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Eine Woche später, die Mittagssonne lugt eben durch die Korridorfenster, tritt Vater Schober langsam und zögernd in die Thüre seiner Wohnung. Er hat den Hut tief in die Stirne gezogen und späht mit verdrossener Miene den Korridor entlang. Erst da er diesen völlig still findet, tritt er heraus, drückt sich an der Wand hin bis zur Treppe und stolpert eilends hinab. Sobald seine schweren, ungleichmäßigen Schritte verhallt sind, öffnet sich die nur angelehnte Thüre von Fräulein Kathis Wohnung, die alte Tänzerin schlürft über den Korridor und blickt durch das vergitterte Fenster in die Schobersche Küche. Mit der Rechten hält sie ein buntfärbiges Tuch fest, das sie um den Hals gebunden hat, indes die Linke eine halbaufgeblühte Rose vorsichtig mit den Fingerspitzen faßt und sie, als ob es eine Überraschung gälte, hinter dem Rücken verborgen hält. Nachdem Fräulein Kathi sich überzeugt hat, daß die Küche leer ist, tritt sie vorsichtig ein. In dem schwach erhellten Raume ist's still wie auf dem Korridor, im Herde glimmt ein verlöschendes Feuer, ein paar Töpfe, Schüsseln und Teller mit kärglichen Speiseresten stehen zerstreut auf der schwarzen Platte, während allerlei Abfälle 90 und zerbrochene Küchengeräte das rote, schmutzigfeuchte Ziegelpflaster bedecken.
Die alte Tänzerin blickt mißbilligend um sich.
»Wie's da ausschaut!« murmelt sie. »Wenn man denkt, wie spiegelblank die Marie alles gehalten hat, und wie ihre Mutter jetzt wirtschaftet!« . . .
Mit einem Seufzer hebt sie ihr sauberes Kleid ein wenig auf, trippelt behutsam durch die Stube und pocht an die Kammerthüre.
»Herein!« ruft scharf und nicht allzu einladend die helle Stimme Mariens. Fräulein Kathi tritt ein. In der schmalen, weiß getünchten und nur ärmlich eingerichteten Kammer sitzt Marie allein. Sie hat den kleinen Tisch in die Fensternische gerückt und hockt dort, über eine Stickerei gebeugt. Ihre Wangen sind zwar vom Eifer der Arbeit ein wenig gerötet, unter dem flüchtigen Rot guckt aber jene gelbliche Blässe durch, welche Nachtarbeit und dumpfe Zimmerluft erzeugen. Ihre Augen blicken recht müde, da sie jetzt unwillig vom Stickrahmen zur Thüre wandern, und die kleine Falte zwischen den Brauen hat sich noch tiefer in die weiße Stirn gegraben. Sobald Marie in der Eintretenden die alte Freundin erkennt, erhellt sich ihre Miene; mit einem herzlichen Gruße will sie aufspringen, allein Fräulein Kathi drückt sie auf den Stuhl zurück.
»Wenn Sie nicht sitzen bleiben, Fräul'n Marie, geh' ich gleich wieder fort!« sagt sie bestimmt, und das Mädchen muß ruhig weiter arbeiten.
»Ich komm' ja nicht um Sie zu stören!« erklärt die Tänzerin eifrig. »Nur ein bißl G'sellschaft will ich Ihnen leisten und dann gleich wieder verschwinden. An Ihrer Arbeit hängt so viel! Glauben Sie, ich weiß nicht, daß Sie jetzt allein das Haus erhalten, seit Ihr Herr Vater statt 91 etwas zu verdienen Ihr mühselig erworbenes Geld ins Wirtshaus trägt? Es ist zwar nicht schön von ihm, daß . . .«
Marie sieht bittend auf, Fräulein Kathi hält verlegen inne und meint dann stockend:
»Nun ja, Sie wollen nicht, daß man davon red't, – ich weiß schon! Ich thu's auch nicht mehr, . . . aber es drückt mir das Herz ab, wenn ich seh', wie Sie armes Kind sich abquälen, während die andern . . .«
Marie schüttelt eifrig den Kopf. »Sie müssen nicht so reden!« sagt sie ernst. »Sehen Sie, Fräul'n Kathi, der Vater kann jetzt nicht arbeiten. Er bekommt keinen Platz, weil er im Prozeß ist mit seinem Baumeister.«
»Mit Herrn Wiesinger?«
»Ja, . . . und mit der ganzen Genossenschaft dazu! Es nimmt ihn keiner! Seit er vom Gerüst gestürzt ist, haben sich alle recht schlecht gegen ihn benommen. Aber sie werden's gewiß noch bereuen! Der Advokat sagt, daß der Vater den Prozeß ganz sicher gewinnen muß, und dann haben wir wieder Geld genug! Freilich hat der Vater den letzten Rest von seinem Ersparten, das in der Krankheit ohnehin stark zusammen g'schmolzen ist, als Vorschuß hergeben müssen, für die ersten Kosten. Aber das macht nichts. Derweil schau halt ich dazu, daß wir nicht gar zu tief in Schulden kommen, und so geht's schon wieder!«
»Aber wie hart und mühselig!«
»Ach was, mir kommt's nicht hart vor, – ich bin ja jung!« Marie sagt das fast fröhlich. Und mit geheimnisvollem Lächeln fährt sie leiser fort: »Ich geb' auch nicht alles her, was ich verdien'! Bst! Sie dürfen mich ja nicht verraten! Alle Tag' zieh' ich ein paar Kreuzer ab und steck' sie heimlich dort in mein Bett.«
Sie springt geschäftig auf und zieht Fräulein Kathi an 92 ihr Lager. »Sehen S', in dem Tüchl da liegt es eingeschlagen!« flüstert sie stolz. »Es sind schon drei Gulden und fünfundzwanzig Kreuzer, – ja! das gehört für den Zins, damit sie uns nicht aus der Wohnung schaffen können! Man muß an alles denken!«
Dabei läßt sie die Silbermünzen langsam durch die Finger gleiten. »Es wird alle Tag mehr!« wispert sie vergnügt wie ein Kind. »Wenn es zehn Gulden sind, trag ich's in die Sparkasse!«
Dann verbirgt sie ihren Schatz wieder sorgsam, glättet die Bettdecke und kehrt zu ihrer Arbeit zurück, die sie mit doppeltem Fleiße aufnimmt. Die Tänzerin hat sich inzwischen an dem Tische zu schaffen gemacht und während sie dem Mädchen eifrig zuzuhören schien, ihre Rose unter ein leichtes Tuch geschoben, welches die fertige Arbeit Mariens bedeckt. Nun setzt sie sich wieder und meint nach einer Pause:
»Sie müssen nicht bös sein, Fräul'n Marie, wenn ich Ihnen die schöne Freude verderb', aber ich fürcht' halt immer, Ihr Fleiß und Ihr Sparen bleiben umsonst, so lang Ihr Herr Vater alles wieder . . . vertrinkt! – Nein, nicht auffahren, liebes Kind; Sie wissen ja, wie herzlich ich's mit Ihnen mein'. Ihr Herr Vater geht jetzt alle Abend ins Wirtshaus und kommt erst spät in der Nacht mit einem tüchtigen Rausch nach Haus. Wie lang wollen Sie das bestreiten? Und was soll aus Ihnen allen zuletzt noch werden?!«
Marie ist bleich geworden und ihre Hand zittert. »O, so schlimm ist's doch nicht!« erwidert sie mit leise abwehrendem Kopfschütteln. »Hie und da trinkt der Vater wohl, das ist wahr, – aber er thut's nicht, weil er eine Freud' d'ran hat, – o nein! Er hat ja früher nie was getrunken! Er ist nur ein bißl schwach und laßt sich halt gar so leicht verführen!«
93 »Von dem Schlosser?«
Marie nickt heftig und ihr bleiches Gesicht nimmt einen Ausdruck tiefen Hasses an.
»Ja, von Kumpf,« wiederholt sie bitter. »Das ist ein heimtückischer, grundschlechter Mensch, der den Vater zu allem Unrechten verleitet. Seit er wieder ins Haus kommt, ist's rein, als ob alles Unglück auf uns losgelassen wär'!«
»Aber was hat er denn davon, daß er Ihren Herrn Vater so weit bringt?« fragt die Tänzerin erstaunt.
Marie errötet und beugt sich tiefer über ihre Arbeit.
»Ich weiß nicht!« sagt sie zögernd. »Im vorigen Jahr ist er öfter zu uns gekommen, hat aber den Vater zu nichts Bösem verführt. Er ist mir damals überall nachgestiegen, obschon ich's ihm oft genug gesagt hab', daß er mir zuwider ist. Aber der grausliche Mensch hat nicht nachg'lassen und wie er mich einmal grad allein in der Wohnung trifft, wird er so zudringlich, daß es mich in allen Fingern g'juckt hat, ihm eine tüchtige – Antwort zu geben. Ich hab's aber nicht gethan und da hat er erst recht von seiner Lieb' zu reden ang'fangen und ist endlich sogar mit ausgestreckten Armen auf mich zugegangen. Da hab' ich ihm einen Stoß gegeben, daß er durch die halbe Stub'n zurückg'flogen ist. Woher ich damals die Kraft g'nommen hab', weiß ich heut' noch nicht. Er ist aufg'sprungen und wollt' auf mich losstürzen, aber da geht zum Glück die Thür' auf und der Vater kommt heim. Der hat ihm dann freilich g'schwind gezeigt, wo der Zimmermann das Loch g'lassen hat, aber ich hab's nachher noch lang anhören müssen, daß ich ein nichtsnutziges Geschöpf wär' und ihn selber ang'lockt hätt', – ich!«
Sie begleitet das letzte Wort mit einem schmerzlich verwunderten Lächeln.
Fräulein Kathi reicht ihr die Hand.
94 »Machen Sie sich nichts draus, Fräul'n Marie,« sagt sie tröstend. »Wer Sie nur ein bißl kennt, der glaubt ja doch nichts Schlechtes von Ihnen!«
Marie drückt die dargebotene Hand. »Seitdem hab' ich den Menschen nicht mehr g'sehen,« fährt sie fort, »bis er vor einer Woche auf einmal wieder daher gekommen ist. Ich hab' schon alles Mögliche probiert, um ihn fortzutreiben, aber er geht nicht. Wenn er mit dem Vater neben in der Stub'n ist und seine niederträchtigen Hetzereien vorbringt, dann geh' ich alle Augenblick' hinein und stör' sie. Aber der Vater ist halt ein bißl jähzornig, . . . Sie kennen ihn ja ohne dies!« . . .
Sie unterbricht sich und fährt dann errötend fort. »Manchmal riskier' ich's aber doch, paß' den Kumpf in der Küche ab und sag', daß der Vater nicht zu Haus ist. Anfangs hat das ein paarmal geholfen, aber jetzt merkt er's schon wenn ich lüg', und fangt so laut zu reden an, daß ihn der Vater hört und heraus kommt. Dann muß ich nur schaun, daß ich dem Vater an dem Tag nicht mehr vor die Augen komm', sonst setzt's was ab!«
»Arme Marie!«
Die Tänzerin sagt das mit so inniger, schier mütterlicher Zärtlichkeit, daß Marie ihr dankbar zunickt und mit leise zuckender Lippe erwidert:
»Wie gut Sie sind, Fräul'n Kathi! Zu Ihnen kann ich so recht vom Herzen sprechen, Sie sind ja auch die einzige, die mir wieder ein freundliches Wort giebt!«
»Na, na, deswegen müssen S' nicht gleich das Köpferl hängen lassen und so trübselig in die Welt schaun, als ob Ihnen die Hendln das Futter wegg'fressen hätten! Es giebt schon noch Leut', die Ihnen gut sind, – herzensgut!«
Marie sieht fragend auf, da sie aber einen schalkhaften Zug um den Mund der alten Freundin bemerkt, schüttelt sie 95 abwehrend den Kopf und beugt sich dann mit einem schweren Seufzer tief über ihre Arbeit. Fräulein Kathi fährt mit der mageren Hand liebkosend über den blonden Scheitel des Mädchens.
»Sie wollen also wirklich nichts wissen von dem armen Riedl?« fragt sie sanft. »Schad'! Er ist ein gar so viel braver und grundehrlicher Mensch! Ein bißl närrisch auch, das ist wahr, – aber Du lieber Himmel, das kommt halt von der Kunst, ich war zu meiner Zeit auch nicht anders.«
Sie verfällt in ein lächelndes Sinnen. Dann hebt sie wieder an. »Und gern hat er Sie! Wenn ich ihn manchmal von Ihnen reden hör', kommt mir meiner Seel' das Wasser in die Augen.«
Marie schweigt und stichelt eifrig weiter. Nach einer Weile hebt sie langsam den Kopf und blickt der Tänzerin voll in die Augen.
»Na meinetwegen,« sagt diese betrübt und küßt das junge Mädchen auf die Stirne. »Jetzt geh ich, – behüt' Sie Gott!«
Marie will aufstehen.
»Werden S' gleich sitzen bleiben?« droht Fräulein Kathi lachend. »Ich komm' sonst nie mehr zu Ihnen!«
»Also adie! Ich dank' für den lieben Besuch!«
Die alte Tänzerin winkt noch einmal recht herzlich und drückt sich dann aus der Kammer.
Das junge Mädchen arbeitet still weiter. Da es nach einer Weile die Schere sucht und das Tuch aufhebt, unter welchem die fertige Arbeit sorglich geschlichtet liegt, entdeckt es die Rose, welche Fräulein Kathi da hinunter geschmuggelt hat. »Wie gut sie doch ist!« denkt Marie und ihre Augen leuchten. Sie riecht ein paarmal an der zarten Blüte und stellt sie dann sorglich in ein Glas, das sie ans Fenster rückt.
Die Tänzerin findet in der Küche Frau Schober, welche 96 dort unter unausgesetztem Brummen und höchst unwirschen Selbstgesprächen die Töpfe und Teller in einem großen Wasserschaffe rein spült. Fräulein Kathi huscht grüßend an ihr vorbei und nimmt ihr gewohntes Nachmittagsplätzchen am Korridorfenster ein. Frau Schober späht von Zeit zu Zeit mit einem fragenden Blicke hinüber, da aber die Tänzerin emsig die glitzernden Nadeln ihrer Strickarbeit kreisen läßt und gar nicht aufsieht, geschweige denn ein Gespräch anknüpft, so murrt die beleibte Frau etwas vor sich hin und reibt ingrimmig weiter an dem verbogenen Blechdeckel des Kochtopfes, den sie just in Händen hält. Dabei hat sie die weiten Ärmel ihrer ausgewaschenen gelben Jacke hoch aufgeschlagen und den faltigen Rock zwischen den Knieen eingeklemmt.
Endlich vermag sie das Schweigen nicht länger zu ertragen. Sie räuspert sich laut, um Fräulein Kathis Aufmerksamkeit zu erregen, und will, nachdem ihr dies gelungen ist, eben einen kleinen »Plausch« beginnen, da kommt Marie, zum Ausgehen bereit, durch die Küche.
»Ich geh' in die Stadt, Frau Mutter!« sagt das Mädchen flüchtig, wechselt einen herzlichen Gruß mit der Tänzerin und wendet sich der Treppe zu. Die Mutter sieht ihr finster nach. Es geht ihr jetzt ganz seltsam mit der älteren Tochter. Sie kann den Blick nicht vergessen, mit welchem Marie in jener Unglücksnacht an ihr vorbeistürmte, um dem Vater zu Hilfe zu eilen. Ihr stiller Groll gegen Marie erhält durch diese peinvolle Erinnerung nur noch neue Nahrung.
Sobald das Mädchen im Stiegenhause verschwunden ist, verläßt Frau Schober eilends die Arbeit und stellt sich, die roten Arme in die Hüften gestemmt, vor ihre Thüre.
»Es ist wirklich merkwürdig!« sagt sie zornig. »Alle Augenblick' hat das Mädl jetzt was in der Stadt zu thun!«
97 »Sie muß doch die Arbeit auswechseln!« erwidert Fräulein Kathi vorwurfsvoll.
»Die Arbeit! Natürlich, das ist allemal die große Ausred! Leg' ich vielleicht die Händ' in den Schoß? Ja?! Freilich treib' ich kein solches Wesen mit meiner Arbeit. Ich bin aber eine alte Person und gar nicht gesund, mich strengt's deshalb auch viel mehr an als das junge Geschöpf, das am liebsten die Prinzessin spielen und gar nichts thun möcht'! . . . Hm, so ein bißl Nähen oder Sticken, . . . da ist auch was dahinter!«
Die Tänzerin strickt emsig weiter und antwortet nicht. Nach einer Weile kommt Vater Schober heim. Er geht ohne zu grüßen an den Frauen vorüber, die ihm kopfschüttelnd nachsehen. Seine Gattin folgt ihm und fragt ängstlich, ob er den Advokaten angetroffen habe? Der Polier brummt eine unverständliche Antwort und schlägt die Stubenthüre so heftig hinter sich zu, daß die Fensterscheiben klirren.
»Er ist aber nicht besonders artig, Ihr Herr!« meint Fräulein Kathi, die ihren Unwillen nicht länger bemeistern kann.
Frau Schober seufzt und beginnt ihre alten Klagen.
»Es ist aber auch wirklich ganz aus der Weis',« schluchzt sie, »wie mich das Unglück verfolgt! Auf meine alten Tag' nichts als Kummer und jetzt noch die schwere Arbeit dazu. Nirgends eine Hilf', nirgends eine Unterstützung . . .«
»Sagen S' mir nur einmal, Frau Schober,« wirft die Tänzerin anscheinend harmlos ein, »warum lassen Sie sich denn nicht von Ihrer Lori helfen?«
Frau Schober sieht sie verblüfft an. Die Frage scheint ihr ganz ungeheuerlich.
»Von der Lori?« wiederholt sie nach einer Pause. »Aber Fräul'n Kathi, wo denken S' denn hin? Die Lori ist doch 98 nichts für die grobe Arbeit! Und dann, . . . die Arme hat ja ohnehin so wenig von ihrem jungen Leben, soll sie sich vielleicht auch noch im Haus plagen und so rote, zerschundene Händ' bekommen wie ich? O nein, das wär' gar zu ungerecht!«
Zu ungerecht! Die Mutter spricht damit nur ihre innerste Überzeugung aus, denn für Lori hat von jeher ein Ausnahmegesetz gegolten. Wer hat es aufgestellt? Niemand weiß es, aber niemand dachte jemals ernstlich daran, es anzutasten. Lori selbst hat nie gefragt, woher ihre bevorzugte Stellung im Hause komme, ja diese ist ihr kaum jemals recht zum Bewußtsein gelangt. Seit sie denken kann, wurde sie gehätschelt und verwöhnt. Sie nahm ihr besseres Leben auch stets so hin wie das Essen, das ihr täglich vorgestellt wurde, und wie die Kleider, die sie anzog: ohne sonderliches Dankgefühl. Es war einfach etwas Selbstverständliches, das ihr gebührte. Und so hält sie es noch heute . . .
Seit dem Abende bei den Volkssängern geht sie vollends wie in einem beständigen Traume herum. Des Vaters häufige Trunkenheit, die angestrengte Arbeit der Schwester und die immergleichen Klagen der Mutter beachtet sie nicht weiter, ja der Alltagsjammer im Hause scheint sie jetzt weniger als früher zu quälen und zu ermüden. Auf ihrem runden rosigen Gesichtchen, aus dem die blühende Gesundheit leuchtet, hat sich ein Lächeln der Geringschätzung festgenistet. Der kleine Mund mit den vollen, ein wenig aufgeworfenen Lippen zieht sich ganz leichthin in die Breite und ein hochmütiges Zucken der Nasenflügel sagt es deutlich genug: Was liegt mir an all' den kleinlichen Sorgen und Plackereien? Über ein Kurzes lasse ich sie ja doch tief unter mir und fliege hinauf . . . hinauf!
Sie hat zwar nur eine ganz unbestimmte Vorstellung von dem Glücke, das sie stündlich erwartet; aber daß es in 99 allernächster Zeit kommen und sie aus der niederen Umgebung in eine schönere, vornehme Welt emporheben müsse, steht ihr unzweifelhaft fest. Ihre Vertraute ist jetzt Tini, die kleine Näherin von der Nachbarstiege. Ihr teilt Lori alle kleinen Geheimnisse, alle vagen Wünsche und Befürchtungen mit; auch die Gespräche mit Fanny, dem Blumenmädchen, das der Einladung Loris pünktlich Folge geleistet hat und seither täglich »auf einen kleinen Plausch« ins Freihaus kommt. Fanny betritt jedoch niemals den Korridor, sondern läßt Lori stets in den Hof hinabrufen, wo sie dann ein Langes und Breites zu erzählen hat, meist von dem hübschen jungen Grafen, den Lori bei den Volkssängern kennen lernte. Heute bespricht sie seine feinen Manieren, morgen seinen Reichtum und ein nächstesmal meint sie wieder, daß er gar so toll verliebt sei in ein junges Mädchen, welches er nur ein einzigesmal gesprochen habe und um alles gerne wiedersehen möchte. Lori errötet dann, lacht überlaut und thut als verstünde sie die Anspielung nicht. Fanny dringt auch vorerst nicht weiter in sie, aber ihre Erzählungen von dem verliebten Grafen werden täglich eingehender und rührender. Dabei überbieten sich die beiden Mädchen an harmloser Fröhlichkeit und suchen einander so unbefangen als möglich in die Augen zu sehen. Fanny bringt das vortrefflich zuwege, während Lori doch noch hie und da zu Boden blickt und mitten in einem Ausbruche der natürlichsten Heiterkeit plötzlich gezwungen lächelt. Teilt sie dann der Näherin die neuesten Erzählungen Fannys mit, so verändert sie dieselben wohl auch ein wenig; der junge Graf wird als bereits totkrank vor Liebe und sie selbst als die Prinzessin mit dem Kieselherz dargestellt. Wie die kleine Näherin entzückt aufhorcht! Lori schaut dabei stets mit zerstreuten Blicken ins Leere und um ihren Mund gaukelt immer wieder jenes erwartungsvolle Lächeln, als müsse das sicher 100 erwartete Glück im nächsten Augenblick vom blauen Himmel herab flattern und ihr vor die Füße fallen.
So steht sie eben wieder neben Tini im Hofe und schwatzt von dem gestrigen Besuche Fannys. Da kommt das Blumenmädchen selbst ganz unerwartet daher. Da die kleine Näherin bald merkt, daß Fanny eine wichtige Neuigkeit bringe, macht sie sich bescheiden mit ihrem Kruge am Brunnen zu schaffen. Das Blumenmädchen zieht denn auch Lori nach kurzem Gruße beiseite und beide gehen plaudernd auf und nieder. Tini beobachtet sie heimlich. Sie kann zwar nicht verstehen, was gesprochen wird, allein ab und zu schlägt doch ein halber Satz, ein abgerissenes Wort an ihr Ohr, das eine ganze Reihe von Gedanken in ihr weckt. Allem Anscheine nach sucht Fanny die Freundin zu irgend einem Entschlusse zu bereden, was ihr jedoch nicht sofort gelingen will.
Jetzt kommen beide zurück. Fanny hat sich so sehr in Eifer gesprochen, daß sie die kleine Näherin, die horchend am Brunnen lehnt, gar nicht mehr beachtet.
»Und wenn sich der arme Mensch was anthut?« fragt sie laut und mit eindringlichem Vorwurfe. »Im stand ist er's!« Die letzten Worte klingen wie eine versteckte Drohung.
Tinis Augen leuchten. Gewiß ist von dem schönen jungen Grafen die Rede! Das ist es, was sie immer prophezeit hat! Fürsten und Grafen müssen sich Loris wegen umbringen, – so ist's recht! Und neidlos blickt sie auf Lori, die ungläubig, aber doch sichtlich geschmeichelt vor Fanny steht und aufmerksam die Spitzen ihrer Schuhe betrachtet, die unter dem Rocksaume vorgucken.
»Kann ich's verhindern?« lacht diese jetzt selbstgefällig. »Ich weiß ja gar nicht, wer das hartherzige Mädl ist!«
»Reden wir offen, Lori!« fällt Fanny immer lauter ein. »Du weißt ganz gut, daß der Graf in Dich verliebt 101 ist.« Nach diesem unerwarteten Frontangriffe zieht sie plötzlich ein schwarzes Lederetui aus der Tasche und steckt es Lori zu.
»Da nimm!« sagt sie hastig.
Lori greift rasch nach dem Etui, zögert dann aber eine Weile und öffnet es endlich nur langsam und anscheinend völlig gleichgültig. Aber ihre Hände zittern doch ganz merklich.
»Je, der schöne Ring!« ruft sie jetzt, alle Komödie vergessend, und will das glitzernde Schmuckstück sofort herausnehmen, allein Fanny hat einen neugierigen Blick der Näherin bemerkt und fällt der Freundin in den Arm.
»Er ist vom Grafen!« flüstert sie wieder so heimlich, daß Tini nichts mehr verstehen kann. »Heut' abend wird er da durch den Hof gehen, – vielleicht bist Du zufällig herunten, dann kannst Du ihm danken oder ihm den Ring zurückgeben, wenn Du ihn nicht behalten willst!«
Lori will eine Einwendung machen, aber da schlägt es fünf Uhr und Fanny besinnt sich plötzlich, daß sie große Eile habe. »Schon so spät!« ruft sie, die Glockenschläge zählend. »Und ich muß noch zum Gärtner nach Fünfhaus um frische Blumen für heut' abend! . . . Also adie, und –« sie faßt beide Hände der Freundin und flüstert ihr mit besonderem Nachdrucke ins Ohr: »Sei g'scheit, Lori!«
Damit huscht sie schon über den Hof und verschwindet eilends in dem dunkeln Durchgange hinter der Kapelle. Lori wendet sich langsam dem Brunnen zu. Sie blickt träumerisch vor sich hin und ihre Finger spielen mit dem schwarzen Etui.
»Was haben S' denn da, Fräul'n Lori?« fragt Tini, die ihre Neugierde nicht länger bezwingen kann.
»O nichts!« erwidert Lori mit erkünstelter Gleichgültigkeit. »Es ist nur ein Ring.«
Und sie öffnet das Etui. Tini schlägt entzückt in die 102 Hände. »Herr Gott, ist der aber schön!« ruft sie. »Und die vielen Steine! Sind sie echt? Natürlich, – Ihnen wird doch keiner was Falsches geben! Gewiß von dem schönen jungen Grafen, der sich Ihretwegen umbringen will? Hab' ich's erraten? – Sehen S', ich hab's Ihnen immer gesagt, wenn man so jung und so schön und so lieb ist wie Sie, dann kann's ja gar nicht fehlen, dann muß das Glück einschlagen!«
Die kleine Näherin plaudert immerzu und blickt dabei so herzensvergnügt drein, als wäre das »Glück« bei ihr selbst eingekehrt. Loris Wangen überfliegt ein leichtes Rot und ihr Atem fliegt . . . Da ist es also, das lang ersehnte Glück! Es streift sie eben, sie kann es festhalten, . . . und das will sie auch! Dennoch heuchelt sie der Vertrauten gegenüber noch immer den kühlsten Gleichmut. Bah, was ist auch an einem Ring gelegen! Das kleine Diamantkreuz darin glitzert freilich ganz artig, – – Lori steckt den Ring an den Goldfinger der rechten Hand und läßt die Steine in der Sonne funkeln.
Tini ist schier geblendet. »Nein, wie das glitzert! Die Augen gehen einem über. Das ist der schönste Verlobungsring, den ich noch gesehen hab'! Grad wie eine Gräfin schaun Sie damit aus!« Sie tritt geschäftig einige Schritte zurück und wird nicht müde, Hand und Ring zu bewundern. Dazwischen fragt sie immer wieder, ob der junge Graf denn wirklich recht vornehm aussehe, ob er blond oder braun sei, wie er sich trage, wie er spreche, – kurz, sie ist unerschöpflich in Fragen, die umso überflüssiger sind, als Lori ihr dieselben seit dem Abende bei den Volkssängern schon an die hundertmale beantwortet hat.
Dennoch wird Lori, welche den Ring wieder sorgsam in das Etui zurücklegt und dieses offen in der Hand hält, 103 nicht müde, all' diese Antworten aufs neue zu wiederholen, ja die beiden Mädchen geraten dabei dergestalt in Eifer, daß Frau Sobotka, welche mit einem Kruge in der Hand aus dem Hause tritt, eine geraume Weile knapp hinter ihnen stehen und ihr Gespräch belauschen kann, ohne von ihnen bemerkt zu werden.
»Ein sehr schönes Ringl!« sagt die Amtsdienersgattin endlich laut und greift nach dem Etui, welches Lori mit einem leisen Aufschrei verbergen will.
Die Nachbarin beruhigt sie. »Ich verrat' Sie nicht, Fräul'n Lori!« versichert sie würdevoll. »Mein Gott, man war ja auch einmal jung und hat Präsenter bekommen, wie das Ringl da.«
Sie nimmt es dem Mädchen fast mit Gewalt ab und prüft es mit Kennermiene.
»Solide Arbeit!« erklärt sie dann feierlich. »Unter Brüdern fünfzig Gulden wert. Hätt' nicht geglaubt, daß der Herr Sturm so viel überflüssiges Geld hat!«
Tini stößt Lori an und lacht überlegen. »Der ist freilich nicht so reich!« kichert sie seelenvergnügt.
Frau Sobotka wirft einen geringschätzenden Blick auf die kleine Näherin und wendet sich dann wieder Lori zu. »Die neue Bekanntschaft von den Volkssängern, – ja?« forscht sie lauernd. »Hm, muß ein feiner Mann sein, der Herr Graf, wenn er gleich mit so schönen Geschenken anfangt! Den müssen Sie festhalten, Fräul'n Lori. Mein Gott, die Männer sind so flatterhaft! Wenn ich da reden wollt' . . .!«
Sie kann ihre Bekenntnisse nicht vollenden, denn eben kommt Frau Stölzl hochgerötet vom nächsten Hofe her und eilt in sichtlicher Aufregung schnurstracks auf die kleine Gruppe am Brunnen zu. Sie sucht ihr Söhnchen, den ›Pepi‹.
104 »Haben S' meinen Pepi nicht gesehn?« ruft sie atemlos. »Er ist zeitlich früh fortg'laufen und ich weiß nicht, wo er steckt!«
Nein, sie haben ihn nicht gesehen. Frau Stölzl stellt sich unter die Korridorfenster.
»Pepi!« kreischt sie hinauf. »Bist vielleicht oben? Komm herunter!«
Oben rührt sich nichts. Die geängstigte Mutter schilt erst, nennt ihr Söhnlein einen nichtsnutzigen Vagabunden, der ihr just wie sein Vater nichts als Kummer und Sorgen bereite, fällt aber sofort wieder in einen weinerlichen Ton, indem sie meint, der Bub' sei am Ende doch ihr alles auf der Welt, und wenn ihm etwas zugestoßen wäre, könnte sie es nicht überleben und müßte geradewegs in die Donau laufen, »denn« – schluchzt sie in ihre blaue Schürze – »der Pepi ist halt doch die einzige Erinnerung an meinen Seligen, und der war eine gar so gute und treue Haut!«
Während die dicken Thränen über ihre roten Backen laufen, bemerkt sie plötzlich den Ring, den Frau Sobotka noch in Händen hält. Erstaunt läßt sie die Schürze fallen und fragt eifrig:
»Was haben S' denn da, Frau Nachbarin?« Hierauf neue Bewunderung, neue Beglückwünschung der so reich Beschenkten, neue Versicherung tiefster Verschwiegenheit, – Pepi und sein verstorbener Vater sind für eine Weile vergessen. Lori muß auf Wunsch der resoluten Witwe den Ring nochmals anstecken und ihn neuerdings in der Sonne funkeln lassen. Das junge Mädchen biegt sich zierlich zurück, schwenkt den Arm ein wenig auf und nieder und beäugelt selbst mit immer wachsendem Vergnügen das lebhafte Farbenspiel der Steine. Dabei wirft sie von Zeit zu Zeit einen raschen Seitenblick auf die Nachbarinnen, welche sich zwar höchlich 105 entzückt geberden, in Wahrheit jedoch eine leise Verstimmung nicht völlig bemeistern können. Das ist es, was Lori mit besonderer Genugthuung erfüllt. Ein unbeneidetes Gut ist wertlos, jetzt erst freut sie sich des schönen Schmuckstückes. Vorsichtig löst sie den Ring vom Finger, legt ihn mit absichtlicher Umständlichkeit endgültig in das hübsche Etui zurück und steigt mit ihrem Schatze langsam die Treppe empor.
Oben auf dem Korridore ergeht sich Frau Schober noch immer in weitschweifigen Erörterungen der Frage, welche die Tänzerin unvorsichtiger Weise aufgeworfen hat.
»Darüber giebt's gar nichts zu reden!« schließt die beleibte Poliersgattin eben eine längere Auseinandersetzung. »Die Lori ist halt nicht für die Arbeit geboren und wenn man zu etwas nicht geboren ist – –«
»Aber wenn sie einmal heiratet, wird sie doch arbeiten müssen?« fällt ihr Fräulein Kathi kopfschüttelnd ins Wort.
»Wenn sie einmal heiratet?!« Frau Schober begleitet diese Worte mit einem ausdrucksvollen Achselzucken. »Die Lori heiratet keinen gewöhnlichen Mann, bei dem sie arbeiten müßt'!« erklärt sie dann bestimmt, und sich über die Tänzerin beugend, fährt sie halblaut und geheimnisvoll fort: »Wer weiß was für Neuigkeiten wir nächstens erfahren! Es giebt sehr noble Leut', die sich für die Lori interessieren.«
Dabei zieht sie die Mundwinkel herab und nickt ungemein würdevoll. »Ja wohl, sehr noble Leut'!« wiederholt sie mit starker Betonung.
Fräulein Kathi glättet ihre Arbeit auf dem Knie. »Armer Sturm!« sagt sie leise.
»Ja, es thut mir auch leid um ihn,« meint Frau Schober herablassend, »er ist ein ganz braver Mensch, der es gewiß noch zu etwas bringt in der Welt, aber mein Gott, wenn sich einmal die nobeln Leut' einstellen, da kann doch von 106 einem armen Bauführer nicht mehr die Red' sein, – das wird er ja selbst einsehen müssen!«
Hier tänzelt Lori, von der Treppe kommend, den Korridor entlang. Halblaut ihr Lieblingslied trällernd und in den feuchtschimmernden Augen noch den Nachglanz des Triumphes, den sie nach ihrer Überzeugung unten im Hofe gefeiert hat, reckt sie sich, als stünde sie eben von einer schweren Arbeit auf, lächelt zerstreut und fragt endlich die Mutter, ob der Vater daheim sei?
»Seit einer halben Stund' ist er schon zu Haus!« antwortet Frau Schober. Noch ganz in ihre stolzen Zukunftspläne versunken, kann sie sich's nicht versagen, die Wangen der hübschen Tochter zu streicheln. Lori blickt sie überrascht an und tritt einen Schritt zurück.
»Was hat denn die Frau Mutter?«
Der abweisende Ton verletzt Frau Schober zwar ein wenig, aber sie will sich's vor der Tänzerin nicht merken lassen.
»Nichts, mein Engel!« erwidert sie zärtlich. »Ich freu' mich nur, daß Du so gut ausschaust. Da ist's freilich kein Wunder, wenn –«
Lori läßt sie nicht zu Ende sprechen. »Also der Vater ist zu Haus?« fällt sie ihr ins Wort. »Schad'! Ich hab' in die Kammer geh'n wollen.«
»Was willst denn in der Kammer?«
»Mein blaues Kleid möcht' ich anziehn.«
»Dein Sonntagskleid, – heut'? Und jetzt am Abend?«
»Ja, . . . der Leib da ist mir zu eng, er thut mir weh, . . . ich kann die Arme nicht rühren, . . . au!« Und sie steht mit weit ausgestreckten Händen recht hilflos da.
»Das ist aber merkwürdig!« meint Frau Schober erstaunt. »Gestern war das Kleid noch ganz gut.«
»O nein, gestern hat es mich auch schon geniert, ich 107 hab' nur nichts sagen wollen!« ächzt Lori. »Aber jetzt halt' ich's nicht mehr aus, . . . ich muß das blaue Kleid anzieh'n!«
»So geh hinein, . . . der Vater ist heut' ganz ruhig!«
»Ah, das kenn' ich schon! Ich laß' mich nicht anschnauzen . . .! Wenn die Frau Mutter so gut wär' und mir das Kleid herausbringen thät', könnt' ich mich bei Fräu'ln Kathi umziehn. Nicht wahr, Fräul'n, Sie erlauben's?«
Die Tänzerin gestattet das gern. Aber die Mutter zeigt wenig Lust die Stube zu betreten. »Geh Du nur selber hinein,« erwidert sie abwehrend. »Du kommst mit dem Vater noch am besten aus!«
Nach einigem Hin- und Widerreden, das wenig Schmeichelhaftes über Vater Schobers Laune zu Tage fördert, wagt sich Lori endlich doch bis an die Stubenthüre, an der sie eine Weile horcht.
»Hörst was?« fragt Frau Schober vom Korridor herein.
»Er pfeift!«
»Das ist ein gutes Zeichen.«
»In Gottes Namen, – ich probier's!« Lori schlägt halb lachend, halb wirklich furchtsam ein Kreuz und öffnet leise die Thüre.
Vater Schober ist in der That fast heiter gestimmt, obgleich er, als er heim kam, sich finster in den alten Lehnstuhl warf und ingrimmig vor sich hinstarrte.
Seit einer vollen Woche geht er nun Tag für Tag zu dem Advokaten, den ihm Kumpf empfohlen hat, und sitzt dort stundenlang im Vorzimmer bei einem frechen Schreiber, der ihn rauh anläßt und daheim warten heißt, bis seine Sache den vorgeschriebenen Weg durchgemacht habe. Aber der Polier läßt sich so leicht nicht abweisen. Er paßt den Advokaten selbst ab, wenn dieser zu Gericht geht oder von dort zurückkehrt. Freilich, was hilft's? Der Anwalt ist wohl weit 108 freundlicher und liebenswürdiger als der grobe Schreiber, aber mit all' seiner Höflichkeit bringt er doch nichts anderes vor, als ein obenhin tröstendes: »Steht gut, lieber Alter, steht ganz vortrefflich!« Und damit geht er grüßend seiner Wege.
Auch heute hat Vater Schober keine andere Antwort erhalten und ist darüber wie täglich in ein düsteres Grübeln geraten. Noch immer kein Fortgang, kein Erfolg, kein Ende des Prozesses abzusehen! Noch immer kein Schimmer von Hoffnung! . . . Das sind die Stunden, in welchen er ganz nüchtern über seine Lage denkt und es manchmal in ihm aufsteigt wie Sehnsucht nach der altgewohnten Arbeit, nach geordneten, wohl abgemessenen Lebensverhältnissen.
Wie, wenn er eine friedliche Auseinandersetzung mit seinem Brodherrn versuchte? Der Gedanke erweckt anfänglich seine ganze Erbitterung über die erlittene Schmach, über das erduldete Unrecht vom neuen. Er weist ihn entrüstet von sich und durchmißt zitternd vor Aufregung die Stube. Niemals, – niemals wird er um sein ehrliches, sonnenklares Recht betteln, niemals dem falschen, verleumderischen Baumeister anders entgegen treten, als fordernd, Genugthuung heischend. Aber je ernster er seine Lage überblickt, desto klarer tritt es ihm vor die Seele, daß es so nicht fortgehen könne, will er nicht samt den Seinen elend zu Grunde gehen. Und der einzige Weg der Rettung führt nun einmal über den Bauplatz, durch die Bauhütte Wiesingers . . .! Diesen Weg muß er betreten.
Entschlossen greift er endlich nach seinem Hute und geht aufrecht bis zur Thüre. Aber er öffnet sie nicht. Allerlei Bedenken halten ihn zurück. Der Baumeister ist jetzt gar nicht auf dem Bauplatze, oder ein Gewitter steht just am Himmel; heute ist Zahltag, morgen ist Feiertag und übermorgen schmerzt die Wunde am Bein, er muß zurück zum 109 Lehnstuhl, muß noch ein wenig rasten. So bleibt er zwar fest entschlossen, den schweren Schritt zu thun, aber er verschiebt ihn doch auf den folgenden Tag. Morgen, ja morgen will er hingehen, da soll ihn auch gewiß nichts mehr abhalten! In diesem Entschlusse fühlt er sich so frei und leicht, daß er sogar wie einst in fröhlicheren Jugendtagen irgend ein veraltetes Lied zu pfeifen anhebt und die Kohlmeise im Bauer neckt.
Er merkt es kaum, daß Lori eintritt, auf den Zehen durch die Stube huscht und leise in die Kammer schleicht, deren Thüre sie vorsichtig hinter sich ins Schloß zieht.
Eine halbe Stunde später kommt Marie mit den beiden Nachbarinnen die Treppe herauf. Ihre Wangen sind vom raschen Gehen gerötet und ihre Augen blitzen suchend den Korridor entlang.
»Wo ist die Lori?« wendet sie sich hastig an die Mutter, welche sich, sobald sie der älteren Tochter ansichtig wird, rasch ans Fenster stellt und ihr den Rücken zukehrt.
»Drin in der Kammer!« Frau Schober brummt diese Antwort, ohne zurückzublicken.
Die Nachbarinnen treten hinzu und Frau Stölzl beginnt aufs neue ihrer Sorge um Pepi Ausdruck zu geben. »Ich weiß mir nicht mehr zu helfen,« jammert sie, »der Bub' ist nirgends zu finden!« Und sie ringt verzweifelt die Hände. Während Frau Schober und Fräulein Kathi sie zu beruhigen versuchen, erzählt die Amtsdienersgattin einige Schreckensgeschichten von Kinderdieben, die eben wieder stark »umgehen« sollen, wie sie in der Zeitung gelesen haben will, – denn Frau Sobotka liest täglich die Zeitung.
Die Witwe stöhnt nach jeder einzelnen Geschichte entsetzt auf und weint dazwischen still in ihre blaue Schürze.
»Deswegen müssen Sie aber nicht gleich alle Hoffnung 110 aufgeben!« schließt Frau Sabotka ihre trostvollen Mitteilungen. »Ihr Pepi kann sich ja immer noch finden, obwohl es freilich schon ein bißl spät ist!« –
Marie tritt in die Küche und will eben die Stubenthüre öffnen, da kommt Lori heraus. Sie hat nicht nur das blaue Sonntagskleid angezogen, sondern auch ein buntes Seidentuch um den Hals geschlungen und die Rose ins Haar gesteckt, die sie am Kammerfenster vor Mariens Arbeitstisch fand. An dem Goldfinger der rechten Hand funkelt der Ring mit dem Diamantkreuze.
Sie will an der Schwester vorbei huschen, wobei sie – absichtlich oder zufällig – die rechte Hand in den Falten ihres Kleides verbirgt. Allein Marie, welche die Gangthüre rasch geschlossen hat, tritt ihr in den Weg.
»Wohin willst?« fragt sie streng.
»Was geht's Dich an?« erwidert Lori schnippisch. »Schau, was für ein neuer Ton das wär'!«
Marie blickt ihr ernst in die Augen. »Lori, gieb den Ring zurück, den Du heut ang'nommen hast!« sagt sie ruhig, aber mit fester Stimme. Lori, welche erst entrüstet auffahren will, schlägt den Blick zu Boden und stottert verlegen:
»Was für einen Ring? Ich begreif' nicht, was Du von mir willst!«
»Du weißt's ganz gut! Den Ring von dem – Grafen oder was er ist, sollst Du zurückgeben.«
»Ich hab' keinen Ring bekommen, laß mich in Ruh'.«
Und abermals versucht Lori die Thüre zu gewinnen, aber Marie hält sie am Arme fest.
»Laß mich los!« zischt Lori zornig und sucht die Schwester zurück zu drängen. Dabei muß sie die rechte Hand zu Hilfe nehmen, an welcher Marie den Ring entdeckt. Lori errötet und erblaßt jählings, wendet endlich den Kopf ab und sagt trotzig:
111 »Nun ja, da ist der dumme Ring. Und was ist's weiter? Hätt' ich Dich vielleicht um Erlaubnis fragen sollen, ob ich ihn annehmen darf oder nicht?«
Marie läßt die Hand der Schwester fallen. »Lori!« sagt sie bekümmert, »schämst Dich denn gar nicht?«
»Wüßt' nicht warum!«
»Weißt Du, was sie im Haus sagen? Daß Du die Geliebte von dem Grafen bist!«
»Wer sagt das?«
»Alle Leut' im Haus! – Glaubst Du, die Frau Sobotka und die Frau Stölzl haben es mir allein erzählt? Der ganze Hof spricht schon davon!«
»Sie sollen reden, was sie wollen! Deswegen ist's doch nicht wahr.«
»Vielleicht jetzt noch nicht. Aber den Ring hast Du doch ang'nommen und tragst ihn sogar, . . . und weswegen hast Du heut' Dein Sonntagskleid angezogen? Weswegen hast Du Dich hinausschleichen wollen wie ein Dieb bei Nacht? – Du hast ein Rendezvous mit dem Grafen!«
Lori schweigt. Sie zerrt an den Falten ihres Kleides und beißt sich in die Lippen. Marie fährt dringender fort:
»Ich will's ja glauben, daß noch nichts geschehen ist, was just schlecht wär', aber denk doch nur an das Gered' von den Leuten, denk an Deinen ehrlichen Namen, der jetzt schon so bös mitg'nommen wird, – was soll's dann erst später werden?! Sei vernünftig, Lori, und spiel nicht mit Deiner Zukunft!«
Lori antwortet auch jetzt noch nicht, aber um ihre Lippen zuckt es immer ungeduldiger, und da Marie den Arm um ihren Nacken schlingen will, stößt sie die Schwester heftig von sich.
»Laß mich, Du zerdrückst mir das Kleid!« murrt sie.
112 Marie läßt sich jedoch nicht so leicht abweisen. Mit sanfter Gewalt zieht sie Lori an sich heran und flüstert ihr schmeichelnd zu:
»Schau, g'rad jetzt sollten wir zwei fest zusammenhalten. Du siehst ja so gut wie ich, was vorgeht. Wer weiß, wohin der schlechte Mensch, der Kumpf, den Vater noch treibt! Da müssen wir uns halt allein helfen, – nicht wahr? . . . Weißt, wenn man so den ganzen Tag und oft auch in der Nacht, wo die andern schon schlafen, allein bei der Arbeit sitzt, da kommen einem allerhand Gedanken. Und da hab' ich mir so gedacht, wenn Du Dich ein bißl zu mir setzen und mir helfen möchst, – vielleicht nur ein paar Stund' alle Tag', – es wär' doch der rechte Anfang zu einem neuen Leben! Geh, laß das trotzige Wesen, gieb mir die Hand und sag, daß Du mir von heut' an helfen willst! Du wirst sehen, es ist gar nicht so arg als es ausschaut; die Arbeit hat auch ihre schönen Seiten, man fühlt sich ganz anders dabei, viel rechtschaffener und besser, – – es wird Dir ganz gewiß g'fallen, wenn wir zwei so schön beisammen sitzen und lustig drauf lossticheln werden!«
Die sonst so herbe Stimme des jungen Mädchens klingt bei diesen Worten weich und herzlich, wie die jüngere Schwester sie noch nie gehört hat. Lori sieht betroffen auf.
»Ich hab' aber versprochen, daß ich heut' abend hinunter geh!« wendet sie leise ein.
»Wird der . . . Graf unten sein?«
Lori zögert erst, dann schüttelt sie den Kopf. »Nein,« sagt sie und errötet bis an die Haarwurzeln, »nur die Fanny.«
Marie richtet sich entschlossen auf. »Gut, dann geh ich hinunter! Gieb mir den Ring.«
Aber da sie nach dem Ringe greift, zieht Lori die Hand zurück.
113 »Ja, – Du wirst doch den Ring nicht behalten wollen?!« fragt Marie erstaunt.
Lori will antworten, doch eine unerklärliche Scheu schnürt ihr die Kehle zu. Sie starrt eine Weile mißmutig vor sich hin und zieht dann mit sichtlichem Widerstreben den Ring halb vom Finger. Plötzlich stampft sie mit dem Fuße auf und drückt den Ring zurück.
»Nein, ich geb' ihn Dir nicht!«
Und ehe Marie etwas erwidern kann, macht Lori dem lange zurückgedrängten Groll mit einem Schwall von Vorwürfen, Anklagen und Verwünschungen Luft, die wie dichter Hagelschlag auf die verblüffte Schwester niederprasseln und der Sprecherin selbst von Zeit zu Zeit den Atem rauben, so wild und regellos kollern sie über ihre Zunge und drängen sich über ihre Lippen. Zu dem alten Jammer über das einförmige, »zum Sterben fade« Leben in den kahlen vier Wänden des langweiligen Daheims gesellt sich die Angst, das so heiß ersehnte und nun endlich erreichte »Glück« könne ihr noch in letzter Stunde entrissen werden, zugleich aber auch der Zorn, daß sie sich so lange von der Schwester einschüchtern ließ. Sie schämt sich ihrer ängstlichen Scheu von vorhin und will sie durch doppelte Heftigkeit wett machen. Eine leise Stimme sagt ihr bei alledem, daß Marie recht habe. Aber das erbittert sie nur noch mehr gegen die Schwester, der sie die niedrigsten Motive unterschiebt . . .
Nichts als Neid ist es, was Marie bewegt; sie will der jüngeren und hübscheren Schwester nicht gönnen, was ihr selbst zu erreichen unmöglich ist! Diese häßliche Anschuldigung, von deren Haltlosigkeit Lori selbst ganz wohl überzeugt ist, schleudert sie der älteren mit besonderer Genugthuung ins Gesicht. Da sie merkt, daß Marie darüber erblaßt, kommt sie wie ein boshaftes Kind immer wieder darauf zurück.
114 »Schau, wie fein Du wärst!« zischt sie triumphierend. »Arbeiten soll ich wie Du Natürlich! Weil Dich keiner mag, soll ich mich auch in der Kammer drin vergraben und grad so gelb und dürr werden wie Du? . . . Oder schaut Dich vielleicht einer an? Ja? Nicht einmal der Sturm, obwohl Du Augen auf ihn machst, als ob Du ihm gleich um den Hals fallen möchst, wenn er nur wollt'! Aber er will halt nicht! Mir rennt er nach, mir –, und ich streck' nicht einmal den Finger aus nach ihm. Ja, starr mich nur an wie ein Gespenst! – Gelt, das trifft? Gar so dumm ist die Lori halt doch nicht, wie Du glaubst, Du scheinheiliges, neidisches Ding, Du!«
Marie ist in der That erschreckend bleich geworden. Sie sieht die Schwester unverwandt tieftraurig an und schüttelt nur leise den Kopf. Lori vermag ihren Blick nicht zu ertragen.
Wenn Marie doch gleichfalls heftig antworten wollte! Das blasse Gesicht, die festgeschlossenen Lippen und die großen Augen der Schwester, die starr auf sie gerichtet sind, verwirren Lori endlich. Vergebens sucht sie durch neue und noch heftigere Ausfälle Marie zu einer Antwort zu reizen, – es gelingt ihr nicht, und so hält sie denn mit Eins doppelt ergrimmt inne, holt tief Atem und bindet mit zitternden Händen das Halstuch fest, dessen Knoten sich während des Sprechens gelockert hat.
Das heimliche Gefühl ihres Unrechts, das sie vergebens durch ihr Schelten zu betäuben gesucht hat, erwacht mit erneuter Lebendigkeit, sie bereut ihre Heftigkeit, wenn sie es auch nicht eingestehen will. Ärgerlich zuckt sie die Achsel und sagt dann schmollend:
». . . Nun ja, warum mußt Du mich auch immer reizen! Ich, . . . ich hab's ja gar nicht so bös gemeint. Und das wegen dem Sturm . . .«
115 Hier hält sie verlegen inne, denn sie fühlt, daß es besser wäre, diese Sache ruhen zu lassen. Dennoch möchte sie den bösen Eindruck ihrer Worte verwischen und beginnt darum abermals:
»Eigentlich ist's doch recht dumm, daß wir uns streiten! Es kann ja jede ihren eigenen Weg gehen, – nicht wahr?«
Sie wartet eine Weile; da Marie aber noch immer nicht antwortet, geht sie endlich langsam zur Korridorthüre. Jetzt erst bricht Marie ihr Schweigen.
»Du willst also wirklich den Ring behalten und jetzt hinuntergehn?« fragt sie, jedem Worte einen seltsamen Nachdruck gebend. Ihre Augen flammen und sie hebt warnend den Arm.
Der drohende Ton reizt Lori.
»Ja, das will ich!« antwortet sie trotzig. »Und wer soll mich denn hindern? Vielleicht Du? . . . Ich lach' nur, wenn Du mir was verbieten willst!«
»Lach zu!« fällt ihr Marie entschlossen ins Wort. Mit einem Satze steht sie an der Stubenthüre, die sie hastig öffnet.
»Vater!« ruft sie in den halb dunkeln Raum.
Vater Schober ist eben dabei, sich das Bild der besseren Zukunft, die von morgen ab anheben soll, in den lebhaftesten Farben auszumalen. Mit Ekel und Verachtung blickt er auf die letzten Tage zurück, in welchen er sich verleiten ließ, stundenlang in der Kneipe zu sitzen und dann berauscht heimzuwanken. Nun soll das aber gründlich anders werden . . . . Ah, es ist doch ein Schönes um die Arbeit, um Ehrbarkeit und Selbstachtung! Ja wohl, Achtung ist die Hauptsache!
Die Stimmen seiner Töchter, welche in der Küche laute Rede und Gegenrede wechseln, schlagen an sein Ohr. Auch in seiner Familie soll ein neues Leben beginnen! Fortan will er ein strenges Regiment führen, will – – da ruft 116 Marie nach ihm. Das paßt ihm gerade. Er eilt in die Küche und läßt zunächst Marie rauh an.
Was der Lärm bedeute? Ob das der Ton in einer anständigen Familie sei? Ob sie nicht Frieden halten könne?! So poltert er ganz im Geiste des neuen Regiments, das er von nun an führen will.
»Ich bitt' mir's aus!« schilt er drohend. »Von heut' an muß das anders werden! Ich duld' die Streiterei nicht länger, – verstanden? Kein lautes Wort will ich mehr hören, merk Dir das ein für allemal!«
Marie wartet ruhig, wenn auch ein wenig zitternd, bis er zu Ende gesprochen hat. Dann aber nimmt sie allen Mut zusammen und sagt dem Vater in kurzen Worten, was sie von Lori gefordert hat. Kaum hat sie das letzte Wort gesprochen, so erschrickt sie auch schon über ihre eigene Kühnheit und tritt unwillkürlich einen Schritt zurück. Allein der Vater beachtet sie gar nicht weiter; er wendet sich gegen Lori, die halb verlegen, halb kindisch herausfordernd an der Wohnungsthüre steht, die Hand mit dem Ringe wieder in den Falten ihres Kleides vergraben. Sie ist sich ihrer Macht über den Vater wohl bewußt, aber da dieser jetzt die schmale Küche mit zwei Schritten durchmißt und sich knapp vor sie hinpflanzt, weicht das geringschätzige Lächeln doch von ihren Lippen, und ihre Wangen verfärben sich ein wenig, denn er scheint diesmal die Sache wirklich ernst zu nehmen. Er runzelt die Stirne und sieht gar nicht darnach aus, als ob er sich durch ein paar schöne Worte beruhigen lassen wollte.
»Gieb mir den Ring!« sagt er barsch.
»Aber Vater! – –« will Lori einwenden und sich in der gewohnten Weise des verzogenen Kindes schmeichelnd an ihn drängen. Er weist sie heftig zurück.
»Den Ring her, – geschwind!« wiederholt er scharf.
117 Und da Lori immer noch zögert und sich schmollend abwendet, zerrt er sie am Arme, daß sie laut aufschreit, und zieht ihr trotz ihrer weinerlichen Gegenwehr kurzweg den Ring vom Finger.
Sie steht nun, den trotzigen Blick zu Boden gesenkt und den schmerzenden Finger an den Mund gedrückt, vor dem Vater, der sich anschickt, ihr in einer wohlgesetzten Rede all ihre Fehler und das soeben begangene Vergehen eindringlich vorzuhalten. Er thut das in einem unnatürlich gespreizten, salbungsvollen Tone, den nur selten eine jener derben aber ungekünstelten Wendungen unterbricht, deren er sich sonst zu bedienen pflegt. Heute scheinen sie ihm der väterlichen Würde abträglich. Allmählich spricht er sich in ehrlichen Eifer und vergißt darüber immer häufiger die beabsichtigte Vornehmheit des Tones.
Was er an Vorwürfen und Mahnungen gegen sich selbst auf dem schwer bedrückten Gewissen hat, wirft er nun der Tochter vor: daß es ihrem Charakter an Ernst fehle, daß ihr Leichtsinn noch zu einem bösen Ende führen werde und daß er fernerhin ihre Arbeitsscheu nicht dulden wolle, denn Müßiggang sei immer und zu jeder Zeit aller Laster Anfang gewesen!
»Schlag Du Dir die nichtsnutzigen Gedanken an Liebhaber und Präsenter aus dem Kopf und denk lieber, wie Du was verdienen kannst!« ruft er mit erhobener Stimme. »Der Mensch ist zur Arbeit auf der Welt und zu nichts anderm! Nur wer tüchtig arbeitet, der wird geachtet, Achtung ist aber die Hauptsach' im Leben. Dein Vater ist auch nur ein einfacher Arbeiter, aber er ist stolz d'rauf, daß er's ist, – verstanden? Und wenn ich so einen Tagdieb einmal erwisch', der um Dich herumschleicht und Dir solche Ringeln zusteckt, so zerschlag' ich ihm alle Knochen im Leib, daß Du Dir Deinen Liebhaber nachher zusamm'klauben kannst!«
118 Die letzten Worte schreit er bereits und gestikuliert dabei immer heftiger und drohender vor Loris Augen. Die Aufregung thut ihm wohl, er fühlt sich dabei ungemein würdevoll und rechtschaffen.
Seine Frau, die von dem Lärm herbeigelockt die Thüre öffnet, bleibt mit offenem Munde auf dem Korridor stehen; auch die Nachbarinnen, die ihr nachdrängen, blicken sichtlich verwundert drein. Sie trauen kaum ihren Ohren, da sie den alten Polier so überzeugend von der Nützlichkeit und Würde der Arbeit sprechen hören, doch wagt niemand, ihn zu unterbrechen.
Lori möchte in die Erde sinken vor Scham und Ärger. Obgleich sie die Augen noch immer zu Boden geschlagen hat, bemerkt sie doch die höhnischen Blicke, mit welchen die Nachbarinnen bald sie, bald den Vater beobachten. Dieser beginnt immer wieder von neuem, und da Frau Schober, welche den Sachverhalt endlich zu ahnen beginnt, hastig dazwischen treten will, weist er ihre Einmischung mit einer kurzen Handbewegung entschieden zurück.
Während er noch eifrig spricht oder vielmehr schreit, taucht plötzlich Kumpf hinter den Nachbarinnen in der Thüre auf und schiebt sich, allseitig einen guten Abend wünschend, langsam in die Küche.
»Bitt' um Entschuldigung, wenn ich stör'!« sagt er mit einem höflichen Gruße, der aber von niemandem erwidert wird. Vater Schober hält jählings inne, blickt im Vollgefühle des neuen Menschen, den er von morgen ab anziehen will, den Schlosser vom Kopf bis zu den Füßen an und sagt dann wegwerfend:
»Was willst denn Du schon wieder da?!«
Kumpf scheint einen Augenblick überrascht, faßt sich aber bald und erwidert leichthin:
119 »Ich hab' nur nachschauen wollen, wie's Dir geht!«
»Die Müh' kannst ein andersmal sparen. Ich bin jetzt g'sünder als je und brauch' Deine Nachfrag' nicht! Von morgen an triffst mich auch gar nimmer daheim, – ich geh wieder arbeiten!«
Er sagt das mit besonderer Betonung und weidet sich an dem Erstaunen, das sich auf allen Gesichtern zeigt. Kumpf reibt sich eine Weile das Kinn und nickt wiederholt.
»So . . . so!« sagt er endlich gedehnt. »Da gratulier' ich Dir, Schober. Hast schon ein' Platz?«
»Ja, – ich arbeit' wieder beim Wiesinger.« Der Polier stockt bei dieser Antwort ein wenig, aber er hält Kumpfs fragenden Blick doch aus.
Der Schlosser sieht einen Augenblick wirklich verdutzt drein.
»Deshalb seh' ich den Wiesinger schon seit einer Viertelstund' in Eurem Hof herumsteigen!« meint er und schlägt sich an die Stirne wie einer, der die Lösung eines schwierigen Rätsels gefunden hat. Dabei fliegt sein Blick aber schon wieder lauernd über den Alten hin. Seine Mitteilung scheint auch in der That den Polier sehr betroffen zu machen, denn dieser läßt die hochgehobenen Achseln sinken und stottert, nun selbst verblüfft:
»Der Wiesinger?! – Wo ist er denn?«
»Unten im Hof,« erwidert Kumpf, welcher sofort seine Sicherheit wieder gewonnen hat. »Natürlich der Junge, nicht der Alte!« fügt er jetzt lachend bei.
Schober betritt hastig den Korridor und blickt in den Hof hinab. Seine Frau und die Nachbarinnen folgen neugierig, lassen den Alten aber allein stehen und besetzen die übrigen Fenster. Kumpf, welcher sich an Frau Schober drängt, weist vorsichtig hinab.
»Der Blonde dort mit dem kleinen Schnurrbart und dem Glas im Aug' ist's!« erklärt er eifrig.
120 »Der mit der Reitgert'n?«
»Ja, das ist der Wiesinger Eduard. Mir scheint, der wart' auf wen!«
Frau Schober blickt unverwandt hinab und schüttelt immer nachdrücklicher den groben Kopf.
»Unsinn!« ruft sie endlich. »Das ist ja der Graf!«
»Ein Graf, – der dort? Das wär' das neueste!« lacht Kumpf. »Ich kenn' den jungen Wiesinger seit seiner Kinderzeit, aber daß er ein Graf ist, hab' ich bis heut' nicht g'wußt.«
Der spottende Ton und das Lachen der beiden Nachbarinnen reizt Frau Schober, die den jungen Mann wohl erkannt hat und ihrer Sache sicher zu sein glaubt.
»Lori!« ruft sie entrüstet. »Komm her und sag, ob das nicht der Graf ist, weißt – der junge Graf von den Volkssängern!«
Lori ziert sich ein wenig. Sie bleibt schmollend an der Küchenthüre stehen und blinzelt nur zu den Fenstern hinüber. Aber die Neugierde, ob der Graf sie wirklich erwarte, vielleicht auch die Absicht sich ihm zu zeigen, bestimmen sie endlich dem Rufe der Mutter zu folgen. Sie umklammert Frau Schobers breiten Rücken, während sie sich zierlich vorbeugt, um in den Hof hinabzusehen. In diesem Augenblicke blickt der junge Mann unten auf, erkennt Lori und nickt ihr zu, indem er grüßend den Hut berührt. Da er aber neben ihr die Mutter und an den Nebenfenstern eine ganze Reihe fremder Gesichter bemerkt, tritt er zurück und knapp an das Haus heran um den neugierigen Blicken zu entschwinden.
»Na, ist das der Graf, oder nicht?« wendet sich Frau Schober triumphierend an Kumpf. »Den jungen Wiesinger kennt die Lori gar nicht!«
Allein der Schlosser ist nun einmal nicht zu überzeugen. Er grinst nur und meint:
121 »Dann hat sich das saubere Früchtl halt einmal für einen Grafen ausgegeben! Es wär' nicht sein erstes Stückl!«
Und davon ist er nicht abzubringen. Lori, welche den Gruß des jungen Mannes mit einem tiefen Erröten beantwortet hat, kehrt jetzt dem Fenster den Rücken zu, blickt zu Boden und scheint den Streit zwischen der Mutter und Kumpf gar nicht zu hören. Ihr rasches Atmen und das rastlose Spiel ihrer Hände, die unaufhörlich an Kleid und Halstuch zerren, zeugen von ihrer Unruhe und ihrem Mißmute. Scham und Ärger wechseln auf ihrer Stirn, und doch schmeichelt es ihr andererseits nicht wenig, der Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit zu sein.
Plötzlich fühlt sie sich an der Hand gefaßt und sieht unwillig auf. Der Vater steht vor ihr.
»Komm!« sagt dieser kurz und zieht sie in die Küche. Da die Mutter und Kumpf dahin folgen, zerrt er die Tochter in die Stube, deren Thüre er hinter sich absperrt. Lori starrt ihn mit weitgeöffneten Augen an. Was hat er vor? Jähe Angst überfällt sie. Sie möchte schreien, wagt es aber nicht. So klammert sie sich denn zitternd an das Bett und ihre Blicke folgen zaghaft dem Vater, der eine Weile schweigend im Zimmer auf und nieder geht.
»War der Laff' unten im Hof wirklich derselbe, der Dir den Ring g'schickt hat?« fragt er endlich, indem er knapp vor Lori stehen bleibt.
»Ja!« haucht sie.
»Und er hat sich für einen Grafen ausgegeben?«
»Ja, . . . die Mutter war auch dabei!«
»Die Mutter!«
Schober sagt das mit einem kurzen Lachen, das der Tochter vollends die Fassung raubt. So hat sie den Vater niemals lachen gehört. Sie bricht in Thränen aus.
122 »Ich hab' ja nichts Schlechtes gemeint!« schluchzt sie. »Andere Mädeln bekommen ja auch Sachen geschenkt, und . . . der Graf möcht' mich gewiß heiraten!«
»Red nicht so dummes Zeug!« herrscht der Vater sie an. Er beginnt aufs neue die Stube zu durchmessen.
»Hast Du ihn seit dem Abend bei den Volkssängern schon einmal wiedergeseh'n?« fragt er dann plötzlich.
»Nein, o nein, – das ganz gewiß nicht!« beteuert Lori, wie ein Kind nachschluchzend.
Vater Schober nimmt seinen Hut, öffnet die Thüre und verläßt die Stube, ohne die Tochter weiter eines Wortes zu würdigen.
»Wo willst hin?« fragt seine Frau, die angsterfüllt an der Thüre gehorcht hat.
»Zum Baumeister Wiesinger geh' ich!« antwortet der Alte so laut, daß man es auf dem Korridore hören muß. »Ich trag' ihm den Ring zurück, den sein Herr Sohn meiner Gans von Tochter geschenkt hat!«
Frau Schober schüttelt nur verblüfft den Kopf. Sie findet keine Antwort. Marie, die gleichfalls scheu zur Seite tritt, möchte den Vater um alles gerne bitten, daß er sich dem Baumeister gegenüber nur ja recht mäßigen möge. Aber sie wagt es nicht. Daß er die Sache so ernst nimmt, erfüllt sie mit den besten Hoffnungen für ihn und die ganze Familie. »Jetzt wird alles wieder gut!« flüstert sie vor sich hin und mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung drückt sie sich still in die Stube, um neben in der Kammer an ihre Arbeit zu gehen. Dabei steht sie plötzlich vor Lori, die noch immer im Banne der Angst und wie an allen Gliedern zerbrochen an dem Bette lehnt.
Eine Weile sehen sich die Schwestern schweigend in die Augen.
123 »Lori!« sagt Marie endlich bittend und streckt ihr die Hand entgegen. Aber Lori antwortet nicht. Sie beißt die Zähne zusammen und schüttelt nur ingrimmig den Kopf.
So muß Marie allein an die Arbeit gehen. –
Draußen auf dem Korridor steht Kumpf und nickt dem Polier, der hoch aufgerichtet an ihm vorübergeht, aufmunternd zu.
»Das ist eine famose Idee von Dir!« sagt er zutraulich. »Wart, ich begleit' Dich ein Stückl!«
Obgleich Schober von seiner Begleitung nicht eben erbaut scheint und sein Anerbieten auch gar nicht weiter beachtet, schlürft der Schlosser doch hinter dem Alten her und die Treppe hinab. Unten im Hof greift der Polier mit so mächtigen Schritten aus, daß Kumpf Mühe hat sich neben ihm zu erhalten. Trotzdem bleibt er nicht zurück, nur meint er keuchend:
»Hast Du aber Eil'!«
Nach einer Weile, da sie schon die Mitte des Hofes erreicht haben, fährt er kopfschüttelnd fort:
»Glaubst, daß ihr zwei euch besonders leicht reden werdet?«
Vater Schober erwidert noch immer nichts, aber er mäßigt doch seinen Schritt. Kumpf bemerkt dies wohl.
»Es ist an und für sich eine schwere Sach',« hebt er vom neuen an, »einem Vater, der in seinen Sohn so vernarrt ist, wie der Wiesinger in seinen Eduard, kurz und g'rad ins Gesicht zu sagen: Ihr Herr Sohn ist ein Lump! . . . Hm, große Augen wird er wohl machen!«
Der Alte geht noch langsamer und wischt sich den Schweiß von der Stirne.
»Ist Dir so warm?« fragt der Schlosser mit erheuchelter Verwunderung. »Es ist doch eher ein kühler Abend!« Und 124 er knöpft recht gemächlich seinen Rock zu. »Ja, ja,« meint er dann wieder und beschleunigt nun seinerseits den Schritt, »wenn man bedenkt, wie ihr zwei miteinander steht, – der Prozeß und das alles . . ., so ist's grad keine Unterhaltung, was Du da vorhast. Aber Du hast's einmal unternommen, und so mußt Du's auch ausführen. Ein Wort, ein Mann, – das ist ganz natürlich!«
»G'wiß! . . . Ganz g'wiß!« murmelt der Polier, dem es immer schwüler wird. Sein Gesicht färbt sich allmählich dunkel und von Zeit zu Zeit schnappt er nach Luft wie ein Fisch auf dem Sande. Sie sind eben vor dem Wirtshause im Hofe angelangt, in welchem sie seit einer Woche allnächtlich trinken. Kumpf bleibt stehen, reicht dem Alten die Hand und sagt gleichmütig:
»Also, viel Glück auf'n Weg! Mir ist derweil der Hals ganz trocken worden, ich muß'n ein bißl anfeuchten.«
Damit steigt er die wenigen Stufen empor, die zur rot verhängten Thüre führen, und legt die Hand auf den Drücker. Vater Schober steht unschlüssig vor ihm. Eine kleine ›Anfeuchtung‹ scheint auch ihm dringend nötig, und er würde gewiß einen Augenblick in die Schänke treten, wenn er sich nicht vor Kumpf schämte. Er hat dem Schlosser zeigen wollen, daß er sich nicht mehr von ihm beeinflussen lasse, er hat recht groß dastehen wollen vor ihm, und deshalb durstet er lieber und entschließt sich geradewegs auf sein Ziel los zu gehen, obgleich es ihm jetzt gar nicht mehr so verlockend und leicht erreichbar scheint wie droben in der Stube, oder auf dem Gange inmitten der Weiber, welche seinen Entschluß allein schon als etwas Großes und Wunderbares anstaunten.
Er unterdrückt also einen schweren Seufzer, zieht den Hut tief in die Stirne, um die verlockende Wirtshausthüre gar nicht zu sehen, und wendet sich zum Gehen. Kumpf lehnt mit dem Rücken an die Thüre des Wirtshauses.
125 »Was ist?« ruft er dem Alten nach. »Weißt schon, wie Du den Baumeister anreden willst? Das ist das schwerste von der ganzen Sach'.«
Dem Polier leuchtet die Wichtigkeit dieser Frage sofort ein. Gewiß, die ersten Worte wollen sorgsam überlegt sein, denn von ihnen hängt alles ab. Wenn er sich den ersten Satz somit vorher ordentlich zurechtlegen will, so kann ihm das niemand übel nehmen. Ohne Anfeuchtung geht das aber nicht, . . . und am Ende, wem hat er denn Rechenschaft abzulegen von seinem Thun und Lassen? Kann er sich nicht eine kleine Herzstärkung kaufen, wo und wann er will?!
Noch einmal winkt der Schlosser, der schon die Thüre geöffnet hat und halb in der Kneipe steht. Der Polier guckt in den dunklen, nur schwach beleuchteten Raum. Von dem Schanktische winken die langhalsigen Flaschen, die blanken Gläser. Hm, ein einziger Schluck, was ist's denn auch weiter? Er will gar nicht niedersitzen, will nur ein kleines Glas leeren und dann umgehend Kehrt machen, um seinen Weg fortzusetzen. – – Eigentlich sollte er es freilich nicht! Er hat sich's bei allen Heiligen zugeschworen.
Nein, – nein, er geht nicht, – – ganz gewiß nicht! Damit steht er aber schon an dem Schanktische.
Wie ist er nur die Stufen heraufgekommen? Er weiß es nicht. Die Thüre fällt hinter ihm zu und er setzt das volle Glas an die Lippen.
Die hoffnungsvolle Stimmung, in welcher Marie ihren Platz am Arbeitstische in der Kammer wieder eingenommen hat, hält nicht lange stand. Da der Vater nach einer Stunde nicht heimkommt, wird die Tochter unruhig. Was kann ihm begegnet sein? Vergebens sucht sie ihre bösen Ahnungen durch allerlei harmlose Erklärungen seines langen Ausbleibens zu verscheuchen.
126 »Er hat den Baumeister nicht angetroffen und erwartet ihn!« . . . oder: »Er ist mit Herrn Wiesinger zur Genossenschaft gegangen, um die Prozeßgeschichte endlich einmal auszutragen!« Sie glaubt selbst nicht an diese Erklärungen, erfindet aber doch immer wieder neue. So sitzt sie beim Scheine ihrer kleinen Öllampe über die Arbeit gebeugt, und während die Finger emsig die Nadel führen, irren die Gedanken angstvoll dem Vater folgend durch die Straßen und Gassen der Stadt, aus welchen ein dumpfes Rasseln und Brausen wie ferne Brandung zu ihr herauf dringt.
So oft es vom Turme der nahen Paulanerkirche eine weitere Viertelstunde schlägt, horcht sie mit angehaltenem Atem, als müsse mit dem letzten Glockenschlage der Vater eintreten. Aber er kommt nicht, er kommt noch immer nicht! Sie hat niemand, zu dem sie ihre Angst aussprechen, dem sie ihre bangen Sorgen mitteilen kann. Das fällt ihr heute doppelt schwer auf die Seele.
Ihre Hand zittert, die blauen Linien des Vordruckes laufen plötzlich schier unentwirrbar ineinander; aber Marie drückt die Zähne in die eingezogene Unterlippe und fährt sich entschlossen über die Augen. Sie will arbeiten, so kann sie es auch, und eine Weile unterbricht die tiefe Stille in der Kammer nichts als das Ächzen und Krachen der straff gespannten Leinwand im Stickrahmen, wenn die Nadel taktmäßig wiederkehrend durchsticht.
. . . Neun Uhr. Die Glockenschläge verhallen langsam und Marie horcht wieder mit ängstlicher Sorge und Spannung. Vergebens! Da giebt es plötzlich eine Bewegung auf dem Gange. Marie vernimmt ein verworrenes Summen und Scharren, hört endlich deutlich schwere Männerschritte und gleich darauf einen Schrei, – sie springt auf und eilt hinaus.
Über die Enttäuschung! Der Vater ist nicht da; aber 127 ein Fremder hat Frau Stölzls vermißtes Söhnlein, den zehnjährigen Pepi, heimgebracht und erzählt nun, umgeben von sämtlichen Frauen des Korridors, wie er den würdigen Sprößling weiland Herrn Christian Stölzls mit einer Schar Gleichgesinnter in einer Prater-Au fand, betäubt und entkräftet von den Folgen eines mißglückten ersten Rauchversuches.
Pepi sieht auch in der That sehr niedergeschlagen aus. Er weist die Zärtlichkeiten der geängstigten Mutter mit einem letzten Aufflackern seiner jugendlichen Kräfte zurück und fordert nur stammelnd einen Trunk klaren Wassers. Nachdem ihm dieser gereicht wird, fühlt er sich besser und die besorgte Witwe kann daran denken, dem würdigen, überaus ernst blickenden Manne, der ihr den einzigen Sohn wiedergebracht hat, gebührend zu danken. Aber ehe sie noch das Wort zu ergreifen vermag, hat sich Frau Schober bereits an den Fremden gedrängt und ihn mit einem tiefen Knixe sowie mit einem halb erstaunten, halb prahlerisch vertraulichen: »Oh – guten Abend, Herr Rat!« begrüßt.
Der Fremde scheint von dieser unerwarteten Lüftung seines Inkognitos keineswegs erbaut. Er zieht die spitzen Vatermörder, zwischen welchen sein glattrasiertes Kinn eingezwängt ist, mit einer ablehnenden Geberde in die Höhe und fährt wiederholt mit dem straff gezogenen Ärmel über den hohen, schmalkrämpigen Hut, den er in der Hand hält und nun zu einem kurzen, nicht allzu freundlichen Gruße schwenkt. Damit will er rasch den Korridor verlassen. Allein Frau Schober ist keineswegs gewillt, ihn so leichten Kaufes entkommen zu lassen. Nachdem es mit dem jungen Grafen, von welchem sie seit einer Woche so viel und eingehend gesprochen hat, eine etwas bedenkliche Wendung genommen hat, kann sie nun endlich den Nachbarinnen zeigen, daß sie denn doch wirklich vornehme Bekanntschaften hat, und so stellt sie sich 128 dem langen Rate ganz entschieden in den Weg und versucht ihm alle Einzelnheiten des gemeinsam bei den Volkssängern zugebrachten »gar so viel lustigen« Abendes ins Gedächtnis zu rufen. Sie weiß mit erstaunlicher Fertigkeit die Anrede »Herr Rat« in jedem Satze wiederholt anzubringen und blickt dabei jedesmal triumphierend auf die bewundernd schweigenden Nachbarinnen. Der lange Rat, welcher bei jeder neuerlichen Erwähnung seines Titels, wie von einer schmerzlichen Berührung getroffen, zusammenzuckt, sucht ganz vergeblich längs der Wand zu entwischen; Frau Schober kommt mit liebenswürdiger Geschäftigkeit jeder verdächtigen Bewegung seinerseits zuvor, und da sie endlich erschöpft innehalten muß, benützt Frau Stölzl diese unfreiwillige Pause, um den Gefühlen ihres dankerfüllten Mutterherzens in einer längeren Rede Luft zu machen. Die resolute Witwe legt dabei die Hand schwer auf das wirre Haupt ihres bleichen Kindes und meint mit anmutigem Erröten und einem geradezu zündenden Blicke:
»Mein Gott, der Bub thät halt einen Vater brauchen!«
Der würdige Rat lehnt an der Mauer. Er hat ersichtlich jede Hoffnung auf ein Entkommen aufgegeben. Eben tritt auch Herr Sobotka, von seiner Gattin herbeigerufen, langsam und würdvoll hinzu, um dem Herrn Rat seine Reverenz zu machen. Marie hört nur noch die beiderseits gleichlautende Erklärung der Männer, daß sie einander zum erstenmale sehen, dann schlüpft sie die Treppe hinab und stellt sich in den Stiegeneingang, um den Hof zu überblicken. Aber es ist so dunkel, daß sie nichts sehen kann. Nur hie und da blitzt ein Licht aus irgend einer der langen Fensterreihen auf, oder aus der Mitte des Hofes, wo die beiden Alleen sich kreuzen, tönt ein Wispern und Flüstern herüber. . . . Wie schwül die Nacht ist! Marie fühlt sich hier unten noch befangener und gedrückter als oben in der Kammer. 129 Was will sie auch hier? Wenn der Vater heimkehrt, muß sie ja doch vor ihm die Treppe hinaufhuschen, denn wenn er sie hier seiner wartend fände, würde er ihr diese Sorge gewaltig krumm nehmen.
Nein, wenn er kommt, will sie auch gewiß zur Seite treten und ihn mit keiner Frage belästigen, ob ihr die stets wachsende Angst gleich das Herz abdrücken will. Wer weiß wie die Unterredung mit dem Baumeister geendet hat? Vielleicht ließ sich der Vater im Jähzorn zu einer Unüberlegtheit hinreißen und ist am Ende gar festgenommen worden! Vielleicht hat er mit den Leuten auf dem Bauplatze Streit bekommen und liegt jetzt dort, verwundet und hilflos. Der Vater ist so heftig und seit Wochen überdies aufs äußerste gereizt! Mit ihm ist niemand als Kumpf – eine schlimme Hilfe! Je länger Marie dieser Vermutung nachhängt, desto berechtigter erscheint sie ihr. Ihre Angst steigert die Gefahr zum geschehenen Unglück . . . O sie muß hin zu ihm, sie muß erfahren, was ihn so lange zurückhält, muß ihm Hilfe bringen – – –
Schon hat sie den halben Hof durchmessen. Vor ihr fliehen ein paar dunkle Gestalten wie aufgescheuchte Waldvögel auseinander, das Wispern und Flüstern hat nun ein Ende, dagegen tönt von der anderen Seite des Hofes ein wüstes Schreien herüber. Der Lärm kommt aus dem kleinen Wirtshause, dessen rotverhängte Thüre Marie deutlich erkennen kann, da ein helles Licht dahinter schimmert. Das ist die Kneipe, welche der Vater seither allabendlich in Kumpfs Gesellschaft aufsuchte.
Allabendlich, und in Kumpfs Gesellschaft?! – – O pfui, es ist ein böser, unwürdiger Gedanke, der ihr da durch den Kopf zuckt! Der Vater ist nicht dort drüben in dem abscheulichen Wirtshause, er ist zum Baumeister gegangen, 130 liegt hilflos auf dem Bauplatze oder sitzt verzweifelt auf der Wachtstube, . . . vergebens sucht sie sich dieses Bild so erschütternd als möglich vorzustellen, ihre Blicke haften unverwandt an der rotverhängten Kneipenthüre, und da sie endlich mit einem unwilligen Kopfschütteln die Augen schließt, um nicht mehr nach der verwünschten Thüre sehen zu müssen, schlagen ihre Füße dennoch den Weg nach jener Seite des Hofes ein, von welcher jetzt eben wieder ein wildes Johlen und Toben herüber dringt.
Da steht sie nun vor dem Wirtshause, in das sie doch nicht einzutreten wagt. Sie steigt die beiden Stufen zur Glasthüre empor und versucht in die Kneipe zu sehen. Umsonst, der beschmutzte rote Kattunfetzen, der innen die Scheiben verkleidet, gestattet keinen Einblick. So horcht sie denn, ob sie unter den Stimmen, die da drinnen durcheinander lärmen, diejenige ihres Vaters erkennen könnte. Aber es sind gar keine einzelnen Stimmen, welche laut werden, nur ein verworrenes Murmeln dringt heraus, das ab und zu gänzlich schweigt, um dann mit Eins wieder zu einem wüsten, ohrenzerreißenden Schreien anzuschwellen. Dazwischen hört sie immer wieder ein seltsames Geräusch, als ob einer mit der flachen Hand auf Wasser schlüge. Sie kann es sich nicht erklären, bis endlich einige Worte vereinzelt und in kurz abgemessenen Pausen aus dem dumpfen Lärmen heraustönen:
»Kreuz-Dam! . . . Herz-Bub! . . . Pick-Acht!« . . .
Sie spielen da drinnen, und es sind die Karten, die klatschend auf den blanken Tisch fallen. Hie und da unterbricht das eintönige Rufen ein schrecklicher Fluch, dem dann zumeist ein wieherndes Lachen und Stampfen folgt. Einmal ist es ihr, als höre sie ihren Vater aufschreien, aber sie hat sich gewiß getäuscht, gleich darauf verschlingt auch schon 131 ein neues Anschwellen des Lärmens die Stimme, die ihr das Blut erstarren machte.
Nein, hier ist der Vater nicht, hier kann er nicht sein! Er spielt ja nicht, hat selbst in den letzten bösen Wochen niemals eine Karte berührt. Er hat auch kein Geld, um es einzusetzen, – Marie errötet, indem sie daran denkt. Sie will die Stufen wieder hinabsteigen und weiter gehen. Wohin? Am Ende ist der Vater bereits heimgekehrt, hat sich mit dem Baumeister versöhnt und alles wird wieder gut. Während sie hier vor Angst vergeht, sitzt er daheim behaglich in seinem Lehnstuhle – – – denkt seine eigene Tochter so schlecht von ihm, daß . . .? Gewiß, der Gedanke war abscheulich. Das Mädchen richtet sich entschlossen auf, drückt aber doch noch ein letztesmal das Ohr an die Glasthüre. In der Wirtsstube ist es plötzlich still geworden; kein Summen, kein Fluchen, kein Lachen und Stampfen mehr, eine tiefe, schier unheimliche Ruhe. Nur die Karten fallen nach wie vor auf den Tisch . . . Da sich Marie zum Heimgehen wendet, tritt ihr aus dem Dunkel des Hofes ein Mann entgegen. Sie drückt sich an die Mauer um ihn vorüber gehen zu lassen, aber der Fremde hat kaum den Lichtkreis vor der Wirtshausthüre erreicht, als in der Stube das Poltern und Toben plötzlich weit lauter und wilder als vorher losbricht. Durch das wüste Stimmengewirr klirrt es jetzt wie Zerschellen von Gläsern und Flaschen, ein dumpfes Schlagen und Poltern grollt dazwischen und vereinzelte Hilferufe ertönen. Der Fremde bleibt horchend stehen, nickt dann, knöpft seinen schwarzen Rock bis unter den Hals zu und steigt die Stufen empor zur Thüre, die er rasch öffnet.
Marie drückt sich, von neuer Angst befallen, hinter ihm bis an die Schwelle. In dem raucherfüllten Raume kann sie zuerst nur umgeworfene Stühle und Bänke und einen 132 dichten Knäuel von Menschen erblicken, aus dessen Mitte das Schreien, Fluchen und Hilferufen erschallt.
»Der Alte ist b'soffen!« heult eine heisere Stimme. »Schlagt ihn nieder, schlagt ihn nieder!«
Und gurgelnd antwortet es:
»Der Lump hat falsch g'spielt! Ich will mein' Ring zurück haben! – – Mein' Ring, oder ich bring' Dich um, Du – – –!«
Ein neues Toben und Johlen verschlingt den Fluch, der darauf folgt. Marie hat die letzte Stimme erkannt.
»Vater!« schreit sie gellend durch den Lärm. Das klingt so schrill und verzweifelt, daß der Streit plötzlich stockt und alles verblüfft nach der Thüre sieht, an welcher das junge Mädchen mit angstvoll erhobenen Armen und weit aufgerissenen Augen steht. Die augenblickliche Ruhe benützt der Fremde um in die Mitte der Stube vorzutreten.
»Im Namen des Gesetzes!« sagt er laut. »Herr Wirt, stellen Sie die Ordnung her und weisen Sie die Excedenten aus dem Zimmer, sonst nehme ich die Sache in die Hand und sperre das Lokal!«
Darüber bricht der eben unterbrochene Lärm mit doppelter Heftigkeit los.
»Hinaus mit dem Menschen!« ruft es aus einer Ecke. »Was untersteht sich der Kerl?!«
Aber andere rufen dazwischen: »Recht hat er, – sie soll'n draußen raufen!«
Das giebt einen neuen, leidenschaftlich geführten Zwist und ein wildbewegtes Durcheinander von scheltenden Stimmen, indes rückwärts, in der halbdunklen, nur von einer rußigen Öllampe beleuchteten Ecke der Gaststube der Streit der Kartenspieler unbekümmert um die Anwesenheit des langen Fremden weiter tobt. Mit tief gerötetem Gesichte, den Rock 133 halb abgerissen und die Haare wirr in die Stirne gestrichen, dringt Vater Schober, ein zerbrochenes Stuhlbein schwingend, auf seinen Gegner ein, der sich hinter dem Tische verschanzt und dort den Angriff des Alten unter Drohungen und großsprecherischen Flüchen erwartet.
Vergebens wiederholt der Fremde seine Aufforderung. Der Knäuel der Streitenden um ihn her drängt ihn endlich an die Wand neben der Thüre, an welcher er nun bleich und unentschlossen lehnt, während Vater Schober den Wirt, der ihn besänftigen will, wütend zurückstößt und zu einem wuchtigen Schlage gegen den verschanzten Spielpartner ausholt. Da fühlt sich der Polier von rückwärts her am Arme ergriffen und zurückgezogen.
»Um Gotteswillen, Herr Vater!« flüstert ihm eine bekannte Stimme flehend ins Ohr. »Es giebt noch ein Unglück und Sie kommen vors Gericht!«
»Wer . . . wer ist?« lallt er und will sich losreißen. Das bleiche Gesicht seiner Tochter blickt ihm angstvoll entgegen.
»Kommen S', Herr Vater, bevor's zu spät ist!« zittert es dringender von Mariens Lippen. Das Mädchen umklammert ihn so fest, daß er es nicht abzuschütteln vermag, obgleich er wie ein Rasender um sich schlägt.
»Lass' mich los!« knirscht er dabei immerzu und seine Augen treten aus den Höhlen. Wieder versucht er auf seinen Gegner einzudringen. »Der Lump hat falsch g'spielt, er hat mir den Ring abg'nommen, den ich dem Wiesinger zurücktragen muß! . . . Mein' Ring gieb her, Betrüger, oder ich schlag' Dir die Hirnschale . . .«
Die Angst giebt der Tochter Riesenkraft. Selbst die grausigsten Flüche und Verwünschungen, die der Vater wutschäumend gegen sie ausstößt, können sie nicht bestimmen, 134 seinen Arm freizugeben. Sie spricht keine Silbe weiter, aber sie zerrt und zerrt den Vater bis an die Thüre und endlich hinaus ins Freie. In der Gaststube, aus der jetzt ein breiter Lichtstreifen auf den dunklen Kiesboden des Hofes fällt, hat der wüste Lärm seinen Höhepunkt erreicht. Einzelne Nachbarn öffnen die Fenster und fragen was es gebe? Eine kleine Schar Neugieriger hat sich vor der Thüre angesammelt und wartet dort den Ausgang der Schlägerei ab. Da Marie den Vater über die Stufen herabzieht, ruft eine Stimme aus dem Dunkel:
»Der alte Schober sollt' sich meiner Seel' schämen! Statt zu arbeiten, rauft er im Wirtshaus, – pfui Teufel!«
»Halt's Maul!« antwortet es von der anderen Seite her. »Schau die arme Marie an, wie sie blaß ist! Das Mädl kann doch nichts dafür!«
Der Polier hört Rede und Gegenrede, die laut genug gewechselt wurden, und wird plötzlich nüchtern. Er drückt sich ins Dunkel und schleicht im tiefen Schatten des Hauses langsam weiter. Marie folgt ihm in einiger Entfernung. Sie wagt nicht mehr, ihm zur Seite zu bleiben, noch minder ihn anzusprechen. Der heftigen Erregung ist eine jähe Erschlaffung gefolgt, sie vermag sich kaum fortzuschleppen. Im Stiegeneingange muß sie eine Weile rasten, ehe sie die Treppe betritt.
Oben in der Küche wartet sie noch, bis der Vater zu Bette gegangen ist, dann erst huscht sie durch die Stube in die Kammer, um dort zitternd ihr Lager aufzusuchen. 135