er sich noch einmal vorm Zubettegehen nach seiner »Irmgard« umgesehen haben wird?
Ich tat's von der Brücke aus. Aber wie weit ich auch die Blicke in die Runde schickte, nirgends mehr waren die zwei schwankenden Masten zu sehen, und nirgends mehr das nagelneue Segel, das sich so stolz im Winde gebläht hatte.
Drei Stunden später ging ich, als schon der Abend dunkelte, an der Kammer der Schiffbrüchigen vorbei und öffnete leise die Tür. Wie Baumstämme lagen die Geretteten auf den Betten, die Gesichter den Wänden zugekehrt. Mir grauste vor diesen Menschen, die von der Pforte der Ewigkeit noch einmal ins Erdenleben zurückgekommen waren, um weiter zu leiden und am Schlüsse doch nichts anderes zu werden als eine Speise für Würmer statt für Fische.
In diesem Augenblick beneidete ich das gerettete Kaninchen in seinem Bett aus Hosenbeinen. Ihm ist die traurige Notwendigkeit erspart, erkennen und zugeben zu müssen, daß dem so ist.
Als ich von dem Kaninchen fort und in meine Kammer gekommen war, quälte mich außer einem heftigen Seitenstechen noch ein unausstehlicher Hustenreiz. Kaum vermochte ich es, mir das Hemd über den Kopf zu ziehen, als ich so weit entkleidet war, wie man es beim Schlafengehen zu sein pflegt. Ich setzte mich zum Sterben matt auf den Bettrand und fing an, darüber nachzugrübeln, durch was für Umstände ich in diese mir so gänzlich ungewohnte Verfassung geraten sein könne. Ich gab dem Magenbitteren die Schuld, den ich mit den Schiffbrüchigen zusammen ziemlich reichlich in den durstigen Schlund gegossen hatte, und hoffte bis zum nächsten Morgen wieder das zu sein, was ich noch gestern gewesen war. So ganz aber traute ich dieser meiner Ansicht über mich selber doch nicht, da ich von einer bangen Furcht vor der Nacht und einer Ahnung von einem nahen Unheil befangen war. Ich hätte aufschreien mögen vor Bangigkeit. Da aber die Schiffsmaschine, gegen schweren Wogengang ankämpfend, dies schon genügend tat, so suchte ich einzuschlafen. Um von keiner der Möglichkeiten überrascht zu werden, ließ ich die elektrische Lampe an meiner Zimmerdecke brennen.
Trotzdem ich nicht imstande war, meinen Körper so zu betten, daß ich ohne Schmerzen hätte liegen können, schlief ich gleichwohl ein. Aber der Schlaf war kurz. Hustenstöße hatten ihn gestört. Ich griff nach meinem Taschentuch in dem Drahtkörbchen neben dem Bett und fuhr damit über die Zunge hin. »Blut«, sagte ich zu mir selber, als ich das weiße Leinentüchlein musterte. Und nun fing ich an, darüber ins klare zu kommen, was mir fehle. Du mußt Rippen gebrochen haben. Aber bei welcher Gelegenheit? Besinne dich darauf. Als wir heute morgen auf der Brücke standen und darüber stritten, ob wir der »Irmgard« beispringen können oder nicht, ja, in dem Moment, wo die Maschine abgestellt war, unser Schiff dem Steuer nicht gehorchte und vom Winddruck auf die Backbordseite gelegt worden war, da, ja da hatte der Lotse von Reval seinen Halt am Steuerbord verloren, kam auf mich zu über die Brücke getorkelt und schleuderte mich im eigenen Hinfallen wider die scharfe Ecke des Kartentisches. Jetzt, in der Stille der Nacht, kam es mir sonnenklar zum Bewußtsein. Ich hatte ein Krachen gehört, einen Schmerz in der Seite verspürt. Ich hatte Rippen gebrochen.
Warum hatte ich diese Diagnose nicht unmittelbar nach dem Unfall gestellt?
O, mir war zum Besinnen keine Zeit gelassen. Die Stimme des Kapitäns gellte mir im Ohre und sein Befehl an mich: »Doktor, sofort ins Zwischendeck hinunter und alle Mann nach Steuerbord kommandiert! Wir sacken ab, wenn die ›Regina‹ nicht innerhalb von drei Minuten wieder auf den Kiel kommt.«
Gewiß, wir sacken ab, oder vielmehr wir sind schon am Versacken, hatte ich mir gedacht, als ich mich vom Boden aufraffte und einen flüchtigen Blick über das strömende Meer hinwarf. Schäumende Wut auf kämmenden Wogen, und in diesen Gischt gedrückt ein Schiff, dessen Masten nicht mehr gegen den Himmel ragten, sondern auf dem Wasser schwammen, dessen Schornsteine ihre tiefschwarze Rauchfahnen aus dem Meeresgrund heraufzusaugen schienen. ›Ach, da darf's kein Schonen der eigenen Persönlichkeit im Untergang eines Menschenhaufens geben,‹ hatte ich mir gedacht und ließ mich von der Brücke auf das Verdeck fallen und zu den Russen hinunter.
Die gedienten Soldaten begriffen, um was es sich handelte, gehorchten willig, und die »Regina« erlangte ihre Gleichgewichtslage wieder. Jetzt, wo ich, wenn auch in Schmerzen, doch wieder auf einer Matratze lag und die Geschehnisse mir durch den Sinn gehen ließ, gewann das, was aus Instinkt geschehen war, das Ansehen von bewußtem Heroismus, und aus Hochachtung vor mir selber oder den Wirkungen eines Glases Magenbitteren bin ich vermutlich wieder eingeschlafen.
»Poch, poch, poch,« machte es an der Schottenwand, und ich erwachte. Abermals »poch, poch« und meine Kammertür war aufgesperrt. Zwei Kosakenbrüder schwankten ins Gemach und bemühten sich, mir durch eine Pantomime klarzumachen, daß das Doktorväterchen so gnädig sein und einen Zahn ziehen möchte.
Wie ich dem Instrumentenschrank entgegenschwankte, befällt mich eine Schwäche, daß ich fürchte, in die Knie zu sinken, und ein Brechreiz, dessen ich beim besten Willen nicht Herr zu werden vermochte. Mit der Serviette vor dem Mund stürmte ich an den Russen vorbei und in den Baderaum hinein, der über dem Gange drüben für die Schiffsoffiziere reserviert war.
Bei meinem Eintritt in den kleinen Raum fand ich ihn freundlich erhellt, und ohne daß ich mich im geringsten wunderte, mit allem ausgestattet, was mein Wiesbadener Schlafzimmer wohnlich und behaglich machte. Da stand mein weißes Bett, die Zudecke empfangsbereit aufgeschlagen. Da hingen von der geblümten Tapete herab Reiseerinnerungen: Dolche aus Japan, Schwerter aus dem Sudan, Antilopengeweihe aus der Elfenbeinküste, lappländische Fuchsfelle.
›Nun kann deine Frau nicht weit von dir sein, und sie wird dir ins Bett helfen,‹ dachte ich noch. Dann kam eine unendliche Freude über mich, wie ich sie einmal nur als Mulus empfunden hatte, als ich in der Morgenfrühe vor dem Faulhornhospiz stand und nach den Eismajestäten des Berner Oberlandes herüberschaute. Dann fühlte ich noch, daß mein Rücken an der Schottenwand herunterrutschte, und dann war's aus mit mir, alles aus. Wäre das für mich das Sterben gewesen, der Tod hätte seine Schrecken verloren.
Fast möchte ich bedauern, daß das Hinübersinken nur das Ende meiner Schiffsarztkarriere bedeutete und nicht meinen Abgang von der Welt überhaupt.
Ich kam wieder zum Bewußtsein in meiner Koje, sah den Raum mit Menschen gefüllt und hörte die jammernden Vorwürfe des Kapitäns: »Was bringen Sie mich in Ungelegenheiten, was bereiten Sie mir diese Sorgen?« Ich begriff noch nicht, daß man an einen Selbstmordversuch meinerseits glaubte, machte auch keine Anstrengung, mich reinzuwaschen, zumal da eine andere Stimme mir begütigend zuredete:
»Nun ist das Schwerste überwunden. Der Puls, Herr Kollege, ist wieder fühlbar. Seit einer Stunde habe ich Ihnen Herzmassage gemacht und Kampfer unter die Haut gespritzt. Die Extremitäten sind wieder warm, und da Sie dreiviertels überm Hund sind, werden Sie auch übern Schwanz kommen, Herr Kollege.«
Herr Kollege? War ich denn nicht ein erhabener Singularis auf der »Regina«, wie der Papst auf Erden und Gott im Himmel? Der Tatbestand wurde später klar. Ein russischer Arzt hatte sich mit seinen Schicksalsgenossen im Zwischendeck verstauen lassen, und erst, als es an einem Helfer fehlte, hatte der Edle sich als solcher gemeldet. Er stammte aus Orenburg am Uralfluß, und ich wäre ihm außer meinem Dank auch noch die Rettungs-Medaille schuldig, die ich nachsenden werde, wenn erst die deutschen Republiken außer leeren Titeln mal wieder etwas Substantielles zu vergeben haben werden.
Eigentlich hätte ich jetzt mit meinen Rippenbrüchen in ein Spital abwandern sollen. Da dies nicht ging, lag ich in meiner Kammer und erfuhr nur durch gelegentliche Besucher, daß wir an der Narovamündung Zivildeutsche geladen hätten und abermals der Heimat zusteuern würden. Da mich zwischen vier Schotten die Langweile plagte, und ich keinen Arzt mehr hatte, der mir etwas verbieten konnte, so wagte ich mich trotz leichten Fiebers auf Deck, und zwar vier Tage nach dem Unfall.
Die Maschine drehte sich fleißig und trug uns einem Eiland entgegen, das den Namen Farö trägt und dem Nordstrand der Insel Gotland vorgelagert ist. In Friedenszeiten nahmen alle Schiffe, die aus dem Bottnischen oder Finnischen Meerbusen kamen, ihren Weg südwärts von diesem Eiland, wenn sie irgendeinem Hafen der deutschen Küste zusteuerten. Der Minen wegen geht dies heute nicht an. Die einzige freie Fahrrinne macht oberhalb der genannten Insel einen scharfen Knick und weicht der Gefahr aus, indem sie zwischen dem schwedischen Festland und der Insel Gotland ins neutrale Gewässer einbiegt. An der Stelle, wo die Dampfer Kurs zu ändern haben, liegt das früher schon genannte Zaritcheff-Feuerschiff. Es ist rot angestrichen, und wenn man es an einem sonnenhellen Tag antrifft, so liegt es zwischen Himmels- und Meeresbläue da wie der Mohn in den Kornblumen. Es ist von einer Schuhmacherfamilie bewohnt, die sein Feuer in Ordnung hält.
Als die »Regina« das Schiff passierte, hämmerte der Zunftgenosse von Hans Sachs abermals auf einer Sohle herum, während seine Frau mit einem Besen das Deck kehrte. Wer außer den Töchtern des Nereus zur Kundschaft des Meerschusters gehören soll, läßt sich schwer erraten, denn wie weit man auch das Auge in die Runde schicken mag, außer Himmel, Wasser und einigen barfüßigen Möwen ist nirgends etwas zu sehen.
»Eine herrliche Fahrt, Doktor,« sagte Kapitän Zielke und klopfte mir von hinten auf die Schultern. »Unser Schiff läuft seine vierzehn Knoten in der Stunde, und ehe noch der Meister Draht da drüben ein Paar Hausschuhe fertiggestellt haben wird, können wir schon die Windmühle von Bornholm vor unserm Bugspriet haben.«
Er hatte den Satz kaum beendet, so war der Beamte vom Funkentelegraph zu uns aufs Deck getreten. Er hatte – uns zur Warnung – von der »Bagdad« eine Depesche erhalten, worin diese meldete, daß sie auf der Höhe von Wisby im dicken Nebel steckte und Anker geworfen habe. Eine Viertelstunde später traf von der »Lilly Woermann« abgesendet die gleiche Hiobskunde ein.
Nun hatten wir die Sauce zum Rindfleisch und wußten, was es am Abend zu essen geben werde. Aber noch war es kaum 4 Uhr. Die Kimmung lag klar wie ein polierter Stahlring vor uns, und für die Nacht war am Himmel der volle Mond zu erwarten. Also mit Volldampf drauf los. Ein bißchen Wind vom Süden her, und die Nebelwand konnte fortgetragen sein, weithin ins schwedische Festland, nach Norrköping und Jönköping. Leider war dem nicht so.
Gegen fünf zeigte sich im Vorblick eine graue Wand, die von gelben Sonnenstrahlen diagonal durchschossen war. Bald verlor sich die Musterung, und an ihre Stelle traten klumpige Flecken, die sich, lange Streifen um eine imaginäre Achse wickelnd, um sich selber drehten, als ob Sonnensysteme aus kleinen Anfängen geboren werden sollten. Hier noch stritt das Licht mit der Finsternis.
Bald wurde es noch schlimmer. Das Grau ging in Schwarz über und drängte sich zwischen Mast und Schornstein hinein. Zu überschauen waren beide längst nicht mehr. Nur feurige Stichflammen, die mit dem Rauch in die Lüfte gingen, beleuchteten manchmal die gespenstigen Arme der Rahen und Segelspangen über uns. Vorder- und Hinterschiff schienen ganz abhanden gekommen zu sein, und die Kommandobrücke mit den paar Menschen, die auf ihr herumhantierten, schwamm wie ein Zeppelin zwischen undurchsichtigen Wolken hin. Man hatte am Mast das weiße Licht hochgezogen, grünes und rotes an die Seiten des Schiffes gesetzt. Aber wie vermochten die Laternen die graue Wolle des Nebels zu durchstechen? Kaum, daß ein verirrtes Leuchten, wie von einem Glühwürmchen ausgehend, unsicher über das Vordeck geisterte. Auf der Brücke waren die elektrischen Birnen angedreht. Der Steuermann am Rade brauchte sie, um seinen Kompaß zu sehen, Kapitän und Erster, um die Seekarte zu studieren. Mein Gott, welche Mittel hatte man denn jetzt noch, um zu wissen, wo man war, oder wohin man wollte? Man ließ das Lot ins Wasser werfen und verglich seine Angaben mit den Tiefenzahlen, die auf der Seekarte eingetragen sind. Man drehte das Licht heller, beugte sich tiefer über den Kartentisch. Die Schädel mit den Haarstiften kamen einander näher. Gebessert wurde nichts damit. Die Zahlen stimmten nicht. Wo man hätte sein sollen, weder auf dem Meeresgrund noch auf dem Papier, war man nicht. Wer betrog einen nun, die Karte oder das Lot? Man traute keinen und ließ die Maschine so langsam gehen, als es möglich war.
Indessen horchte man mit lauschendem Ohre auf die Heulbojen hin, ob sich nicht eine erbarmen und ihren warnenden Ruf durch die Nacht hinkrächzen wolle. Weiß der Leser, was eine Heulboje ist? Nun, ich will es kurz erklären. Es ist eine auf dem Meeresgrund verankerte Tonne, die sich im Wellenspiel den eisernen Leib automatisch mit Luft vollpumpt, bis der innere Druck eine Sirenenzunge zu einem scheußlichen Gegrunze in Bewegung setzt. So ohrenzerreißend diese Musik sonst wohl auch sein mag, dem verirrten Schiffer ist sie ein himmlischer Sphärenklang. Er warnt ihn vor der gefährlichen Nähe der Minenfelder. Umsonst strengte alles, was auf der »Regina« mit Vernunft begabt war, sein Ohr an, um von irgendwoher einen Ton zu erhaschen. Umsonst äugte jeder Blick nach dem flackernden Blitz irgendeines Leuchtfeuers. Nichts war zu hören, nichts zu sehen. Unser langsames Vorwärtsschieben war der Gang eines Blinden in der finsteren Nacht, und unser Lot war der Stock, den der Ärmste zwischen seinen Fingern führte. Zehnmal, zwanzigmal wurde die Leine auf den Grund geworfen, und war sie erst wieder hochgezogen, so belehrte sie uns, daß wir noch dreißig, noch fünfzig Meter Wasser unter unserem Kiele hatten, und daß die Gefahr einer Strandung bis dato noch ausgeschlossen war. Aber wie lange mochte dies Dato noch dauern?
Da mit einem Male, was war denn das? Das hochgezogene Blei meldete nur noch fünf Meter Wassertiefe. Fünf Meter am Vorderschiff und unter dem Stern nur noch vier – – –. Kein Zweifel mehr, wir waren dem Lande zu nahe gekommen, und wer das nicht glauben wollte, dem wurde es wie mit einem stählernen Griffel ins Gehirn hineingekratzt. Der eiserne Kiel der »Regina« streifte eben über die rauhe Fläche eines Felsens hin. O, wie dieses schabende Geräusch an den Spanten heraufgekrochen kam! Wie es die Bohlen des Verdecks in eine zitternde Erregung versetzte, an den Nervensträngen unserer Beine hochkletterte und in unserm Gehirn die schreckhaften Bilder von geborstenen Schiffsleibern und einströmenden Wasserstürzen automatisch erzeugte! »Nicht übertreiben!« setzte die ruhige Überlegung der Furcht entgegen. Die Berührung mit dem Grund war bei stiller See nur ein sanftes Anstreichen gewesen. Dem würden die eisernen Platten des Schiffsrumpfes schon noch gewachsen sein, und selbst, wenn der Dampfer lecken sollte, die Pumpen waren ja noch da und das Land in der Nähe, so nahe vielleicht, daß man vom Bordrand aufs Trockene springen und Rettungsboote und Schwimmgürtel entbehren konnte. Gut freilich wäre es gewesen, wenn das Auge das hätte bestätigen können, was die Phantasie so gefällig zu unsrer Verfügung stellte. Man riß versuchsweise die Lider auseinander und glotzte in die Dunkelheit hinein, und weil man etwas sehen wollte, so gewahrte man auch bald zur Seite überhängende Gesteinsmassen, die vielleicht nur verdickter Nebel waren, der überm Wasser schwebte und noch lange dem anspringenden Fuß des Schiffbrüchigen keine Stützfläche bot.
Indessen waren die Anker gefallen und die »Regina« war da festgeschraubt, wo sie der Zufall nun einmal hingetragen hatte. Unser stilles Nachtgebet mußte sein: »Laß, o Himmel, keinen Wind aufkommen und schenk' uns in der Frühe des nächsten Tages nur einen einzigen Sonnenblick, damit wir erkennen, wo wir sind, und uns heil und ganz aus den Klippen retten, die uns zwischen ihren grausamen Scherengliedern gefangenhalten!«
Mit solchen Gedanken im Gehirn hatte ich den Offizieren auf der Brücke »Gute Nacht« gesagt und war nach meiner Kammer gegangen, mich schlafen zu legen. Die elektrische Birne brannte über meinem Bett und warf ihr helles Licht auf die weiße Zudecke und die weißen Wände. Von allen Seiten her umflimmerte mich ein zwinkernder Glanz, und nur das Bullenauge mit seiner runden blinden Scheibe sah ernst und drohend zu mir nieder. Wie ich eben im Begriffe war, mich auszuziehen, fing auch die Schiffssirene wieder an zu heulen und erinnerte mich unangenehm genug an das Prekäre und Gefahrvolle meiner Lage. Gleichwohl schlief ich ein, und zwar so fest, daß es schon eines heftigen Stoßes gegen die Außenwand meiner Kabine bedurfte, um mich aus dem Schlafe zu wecken. Ich setzte mich auf und erinnerte mich sofort aller Einzelheiten unserer Lage. Nur was der Stoß bedeuten sollte und ein plätscherndes Rauschen, das an mein Ohr drang, das wußte ich mir nicht zu erklären.
Ich öffnete das Bullenauge und streckte den Kopf hinaus in die grauschwarze Nebelmasse. Unter mir sah ich einen hellen Schein, der übers Wasser hinzitterte, und von da unten herauf drang auch das hastige Schnaufen und Stampfen eines kleinen Motorbootes an mein Ohr, das sich an die »Regina« drückte, wie das Kücken an die Henne. Nun fiel mir's wie Schuppen von den Augen. Das Notgeheul unserer Sirene war am Lande gehört worden, und ein kleiner Dämpfling halte sich trotz Nacht und Nebel aufgemacht, um uns zu suchen. Seine Insassen waren an der Strickleiter hochgeklettert und verhandelten auf der Brücke mit dem Kapitän. Nicht lange mehr, und die Maschine der »Regina« regte sich wieder, ein Zeichen, daß wir zum Fahren ein sicheres Besteck hatten. Bald ächzte und stöhnte die Ankerkette über das Gangspill. Wir waren flott und konnten, wenn auch mit verminderter Geschwindigkeit, unseren Weg im tiefen Wasser fortsetzen.
Der nächste Tag brachte uns wirklich den erhofften Sonnenschein, und das Deck belebte sich wieder mit allerlei Gestalten, die gestern abend noch vor dem kalten Nebelhauche sich in die Tiefe des Schiffes verkrochen hatten. Der Kapitän schritt in leichten Morgenschuhen über die Brücke, rauchte eine Manilazigarre und richtete an mich, als ich eben nach dem Fernglas langte, die Frage: »Und wo glauben Sie, Doktor, daß wir gestern abend lagen, als wir den Anker fallen ließen?«
»Bei Farösund, soviel ich aus Ihren Reden entnommen habe,« war meine Antwort.
»Weit gefehlt, aber von uns allen,« lachte der weitgereiste Seemann. »Da sehen Sie, welchen Narren der Nebel aus einem macht. Wir lagen an der Küste von Ödland, als wir an Gotland zu liegen glaubten. Gewiß, der Kompaß, die Tiefenmessung und die Heulbojen sind nützliche Dinge, aber was helfen sie uns, wenn das Auge bei der Orientierung ausgeschaltet ist? Wer zu Wasser und zu Land in eine Nebelwand hineingerät und heil und ganz sich wieder herausfindet, hat eben Glück gehabt, und das braucht man nötiger als den Verstand, wenn man auf dem Wasser schwimmt.«
»Oder einen Schutzengel, wie wir gestern abend,« dachte ich bei mir, und ich nahm von meinen Fünfmarkscheinen den dauerhaftesten aus meiner Brieftasche mit dem festen Vorsatz, ihn in die nächste Sammelbüchse zur Rettung Schiffbrüchiger zu werfen, der ich begegnen würde.
Während wir noch redeten, kam die Südspitze von Bornholm in Sicht, und die »Regina« steuerte nun schon wieder einmal den deutschen Hoheitsgewässern entgegen, um ihre menschliche Ladung diesmal an das Durchgangslager von Swinemünde abzugeben. Kaum war der letzte Schuh von der Laufplanke heruntergetreten, so fingen Besen und Wasserschlauch an, sich in die Herrschaft über das Schiff zu teilen. Quellen spritzten auf und spülten Wanzen und Läuse erbarmungslos ins Meer hinunter. Schade, daß sie nicht auch eine kleine Kommission von Ärzten mitnahmen, die gekommen war, um für ein Honorar von sechzig Mark pro Brille die sanitären Einrichtungen der »Regina« zu kontrollieren. Während der ältere Sohn der Hygieia sich damit begnügte, seine Nase einmal ins geleerte Zwischendeck hereinzustecken, entwickelte der jüngere einen himmelstürmenden Tatendrang. Er verlangte nichts weniger als den Einbau eines Operationssaales in den Bauch eines jeden von diesen armseligen Transportdampfern. Ob er sich den Operateur bei stürmischer See an einem Faden von der Decke niederpendelnd vorstellte, verriet er nicht und noch weniger, wer operieren solle, wenn gar kein Arzt an Bord ist. Viele Schiffe fahren nämlich tatsächlich ohne einen solchen, da die Bedingungen, unter denen der Heilbeflissene zu leben gezwungen ist, keineswegs allzu verlockend sind. Es fehlt an vielem, sogar an einer Geburtszange, und doch kommt es vor, daß am Ende der Reise ein Passagier mehr in den Listen steht als am Anfang. Dies und Ähnliches hatte ich der hohen Kommission unter die Nase gerieben. Sie niesten nicht einmal auf den Schnupftabak, sagten: »Auf Wiedersehen, Herr Kollege«, und dampften mit dem kleinen Schiffchen, das am Mast die gelbe Flagge trug, dem Strand von Swinemünde und ihrem Frühstück entgegen.
Wir waren nun unsere Zivilinternierten los und steuerten leer durchs Haff der Oder entgegen. Hinter uns schnaufte vollbeladen die »Bagdad« her. An Wasser fehlte es nicht, der Sturm raste noch wie bei der Ausreise und drängte die Flut in die Flußmündung hinein. Schade um manchen Grashaufen, der dörren und Heu werden sollte, nun aber wie Spinngewebe im Gebüsch des Ufers hängt. An den Trümmern unserer ehemaligen Schlachtflotte vorüber kamen wir in den Stettiner Zollhafen hinein und machten an der Mole fest. Auszuladen hatten wir nichts und konnten sonach mit den Händen in den Hosentaschen ans Land gehen, wo viel Gesindel stand und auf die Ankunft der »Bagdad« wartete. Eine Stadt wie Stettin hat stets der bezahlten und unbezahlten Müßiggänger gerade genug. Sie alle drücken sich am Kai herum, denn man kann nicht wissen, ob nicht doch in irgendeiner Weise durch Raub, Tausch oder Kauf irgendein kleiner Vorteil für einen herausspringt. Ein Schauspiel bleibt so eine Landung von heimkehrenden Vertriebenen immer, und da ein Entree nicht erhoben wird, warum soll man sich da den Rummel nicht einmal ansehen, der sich unter flatternden Fahnenresten und eingedörrten Kranzgewinden abspielt?
Kerzengerade und aufrecht war ich vor Wochen auf die »Regina« gekommen. Gebückt und schwerfällig hinkte ich von ihr herunter. Ein armer Jason, hatte ich in Kolchis keine Medeia gefunden, auch nicht das goldene Vlies jenes Widders, der einst Phrixos und Helle auf seinem Rücken getragen. Das einzige was ich, am Oderstrand gelandet, mein Eigen nennen konnte, war ein Heftpflasterverband um die kurzen Rippen und goldene Erinnerungen an überstandene Fährnisse.