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Der nächste Tag verschluckte das nächtliche Abenteuer und brachte Berufsgeschäfte in Hülle und Fülle. Fünfhundert chinesische Arbeiter aus den Bleibergwerken Sumatras mußte man auf der Pantellaria verstauen, um sie nach Hongkong überzuschiffen. »Geben Sie wohl acht, Doktor, daß man keine Kranken oder gar Tote an Bord schmuggelt, sonst können wir im Tal der reichen Wasser und des armen Bieres, vor Kaulun, Quarantaine halten,« hatte der Überschwabe gesagt. Und Ebenich stand gewissenhaft auf seinem Posten an der Laufplanke. Wie Hämmel ineinanderdrängend, kamen sie näher in blauen Kitteln, die bezopften Söhne des Reiches der Mitte. Aber das Geländer des Steges war unbarmherzig. Einen nach dem andern sonderte es aus dem Klumpen ab und ließ ihn aufs Verdeck herüberrollen. Wie am Schalter eines Bankhauses wurde jede Münze geprüft, ehe sie in die Kassette des Zwischendeckes hineinfiel. Hier und da wurde einer, dem die Malaria oder das Schwarzwasserfieber ihr Siegel ins Gesicht gedrückt hatte, zurückgewiesen. Er mochte sich in Singapor ein Grab suchen. Warum hatte er den heiligen Boden Chinas verlassen, um in der Fremde Schätze zu suchen, die von Rost und Motten verzehrt werden? Der Menschenhaufen am Kai wurde kleiner und kleiner. Zwei Sänftenträger hatten seither geduldig gewartet. Nun kamen sie an die Reihe 85 und traten mit ihrer Last auf die Laufplanke. Die Vorhänge der Sänfte waren herabgelassen. Wer wird es wagen, einen hohen Mandarinen ungestraft von Angesicht zu Angesicht schauen zu wollen? Gleichwohl, der Doktor wagte es und ließ die Tür des Tragkorbes öffnen. Welch ein Schrecken! Ein bleiches, welkes Angesicht mit herabhängendem Schnurrbart starrte dem Neugierigen entgegen, während buntfarbige Seidenstoffe ein mageres Skelett wie eine altägyptische Königsmumie einkleideten und Leben vortäuschen sollten. Was hatte doch der schwäbische Hiesel gesagt: »Geben Sie wohl acht, daß man keine Toten an Bord schmuggelt.« Im ersten Augenblick hätte der Doktor über diese Warnung lachen mögen. Nun hatte er den Versuch des Schmuggels vor sich, dem sofort einer der Bestechung folgen sollte. Wie vom Winde hergeblasen stand ein Agent vor dem Schiffsarzte. »Doktor, der Tote da war im Leben ein reicher Mann, der auf Erden viel vermochte. Warum sollte er nicht einiges Geld aufwenden, um in chinesischer Erde schlafen zu können? Sagt, daß Ihr hundert Dollar 86 fordert für seine Überfahrt, und sie sollen Euch werden. Bedenkt, daß er nichts ißt von Euerem Brot und nichts trinkt von Euerem Wein, und daß hundert Dollar ein schöner Preis ist.«
Wohl zwanzigmal schüttelte der Doktor den Kopf, bis die Sänftenträger sich entschlossen umzukehren, um ihren Versuch auf einem anderen Schiffe zu erneuern. Rührend ist es zu sehen, wie der Chinese an der Scholle seiner Heimat hängt. Sie nur vermag seine Seele in der Ruhe des Nirwana festzuhalten. Wenn sie es nicht ist, die seine Beine beschwert, muß er wandern, ruhe- und heimatlos in ewiger Wiederkehr von einer Erscheinungsform in die andere.
Ebenich kannte den frommen Kinderglauben des naiven Volkes wohl, und es tat ihm leid, die Bittsteller abweisen zu müssen. Aber er war ja nur der Schiffsarzt, und die Vorschrift war unerbittlich. Die Laufplanke war eingezogen, die Verbindung mit dem Lande gelöst. Das Kai war menschenleer geworden. Die Ladebäume hatten das letzte Kollo über die Reling gehoben. Das Gangspill zog mit Kettengerassel den Anker hoch. »Vornen klar!« rief der Zweite vom Bugspriet. »Achtern klar!« hallte es vom Heck zurück. »Langsam vorwärts!« kommandierte der Kapitän ins Sprachrohr. Eben wollte der Schiffsrumpf sich von der Kaimauer lösen, da kamen zwei Gestalten im Laufschritt um die Ecke des Lagerschuppens gerast. Ein gewagter Sprung. Beide Nachzügler waren an Bord. Sie ließen sich auf eine Bank niederfallen, pusteten und schnauften zunächst einmal wie die Rennpferde.
»Da wären wir glücklich noch,« sagte der eine. 87 »Es fehlte nicht viel und wir hätten hinter der Kiste herschwimmen können bis Hongkong hinauf.«
»Ein erbärmlicher Kasten übrigens,« sagte der andere, »hast du ihm auf den Deckel geguckt? Wie mag der Äppelkahn nur heißen?«
»Pantellaria,« bemerkte Ebenich, der sich in die Nähe der verspäteten Fahrgäste herangemacht hatte.
»Pantellaria? Dann habt ihr wohl den Überschwaben, unsern Landsmann, den Hiesel, zum Kapitän? Schon gut denn. Wir brauchen unter der Linie keinen Durst zu leiden. Wir wissen schon, daß er bayrisches Bier nach Tsingtau geladen hat. Sagt übrigens einmal, ist euere Stuardeß nicht eine Frau Hölderlin?«
»Hölderlin, ganz recht, so heißt sie und um Ihre Menschenkenntnis noch zu erweitern, will ich mich Ihnen vorstellen: ›Ebenich, Schiffsarzt der Pantellaria‹.«
»Huber ich, und der da Gruber,« sagte der erstere der Doppelfirma und beide erhoben sich von ihren Sitzen. »Wir führen gleich Ihnen Blutegel und Klistierspritze im Wappen und dienen bei der Schlüsselgesellschaft, dem Norddeutschen Lloyd, dessen Inspektor uns heute morgen schon eine feierliche Messe gehalten hat.«
»Und eine Fastenpredigt dazu,« ergänzte Gruber. »Wir haben gestern abend ein wenig über die Stränge geschlagen und heute morgen die Abfahrt unseres Dampfers verschlafen. Wenn Frau Hölderlin Ihre Stuardeß ist, so wird die Ihnen sagen können, wo wir übernachtet haben. Unser Gedächtnis funktioniert noch mangelhaft heute morgen.«
Jetzt sah sich Ebenich das Paar etwas näher an. Richtig, der da, mit dem Zigarrenstummel im 88 Mundwinkel, Herr Gruber, war der Fremde, der heute nacht in der Rotweinkneipe rechts von der Stuardeß gesessen hatte und der andere links. Na, nun konnt's Tag werden auf der Pantellaria. Einen Schwaben hatte sie schon an dem Kapitän, nun kamen zwei neue hinzu. Wenn's die dicken Schädel nicht verraten hätten, woher die Herren stammten, so hätte es der Dialekt getan. Und nun gar noch das Konglomerat von Verehrern, das sich von jetzt ab um Frau Hölderlin bilden mußte. Das konnte zwischen Singapor und Hongkong eine fidele Reise werden.
Während Ebenich noch stand und über die Situation von heut und gestern nachdachte, waren Gruber und Huber aufgesprungen und prügelten einen Chinesen, der sich über die Sperrkette herüber vom Hinter- aufs Mitteldeck gewagt hatte. Dabei gab's natürlich Geschrei und das Geschrei lockte wieder Menschen herbei. Frau Hölderlin kam aus der Küche heraufgerannt, erkannte die Schwaben, schlug die Schürze vors Gesicht und verschwand wieder, als ob sie dem Teufel begegnet wäre mitsamt seiner Großmutter.
Der Kapitän kam mit indignierter Berufsgrimasse näher, um zu sehen, was da los wäre. Als Huber seiner ansichtig wurde, ließ er von dem Chinesen ab und reichte unter lautem Lachen dem Herrn Hiesel die Hand.
»Meinen Glückwunsch zur ›Pantellaria‹. Möchten alle Konvertiten so gut getauft sein wie das Schiff. Fast erkennt man in ihr die ›Brandenburgia‹ nicht wieder. Gott stehe uns bei, die ›Brandenburgia‹, wie hing sie doch in der Tajomündung an der Klippe, zerschunden, zerbeult und blamiert. Nein, man konnte sie vor der 89 Welt nicht mehr sehen lassen. Ist es nicht ein Glück, daß es noch einen Vorrat von guten Namen gibt und falsche Wanderbücher?«
»Und Bier für Sie und Zigarren für den andern. Reist ihr beide denn immer noch wie die siamesischen Zwillinge als Bierschwabe und Tabakschwabe nebeneinander?«
»Wenn der Hiesel nicht manchmal auf einer Sandbank hängen bliebe, so könnten wir als schwäbische Dreieinigkeit reisen. Habt Ihr übrigens gehörig zu essen an Bord, ich bin von dem Chinesenprügeln hungrig geworden,« so schloß Huber seinen langen Sermon, während Gruber ihm mit Kopfnicken Beifall zollte und seinen Zigarrenstummel im Mundwinkel drehte.
Mit den Schwaben freute sich heut alle Welt auf das Mittagessen. Schon war die Suppe aufgetragen. Das Schiff schwamm mit gespreizten Segeln wie ein Schwan zwischen hellgrünen Inseln, die man durch die Bullenaugen des Salons beobachten konnte, als ob's Seestücke wären, von Achenbach gemalt oder Ruisdael. Da plötzlich, ohne daß irgendein Signal die Gemüter vorbereitet hatte, stand die Pantellaria still. Der Braten mitsamt der Sauce, die ihn umflutete, wurde kalt. Alle Esser waren an die Fenster gegangen, um zu schauen, was los wäre. Eine breite Schute führte eine unheimliche Flagge wie das Giftzeichen einer Medizinflasche. Ihr Kiel wurde von den Rudern nackter Eingeborenen von der Blinsanginsel herangetrieben und hatte an Steuerbordseite festgemacht. Bald rasselte die Kette des Ladebaumes nieder und hob kleine schwarze Kisten, zu großen Paketen zusammengeschnürt, aufs Deck des Dampfers. Betreten 90 sahen die Passagiere einander in die Gesichter. »Kaviar oder Schnupftabak?« rief der Bierschwabe dem Kapitän zu und er lachte, als dieser nickte und beifügte: »Für Kanonen damit sie niesen können.« Zwei dunkle Ehrenmänner waren widereinandergelaufen und hatten sich erkannt, das bezeugte das Lächeln.
Dr. Ebenich war sehr erstaunt, als er nach Tisch in seine Kammer kam und sein vorderes Bullenauge von der neuen Deckladung zugesetzt fand. Nun war ihm der Ausblick nach der großen Luke genommen. Nun konnte er nicht mehr von seinem Sofa aus die beiden Schweine beobachten, die auf den Lukenkappen ihr Wesen trieben. Sie waren in den Vierlanden jung geworden, hatten am Kai zu Hamburg die Weltreise ohne Rundreisekarte angetreten, aber sie sollten diese Stadt nie wiedersehen. Über Kost und Verpflegung hatten sie nicht zu klagen. Die Matrosen hätschelten sie, wie man Kinder hätschelt. Sie wurden von Wasserstrahlen aus Gummischläuchen gereinigt und konnten sich dann zum Trocknen an die Sonne legen, sich anknurren, sich in die Beine beißen oder auch den Schiffshund wie einen Scheuerlappen mit dem Rüssel weiterschieben, wenn er ihnen im Wege war. Freilich an den Strand der Elbe sollten sie nicht mehr heimkehren oder doch nur in solcher Form, daß Teile von ihnen in eine Zeitung gewickelt vom Deck getragen werden konnten. So um Weihnachten herum, wenn die Pantellaria wieder im Mittelmeer tanzte, sollten sie ans Schlachtmesser geliefert werden. Dem Doktor hatten die munteren Vierfüßler manche langweilige Stunde verkürzt, nun war's vorbei mit diesen Schaustellungen und das hatten leider die schwarzen Kistchen mit ihrem geheimnisvollen Inhalt verschuldet.
91 Die Sonne brütete auf dem Verdeck. Die Dielung mußte mit Wasser überflutet werden, damit sie nicht rissig wurde oder gar Feuer fing. Erträglicher war's in den Kabinen immer noch als wie unter der stahlblauen Kuppel des Himmelsgewölbes, in dessen Zenit die unbarmherzige Sonne thronte. Schade, daß Herr Ebenich in seiner Kabine jetzt keinen Gegenzug mehr herstellen konnte. Wollte er auch nur einen Schimmer vom Windeswehen erhaschen, so mußte er sich in den Rauchsalon begeben, auf dessen glühenden Lederbänken die beiden Schwaben wie ein Doppelbild des heiligen Laurentius auf Sofarosten schmorten. Die Hitze hatte sie zu frommen Leuten gemacht, und sie verschonten sogar die Stuardeß mit Anzüglichkeiten, wenn ihr leichtgeschürztes Libellenkleid an ihnen vorüberflatterte.
Das Promenadendeck beherbergte keinen Europäer mehr. Die Chinesen hatten die Sperrkette wie Schafe ihren Pferch durchbrochen und waren mit Decken und Matratzen über den Besanmast hinaus nach vorne gerückt. Im Schatten der von den Davits niederpendelnden Rettungsboote waren Spielbänke entstanden, in denen schlaue Bankhalter gar manchem armen Teufel den Verdienst saurer Jahrzehnte abjagten. In etwas hielt der bayrische Hiesel diese Raubtiere unter seiner Polizeiaufsicht und hatte er eine solche Hasardspielergruppe in dem Zigeunerlager entdeckt, so konnte es geschehen, daß plötzlich von der Brücke aus ein Kohlenbrocken, groß wie ein Kindskopf, unter sie flog. Dann fuhren die Übeltäter wie Hornissenschwärme auseinander, und sogar in den ledernen Gesichtern alter Opiumraucher und Betelkauer hoben sich die pergamenttrockenen 92 Augendeckel, und die matten Blicke schienen fragen zu wollen, ob der große Auferstehungstag, der Tag des Gerichts, nun wirklich gekommen sei.
Wo Fräulein Österle steckte, wußte eigentlich niemand so recht zu sagen. Bei Tisch erschien sie nicht. Dem Doktor gegenüber mochte sie kein gutes Gewissen haben. Jene Nacht des Herumirrens in den Straßen von Singapor konnte noch nicht verschmerzt sein und ihr neue Vorwürfe einbringen. Den Zweiten schien sie verloren zu haben, seitdem er sich selber an die Stuardeß verloren hatte. Das Astloch über des Fräuleins Schlafkabine war in Pension getreten, und von Ratten hörte man niemanden mehr reden.
Das Gesicht Seelenguts war in diesen heißen Tagen ernster geworden, fast bekümmert. Manchmal schien er an seine tote Frau zu denken und dann wieder an seine noch unerzogenen Kinder. Schwermütig und den Kopf schüttelnd sah man ihn vor der ausgebreiteten Seekarte auf- und niederschreiten, ohne daß er auch nur einen Blick in deren Geheimnisse getan hätte. Er hörte kaum, wann die Stunde geglast wurde. Seine Ohren schienen eingeschlafen zu sein. Seine Blicke aber wurden unruhig, wenn sie den Doktor Ebenich nicht sahen und seine Wege nicht kontrollieren konnten. Etwas wie Eifersucht regte sich in ihm gegen diesen Mann. Der Sonntag in Singapor mit der ihm folgenden Nacht gab zu denken. Er selber war nach Mitternacht an Deck gekommen. Er hatte die Wache angerufen und ausgefragt. Von den Mitreisenden fehlten nur noch drei: Fräulein Österle, der Doktor und die Stuardeß. Die Stuardeß. Mochte dieser Höllenbraten bei allen Teufeln 93 sein, wo er hingehörte, aber was hatte es zu bedeuten, daß Fräulein Österle sich mit dem Doktor bis zum Tagesanbruch im verrufenen Singapor herumgetrieben hatte? Das war eine Frage, die ihn quälte, bis sie klipp und klar beantwortet war, mochte es auch einen saueren Gang kosten.
Mit zeremonieller Feierlichkeit, als ob er der Kartellträger einer schwer beleidigten Partei wäre, trat er eines Tages ins Zimmer des Doktors. Mit ernster Miene lehnte er die angebotene Zigarre und den Kognak ab, nahm aber beides an, als ihm Ebenich die tragischen Erlebnisse mit den Rikscha-Kulis vorgeschwatzt hatte. Jetzt waren seine Zweifel beseitigt. »Ja, so sind sie, diese Gauner,« lachte er gut gestimmt vor sich hin. »Alle Patriarchen und die zwölf Apostel würden sie nach der Malaienstraße fahren, wenn nur ein guter Fuhrlohn für sie herauskommt.« Nach diesen Worten stieg er leichter, als er herabgestiegen war, die Treppe zur Kommandobrücke wieder hinauf.
›Diese Feierlichkeit,‹ dachte Ebenich, ›sollte er Ernst machen wollen? Viel Zeit bleibt ihm nicht mehr zum Zugreifen. In weniger als zehn Tagen kann Schanghai erreicht sein.‹
Weiter kam er nicht im Grübeln. Ihm fielen die Augen zu, und er schlief ein, ermattet mehr von der Hitze, als von seinen Sorgen um Seelenguts Seelenruhe.
Ebenich wurde wieder wach und alles war scheinbar noch, wie es vor dem Einschlafen gewesen war. Blau der Himmel, blau das Meer. Nur hatte soeben die Nacht begonnen, in den blauen Kattun einige Sternenmuster hineinzusticken. Der Schlaftrunkene rieb sich die Augen, 94 gähnte ein paarmal und drehte dann die elektrische Lampe an. Ihr Schein lief durch die Kabinentür den Wandelgang hin und lockte selbdritt die Schwabendemokraten herbei. Sie hatten eine Skatkarte mitgebracht, und nun ging es in der Welt gefährlich drunter und drüber. Null und Nullouvert legten den aussichtsreichsten Solo lahm, und der Bube köpfte den König gerade so, als ob Marat und Robespierre abermals die Welt regierten. So trieben es die Dreie bis ins Halbdunkel der Tropennacht hinein und schliefen dann auf ihren Sitzen, bis der Gong zum Frühstück rief. Beim Gang nach dem Speisesaal warf man einen Blick über die Reling hinunter. Die See atmete wie eine Kinderbrust in kleinen Wellen sich hebend und senkend. Die Pantellaria hatte gute Fahrt. Sie fraß die Seemeilen nur so von der Raufe herunter, zwölf bis fünfzehn in jeder Stunde. Nichts gab es, was die Aussicht, bald am chinesischen Hafen Kaulun festmachen zu können, irgend wie trüben konnte.
Aber was war's denn nur, was geheimnisvoll schon die Seele im Laufe des Morgens mit banger Ahnung füllte? Der Kapitän war nicht an der Tafel gewesen; Herr Langschwager, der Maschinist, auch nicht. Der Zweite war wortkarg. Es war nicht viel mehr aus ihm herauszubringen, als daß wir in einer Stunde ungefähr Korallen, Riffe und Strudel der Parazelsen erreichen würden. Er erhob sich nach dem Käse und ging. Die Schüsseln wanderten halbleer zur Küche zurück. So rechten Appetit hatte niemand gehabt. Der Schiffshund ließ die Ohren hängen. Er schnupperte ein wenig an einem vorgehaltenen Kotelettknochen herum, biß aber 95 nicht zu. Er sah in der Ecke des Salons einen Fußläufer liegen. Dort ging er hin. Er suchte seinen Kopf unter dem Gewebe im Dunkel zu verstecken. Sein Hinterteil lag bloß und ein ängstliches Zittern jeder einzelnen Muskelfaser verriet die Hundeangst. »Wird er krank werden?« fragte Dr. Ebenich. »Was soll ihm nur sein, daß alle Munterkeit von ihm genommen ist? Er balgt sich nicht mit der Katze, er springt nicht nach den Mücken, selbst mit den Schweinen hat er sich nicht herumgebissen.«
»Ich kann es ihm nicht übel nehmen, daß er sich schont, wenn er ähnlich empfindet wie ich,« bemerkte Herr Huber. »Mir ist so schwer in allen Gliedern, als ob der schlechteste Jahrgang Heilbronner Neckarwein ungeklärt durch meine Adern rollte.«
»Ja, guck, und akkurat genau so ist's auch mir, nur noch e bissel schlimmer, weil ich nämlich alleweil denk', es könnten aus Versehen auch noch ein paar Wingertstiefel mit unter die Brüh' gekommen sein,« ergänzte Herr Gruber.
»Es ist in der Tat eine Atmosphäre hier zum Ersticken. Die Luft legt sich einem wie Mehlstaub auf die Schleimhäute. Der Brustkorb wird für die Lunge zu eng. Verlassen wir das Zimmer und gehen an Deck,« bemerkte als dritter Dr. Ebenich.
Fräulein Österle, die wieder an die Menschheit Anschluß gefunden hatte, nickte ihm beistimmend zu, seufzte tief auf und bemühte sich, unbemerkt mit suchenden Fingern einige Haften ihres Korsets zu lösen, derweilen die Tischgesellschaft sich erhob und müden Schrittes nach dem Aufgang des Promenadendecks hinschwankte. Man 96 war aber kaum an Deck angekommen, da warf man sich auf die Liegestühle. Ebenich steckte eine Zigarette an, tat einige Züge und warf sie über die Brüstung ins Meer hinaus. Das Fräulein hatte ein Buch aufgeschlagen, es wieder weggelegt und die Augen geschlossen. Aber sie schlief nicht. Sie warf sich von einer Seite zur andern, und die Muskelstränge ihrer Schenkel zuckten wie vorhin an den Hundebeinen in nervöser Unruhe, daß man es durch die Röcke hindurch sehen konnte.
Man klingelte und bestellte Sodawasser. Es gab nichts faderes, nichts abgeschmackteres als dieses Getränk. Aber der stärkste Whisky schmeckte auch nicht anders. Die Zungennerven mußten verwirrt sein, daß sie den Getränken nicht mehr den richtigen Geschmack abgewannen. Leider, die anderen Nerven waren es auch. Sie reagierten nicht mehr auf Lustgefühle. Eine dumpfe Angst vor etwas unsagbar Schrecklichem beherrschte das ganze Nervensystem. Man lag gleichsam mit Stricken gefesselt da und sah Berge von Unheil sich heranwälzen, die einen widerstandslos zermalmen mußten.
Auch die Maschine schien verrückt zu sein. Unbarmherzig stampfte und hämmerte sie drauflos, daß die Schraube wie unsinnig das Wasser peitschte, und daß der Boden und die Wände zitterten wie Erlenlaub im Novembersturm. Verflucht, und wie dieses Zittern fortlief durch die Stuhlbeine und die Nervenstränge des Rückenmarkes ins Gehirn hinein. Man lag nicht gut auf der linken Seite; man wälzte sich auf die rechte, und es war noch schlimmer. Man sprang auf. Die Erschütterung zerrte wie an einer Schnur und riß einem den Mund zum Gähnen auf, ob man wollte oder nicht.
97 Da läuft in aufgeregter Hast soeben der erste Maschinist über Deck. »Einen Moment nur Geduld, Herr Langschwager! Sagen Sie uns doch nur bei allen Teufeln, wo will denn Ihre Maschine mit uns hin?«
»Windstille, Windstille! Das Quecksilber des Barometers sinkt, als ob es in das Zentrum der Erde hineinfallen möchte. Wir müssen machen, daß wir aus der gefährlichen Nähe der Mardesfield-Bank und der Parazelsenriffe wegkommen. Ehe noch die Nacht da ist, können Sie eine Überraschung erleben.«
Fort stürmte der Mann, um irgendwo irgendwas anzuordnen oder zu befehlen. Ach ja, da hinten auf dem Achterdeck, da war wohl vieles nicht so, wie es sein mußte, wenn ein Sturm über uns wegfegen sollte. Matrosen standen unter dem Haufen aufgeregter Kulis und suchten diesen mit Worten und Pantomimen klar zu machen, daß die Leute durch die Luke ins Zwischendeck hinuntermüßten. Sie blieben unverstanden. Zum mindesten waren diese Armen im Geiste über das Warum der harten Maßregel nicht aufzuklären und zwar aus dem gleichen Mangel an Sprachkenntnissen, wegen dem der Turmbau zu Babylon ins Stocken kam. Da half nun aber alles nichts. Als es mit Schreien nicht ging, flogen zuerst die Habseligkeiten der Rückwanderer und dann sie selber von starken Armen gezwungen durch den Schlund der Luke in den Bauch des Schiffes hinein. Matratzen und Kulis, Frauen und Kochgeschirr wirbelten durch die Luft und dann in den infernalen Abgrund hinunter. Das Deck war menschenleer. Die Luke wurde mit schweren Eichendielen gedeckt 98 und überdies mit wasserdichter Leinwand überspannt. Ein Riesensarg war mit 600 Menschenleibern gefüllt. Wenn das Schicksal will, sackt er zum Grund des Meeres nieder, und kein Schrei, kein Todesröcheln ringt sich wieder zum Tageslicht empor.
Ehe die Lukenkappe zurechtgeschneidert ist, und die Matrosen das menschenleere Hinterdeck verlassen, rollen sie das Sonnensegel auf und binden es fest. Sie ziehen die Flagge am Hintersteven ein. Der Sturm soll das Schiff sozusagen nackt vorfinden. So bietet es seiner Wut die geringste Angriffsfläche. Auch die Davits werden noch geprüft, und es wird nachgesehen, ob die Flaschenzüge, an denen die Rettungsboote hängen, gehörig funktionieren. Man muß an alles denken, und man denkt an alles. Aber man denkt mit Grausen daran, daß nur die schmale Wand eines länglichen Blechkastens von einem Elemente scheidet, für das die Menschen nicht geschaffen sind, so behaglich es auch für Heringe und Haifische eingerichtet sein mag. Aber noch war ja kein Grund vorhanden zur Beunruhigung. Noch war ja nichts geschehen. Es war Windstille, weil der Südwestmonsun das Schiff verlassen hatte und der Nordostmonsun noch nicht einsetzte. Das Barometer sank, das Thermometer tat's ihm nach. Mochten sie sinken, ruhig und sicher pflügte der Kiel der Pantellaria das südchinesische Meer. Es war keine Ursache zum Verzagen da. Mochte der Hund auch zittern vor einem unsichtbaren Gespenst; die Seefahrer waren Männer, vor etwas, was sie nicht greifen konnten, davor wollten sie auch nicht beben. Und doch, und doch, die Furcht war da. Sie geisterte als unheimliche Stille um die Mastbäume. 99 Sie klagte und seufzte mit neuen, ungewohnten Tönen aus dem Maschinenraume heraus. Sie malte ihr eigen Bild mit weißer Bleifarbe ins Angesicht der Menschen hinein. Da kommt soeben Herr Hiesel, der Kapitän, herangeschritten. Er sieht bleich und gealtert aus. Die Furcht steckt hinter seinen zusammengezogenen Augenbrauen, und es hilft nichts, daß er sie mit einem Lächeln seines Mundes zu überschleiern sucht. Zum Teufel auch, welche Nerven können die Folter der Ungewißheit noch länger ertragen! Dr. Ebenich platzte los:
»Kapitän, um welche Stunde werden wir ›Ihn‹ haben?«
»›Er‹ bewegt sich mit großer Geschwindigkeit von Süden herauf. Möglich, daß er um acht Uhr unser Schiff erreicht hat. Wohl uns, daß wir dann schon um siebzig Seemeilen von den Klippen der Parazelsen ostwärts steuern.«
»›Er‹ bewegt sich, ›Er‹ wird uns erreichen.« Wer ist der Schreckliche ›Er‹, vor dem sich alles fürchtet, alles zittert? Noch hat niemand gewagt, das Kind beim richtigen Namen zu nennen, da tat es Gruber, der kühne Tabakschwabe:
»Wird Euere Käsekiste zusammenhalten, wenn sie der Taifun schüttelt?« fragte er den Schiffskommandanten. Also war es da, das ominöse Wort: Der Taifun, der große Wind, vor dessen unheimlicher Stärke sich schon so mancher Bug gebeugt hat, um sein Grab zu küssen? Riecht der Name nicht nach den Schwefeldämpfen der Hölle, wie der Name Teufel? Ja, und er ist ein Menschenwürger wie die Unterwelt keinen zweiten zu versenden hat. Der Schrecken ist der Vorreiter seines Zuges, und die 100 Erstarrung blickt ihm mit hohlen Augen nach. Was hilft's, daß die gelehrten Jesuiten von Zikawai seine Bahnen berechnen und in einem Dutzend Kabeln die Bewohner der Städte vor ihm warnen, ebenso wie jene Wasserzigeuner, die in ihren Sampans zu tausenden in den chinesischen Buchten leben und sterben, ohne daß jemals ihr Fuß das Festland betreten hätte. Der Satan Taifun weiß alle Wetterpropheten zu täuschen. Unangemeldet tritt er in die Häfen wie in die Schlupfwinkel der Piraten hinein und wenn er nach einer halben Stunde seine Stoßvisite beendet hat, so schwimmen von Schiffstrümmern eingerahmt zwanzigtausend Leichen in dem buchtenreichen Meere herum. So war's 1906 in Hongkong und den gegenüberliegenden Kanälen. Hat er uns Deutschen nicht den »Iltis« verschlungen mitsamt seiner braven Bemannung?
Sitzt zwischen Singapor und Yokohama in irgendeinem Kaffeehaus, fahrt mit irgendeinem Fahrzeug von Hafen zu Hafen, und man wird euch ein Lied singen von all dem Jammer, den dieser »große Wind« schon über die Menschheit gebracht hat. Von Sommersglut im Winter reden und weit im Binnenland von Schiffbrüchen, 's ist ein pikanter Nervenkitzel. Nun aber war das Verhängnis an die Seefahrer herangerückt. Der Taifun kam ihnen entgegen, war schon fühlbar neben ihnen, über ihnen, unter ihnen, denn gar unheimlich fing das Meer zu kochen an.
Was ist nur mit der Sonne vorgegangen? Sie, die hier in der Nähe des Äquators die Stunde ihres Kommens und Gehens mit der Regelmäßigkeit eines Kanzleirates einhält, ist um vier Uhr verschwunden. Die Nacht breitet ihren Fittich aus in der Einöde um das 101 verängstigte Schiff. Sie bringt neue Angst zu der vorhandenen hinzu, und das einzige, was sie nicht bringt, ist eine nervenerfrischende Kühle. Und die wäre so nötig, denn eine unheimliche Schwüle herrscht in allen gedeckten Räumen des Dampfers, obwohl sie groß und leer sind. Welche Atmosphäre mag drüben im Zwischendeck herrschen, wo 600 Menschen eng zusammengepfercht atmen müssen! Der Gedanke schon macht einen schaudern. Man kommt sich wie ein König vor, wie ein Hätschelkind des Glückes, daß man im Freien sitzen, daß man die Beine bewegen und einige Schritte über das Deck laufen kann.
Aber schon wird das letztere recht schwierig. Zwar regt kein Lüftchen sich, und doch wirbelt und grollt das Meer und wirft die Pantellaria von einer Seite auf die andere. Mühsam folgt sie noch dem Steuer, das sie gewaltsam unter dem Seufzen und Knirschen der Ruderkette in ihrem Kurse hält.
Nun ist der letzte Sonnenstrahl verglüht, es ist rabenschwarze Nacht. Kaum mehr sieht von den Passagieren einer den anderen.
Bevor man aufbricht nach dem Salon, erlischt der glühende Stern einer brennenden Zigarre auf den Dielen. Sie muß ihrem Besitzer Gruber keinen Genuß mehr bereitet haben. Sie wird zertreten und raucht am Boden wie ein Kohlenmeiler.
Man hört den Kork einer Bierflasche knallen. Sausend steigt ihr Inhalt über den Flaschenhals. »Krützitürkidonnerwetter!« flucht einer, der Bierschwabe natürlich, dann klatscht das schwere Glas unten auf dem Meeresspiegel auf.
102 Der Salon ist erreicht und das Licht angedreht. Sein Schein fällt auf das blutleere Gesicht des Fräuleins Österle. Die Nadeln eines Strickstrumpfes in ihren Fingern zittern und schlagen klappernd widereinander. Windstöße kommen und heulen wie ein Rudel hungriger Wölfe durch die Rahen und Masten. »Alles schon dagewest,« nimmt Herr Gruber das Wort, und nun fängt er an und erzählt, wie Kapitän Grauscholle aus Hulversum, der die »Buitenzorg« führte, bei den Feuerlandsinseln ins Strickwerk der Brustwehr geweht wurde und, nach Luft schnappend, wie eine Flunder in den Maschen hing. »Einer von der Mannschaft, der den Specksack herausziehen wollte, hatte plötzlich des Alten Stiefel in der Hand und fiel rücklings in eine Heringtonne. Heut wir gelacht selwigstes Mal.« Und nun lachte er, wie man nur in Patagonien lachen kann.
Obwohl diese Heiterkeit ungekünstelt klang und von Herzen kam, weckte sie doch bei den Zuhörern kein Echo.
»Wie d's vorletzte Mal die selbige Geschicht verzählt hast, hat der Kapitän Hufnagel geheißen und er, der ihn retten wollte, ist in ein Bohnenfaß gefallen,« bemerkte Huber.
»Heringe waren's mit grünen Bohnen, daß ich mich recht erinnere. Aber macht nichts, deswegen darfst doch zuhören, wenn ich fein jetzt mit meiner Zupfgeigen komm und euch was vorzittere.«
Ein Windstoß saugte den Tabakschwaben aus dem Salon und ein Windstoß schleuderte ihn wieder hinein, ihn und seine Gitarre. Die gespreizten Finger griffen in die Saiten, aber es waren nur traurige Töne, die unter ihnen hervorquollen. »Singe, sprach die Römerin.«
103 »Und ich sang zum Norden hin,« versuchte Ebenich das Instrument zu begleiten.
»Wär' ich doch über Sibirien gefahren,« seufzte Fräulein Österle auf, als sie vom Norden hörte.
»Wäret Se lieber gleich ganz zu Haus geblieben. E'n Dorfschulzen, der's Kopulieren gelernt hat, hätten Se schon alleweg auch bei uns g'funden.«
Fräulein Österle schien von dieser Bemerkung unangenehm berührt. Sie erhob sich, wünschte gute Nacht und verschwand. Dem Dr. Ebenich sägten die metallischen Klänge der Gitarre förmlich an den Nerven herum. Er hielt es nicht mehr aus, stand auf von seinem Drehstuhle und ging nach seiner Kammer.
Was er kaum zu finden hoffen konnte, fand er gleichwohl, nämlich den Schlaf. Er schlummerte wenigstens und vergaß sein Elend.
Plötzlich ein Ruck, ein dumpfer Schmerz. Dr. Ebenich fühlte beides, aber er orientierte sich in der Schlaftrunkenheit zunächst nur schwer über sein Verhältnis zu den Dingen. Bald erkannte er, daß er aus dem Bette gefallen war und am Boden hinrollte. Er bemühte sich zunächst einmal auf alle viere zu kommen. Dabei stieß er mit dem Schädel wider die Wand, daß es ihm in den Ohren aufschrie wie Katzenmusik. Er tastete sich nach dem Sofa hin. Er erreichte es und kam nun endlich auf die Füße. Kaum stand er, so stieg die Schiffswand vor ihm in die Höhe und drückte wie ein hochaufgerichtetes Raubtier seinen Oberkörper nach rückwärts, so daß er wieder auf sein Bett niederstürzte. Abermals erhob er sich. Er mußte seinen Kopf zum Herrscher über seinen Körper machen, denn ihm war's, 104 als wenn dann erst wieder Ordnung in seine Gedanken käme, die wie eine Herde Wildschweine wild durcheinander liefen. Ein Windstoß öffnete in diesem Moment die Kammertür und warf sie krachend gegen den Kleiderschrank. Vom Korridor her drängte sich ein matter Lichtschein in den Türrahmen. Dr. Ebenich strebte diesem entgegen und stand nun halb entkleidet auf dem menschenleeren Vorplatz. Über ihm, unter ihm, vor und hinter ihm war ein sonores Brausen und Poltern, als wenn schwere Lastzüge sich durch Tunnels wälzten, aber ziemlich regelmäßig untermischt mit einem kleinkalibrigen Scherbengeklingel, das aus den Räumen der Küche und des Speisesaales heraufkam. Die eine Wand des engen Raumes hob sich, während die andere sich senkte. Der Plafond ward schier zur Außenwand und das elektrische Licht, das in seinem Gebälk angebracht war, leuchtete plötzlich von seitwärts herüber. Ebenich drückte sich in den Winkel zwischen Vorderwand und Klavier hinein, um einen einigermaßen sicheren Stand zu finden. Doch das schwere Instrument hatte sich von seinen Bodenschrauben gelöst und fing an zu wandern. Ebenich wollte einen Moment der Ruhe abwarten und wollte 105 dann nach einer gepolsterten Bank hinüberspringen, die an einem Treppengeländer des Korridors befestigt war. Als er aber den Fuß vorsetzte, flog die Seitentür auf und Fräulein Österle hing mit aufgelöstem Haar und verzerrten Gesichtszügen an seinem Halse. Gewiß, Herr Ebenich hatte sich seit seinem unsanften Erwachen nach einem menschlichen Wesen gesehnt, aber nach einem mutvoll kräftigen. Nach einem halbverzweifelten Mädchen aber sicher nicht. Was konnte er ihrer bangen Frage, ob sie denn nun sterben müßte in diesem schrecklichen Taifun, Trostspendendes entgegenhalten?
Hu, wie pfiff der Wind draußen um das Promenadendeck! Draußen bloß? Nein, auch hier im Innern hinter den eisenbeschlagenen Schotten des Korridors. Man spürte seinen glutheißen Atem wie eine Stichflamme über die Haut hinlaufen. Man sah, wie er mit den Lichtern kämpfte und sie auszublasen suchte. Ach, wenn ihm nur das nicht gelingen wird. Um wie viel schrecklicher mußte die Situation werden, wenn das Menschenpaar im Dunkeln stand, hilflos und verlassen von aller Welt.
Jetzt, eben jetzt, als dieser Gedanke sich wie ein weißglühender Nagel in das Gehirn der beiden hineinfraß, erfolgte eine markerschütternde Detonation. Blitzartig wie der furchtbare Knall gekommen war, wurde er von einer noch furchtbareren Erscheinung verdrängt. Hochaufgerichtet wie eine schneeüberzuckerte Zypresse stand ein unförmliches Gebilde plötzlich da, oder war es ein zu Eis erstarrter Wasserfall? Keines von beiden war's. Ohne innere Beständigkeit warf sich das gespenstige Wesen über Ebenich und seine Schicksalsgenossin mit nassen 106 Fluten her. Wasserschaum war es, ein Nichts und doch der schlagendste Beweis dafür, daß die Außenwand geborsten und ein Loch im Schiffe war. Wie lange mochte es nun noch dauern und im Maschinenraum erloschen die Feuer, der Dampfer füllte sich mit Wasser und die Pantellaria sackte ab zum Meeresgrund, wenn nicht vorher eine Kesselexplosion ihr den Bauch aufriß.
»Helft, all ihr guten Geister!« so schrie Fräulein Österle auf in ihrer Todesangst, »wir sind am Ende.«
»Noch kann das Hauptdeck dicht sein« suchte Dr. Ebenich das Mädchen zu trösten.
Barfuß und im leichten Nachtanzug kommt Dr. Huber hereingestürzt. Der Knall der geborstenen Schotte hatte ihn alarmiert und die einströmenden Wasser hatten ihm in seinem Bette einen Besuch gemacht.
»Was ist aus Gruber geworden?« fragte er aufgeregt. Die Antwort auf seine Frage gab ihm dieser selber.
»Bis an den Hals steh' ich schon im Wasser,« schrie er aus einer Nachbarkabine heraus. »Eine Sturzsee hat den Schutzdeckel des Bullenauges und dieses selber eingedrückt. Nun ist's, als ob das ganze Meer zu mir hereinwolle, expreß zu mir allein. Versucht doch, ob ihr nit von außen die Tür aufbringet, daß ich außi kann, um wenigstens zusammen mit euch zu versaufen.«
Der Versuch gelang. Mit einem starken Wasserstrom zusammen, trat Herr Gruber zu den dreien. Nun waren sie viere, aber durch die Zahl allein in ihrer Lage wenig gebessert.
Alle Augenblicke schlug die See über Deck. Dann 107 drang durch das Leck die salzige Flut herein und wer sie nicht schlucken wollte, mußte sehen, daß er auf Bank oder Stuhl springend seinen Mund über den Wasserspiegel brachte. So gab's wie in einem Turnsaal ein ewiges Auf- und Niederklettern auf Kommandoworte.
»Wenn doch mal jemand von den Offizieren sich sehen ließe, damit man wüßte, wie es um uns steht,« seufzte Fräulein Österle und nannte den Pluralis, obwohl sie doch nur an einen Offizier dachte. Wie die Erfüllung ihres Wunsches kam in diesem Augenblick Herr Heß, der dritte Offizier, die Treppe herauf. Sein langer Teermantel triefte vor Nässe. Der Wettergepeitschte hatte den Südwester tief ins Genick hineingezogen und, während er sich mit der einen Hand am Stiegengeländer ankrallte, wischte er sich mit der anderen die beißende Salzflut aus den Augen.
»Schlimme Botschaft, meine Herren! Zehn Rettungsboote sind über Bord gegangen. Die Davits sind wie Streichhölzer abgebrochen. Die Brustwehr an dem Achterdeck ist wegrasiert und was das Schlimmste ist, der Strom hat die Treppen abgerissen, die nach der Kommandobrücke hinaufführen. Kapitän und Zweiter stehen droben im Kartenhäuschen und können dem Schiff so wenig nützen wie das Galeonenbild unterm Klüverbaum. Herr Langschwager hat die Maschine zur Ruhe gesetzt. Der Taifun und der Teufel steuern jetzt die Pantellaria, bis wir an irgendeiner Klippe hängen. Zu allem Unheil ist auch noch die Dynamitladung von der vorderen Luke mobil geworden. Die Kisten sind in die Laufgänge hereingeschwemmt und sperren den Verkehr zwischen Vorder- und Hinterschiff.«
108 Das waren so ungefähr die Unglückszeitungen, die vom Dritten kunterbunt herausgeworfen wurden wie Wirrstroh aus der Dreschmaschine.
»Ein Stuhl im ›Stachel‹ zu Würzburg wäre mir jetzt lieber wie Euer ganzes Schiff mitsamt der Ladung,« bemerkte Gruber, der eine der beiden Schwaben, und griff nach seinem Stummel im Mundwinkel, als ob er sich vergewissern wollte, daß der noch nicht verloren sei.
»Und für e Glas Pilsener Urquell könnt' von mir einer den ganzen Stillen Ozean haben mit allen Inseln und Halbinseln,« pflichtete der Bierschwabe bei und klemmte einen vor Nässe triefenden Zwicker auf die Nase. Seine Augen musterten dabei die Körperformen des Fräuleins Österle, deren weißes Nachtgewand wie dicker Rahm um Rumpf und Glieder geschmiert war.
Nicht lange blieb ihm Zeit, sich diesem Kunstgenuß hinzugeben. Wieder lag die Pantellaria auf Backbordseite und schöpfte aus dem unermeßlichen Ozean.
»Obendrauf, rauf, auf die Stühle!« kommandierte Herr Gruber. O weh, Dr. Ebenich konnte seinen rechten Arm nicht gebrauchen, um sich irgendwie festzuhalten. Mit dem Stuhle stürzte er um und mit dem Gesicht ins gefährliche Naß. Sechs Arme angelten jetzt nach ihm und brachten seinen Kopf wieder in die Luft, bevor es zu spät war. Ein schlimmer Umstand übrigens für Ebenich, daß er zum Einarm geworden war. Doch seine Unglücksgenossen schafften Rat.
»So ein Wrack aufs Wasser zu setzen! Ich will nur hoffen, daß die Kiste hoch versichert ist, damit die Aktionäre der Hapaglinie von ihrem Nackenspeck nichts herzugeben brauchen, wenn der Kasten sinkt. Na, da läßt sich 109 ja unser Vierter sehen. Wie ist's, Herr Reichert, nimmt dieses Kinderwiegen immer noch kein Ende?« bemerkte Herr Gruber boshaft, als der Offizier sich sofort wieder anschickte, den Raum zu verlassen. Doch es gelang ihm nicht. Er war noch nicht bis zur Treppe gekommen, da hatte Fräulein Österle ihn am Arm gefaßt und zog seinen Kopf zu sich nieder.
»Ich bitte Sie,« sprach sie mit zitternder Stimme, »geben Sie mir Antwort noch auf eine Frage. Um Gottes Barmherzigkeit willen sagen Sie mir, was ist aus Herrn Seelengut geworden, was treibt er, wo hält er sich auf in diesem Augenblick?«
»Wo der Zweite sein wird? Überflüssigerweise dort, wo der Erste ist; auf der Brücke allenfalls. Wenn kein Fett im Hause ist, bleibt der Brei ungeschmälzt, einerlei, wieviel Köche um die Schüssel stehen.«
»Wenn er droben nichts nützen kann, warum wollen Sie ihn mir nicht herschicken? Wie ein Sterbender nach dem Priester, so verlange ich nach ihm.«
»Ums Können handelt sich's, nicht ums Wollen. Wenn mich die Flut auf meinem Wege nicht packt und über Bord spült, will ich Ihnen gern zu Gefallen leben, und ihm zurufen. Aber was helfen Worte, wo er ein Seil brauchte, um sich festzuhalten? Die Sturzsee hat die starke Schotte durchgeschlagen. Sie wird jeden von den beiden wie einen Strohhalm wegspülen, wenn sie ohne ein Tau zu haben, den Versuch machen, von der Brücke herunterzuklettern.«
Mit diesen Worten hatte er die Treppe erreicht und war niedersteigend gegen das Hauptdeck zu verschwunden.
110 Die vier Leidensgenossen waren wieder allein mit ihren schweren Gedanken. Das Fräulein suchte nach Worten, die sie dem nachrufen wollte, der eben gegangen war.
Dr. Ebenich suchte nach einer Landpraxis zweitausend Kilometer von der nächsten Meeresküste entfernt.
Dr. Huber suchte hinter seinem Sitzfleisch seinen Hosenträger und Gruber ein Streichholz in seiner Westentasche. Das waren alles Bemühungen, die niemandem schadeten, aber auch niemandem nützten. Im Kopfe des Fräuleins aber waren Gedanken an der Arbeit, die zweien zum Segen werden konnten. Was doch hatte Herr Reichert gesagt? Wenn man ein Seil hätte und wenn es ein Mittel gäbe, es auf die Kommandobrücke zu bringen! Ein Seil? Hatte sie nicht neben sich in der Rumpelkammer eine zusammengerollte Kardele hängen sehen? Und wie diese nach oben bringen?
Dem freilich, der das Astloch im Plafond ihrer Kammer nicht kannte, mußte dies als ein Ding der Unmöglichkeit erscheinen. Sie aber hatte nicht umsonst des Himmels Barmherzigkeit um Hilfe angerufen. Da war sie ihr aus den Wolken gefallen, die Möglichkeit der Rettung für den, der ihr Alles war.
Sie verschwand lautlos von der Seite Ebenichs und tastete sich ins Dunkel ihrer Kammer hinein. Als sie 111 nach einiger Zeit wieder kam, sah sie froh und glücklich aus wie einer, dem eine gute Tat gelungen.
Die Treppe herauf kam jetzt der von Fräulein Österle heiß ersehnte Zweite gestiegen. Er hatte die Kardele in der Hand, an der er sich herabgelassen hatte und seine Augen funkelten voller Dankbarkeit. »Es ist gerade Mitternacht,« sagte er »und wir sind im Zentrum des Taifuns. Daher die Windstille. Wen es interessiert, das vom Seemann so genannte ›Auge Gottes‹ zu sehen, komme ins Freie!«
Das Schiff lag jetzt unheimlich in bewegungsloser Ruhe da, als ob es mit einem langen Nagel an das Zentrum der Erde angehämmert wäre. Der Wind hatte sein Heulen eingestellt, und es war so stille, daß man die trägen Kolbenstöße der Maschine wie den langsamen Herzschlag eines Sterbenden hören konnte.
Nach so gewaltigem Aufruhr aller Elemente plötzlich die Grabesstille, das war etwas, was die letzte Nervenkraft aufzufressen drohte. War die Pantellaria denn vielleicht schon abgesackt und stand mit dem Kiel auf dem Meeresgrunde? Aber dann müßten doch die Wasser über sie hereinbrechen. Hing sie fest an einem Korallenriffe? Aber dann müßte doch der wütende Orkan von vorhin die Wände zerrissen und sie wie Kartenblätter nach allen Richtlinien der Windrose gestreut haben. Nichts von alledem geschah. Aber gerade der Umstand, daß nichts geschah, das war ja das Gräßliche, zumal da ein ununterbrochenes Wetterleuchten mit einem fahlen, gelblich roten Lichte unermüdlich und gespensterhaft durch die Räume geisterte und ein elektrisches Zucken einem unaufhörlich durch die Glieder fuhr.
112 Die drei Schüler des Äskulap traten ins Freie hinaus und konstatierten ausnahmsweise einmal übereinstimmend, daß man zum Himmel aufschauend ganz am Ende eines schwarzen Kamins, wie Diamanten flimmernd, einige Sterne sehen konnte. Während sie sich noch über das Sternenbild stritten, dem die ewig fernen Lichter angehören mochten, waren zwei Menschen hinter ihnen sich über den Weg einig geworden, den sie gehen wollten, wenn ein gütiges Geschick sie noch einmal auf trockene Pfade stellen sollte.
Ebenich allein von den drei Ärzten wußte, was sich abgespielt haben mußte, als er, von draußen zurückkommend, den Zweiten an der Seite des Fräuleins fand, seinen Arm um ihre Hüfte schlingend und seine Lippen auf das wirre Gelock ihres Hauptes pressend. Die Glückliche erntete im Wettersturm den Lohn ihrer Liebesmühe.
Rasch zerfloß übrigens das reizvolle Idyll glücklicher Liebe. Die Pantellaria schien aufs neue verrückt geworden zu sein und fing an zu tanzen. Der Zweite mußte weg in den Maschinenraum. Noch ein einziger zärtlicher Blick dem Fräulein zugewandt, dann war er hinterm Treppengeländer verschwunden.
O, über die Seeleute! Fluchen können sie wie die Türken und sind doch abergläubisch wie ein altes Weib. Auf das »Auge Gottes« hoffen sie, wie auf ein Lotterielos und doch, wie oft werden sie getäuscht. Auch der armen Pantellaria hatte das seltsame Phänomen nichts genützt. Die zweite Hälfte der Nacht wurde schlimmer als die erste war.
»Die Windstille dauert schon zu lange an, als daß 113 sie durch das Sturmzentrum allein verursacht sein könnte. Es ist bereits eine Stunde nach Mitternacht,« bemerkte Dr. Ebenich.
Die andern hörten ihn, und ein Hoffnungsschimmer fiel leuchtend und wärmend in alle Herzen hinein. Ach, wenn dem nur so wäre! Wenn nur jenes grauenvolle Wirbeln und Schwanken nicht wiederkäme! Wenn nur das tausendstimmige Heulen des Sturmes ein für allemal verstummt sein möchte! Man hatte so genug von dieser grausamen Melodie, so übergenug.
Im Rücken der Gesellschaft war derweilen der Schiffszimmermann mit einigen Gehilfen tätig gewesen, um das Loch in der Schottenwand mit schweren Dielen zu dichten. Diese nicht ungefährliche Tätigkeit der stillen, ernsten Männer war ein Beweis dafür, daß das Schiff wieder vom Menschenwillen regiert wurde und nicht etwa bloß vom herzlosen Wirbelsturm. Da plötzlich war das Unerwartete, das Ungerufene wieder da und das Hoffen vom Schrecken verdrängt.
Eine Spritzwelle ging über Deck und jagte die Gesellschaft vom Leck hinweg ins Innere des Raumes zurück. Gleich darauf ein donnerndes Gepolter und ein gellender Aufschrei aus einer Menschenkehle. Wind und Wogen hatten die Reparaturarbeit des Zimmermanns vernichtet. Ein Stück von einer durchschlagenen Bohle war dem Ärmsten wider den Schenkel gefahren. Er taumelte zurück und ließ sich auf eine Bank niederfallen. Seine Gehilfen waren fort. Wer wollte sagen, in welches Versteck sie die Furcht gescheucht hatte? Wußte doch ein jeder, daß der Taifun von jetzt ab wieder das Schiff steuerte, daß der einzelne auf sich selbst gestellt 114 war, daß es Vorgesetzte so wenig gab wie Untergebene, Lenker wie Gelenkte.
Pfui, da war sie wieder die lauwarme Salzbrühe, beleidigte die Zunge und ätzte die Bindehaut des Auges. Ungestüm kam der schaumige Schwall herangewälzt und stürzte sich in Kaskaden die Treppe hinunter nach den Küchenräumen und dem Speisezimmer, da unten einen See bildend, der vernichtend von Wand zu Wand herüber und hinüber brandete. Wehe allen Gegenständen, die von den Wirbeln ergriffen wurden. Ein ewiges Klingeln und Rappeln war der Misereregesang ihrer Vernichtung.
Doch welch fremde Töne mischen sich da mit einem Male in das Scherbengerassel hinein. Klingt es nicht, als ob der Dezember da wäre, und die Schweine in den Bauernhöfen gestochen würden? In der Tat: die nervenzerreißenden Töne kamen aus zwei Schweinekehlen. Unsern fetten Borstenträgern hatte die überholende See das Haus unter der vorderen Back zusammengeschlagen. Sie waren ins Schwimmen gekommen und fanden den Weg durch die eingedrückte Wand des Speisesaales zu uns heran. Es war ja gerade, als ob die geängstigten Kreaturen bei den Menschen Schutz suchen wollten. Als ob sie sich dessen erinnert hätten, daß wir ihnen Futter und ein kühles Bad gereicht hatten. Konnte nicht unser Mitleid ihnen in dieser ungewohnten Drangsal von Vorteil sein? Wenn ihr tierischer Instinkt darauf hoffte, mußten sie enttäuscht sein. Wir waren mehr als ausreichend mit uns selber beschäftigt. Wo ein Haken oder eine Kante war, da hatten sich unsere Hände festgeklammert, daß wir nicht bei den Schwankungen des 115 Schiffes wie ein Perpendikel herüber- und hinüberpendelten. Aber wer gab den armen Vierfüßlern ein Organ, mit dessen Hilfe sie sich irgendwo festhalten konnten? Wohl wurden sie durch ihr Fett von dem Wasser getragen, aber zu ihrem Schrecken mußten sie alle Sprünge des beweglichen Elementes mitmachen. Wie schwimmender Kork wurden sie von Wand zu Wand geschleudert, stiegen und sanken mit steigender und fallender Flut. Hätte ihr Angstgeschrei nicht das Ohr zersägt, man hätte hören müssen, wie ihnen die Rippen gebrochen wurden. Ach und dieses Stöhnen und dieses beleidigte Knurren, wenn sie für einen Augenblick am Boden still gelegen hatten und nun, sehr gegen ihren Willen, von der Flut heraufgehoben wurden und zwischen unsere Beine. Nein, es war nicht mehr zum Anhören, dieses Klagen und dieses Aufschreien der mißhandelten Kreatur. Einen Revolver her, damit des schweren Sterbens ein Ende sei. Aber wo war die Waffe aufzutreiben, und wer sollte sie gebrauchen? Wer konnte einen Finger seiner Hände entbehren, um den Drücker der Schußwaffe in Aktion zu setzen? Nein, wir waren über keine Bewegung mehr Herr. Wie Schwämme waren wir festgewachsen. Nicht einmal die Ohren konnten wir uns zuhalten. Wir mußten hören, wie das Geschrei der Tiere schwächer und schwächer wurde, wie es zu einem Röcheln abflaute und schließlich ganz verstummte.
Da waren nun zwei Lebewesen ihre Marter los. Was alles sich noch ereignen mochte in der unheilschwangeren Nacht, ging sie nichts mehr an. Sie hatten mit den Leuten der Pantellaria sich gefreut und sich geängstigt. Nun hatten sie diesen voraus einen Gang 116 gemacht, der keinem erspart bleibt, der das Leben kostet, aber die Ruhe bringt. Ach, die Ruhe, die köstliche Ruhe nach solch einem Übermaß von unfreiwilliger Bewegung.
Zwei Menschen und zwei Schwaben standen und guckten wie in eine Gruft ins schwarze Dunkel hinunter, das die Schweine verschlungen hatte. Da löste sich dort unten im Trüben etwas los, nahm Formen an und Gestalt, kam die Treppe heraufgestiegen. Aus einem triefenden Ölmantel guckte der nasse Kopf des Dritten. Die feuchten Haare standen ihm wie Gerstenstoppeln von der Haut ab, und aus ihnen heraus liefen kleine Bäche in die tiefliegenden Augenhöhlen, deren Hintergrund von einem unsicheren, wahnsinndrohenden Leuchten erfüllt war. War der Mann verrückt geworden, war er betrunken? Das letztere wurde dadurch wahrscheinlich gemacht, daß seine Rechte eine Schnapsflasche hoch in die Luft streckte, während seine heisere Stimme kreischte:
»Auf, Brüder, trinkt und knausert nicht! Was wir nicht trinken, trinkt das Meer als unsern Leichenschmaus. Leichter verliert das Leben, wer vorher den Verstand verloren hat. Vater und Mutter hat mir die See verschlungen, sie mag auch meinen Kadaver haben, ich bin's zufrieden.«
»Jeder hält's nach seinem Geschmack,« sagte Herr Gruber, indem er die nasse Zigarre aus dem Munde nahm, »aber meine Eltern sind in einer Ölmühle gestorben. Ich denk' halt, ich wart' mit dem Sterben, bis wir an eine Ölmühle kommen.«
»Un ich schieb's auf bis zu einem Kreuzweg. An sellenem ist mein Vater zugrund gegangen. Aber 117 trinken könne mer derentwegen doch,« ergänzte Herr Huber.
Er nahm die Flasche und setzte sie an den Mund.
Dann reichte er sie nach dem Fräulein hinüber. Diese lehnte mit lächelndem Munde ab. Merkwürdig, wie ruhig das Mädchen geworden war! Seitdem sie sich mit dem Zweiten ausgesprochen hatte, schien sie mit sich und der Welt ins klare gekommen zu sein. Eine schier freudige Ergebung herrschte da, wo vordem eine wahnsinnige Angst regiert hatte.
Indessen hatte Ebenich sowohl wie der andere Schwabe sich an der Flasche gestärkt und konnte nun mit anhören, was der Dritte noch an schlimmen Nachrichten auszukramen hatte.
»Hatten die Herren, vor einer Viertelstunde etwa, nicht den fürchterlichen Schlag gehört, der das Schiff in allen seinen Nähten und Nieten zu zerreißen schien? Sehen Sie, da hatte der Wind das Kartenhäuschen oben mitgenommen, nachdem der Alte gerade eben erst sich an einem Tau herabgelassen hatte. Wie er nur zu dem Tau gekommen sein mag? Auch der Zweite muß sich an ihm gerettet haben. Herrgott, ohne dies Gebilde von Werg und Hanf stände in diesem Augenblick die Pantellaria unter meinem Oberbefehl. Und noch eins, meine Herrn, das Dynamit, das Dynamit, es rückt gegen den Maschinenraum vor. Wenn nur das Dynamit uns keinen Streich spielt. ›Ach du lieber Augustin,‹« fing er an zu singen und stapfte mit gespreizten Seemannsbeinen zum Raume hinaus.
»En verfluchter Chaib,« sagte der Bierschwabe, als er fort war, »was hett er nit alles für Todesarten am 118 Leib. Ersäuft, in die Luft gesprengt, erschlagen? Ennewege hätt' er uns noch verbrannt wie die Konstanzer den Huß, wenn er noch e Weilchen dageblieben wär'.«
Zu den neunundneunzig vorhandenen Schrecken kam der hundertste hinzu. Ohne Krachen, ohne Splittern war er gekommen, und doch war er so schrecklich, wie nur immer einer seiner Vorgänger sein konnte. Das elektrische Licht war erloschen. Vier Menschen saßen im Dunkeln. O, wie nun die Blitze mit schwefelgelben Lichtern an den Wänden hinfingerten. Wie sie feurige Speere in den dunkeln Raum warfen und schreckentstellte Gesichter beleuchteten, dreimal, fünf-, zwanzigmal in der Sekunde. Wie eigenartig, Ebenich konnte nicht anders. So oft die Helle aufzuckte, mußte er dem Tabakschwaben ins Gesicht sehen, um sich zu überzeugen, ob die Zigarre noch zwischen seinen Lippen steckte. Als eben wieder der Donner niederkrachte und hinter ihm her der Blitz leuchtete, war sie verschwunden, aber doch nur, weil dem Manne ein Gedanke durchs Gehirn gefahren war, dem er Ausdruck verleihen mußte.
»Huber!« stammelte er diesmal doch etwas erschrocken. »Jetzt, wenn's unten ins Dynamit eingeschlagen hat, haben wir unsere Impfgebühr umsonst bezahlt. An den Blattern sterben wir nicht mehr. Paß auf, im Nu wird der Äppelkahn wie feuchter Zwieback auseinanderfallen.«
In diesem Augenblick hob sich das Vorderschiff, als ob es mit dem Klüverbaum ein Loch in den Himmel stechen wolle. Keine halbe Minute war vergangen, und das Hinterschiff stieg; die Pantellaria stand wie eine im Bachsand suchende Ente auf dem Kopf. Alles im 119 Schiffe war durcheinandergeschüttelt. Auch unsere vier Leute wälzten sich zwischen ihren Stühlen am Boden hin.
»Nun wären wir so weit wie der Kapitän Grauscholle,« bemerkte Huber und erhob sich aus den Knieen in die Senkrechte. Auch Gruber und Fräulein Österle suchten hochzukommen, während nun die Pantellaria wie eine vom Löwen gehetzte Gazelle in der Horizontalen vorm Winde dahinschoß.
Einer aber, der aus eigener Kraft nicht mehr auf die Beine kommen konnte, war Dr. Ebenich. Er lag in der schwabbelnden Tunke. Das Kreuz war ihm wie gebrochen. Die Beine gehorchten seinem Willen nicht mehr, und nur ein kribbelndes Ameisenlaufen in den Waden bezeugte, daß sie noch in einem losen Zusammenhang mit dem Zentralnervensystem standen. Sechs Arme zu gleicher Zeit packten nun zu und schleppten den Hilflosen in eine benachbarte Kammer. War auch das Seegras des Bettkastens wie eine Pferdestreu durchnäßt, und roch es auch nicht viel angenehmer, es gab keine Wahl, da hinein mußte der Doktor. Er war dann doch einen ganzen Meter überm Fußboden und brauchte nicht jeden Wassertropfen zu schlucken, den die allzu mitteilsame See durch das Leck ins Schiff spuckte.
Der Verunglückte selber kam sich wie lebendig begraben vor. Sobald er nur die Hand erhob, stieß er an seinen Sargdeckel. Vor seinem Auge lag, zum Schneiden dick, die rabenschwarze Finsternis. Nur sein Ohr hörte ab und zu einen Laut, der von den drei Menschen kam, die sein trauriges Lager umstanden. Ach, wenn doch auch das Gehör noch schlafen wollte, dann wäre es aus mit allem. Aus mit der Furcht, aus mit dem 120 Schmerz. Beides weit hinter ihm, und vor ihm das Nirwana. Und zu diesem Zustand konnte ihm eine kleine Dosis Morphium verhelfen! Immer wieder kam der Gedanke, und er war durch keine Gegenvorstellung mehr wegzuscheuchen.
»Huber, Herr Huber,« flüsterte Ebenich endlich leise, »könnten Sie mir einen Gefallen tun und nach der Apotheke gehen?«
»Erstens unmöglich, da alle Laufgänge mit den verteufelten Dynamitkisten versperrt sind, und zweitens unnötig, da ich soviel, als wir beide brauchen, seit Jahren in der Westentasche trage.«
Wie merkwürdig von diesem Huber, daß er so die Gedanken erraten konnte, und um wie vieles merkwürdiger, daß er, der im Ballsaal des Lebens zu tanzen schien, die Türklinke nicht aus der Hand ließ, um ihn verlassen zu können, sobald es ihm beliebte. Ja, dieser Huber! Er war mal einer, wie er sein sollte. Ebenich verliebte sich förmlich in sein Bild, und er tastete nach ihm, um ihm die Hand zu drücken. Da er diese nicht fand, schlug er die Augen auf und war zu Freudentränen gerührt von dem, was er sah.
Der Tag war da. Plötzlich, wie er dies in den Tropen zu machen pflegt, war er gekommen. Ebenich hätte sich wälzen mögen vor Lust, wie es die Bergwerkspferde machen, wenn sie der Förderkorb aus ewiger Nacht herausgehoben hat ans Sonnenlicht. Glückstrahlend sah er auf die Umstehenden, glückstrahlend sahen diese auf ihn. Da waren sie wieder, die alten lieben Gesichter, nichts fehlte, nicht einmal der nasse Zigarrenstummel unter der Nase des Herrn Tabakschwaben. Trotz 121 seines Elendes mußte der Doktor lachen und wohl auch darüber, daß Fräulein Österle neben dem Schwaben stand, wie Gott die Eva ins Paradies gestellt hat. Bei des Arztes Lächeln erwachte etwas wieder, was über Nacht in dem Mädchen geschlafen hatte, das Gefühl dafür, daß sie unbekleidet war. Verwirrt war sie von ihrer eigenen Erscheinung und verlegen, was sie zunächst tun solle, strich sie sich die Fülle blonder Haare aus dem Gesicht, indem sie bange aus der Tiefe ihrer erschrockenen Seele aufseufzte: »Ach Gott, wie seh' ich aus.«
»Da, da müsse Sie sich nichts draus mache. Dem Teufel ist es einerlei, wie Sie aussehen. Sell ist die Hauptsach', daß Sie da sind, wenn Ihne Ihr werter Name aufgerufen wird,« bemerkte Gruber.
Jetzt zum ersten Male nach verzweifelt langen Stunden qualvoller Bangigkeit befreite ein Lachen die Brust der drei Männer und sogar ein vierter stimmte mit ein, der gekommen war, derweilen das Fräulein ging, um wie Eva nach Feigenblättchen zu suchen. Dieser vierte war in seiner ganzen robusten Derbheit der schwäbische Hiesel. Er war's und war doch ein anderer. Sein Haupt- und Barthaar war grau geworden. Vom inneren Augenwinkel bis zum Lippensaum stand eine fingerdicke derbe Falte. Um zehn Jahre hatte eine einzige Nacht die Zahl seiner Tage vermehrt, und immer noch war nicht alle Sorge um das Schiff und seinen Inhalt von ihm genommen.
»Respekt vor der Pantellaria und den Nägeln, mir denen sie zusammengekloppt ist,« bemerkte Gruber, um irgend etwas zu sagen.
122 »Noch ist sie nicht im Hafen,« gab der Kapitän zurück. »Wir haben nur neun Meter Wasser unter uns und noch weiß ich nicht, wo wir sind. Erst muß die Sonne überm Horizont sein, bevor wir anfangen können zu rechnen.« Mit diesen Worten ging er.
Keine fünf Minuten, und der Zweite stand an seiner Stelle. Freudestrahlend teilte er mit: »Einhundertfünfzig sind gelotet, schon steuern wir ab von der Amphitriteklippe ins tiefe Wasser; gleich wird Herr Langschwager seine Maschine wieder in Betrieb setzen. Ich will nur sofort den Chinesenkäfig aufschlagen lassen, damit die gelben Kanarienvögel dahinten nicht in ihrem eigenen Dunst ersticken. Kommen Sie mit,« sagte er noch im Abgehen zu den beiden Schwaben, »da können Sie ein Gedränge zu Gesicht bekommen, wie Sie's auf dem Kirmesmarkt zu Böblingen Ihr Lebtag lang noch nicht gesehen haben.«
Es gingen die dreie, und als Herr Huber wiederkam, sagte er: »Bi Gott, e größer Gekrabbel kann einer a nit sehe, der in eine Zigarrenschachtel voll Maikäfer guckt. Wie die aber auch über die Luke rausgewalzt sind und aufs Verdeck. Ja, und nu erst, wie's da ausschaut. Von den Galgen nieder hängt von jedem unserer Rettungsboote etwa noch gerade so viel, daß man einen rechtschaffenen Besenstiel daraus machen könnt', und aus dem Fockmast e Pfeifenröhrle. Alle Dunner und des Bramsegel! Lauter kleine Lappen, wie Fußlappen, die ein Handwerksbursch am Chausseegraben liegen läßt. Ja und voller Scherben liegt's überall. Ich glaub', dem Fräulein Österle seine ganze Porzellanausstattung hat der Teufel verpulvert. Ich hoff', 123 s'Madel wird sich über den Verlust trösten. Ist sie nicht jetzt eine Seltenheit geworden, wie man sie in Jahrmarktsbuden zeigt? Im Zentrum eines Taifuns gesteckt und ganz wieder herausgekommen! Ein jeder muß zugeben, Kollege, daß wir alle um hundert Prozent im Werte gestiegen sind, wie der Schinken zur Zeit der Schweinepest.«
Nach dieser Rede ging er angeblich, um Kaffee zu holen. Er brachte aber keinen. Der Koch hat ihm einen Vortrag gehalten: Jede Revolution zieht eine Umwertung aller Werte nach sich. Nach dem »großen Wind« werde eine große Stille kommen. Der Durst werde brennend werden und ein guter Tropfen rar, nachdem die Eiskiste in Trümmer ging. Konservenbüchsen würden in den nächsten Tagen zu Kaffeetassen avancieren und alte Dauerwurst, die vordem auf erstklassigen Schnellschiffen die Reise um die Welt gemacht und ihr feudales Ansehen eingebüßt hätten, zu Delikatessen auf der Pantellaria. Eine halbe Karwoche hätten wir im Oktober zu genießen. Er rechne nämlich, daß wir in unserm Kurs zum mindesten um drei Tage zurückgeschlagen seien und daß unser Mundvorrat zum größten Teil mit Teer und Petroleum übergossen und gewürzt sein werde.
»Laßt uns die Schnall' an dem Hosenbund getrost etwas enger ziehen,« sagte Gruber mit pastoraler Betonung. »Vom Laster der Völlerei werden wir bis zur Ankunft in Hongkong kuriert sein.«
Was Wunder, daß Ebenich ohne Frühstück blieb und als Mittagessen sich mit einigen Orangen begnügen mußte. Der Hunger quälte ihn übrigens nicht sonderlich. Er war schon mehr als satt, und zufrieden, 124 als man ihm aus dem Verwesungsgeruch des fauligen Seegrases heraushalf und ihn auf Deck in einen Liegestuhl bettete. Da konnte er sich nun doch ein wenig umsehen. Platzregen und Wolkenbruch, wie sah das Schiff aus! Zersplitterte Hölzer, Fetzen von Segeltuch, eiserne Träger und Faßreifen, ausgelaufene Teerfässer und zerschmetterte Kisten lagen in chaotischem Durcheinander umher. Von den Davits hingen zerrissene Flaschenzüge hernieder, und die letzten Bretterreste der zerschellten Rettungsboote geißelten wie Rutenbündel die Schiffswand. Treppen, die nach der Kommandobrücke hinausführen sollten, hatten keine Stufen mehr, und die Geländer hingen wie zerrissene Blitzableiter spiralisch in die Luft hinaus. Daß sich's niemand in den Sinn kommen lasse, der Brustwehr zu trauen! Ihre eisernen Streben sind wie Streichhölzer durchbrochen. Die Querstangen allein täuschen noch eine gewisse Sicherheit vor. Wehe dem, der dem Scheine trauen und sich auf sie lehnen wollte! Er fiele in die Tiefe und wäre eine Beute des Hammerhais, der in diesen Gewässern seinen nimmersatten Magen zu füllen sucht.
Alles, was Hände hat, ist übrigens am Ausbessern der Schäden. Hier hämmert und feilt der Schmied, dort sägt und bohrt der Zimmermann. Wer keinerlei berufliche Fertigkeiten zum Wiederaufbau hat, gebraucht die Kräfte seiner Arme, um Zertrümmertes aus dem Wege zu räumen. Kisten fliegen im Bogen über Bord. Ausgelaufene Fässer rollen über Deck und schlagen klatschend auf dem Wasserspiegel auf. Nachschleppende Seile werden gekappt und sinken lautlos in die Tiefe hinunter. Auch unsere Spielkameraden, die beiden 125 Schweine, müssen ins nasse Grab. Sie sehen aus, als ob sie sich in dem Kessel eines Blaufärbers gesielt hätten. An jeder Stelle ihres Körpers ist das geronnene Blut mit blauschwarzen Tinten unter ihre Haut getreten. Sie sind unappetitlich geworden, selbst für die Kulimägen unserer Chinesen. Sie müssen in die See. Ein Mann an den Vorderbeinen, einer an den vielgeliebten Hinterschinken, ein kurzes Kommandowort, ein Schwung und sie sind so gründlich geborgen, daß selbst die allsehende Sonne sie nicht mehr aufzufinden vermag.
Zwei Tage schon sind schwielige Hände mit dem Aufräumen beschäftigt, und das Deck gleicht annähernd einer oberbayrischen Gaststube nach einem Jahrmarktsgerauf.
Dr. Ebenich sah zur Unterhaltung den geschäftigen Matrosen zu und blickte dann wieder in das Meer hinaus, das unter den Nachwirkungen des Taifuns ein verändertes Aussehen gewonnen hatte. Die sanften, langgestreckten Linien der Wellenbildungen waren verschwunden. Wie zerhackt sah der Wasserspiegel aus. Graue, schaumbedeckte Vierecke hoben sich wie Treibeis im Fluß und verschwanden wieder. Das Schiff schien nicht auf dem Wasser zu schwimmen, sondern über einem wildzerrissenen Gletscherfeld zu schweben. Freilich die Illusion des ruhigen Schwebens war nicht aufrechtzuerhalten, denn alle Augenblicke wurden die Schiffswände von kurzen Stößen erschüttert, die Holz und Eisen erbeben ließen, zitternd an den Stuhlbeinen heraufkrochen und in den Nervensträngen sich zu zerrenden Schmerzen steigerten.
Doktor Ebenich mit seiner Rückenmarkserschütterung vermochte dieser infamen Tortur nicht länger standzuhalten. Er richtete sich mühsam auf und schleppte 126 sich mit gekrümmtem Rücken seinem nassen Bett entgegen. Schwer wurde es ihm, sich hineinzulegen. Eine dicke Dunstwolke hatte sich unter dem Einfluß der Tropensonne aus dem Holzgestell losgerungen und füllte den ganzen Kabinenraum mit einem muffigen Strohgeruch, der zum Erbrechen reizte. Ja, wenn der Magen reich genug gewesen wäre, um etwas hergeben zu können, hätte Ebenich sich vielleicht erleichtern können. So aber wo ein erfolgloses Würgen nutzlos quälte, fühlte sich der Doktor zum Sterben krank. Zu seinem Glück kam eben Frau Hölderlin angetänzelt mit heißem Wasser und einer Kognakflasche auf einer Zinnplatte. »Daß Sie mir ja nicht sterben, Doktor, bevor Sie die Hochzeit unseres Pärchens mitgemacht haben. Was sagen Sie dazu? Der Zweite, der schwäbische Duckmäuser, und Fräulein Österle wollen ein frommes Paar werden. Sobald ihnen ein Pastor über den Weg läuft, soll ich um eine leidlich gute Partie betrogen werden. Was denken Sie dazu?«
»Ich denke, Sie sollten erst mit Ihrem Kognak meinen Gedanken in die Strümpfe helfen, bevor Sie verlangen, daß sie nach Ihren Wünschen laufen lernen. Im übrigen kann auch der noch satt werden, der ißt, was von der Mahlzeit abgefallen ist.«
»Ganz meine Ansicht,« lachte Frau Hölderlin auf. »Sie denken, ich sollte nach Schanghai weiterreisen und mir den Felljuden einmal ansehen, Doktor? Hier ein Punsch zu Ihrer Verfügung, möge er Ihrem Magen so heilsam sein, wie Ihr Rat meinen Liebesschmerzen.«
Sie schenkte ein, trällerte ein Liedchen vor sich hin und verließ die Kabine.
127 Die Maschine der Pantellaria, von Herrn Langschwager gehütet und gepflegt, machte derweilen ihre regelmäßige Tourenzahl wieder, und die Lotleine maß wieder in der Stunde ihre zwölf Seemeilen herunter.
»Sobald morgen der Tag graut, werden wir Land sehen,« verkündete der Kapitän, und er hätte seinen Passagieren keine frohere Botschaft verkündigen können. Alle gaben sie die Schiffskost billig und die Sehnsucht nach einem kühlen Trunk fraß sich in die Seelen ein wie der Sauerwurm in die Traube.
Wunderbar angenehm stehlen Schlummernächte uns die Zeit. Um sechs Uhr abends war Dr. Ebenich eingeschlafen. Um sechs Uhr des Morgens war er aufgewacht. Zwölf Stunden seines Lebens waren fort, aber er hatte keinen Grund, dem Verluste nachzutrauern. Sonnenschein füllte das Bullenauge seiner Kabine und in diesem Sonnenschein badeten sich draußen nickende Palmen, die über grünen Felsabstürzen hingen und die Schwerter der Bambusstauden wuchsen aus der weißen Brandung heraus, die das Gestade allerliebster kleiner Eilande umspülte.
Nein, da gab es nun keine Ruhe mehr im Bett. Mochten des Doktors Beine noch so ungelenk und steif sich gebärden, er brachte sie in die Hosenröhren hinein und kam, auf seinen Stock sich stützend, aufs Promenadendeck. Himmel, welche Pracht! Das »Tal der reichen Wasser« war erreicht. Inseln und Eilande rechts und links von der Fahrrichtung und im Vorblick eine schroffe Barrikade phantastisch zersägter Bergeshäupter. Noch überkleidete ein feiner Dunstschleier das Landschaftsbild mit einem ahnungsvollen Dunkel. Bald aber wurde 128 es hell und Inseln und Festland gaben dem erstaunten Auge all ihre Reize rückhaltlos preis. Vielstöckige Pagoden mit geschweiften Dächern lachten über die breiten Kronen uralter Bäume herüber und mächtige Tempelfronten mit offenen Hallen lehnten sich gegen die grüne Wand moosüberkleideter Halden, auf denen weißgefleckte Ziegen ihr Futter suchten. Hier und da auf den Eilanden verstreut die breit ausladenden Dächer chinesischer Paläste, deren terrassierte Gärten bis in den Schaum der Meeresbrandung niederstiegen. Die sonnendurchflimmerte Wasserfläche selber belebt von Tausenden von kleinen Wohnschiffen, Sampans genannt. Hier sieht man den Rauch des Frühstücksfeuers sich durch das mattengedeckte Kajütendach hindurchwinden, dort sieht man, wie eine halbnackte Gestalt sich abmüht, das Fischgarn ins Wasser zu bringen. Hunde bellen aus kleinen 129 Schuten zu uns herüber und seltsame Laute aus Kinderkehlen erfüllen unser Ohr. Alles sieht so harmlos, so friedfertig aus. Und doch sind die Sampanbewohner und ihre Brut, die ein bißchen Küstenhandel, ein bißchen Schirmflickerei, ein bißchen Dieberei betreiben, im Nebenamt die gefährlichsten Seeräuber. Zu hundertkieligen Flotten vereinigt, wagen sie zuweilen auch jetzt noch den Angriff auf einen europäischen Kauffarteifahrer. Wehe, wenn erst ihre Bambusenterhaken einen festen Griff auf dem Deck des angegriffenen Schiffes gefunden haben. Im Nu hängen Dutzende von halbnackten Leibern an dem glatten Rohre und wie die Affen klettern sie einer dicht hinter dem andern in die Höhe. Ehe ein Mensch sich dessen noch versehen kann, wimmelt das Deck von Lebewesen, als ob eine Heuschreckenwolke aus den Lüften niedergefallen wäre. Zwanzig, denen das Sterben eine der gleichgültigsten Sachen ist, gegen einen einzigen, der sein Dasein schätzt. Der Ausgang des Kampfes wird nicht lange zweifelhaft sein.
Ebenich schüttelte sich ein wenig beim Gedanken an einen solchen Überfall. Nein, er wollte einer derartigen Balgerei nicht beiwohnen. Vom Victoria Peak herunter gucken europäische Kanonen über die ganze Mündung des Perlflusses hinweg. Ein kurzer Befehl, ein Zeichen nur würde genügen und der Peak würde zum Granaten speienden Ungeheuer, das unter einem Eisenhagel alles begräbt, was sich aufzulehnen wagt. Wer nach Happy Valley will, braucht heutzutage keine ängstlichen Seitenblicke nach den Buchten zu werfen, die da und dort mit Schiffen der Wasserzigeuner gefüllt ins chinesische Festland hineinstechen. Nein, diese Bambusenterhaken, 130 die aus den Sampans guckten, sollten nur ihren auf der Pantellaria befindlichen Landsleuten zur Flucht von Bord verhelfen. Und vor wem flohen sie eigentlich, die armen, harmlosen Kulis? Nur vor den Hafenärzten. Obwohl diese gestrengen Herrn damals noch nicht, wie zwei Jahre später, mit Sporen und Schleppsäbeln einherschritten, aber wegen ihrer bebrillten Augen mit Mars dem Kriegsgott eine nur sehr entfernte Ähnlichkeit erreichten, so waren sie diesem doch an giftiger Gefährlichkeit überlegen. Sie hatten mit den Staatsanwälten die viel mißbrauchte Allmacht gepachtet, einen jeden für »verdächtig« erklären und nach der Quarantänestation abschicken zu können. Wer da einmal saß, kam vor drei bis vier Wochen nicht mehr unter die Menschen, ob er eine Seuche hatte oder nicht. Kein Wunder also, daß die armen Teufel sich dünne machten. Sie taten's sogar mit Lebensgefahr, denn viele benutzten die Bambusstangen nicht, sondern sprangen direkt ins Wasser, um den verrufenen Sanitätspfaffen zu entgehen und ans Land zu schwimmen.
Während die gelben Passagiere das Schiff flohen, hätte Ebenich ewig auf ihm bleiben mögen. Viktoria, die Stadt auf der Insel, hatte ihn bestochen, wie der Dieb den Hofhund besticht mit der Wurst. Wie eine königliche Damengarderobe hängt das Häusermeer mit grünen Terrassen, mächtigen Kuppeln, Palästen, Domen sogar vom Peak herunter, bis der Spitzensaum der Unterröcke sich in dem Wasser der Meerenge spiegelt. Das ganze Bild ist umfaßt von dem grünen Rahmen eines wuchernden Tropenwaldes. Was aber an dieser aufblühenden, modernen Stadt erinnerte noch an China? Nichts, fast 131 nichts anderes, als hier und da der bleierne Drachenschwanz eines Fabeltieres, das sich mit gähnendem Blechrachen auf einer Dachkante hinrekelt. Der gänzlich unerwartete Anblick wirkte wie Morphium auf Doktor Ebenich. Er fühlte keine Schmerzen mehr, nicht einmal Durst nach all dem Sonnenbrand. Er hätte nur still liegen und träumen mögen im Angesicht all der Herrlichkeit. Doch mit der Stille und dem Träumen war es nun vorbei. Wie eine wimmelnde Delphinenschar hatten sich Hunderte von Sampans dicht an die Eisenwände der Pantellaria herangemacht und steuerten im Kielwasser des Schiffes den Werftanlagen von Kaulun entgegen. Was suchten, was wollten sie nur, diese winzigen Schifflein? Planten ihre Insassen trotz der vom Peak niederdrohenden Kanonen einen Angriff auf den Kauffarteifahrer? Fast schien es so, denn schon hatten ihre langen Enterhaken sich im Gestänge der Reling festgebissen, niemand aber kam herauf geklettert, um zu rauben etwa oder zu morden. Wohl aber kletterte hinab und floh vor der Hafenbehörde, was Beine und Arme hatte.
Kurzum, bevor noch das Schiff in die Hafenanlagen von Kaulun hineinlief, war es von der gelben Menschenrasse gesäubert und nur durchgetretene Strohsandalen und zerrissene Basthüte bezeugten, daß diese Sorte einmal da war.
Die Pantellaria hatte sich unterdessen mit der Steuerbordseite an die Zyklopenmauer des Piers herangedrückt. Die Trossen waren ans Land gezogen und die Laufplanken nach dem Hauptdeck hinaufgeschoben. Über sie hinweg flutete unablässig ein Menschenstrom schiffein und schiffaus.
132 Doktor Ebenich wünschte nichts sehnlicher als einen Gang vom Schiffe herunter und in die Stadt hinein. Die Vorstellung, daß es da im Häusergewirre von Kaulun verborgen eine Kneipe geben müsse, in der man den brennenden Durst mit dem schäumenden Naß des Gerstensaftes stillen könne, beherrschte alle Hoffnungen und Erwartungen, die ihm die Zukunft allenfalls noch vorgaukeln konnte. Wenn doch nur die Kollegen kommen und ihm in seiner armseligen Körperverfassung über die Planke hinüber und ans Land helfen wollten. Wo trieben sie sich nur herum? An welcher Stelle des überheißen Deckes waren sie im geschmolzenen Teer wie die Fliegen im Honig hängen geblieben?
Als er eben noch über diese Fragen nachgrübelte, trug ein krausköpfiger Negerknabe einen mit weißer Serviette überdeckten Korb aufs Schiff. Der Dickschädel blieb einen Augenblick unschlüssig stehen und sah sich mit fragenden Blicken um, wie einer, der an einem Kreuzweg sich zu orientieren sucht. Plötzlich ein schriller Pfiff. Das Schokolademännchen hob den Blick nach der Brücke hinauf, nickte mit dem Kopf zum Zeichen, daß er den Pfiff verstanden habe, stellte seinen Korb vor die Füße des Doktor Ebenich hin und verschwand lautlos. Der letztere riß die Serviette an sich und nun erblickte er – dem Himmel sei's gedankt! – gerade das, wonach seine durstige Seele mit all ihren Leibeskräften sich inbrünstig sehnte: ein halbes Dutzend Bierflaschen zwischen Eistafeln von der Dicke eines Backsteinkäses wohlverstaut. Der Doktor griff zu wie die Juden nach dem Manna, wie die Räuber nach der Gurgel. Er hob eine Flasche aus dem Korbe heraus, um ihr den Hals zu brechen. 133 Da wurde ihm ein Pfropfenzieher vor die Nase gehalten. Der Durstige erhob die Augen und erkannte zu seiner Freude die zwei Schwaben.
»Seid Ihr's, denen ich diesen Labetrunk zu verdanken habe?« fragte Dr. Ebenich.
Die beiden lachten und Huber beantwortete die Frage mit Ja, indem er erklärend hinzusetzte: »Wir sahen die ›Raja‹ vom Norddeutschen Lloyd hier am Kai liegen. Ein Zettel, an den Proviantmeister des Schiffes geschickt, genügte, um für uns die Bierkisten zu öffnen. Laßt uns nun anstoßen und dem großen Winde ein Pereat bringen. Der Himmel wolle einen jeden von uns davor bewahren, daß er nicht die Bekanntschaft dieses Unholdes zum zweiten Male machen muß.«
Nach dieser Rede stießen die drei Männer, des neu geschenkten Lebens sich erfreuend, miteinander an und tranken das Pilsener Bier hinunter wie der Wüstensand den Fluß trinkt. »Und wie sie so saßen und tranken, die drei,« da rannte zwar nicht der weiße Hirsch vorbei, aber ein anderes Getier kam, das nicht weniger imponierend aussah als dieser. In frischgebügeltem Sommerkleidchen, den Strohhut mit den wallenden Straußenfedern auf dem Kopfe, stand Fräulein Österle da und hatte den runden Vorderarm in den Ellenbogen des strahlenden Herrn Seelengut geschlungen. Die Sonne stand hinter dem Paar und ließ auf den pfirsichfarbenen Wangen des Mädchens eine leichte Behaarung hervortreten, die alle, besonders aber den Bierschwaben mit stillem Entzücken erfüllte.
»Ich komme, um Abschied zu nehmen,« sagte das Fräulein im Tone verlegener Bescheidenheit, »und 134 möchte den Herren danken für alle Güte, die sie mir in guten und bösen Stunden erwiesen haben.«
»Die guten Stunden fangen eben erst an,« entgegnete der Tabakschwabe »und jetzt gerade sollten Sie bei uns bleiben.«
»Sie muß jetzt einem andern folgen,« fiel Herr Seelengut dem Redner ins Wort und zog mit dem Ausdruck verliebter Zärtlichkeit im Gesicht seine Braut an sich heran, um sie nun in aller Form den Herren als solche vorzustellen.
Als dies geschehen war, verließ das Paar mit tänzelnden Schritten das Verdeck.
»Gruber,« sagte Herr Huber, »wenn einer von uns zwei nicht das Leberle auf der Sonnenseit' hätte und Theologe geworden wär', dann hätt' sell Mädel auch e schöne Pfarrfrau werden können.«
»Ja, aber erst, wenn sie dumm genug gewesen wär', um einen von uns zweien zu nehmen.«
135 Das Eintreten des Kapitäns unterbrach den Dialog der beiden Schwaben. Der biedere Alte hatte einen bajuvarischen Durst mitgebracht. Fast war es nötig, zwischen der Raja und der Pantellaria eine Drahtseilbahn für Beförderung des Bierkorbes herzustellen. Die »Wach- und Schließgesellschaft« ließ trotz der Konkurrenz der beiden Firmen die Leute von der Hapaglinie nicht verdursten. Ein Glück wars zu nennen, daß chinesische Handwerker an Bord kamen und mit Hämmern und Feilen, Klopfen und Sägen den Taifungenossen den Aufenthalt verleideten. Man beschloß, mit der Barkasse über den Meeresarm hinüberzufahren und das Gelage zu Hongkong bei dem Bierzapf Weißmann fortzusetzen.
Schon war die Sonne hinter das chinesische Randgebirge hinabgesunken und die ersten Sterne erschienen auf dem blauschwarzen Grund des Himmelsgewölbes, als das flinke Boot seine schneeweiße Schaumfurche in die dunkelgrüne Meerflut pflügte. An der Kaimauer von Hongkong blitzten nach und nach die Gaslaternen auf und warfen leuchtend zitternde Lichtkegel der Barkasse entgegen. Die Häuser des Strandes ertranken in dem Halbdunkel einer flimmernden Dunstschicht.
Aber über diesem schwarzen Bande leuchteten noch von den letzten Sonnenstrahlen erhellt mit breiten Fassaden vornehme Paläste auf und die Fialen gotischer Kirchen hoben ihre zuckrigen Heiligenfiguren in den Himmel hinein.
Als das Schifflein am Pier festgemacht und seine vier Insassen ans Land abgeliefert hatte, bemerkten diese auch, daß Menschen da herumwimmelten. Zuweilen richtige Menschen mit einem Rumpf und einem Kopf 136 auf zwei Beinen, öfter aber Wesen, wie die Haselnüsse, zwei und drei Köpfe auf einem Stengel. Wer hat je eine Chinesin gesehen, der nicht ein oder das andere Kind aus einem Halstuch heraus über die Schulter guckte, und wo im weiten Reiche gäbe es ein Weib, das nicht zur Nachzucht seine Verwendung fände?
»Achtung!« rief der schwäbische Hiesel. »Die Augen aufgemacht, daß mir keiner in einem Kindbett stecken bleibt. Laßt uns einen ›Chair‹ nehmen, um zu Weißmann hinzukommen.«
Das Wort »Chair« war kaum gesprochen, so standen mit zehn Tragstühlen vierzig Kulis um die Reisenden herum. Wer nicht aufpaßte, konnte, ohne daß er wußte, wie es zuging, unter jedem seiner Füße eine andere Sänfte haben. Doch die Einschiffung des Quartetts war gelungen und lautlos ging es auf den Schultern der Träger fort unter Lauben her. Nur die Reibung des Tragkorbes an den langen Tragstangen verursachte eine sanfte Quietschmusik, die wie ein monotones Schlummerlied wirkte.
Man war bei Weißmann angekommen. Um einen Stammtisch herum saßen zehn bis zwölf Gäste, deren Nasen mit Nachdruck dagegen protestierten, daß man ihre Inhaber als Mitglieder der Guttempler ansprechen könne. Sie waren in lebhafter Unterhaltung und ihre Dialekte belehrten den Menschenkenner, daß er hier die Vertreter sämtlicher germanischen Völkerstämme zwischen Rhein und Weichsel vor sich habe. Die Leute hatten sich erhoben, um den Schwabenkapitän als alten Bekannten zu grüßen. Die anderen waren genügend interessant dadurch, daß man von ihnen wußte, sie seien mit der 137 Pantellaria aus einem Taifun entkommen. Das Schiff war nämlich seit drei Tagen überfällig und bei den vielfachen Sturmmeldungen, die ein jeder Dampfer mit in den Hafen hereinbrachte, hatten die Deutschen angefangen, sich über den Verbleib des Schiffes Sorge zu machen. Nun aber war es da. Man freute sich dessen, aber man wollte auch wissen, welches der Grund einer so auffälligen Verspätung gewesen sei. Da ging es denn nun an ein langes Erzählen herüber und hinüber, und als der letzte Taifun besprochen war, kam der vorletzte und der dritt- und viertletzte daran. Je länger sie zurücklagen, desto fürchterlicher der Nachruhm, der hinter ihrem Namen herschleppte. Ein alter Teehändler erzählte, daß im Jahre 1906 ein solcher Wirbelsturm Tausende von kleinen und großen Schiffen, wie ein Hund die Gänseherde, vor sich hergetrieben und drüben an den Werftanlagen von Kaulun mit Mann und Maus zerschmettert habe. Zwanzigtausend Menschenleichen mit Holz- und Eisentrümmern untermischt, füllten und verstopften die Bassins zwischen den Molen. Man mußte mit Dynamit das Chaos von Fleisch und Brettern sprengen, um der Schiffahrt die Wasserstraße wieder freizumachen, ging die Rede.
Was übertrieben, was daran wahr, war nicht ganz klar.
Klar aber war dem Dr. Ebenich, daß er nun fortmüsse, wenn er für diese Nacht noch ein Unterkommen im Peakhospital finden wolle. Er erhob sich, um zu gehen. Ein alter Steuermann, dem allerliebste kleine Erdbeeren auf der Nase wuchsen, bot sich als Begleitung an, und die beiden bestiegen vor Weißmanns Restaurant 138 die Tragstühle. Los ging's in den Zauber einer Tropenmondnacht hinein. Zweimal streckt die Fächerpalme ihre breite Hand gegen die Nachtschwärmer aus. Von oben tut sie es selber und von unten tut's ihr Schatten, der wie eine scharf umrissene Filigranarbeit auf dem weißen Sand des Kiesweges liegt. Zwischen den weitausgreifenden Riesenästen des Brotfruchtbaumes guckt die blanke Scheibe des vollen Mondes hindurch auf die breiten Schwertblätter der Bananen und der Bambushecken. In ein Dickicht verflochten stehen Kamelien und Teesträucher zusammen, während aus dem Ätherblau herunter an dünnen Fäden die Orchideen hängen und wie zu Festons gebunden, lebhaft im Winde schaukeln. Dazwischen das phosphoreszierende Aufleuchten der Johanniskäfer aus Gras und Gebüsch und eine wunderbare Stille, die sich wie ein Kranz, aus Mohnblättern gewunden, um die Schläfe legte. Nicht mit dem Bei von Tunis, nicht mit einem indischen Maharadscha hätte Ebenich tauschen mögen. Schade, daß solch ein Hingetragenwerden durch solch eine Pracht nicht lange währte.
Ebenich und sein Begleiter waren an der Peaktramway angekommen. Sie bezahlten die Sänftenträger und stiegen in den engen Käfig der Seilbahn hinein. Wie sie da einander gegenübersaßen, machte der alte Steuermann ein Gesicht wie einer, der Sonntags Kinder frißt, und sagte zu dem Doktor:
»Wissen Sie, daß meine Zähne Sie vor Neid zerreißen möchten? Macht sich das Grünhorn aus seinem Krähwinkel von den Honoratiorenschafsköpfen des Kasinos los, kommt in die chinesische See und erlebt einen Taifun. Ahnen Sie, daß Sie eine 139 Sehenswürdigkeit geworden sind, wie ein fünfbeiniges Ferkel? Seit achtundzwanzig Jahren schon fahre ich an der chinesischen Küste herum, aber meinen Sie, daß mir so etwas über den Weg gelaufen wäre?«
»Und meine halblahmen Beine und meine zerschlagene Schulter, wie ist's, Steuermann, beneiden Sie mich auch um diese?«
»Auch diese würde ich mit in den Kauf nehmen. Wissen Sie, was ein richtiger Jäger ist, hängt den Eberzahn an die Uhrkette, und ein alter Bauer geht dem Fußtritt eines Ochsen nicht aus dem Weg. Aber eine Freude ist es doch, den Stier so an den Hörnern zu halten, ihn niederzudrücken, und ihn nach unserem Willen zu zwingen. Ah, so das Steuerrad zu fassen und den Kiel zu zwingen mitten in den Taifun hinein!«
Er hatte die Rockärmel hochgezogen, als ob er die Hammerschmiedsgesellen singen wolle, und spannte die Vorderarmmuskeln, daß ihre Sehnen wie Eisendrähte hervorsprangen. Aber es gab nichts für sie zu tun. Die Tramway hielt und mit wenigen Passagieren verließen Arzt und Steuermann den kleinen Bahnhof.
Der Vollmond leuchtete den beiden eine schmale, aus dem Felsen gehauene Treppe hinauf bis vors Portal des Krankenhauses. Die Nachtglocke schrillte einen langen Korridor hinunter und rief eine Schwester mit weißer Haube herbei. Der Doktor trat ein und der Seemann wanderte wieder den steilen Zickzackweg hinunter nach der Stadt.
Nicht um den Sonntagsinhalt aller Klingelbeutel einer Erzdiözese hätte Ebenich das Schauspiel gegeben, das, als der Seemann fort war, vor den 140 Scheiben seines Krankenzimmers auf ihn wartete. Der größte aller Maler, der Schöpfer selbst, hatte für ihn zwischen die Fenstergesimse ein Landschaftsbild von betäubender Schönheit auf die Staffelei gestellt. Zur Linken der Peak, der mit seinen Befestigungen wie ein sarazenischer Wachtturm am Tyrrhenischen Meere aussah. Zur Rechten eine dichtbewaldete Bergwand von Schluchten zerrissen, in jähem Absturz nach dem Wasserspiegel zu. Als Hintergrund die vom Mondschein versilberten kahlen Zacken des chinesischen Festlandes. Und nun zwischen die drei Grenzlinien hineingebettet unten der breite Spiegel der Meeresenge, aus dem heraus all die tausend Lichter der Riesenstadt, eine zweite Milchstraße bildend, zum sternenübersäten Himmelszelt hinauffunkelten. In diesen Anblick versunken, wäre Ebenich vielleicht zur Bildsäule erstarrt, wenn nicht hinter ihm die Krankenschwester gestanden hätte mit einer Morphiumspritze in der Hand.
»Sie brauchen eine ruhige Nacht, und die sollen Sie haben,« sagte sie mit überlegener Betonung, während sie dem Doktor die Hohlnadel der Spritze durch die Haut des Vorderarmes bohrte. Am Bette des Kranken soll der Arzt König sein, und wenn der Arzt selber krank ist, übt eine Schwester die königliche Gewalt aus oder auch ein Hausknecht. Wenn's nur hilft, sagte der Scharfrichter, da hackte er dem Delinquenten den Kopf ab.
Bei Ebenich aber half das zweischneidige Schwert des Narkotikums wirklich. Ein süßes Müdigkeitsgefühl streckte zunächst seine Glieder auf die Kissen des reinlichen Bettes hin. Dann kam eine Sorglosigkeit über ihn, die ihn von 141 allen Ketten löste, die vordem beengend und einschnürend von seinen Schultern niederhingen. Er hatte die Beziehungen zur Materie abgebrochen. Er fühlte sogar nicht einmal mehr die Unterlage, die seinen Körper trug. Frei von aller Erdenschwere schwebte er lächelnd in einem Wolkenschaum und sah auf Ebenen, Kirchtürme und Bergesgipfel hinab. Noch konnte er sich vorstellen, daß die Blasen, die ihn trugen, zerrinnen und er in die Tiefe stürzen könne. Aber auch dieser Gedanke hatte nichts Schreckhaftes. Ebenich war dessen sicher, daß er in einen Hügel von Rosenblättern hineinfallen werde. Rosenblätter würden ihn überdecken, ihn ersticken, aber dieser Prozeß würde schmerzlos sich vollziehen. Er würde einfach nicht mehr sein, und er war auch nicht mehr; wenigstens für die Stunden vor der Tagwache war er nicht mehr.
Noch ging die Nacht nicht dem Morgen entgegen, da füllte ein dumpfes Rauschen sein Ohr. Wasserstürze suchten über Felsenschroffen ihren Weg. Lauter wurde das Getöse. Häuser wurden von unsichtbaren Riesenhänden über Bergeshalden gewälzt und zerschellten in der Tiefe. Bergesschachte fielen krachend in sich zusammen und Glocken läuteten Sturm zum Weltenuntergang. Ebenich fühlte, daß er mit in die Tiefe sollte. Seine Hände suchten nach einem Halt. Zehnmal schon hatte er in die Luft gegriffen. Endlich erfaßte er etwas, was sich greifen ließ. Er fühlte, daß es hart war, rund und kalt. Wie an einem Reck suchte er sich an diesem Gegenstand emporzuziehen und es gelang. Ebenich saß wach in seinem Bette, aber um ihn herum war wieder das Schwanken der Wände wie im Taifun. Um ihn war wieder das Heulen des Windes und das 142 Knirschen und Stöhnen der Pantellaria. War denn die Geschichte mit der Landung des Schiffes in Kaulun, das Gelage an Bord, der Aufstieg nach dem Peakhospital alles nur die Ausgeburt einer überhitzten Phantasie gewesen? Was war denn Schein und was war Wirklichkeit? Der Erwachte fuhr sich mit der Hand über die Stirn, um diese Frage zu lösen.
Da klopfte ein Finger an die Tür und in weißer Schürze und weißer Haube trat die Schwester ins Krankenzimmer, eine Platte mit dem Frühstück vor sich hertragend. Ein Seraph wäre für den Doktor keine erwünschtere Erscheinung gewesen, als diese Pflegerin es war. Nun wußte er doch, daß er den verfluchten Taifun für diesmal wenigstens los war, freilich nicht für immer. Denn wie er heute nacht in seinen Träumen hauste, so durchwühlte er noch monatelang den Schlaf seiner Nächte.
»Ich hoffe, Sie werden nach der Morphiumdose leidlich geruht haben,« sagte die Schwester. »Kein Mensch schläft ohne eine solche in der ersten Nacht bei uns hier oben gut. Das Haus steht zu frei. Alle Winde geben sich da ein Stelldichein. Sie schlagen mit Birkenruten an die Fenster, sie schütteln die Wände, daß sie wackeln, und wenn sie's ganz arg machen wollen, blasen sie uns zuweilen die Lichter aus.«
Sie war kaum zu Ende gekommen mit dieser ihrer Rede, da war der Hausarzt ins Zimmer getreten.
»Hab' schon gehört,« sagte der kleine Herr mit den vielen Mensurnarben auf dem kurz geschorenen Schädel. »Der Taifun hat Sie uns ins Haus geweht. Haben übrigens Glück gehabt, mein lieber Kollege. Wissen 143 Sie schon, daß die ›Tertia‹ gleichzeitig mit der Pantellaria im Wirbelsturm war, und in den Parazelsen mit Mann und Maus zugrunde gegangen ist? Sie kennen ihn wohl nicht, oder sollten Sie ihn doch kennen, den Dr. Gruber, der für den Lloyd fährt? Was meinen Sie, der hinge nun auch in den Korallen, wenn ihn nicht sein Durst über seinen Urlaub hinaus in Singapor festgehalten hätte. Er und der Juan-chi-kai haben bei dem verteufelten Wirbelsturm gut abgeschnitten. Oder haben Sie noch nicht in den Journalen gelesen, was passiert ist?«
Ebenich bekannte, daß er die letzte Zeitung auf der Insel Pinang gesehen habe, wo ein Kakadu in einem Barbiergeschäft sie in Fetzen riß.
»Nun, so lassen Sie sich von mir erzählen,« fuhr der Spezialarzt fort. »Also der Taifun, sagen wir: Ihr Taifun verließ zwei Tage, nachdem er die Pantellaria gedrillt hatte, die See und sprang bei Amoy aufs Land über. Bei diesem Sprung zerstörte er in letzterer Stadt einige Reissilos und nahm deren Ladung mit über das Randgebirge der Provinz Kuangtung, um sie tausend Meilen entfernt in den Ebenen des Yangtsekiang fallen zu lassen. Stellen Sie sich vor, was die bezopften Bewohner von Nanking für Gesichter machten, als es mit einem Male Reis regnete.«
»Ich bilde mir ein, sie strahlten, wie die Schlaraffen, als ihnen die gebratenen Tauben in den Mund flogen.«
»Sicher nicht weniger; aber einer überstrahlte noch die Schlaraffenpfahlbürger und das war der Oberschlaraffe Juan-chi-kai. Zum ersten Male seit der Absetzung der Mandschus hatte kein Kaiser beim Agrikulturfest die 144 Ernte gesegnet. Versagten die Feldfrüchte im Jahre 1912, so war zu erwarten, daß an diesem Punkte die Gegenrevolution einsetzen werde, um die Republik zu stürzen. Nun war aber die Ernte gut. Also sagten die Machthaber in Peking: ›Es geht, auch wenn kein Kaiser segnet.‹ Und als es Reis regnete, schrieben sie in den Zeitungen: ›Wir, die Regierung wollten nach den südlichen Provinzen Orden schicken, unterließen es aber, als wir sahen, daß der Himmel selbst es unternahm, die Anhänger der gottgewollten Republik auszuzeichnen.‹«
Der Erzähler lachte. Herr Ebenich aber sagte: »Was dem einen Abendmahl ist, kann dem andern Frühstück werden. Man sollte ›Bonner Preußen‹ nach dem Reich der Mitte schicken, damit sie hier das Regieren lernen.«
Der Spitalarzt hatte während dieser Bemerkung die Brille auf die Nase und die Berufsgrimasse vor sein Sonntagsgesicht gesetzt und betastete Ebenichs Schulter so gründlich, daß diesen nur die Scham zurückhielt, laut aufzuschreien.
»Nur ein Bluterguß, keine Verrenkung, kein Bruch,« murmelte er vor sich hin, »in drei bis vier Tagen haben Sie alle Regenbogenfarben auf den Schultern und in vierzehn Tagen wieder ein gebrauchsfähiges Glied. Fleißig Bleiwasser drüberschlagen! Und nun Adieu für heute, Herr Kollege.«
Er ging und hinter ihm her, wie sein Schatten, ging auch die Schwester. Ebenich war allein. Er richtete sich in seinen Kissen zurecht und machte sich zunächst hinter sein Frühstück. Dann musterte er die Wände seines Krankenzimmers mit dem Bambusmuster der Tapete, mit dem Arzneischränkchen und dem winzigen 145 Büchergestell. Auf ihrer Wanderung kamen seine Augen auch ans Fenster, und da blieben sie an einem seltsamen Anblick hängen. In der Scheibe stand, mit dünnem Gras bewachsen, der Peak von Viktoria, und von den Kasematten auf seinem Gipfel wehte eine lange Drachenfahne lustig im Winde. War das an sich schon ein anziehendes Bild, so wurde es bei näherem Zusehen noch um vieles interessanter dadurch, daß an den Grashängen buntgekleidete Menschen wie Wichtelmännchen hinaufwimmelten. Die meisten der niedlichen Marionettefigürchen hatten Papierdrachen an langen Fäden über sich, die unruhig in der bewegten Luft hin- und herschossen.
Soeben trat mit Scheuerlappen und Besen bewaffnet eine Magd ins Krankenzimmer. Sie hatte so was Pauschröckiges an sich. Ebenich konnte nicht anders, er mußte sie als Vogelsbergerin ansprechen.
»Maadche,« sagte er, »was sind das dort?«
Sie schaute durchs Fenster und sagte: »Chinesen.«
»Daß es keine Wetterauer Zuckerrübenbauern sind, hab' ich mir auch gedacht, allein was treiben sie da?«
»Sie halten ihren Bettag. Das heißt: sie beten nicht, sie schreiben ihr Anliegen auf lange Zettel und hängen diese an Papierdrachen und Luftballons. So kriegt der Herrgott schriftlich vor die Augen, was sie wollen, und er vergißt's nicht so leicht, als wenn's ihm einer nur so leise in die Ohren hineinbetet.«
›Praktische Leute, diese Chinesen,‹ dachte Ebenich und erinnerte sich, von Gebetsmühlen gelesen zu haben, die sie am fließenden Wasser aufstellen, damit dieses die langen Sprechbänder voller Gebete abwickelt.
146 Zu dem Mädchen aber sagte er: »Wo sind Sie her, kleiner Stumpfrock?«
»Von Langgöns bei Gießen,« war die Antwort.
»Und sind nach China gekommen?«
»'S war naut as die reine Dummheit. Hinter einem Stockfisch von Oberheizer sein ich Gans hergeschwommen. 'S war naut as die reine Dummheit.«
Jetzt, wo der Doktor wußte, um was es sich da drüben handelte, sah er mit verdoppelter Aufmerksamkeit nach dem lebenden Bilde hin, das sich ausnahm wie die figurenreiche Tapete eines Kinderzimmers, wo putzige Helden mit Papierhelmen und Holzschwertern auf Saurier und Krokodile loshämmern. Er bemerkte, wie jeder dieser Andächtigen sich Mühe gab, auf die höchste Zinne des Peaks hinaufzuklettern; wie er durch Abwickeln des Bindfadens seinem Drachen oder Ballon die Möglichkeit verschaffte, die anderen zu übersteigen. Natürlich, welche der Schriften dem Angesichte Gottes am nächsten stand, die hatte ja auch die größte Aussicht, gelesen zu werden. Man konnte da durch kleine Kniffe einen Arzt sparen oder einen Kuhprozeß gewinnen, wenn man seine Sache vor die richtige Schmiede brachte. Ach und diese Naiven, wie waren sie doch zartfühlend und rücksichtsvoll gegen ihren Herrgott! Sie plagten ihn nicht durch eine ewige Anbetung. Sie fühlten, daß auch er müde werden könne, und sie zogen nach einiger Zeit, was an Ballons nicht geplatzt und an Drachen nicht losgerissen war, wieder ein.
Ebenich mochte den Blick nicht wenden von dem munteren Volke, das nun am Boden saß, seine Körbe auspackte, die Flaschen entkorkte und die Butterbrote verzehrte.
147 Ehe jedoch die Sonne noch allzu stark den baumlosen Gipfel des Peak bestrahlte, hatten sich die frommen Waller auf die Beine gemacht. Die Arme ineinander geschlungen, wie Brezeln, kamen sie paarweise die Halde herüber. Dickbackige Mongolengesichter strahlten unter schirmlosen Mandarinenkappen, während lange dünne Schnurrbärte aus schwarzen Nasenlöchern über schmale Lippen niederhingen. Den Oberkörper zurückgelehnt und die Bäuche vorgestreckt, hakte man die Fersen kräftig in den Moosrasen hinein, um beim Abstieg nicht vornüber zu fallen. Für jeden, ob Männlein oder Weiblein, schien dieser Heimweg, der die buntgestickten Schnabelschuhe unter den Röcken vorleuchten ließ, ein behagliches Vergnügen zu sein, und Ebenich seinerseits war nicht erfreut darüber, daß das beim Hospital einsetzende Buschwerk die lustige Prozession langsam in seinen Schatten hinabschlang.
148 An Langerweile litt übrigens der Doktor nie, heute nicht und nicht an den folgenden Tagen. Hatte er doch das aussichtsreichste Krankenzimmer, das sich denken ließ. Über der Meerenge drüben stand das vielgezackte chinesische Randgebirge. Ein vor Jahrtausenden schon aus den Felsen gekratzter Karawanenweg wand sich wie eine kupferfarbene Schlange durch Schluchten hin zur Wasserscheide empor. Bedachtsame Dromedare mit schwankenden Lasten schritten zwischen Eseln und Pferden auf ihm dem fernen Kanton entgegen.
Tief unterm Fenster, aber so nahe, als ob sie mit einem Sprungschritt zu erreichen wäre, flutete die breite, hellgrüne Fläche der Meerenge. Mächtige Dampfer mit kilometerlangen Rauchfahnen kamen vom Süden herauf und vom Norden herunter. Schaum stand vor ihrem Kiel, und ein weißwelliges Band lag hinter ihrer Schraube. Sirenengebrüll als Empfangs- und Scheidegruß tönte in die Buchten hinein und hallte wieder aus ihnen heraus. Wie geschäftige Diener drängten sich hurtige Pinassen und Barkassen zwischen die Riesenleiber dieser Meeresungetüme hinein.
Hatte sich das Auge am Gewaltigen satt gesehen, so konnte es sich am Idyllischen einen Nachtisch holen. Im terrassierten Gärtchen blühten Lianen, Magnolien und Orchideen, und mit scheuen Kinderaugen blickte ab und zu ein Rehchen aus dem nahen Dickicht.
Nein, es war nicht langweilig im Krankenzimmer des Peakhospitals. Zuweilen lag die englische Oberschwester vor des Arztes Bette auf den Knien und ließ sich die Geheimnisse einer französischen Grammatik erklären, und zuweilen stand der Stumpfrock mit seinem 149 Besen im Zimmer und deklamierte vor, was aus dem Datterich selig in seinem Kopfe hängengeblieben war.
Ja, eines Tages geschah noch Größeres. Mit schmunzelnden Gesichtern standen die beiden Schwaben auf den Steinplatten. Herr Gruber hatte die aufgepflanzte Zigarre im rechten Mundwinkel und rauchte wieder einmal kalt. »Ist es noch die aus der Taifunnacht?« fragte Ebenich.
»Wo denken Sie hin!« fiel ihm Herr Huber ins Wort. »Er raucht jede Woche so viel als ein Ziehhund auf einem Feldbahngeleise schleppt. Er hat es mit den Vulkanen gemeinsam, daß er sogar nachts raucht. Er kann kauen und pfeifen mit der Zigarre im Mund. Nur vor dem ›Steinberger Kabinett‹ hat er so viel Hochachtung, daß er ihm zuliebe den Glimmstengel für einen Augenblick aus den Lippen nimmt, um diesen Tropfen mit der Zunge zerdrücken zu können.«
»Das letztere wirst Du noch nicht allzuhäufig erlebt haben,« entgegnete Gruber mit schelmischem Lächeln.
»Häufig nicht, aber doch neulich einmal. Ha, Ebenich, da hätten Sie dabei sein sollen. In Amerika droben. Erschrecken Sie nicht! Ich meine nicht das, was hinterm Stillen Ozean liegt, nein, jenes in Hongkong da drunten. Man steigt in einer engen Straße ein paar Treppen empor, dann links drei, vier stattliche Häuser mit grünen Läden und großen Hausnummern. Feudale Einwohnerschaft. American girls. Jede eine Kaffeeplantage wert für Multimillionäre. Deutsche Duodezfürsten, sag' ich Ihnen, sind für die Sorte nur German Sect.«
»German Sect,« unterbrach Ebenich den Sprecher, »was ist German Sect? Was soll der Ausdruck bedeuten?«
150 »Nit wahr, da braucht man wieder en Schwaben dazu, der das auseinandersetzt? Höret Se also: German Sect ist, wenn einer Matheus Müller heißt oder Söhnlein trocken statt Veuve Clicquot und Chateau Meudon. Oder German Sect ist e Zigarre mit Habana-Deckblatt und Pfälzer Einlage. Es kann auch ein Handelsherr sein, der auf Gummirädern fährt und nur einen Bankkredit hat von einer halben Million Dollar. Kurz, German Sect sind Sie und ich und der Kollege da und das ganze, ganze römische Reich deutscher Nation.«
»Und doch scheint's, als ob Sie und Herr Gruber da oben in Amerika zum vollen Kurs genommen würden.«
»Kein Wunder, wir Württemberger haben halt von Konradin von Schwaben her die persönliche Liebenswürdigkeit geerbt. Wir gelten schon noch unseren Batzen, und ich sag' Ihnen, es muß die Welt von Schtugarter Demokraten regiert werden, wenn's besser werden soll.«
»Mir soll's recht sein,« bemerkte Ebenich, »aber ich denke, Sie wollten von einem persönlichen Erlebnis erzählen, das Ihnen in diesem Ihrem Amerika da passiert ist.«
»Fast hätt' ich die Hauptsache vergessen. Ja, freilich hent wir da droben was erlebt, was mer auf die leere Seite vom ›hinkenden Boten‹ schreibe sollt. Rate Se, wen wir da getroffen haben. Frisch bemalt und über die Toppen beflaggt wie ein vom Stapel gelassener Lloyddampfer, ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll, das ›Fräulein‹ Hölderlin oder die ›Frau‹ Hölderlin, hinterm Sektglas, sag' ich Ihnen, hinterm echten Veuve Clicquot im silbernen Eiskübel. Hol' mich 151 der Teufel, wenn's verlogen ist – und neben einem dreiviertels vergoldeten Baumwollonkel aus Florida. Nichts wie Ringe und Ketten an dem Kerl.«
»Das Weibsbild bringt's noch zu was in der Welt,« fügte Herr Gruber der Erzählung seines Freundes bei, »von dem, was das Laster erwirbt, baut sie vor ihrem Tode noch der Tugend ein Nonnenkloster. Das Mäusle soll mich beißen, wenn's so nit wird.«
»Na, was auch kommen mag, mein'n Segen hat's,« nahm sein Landsmann wieder das Wort. »Ich denke übrigens, wir könnten was besseres tun, als hier in der Glaslaterne herumsitzen. Seh' einer, wie schön die Sonne untergeht. Wollen wir nicht zusammen ein wenig über die Höhen des Peaks hinwandern?«
Gesagt, getan. Die drei Männer versuchten's, über die Schwelle des Hospitals zu schreiten. Fast wäre es ihnen nicht gelungen. Breit wie die Kuppel der Peterskirche von der römischen Campagna aus gesehen, stand die glühende Abendsonne vom westlichen Horizonte halbiert am Himmel, und eine breite, flimmernde Feuerstraße lief gleißend über das zitternde Meer hin. Die Augen der drei waren von der unruhigen Helle geblendet. Sie legten wie auf Kommando die Hände wie Schutzschirme vor die Stirn und waren froh, daß eine Wegbiegung nach Osten ihnen gestattete, der Himmelsbeherrscherin den Rücken zuzukehren.
So schritten sie denn, das grenzenlose Meer zur Rechten auf asphaltierter Straße voran, an gut gemästeten chinesischen Ammen vorüber, die europäische Kinder hüteten, und blickten rechts und links durch Staketenzäune, über blumigen Rasen hinweg, nach Villen und 152 Palästen hin, die jedes noch so verwöhnte Auge entzücken mußten. Breite Terrassen hinter Marmorbalustraden. Aufstrebende Erker über den Gipfeln der Blautanne. Springende Wasser aus Muschelgrotten. Diese ganze große Villenkolonie ist das Paradies der Frauen und das Nachtasyl der Männer. Während die ersteren von leichter Chinesenseide umspielt, im Schatten der Tamarisken wandeln oder lagern, schuften die letzteren in lähmender Tropenhitze unten in den Bureaus und Magazinen der Connaught Road. Erst der Abend macht die Lohnsklaven des Mammons frei und läßt sie wie die Wasserrosen am langen Stengel der Peak Tramway zu Luft und Licht hinaufschießen. Wahrhaftig, die Mutter Eva hat keinen schlechten Handel abgeschlossen, als sie dem Adam das Vorrecht ließ, das Haupt der Familie zu werden.
Die Langeweile des Nichtstuns freilich will auch getragen sein. Und sie verführt zu sonderbaren Abschweifungen vom geraden Wege des Schicklichen. Man kommt auf solche Gedanken, wenn man aus dem Munde der Ladies die Befehle hört: »Boy, wasche mich! Boy, ziehe mir die Strümpfe an!« und man lernt begreifen, daß es Ehemänner gibt, die mit den Beziehungen ihrer Frauen und Töchter zum männlichen Teile der Dienerschaft nicht immer ganz einverstanden sind. Im übrigen haben's die Herren der Schöpfung hier nicht schlecht. Sie dürfen am Abend Fußball und Tennis spielen, dürfen daumendicke Habanas rauchen, aber die Asche nicht auf den Teppich fallen lassen, wenn sie das ungnädige Gesicht des Zimmerboys nicht in ihr Eheglück mit hinzunehmen wollen.
153 »Teufelskerle, diese Englishmen,« sagte nach langer Gesprächspause der Bierschwabe, »haben sie nicht aus diesem nackten Felsen ein wahres Eden herausgezaubert? Bi Gott, schöner noch wie die Anlagen um Ludwigslust. Und erst was sie mitten in Hongkong fertiggebracht haben. Noch einmal so viel als das, was sie vorfanden, haben sie dem Meer noch abgelaust. Bis zur Queens Road fast reichten die Untiefen, und alles, alles habe se ausgefüllt und Paläste darauf gestellt.«
»Wie sagt der Valentin zu seiner Schwester in Goethes Faust: ›Und möcht' ich sie zusammenschmeißen, Ich kann's doch alleweil nit Tagdieb heißen‹,« pflichtete der Tabakschwabe seinem Landsmann bei. »Man muß gesehen habe, was die Chaibe in Kolombo, Kalkutta und Benares leisten, in Kairo, Kapstadt, Melbourne, um zu begreife, daß dem Zettel der Erde der Einschlag fehlen tät, wenn man sie von heut auf morge alle an einen Galgen hängte. Wer aus der Menschheit soll sie denn ersetzen? Wir Schwabe sind zu wenig Leut' auf der Welt und könne nit überall sein schon deshalb nit, weil's nit überall Spätzle gibt. Gott verzeih' mer's, wenn's e Todsünd' sein sollt', en' preußischen Landrat kann ich mer net in Benares als Vizekönig denken.«
Die drei Wanderer waren derweilen um die Ostecke der Insel herumgekommen und sahen über Schluchten und bewaldete Vorberge hinweg nach der Meerenge hinunter. Wie ein gewaltiger Wasserkäfer arbeitete sich da auf dem flachen Spiegel mit wehender Rauchfahne ein Dampfer nordwärts voran.
»Sell scheint mir die Pantellaria zu sein,« bemerkte 154 Herr Gruber, indem er die Zigarre aus dem Mundwinkel nahm. »Freilich sie isch's, beim Bart Eberhards des Greiners, sie hat keine Rettungsboote an den Davits hängen. 's kann kein ander Schiff nit sein wie die Pantellaria. Am Pier von Kaulun hat man sie halt en bissel zurechtgeschustert und nun geht's heidi, hast du nicht gesehen, in die Straße von Formosa hinein.«
»Ohne Rettungsboote?« fragte in zweifelndem Tone Herr Ebenich.
»Wo hernehmen und nicht stehlen? Die alten liegen, zu Kaffeeholz zerschellt, an den Klippen der Parazelsen, und neue? Von selbst wachse die nit aus dem Wasser wie die Kaulquappen. Und dann, wer ist denn a jetzt auf dem Schiff? Der schwäbische Hiesel, der kann schwimmen, und der Maschinist Langschwager reicht an der tiefsten Stelle noch mit dem Kopf aus dem Wasser raus. Wozu also noch die Rettungsboote?«
»Ich denke, Fräulein Österle wird doch ›ihren Zweiten‹ nicht allein nach Japan weiterfahren lassen. Ich höre, die beiden haben sich zu lieb, um sich zu trennen,« bemerkte Dr. Ebenich.
»Was Sie sich da Schönes zurechtgemacht haben!« schnitt Herr Huber dem Redner das Wort ab. »Fallt dem Madle doch nit ein, daß die mit nach Japan geht. Die hat genug Wasser gesehen und wenn sie den Weg wüßt', ging sie zu Fuß nach Hamburg. Abgemacht hat sie mit ›dem Zweiten‹, daß sie in Hongkong bleibt, bis er zurückkommt, und dann soll Hochzeit sein. Zwei von uns dreien zum mindesten sollten ihre Fräcke an den Chinesenschneider in der Wellingtonstraße 155 zum Ausbügeln schicken. Das Paar braucht sicher Trauzeugen, wenn die ergreifende Zeremonie vor sich geht.«
Man war an den Anfang der Rundpromenade zurückgekommen. Ein kleines Glöckchen über dem Portal des Krankenhauses schrie's in alle Welt hinaus, daß das Abendessen gekocht und gar sei. Also war es Zeit, daß Ebenich sich von seinen Schwaben verabschiedete.
»Auf Wiedersehen,« sagte er, während Herr Gruber sein Zigarrenetui in die Rocktasche praktizierte.
»Wiedersehen,« sagten die beiden, »aber demnächst unten bei Weißmann, wo es Spatenbräu vom Fasse gibt.«
Drei Tage später saß Ebenich in der Tat im Kaffee des Heidelbergers gegen den Abend hin und wartete auf seine Freunde. Das kleine Zimmer war zunächst nur von einigen bezopften Chinesen in langen, weißen Leinenkitteln belebt. Sie stellten Schnapsflaschen und Sodawasser in eine Eiskiste, um das so beliebte Whiskysodawasser für ihre Abendgäste vorzubereiten. Plötzlich, als die Stunde des Bureauschlusses in den kaufmännischen Geschäften gekommen war, füllte sich die Stube mit einem Zauberschlag. Alle Dialekte des deutschen Vaterlandes klangen wieder einmal durcheinander, und dazwischen hinein klapperten mit knöchernem Tone die Würfel auf den Tischen und Gläser klangen widereinander. Man aß und trank sorglos drauf los wie bei einem studentischen Biergericht, wo der verlierende Teil die Zeche zu zahlen hat. Wo der aber das Geld hernimmt, ist zunächst auch keine Frage, die irgendeinem verwaisten Herzen Sorge bereitet. Man zahlt nämlich überhaupt nicht. 156 Derjenige, dem die rollenden Würfel die Zeche ans Bein hängen, winkt zum Schlusse des Gelages den Boy herbei. Dieser dunkle Ehrenmann erscheint mit einem Notizblock, reißt ein Blatt herunter, auf dem fein säuberlich alles notiert ist, was die Gesellschaft verzehrt hat nebst der Addition der Preise. Wer im Unglück saß, erkennt die herausgerechnete Summe durch Beifügung seiner Unterschrift an. Dies Blatt Papier wandert jeweils vor dem Ersten des nächsten Monats in die Geschäftsstube des Handelshauses, von dem der Spieler sein Gehalt bezieht. Reicht das Salär, oder bleibt gar ein Monatsüberschuß, so wird er prompt herausbezahlt, und der Angestellte ist, ob mit oder ohne Reichtümer, doch für einige Tage schuldenfrei. Reicht es nicht, so hat er nur einen Schuldner, und das ist sein Arbeitgeber. Herr Weißmann, der sich zu dem vereinsamten Ebenich gesetzt hatte, war soeben mit dieser Exemplifikation zu Ende gekommen, als Herr Huber an den Tisch trat und den Satz fortsetzte:
»Und der Strick ist gedreht, mit dem das Grünhorn gebunden ist, und der Pfahl geschlagen, an dem der Strick hängt! Jawohl, die Herren sehen es gar nicht ungern, wenn eine tüchtige Kraft bei ihnen ans schwarze Brett gerät. Alles geht ehrlich zu, und Wirt und Dirnen kommen zu ihrem verdienten Geld. Wenn aber dem armen Schuldner sich anderwärts eine Gelegenheit bietet, seine Arbeitskraft vorteilhafter zu verwerten, dann zuckt der seitherige Brotherr die Achseln und sagt: ›Gewiß, mein Lieber, und ich will Ihrem Fortkommen nicht im Wege stehen, gewiß nicht. Aber ich muß verlangen, daß Sie Ihre Vorschüsse begleichen, bevor Sie meine Dienste 157 verlassen.‹ Sehen Sie, Herr Weißmann, nun steckt dem Hund der Knochen im Halse. Wohl der Bestie, die einen Tierarzt findet, der ihn herauszieht. Mehr als einen habe ich schon gekannt, der in China begraben wurde nicht deshalb, weil er wie Prometheus mit einer Kette an einen Stein geschmiedet, sondern weil er mit einem Stückchen Papier an eine andere fromme Christenseele gekleistert war.«