Immanuel Kant
Nachricht von der Einrichtung seiner Vorlesungen in dem Winterhalbenjahre von 1765–1766
Immanuel Kant

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Alle Unterweisung der Jugend hat dieses Beschwerliche an sich, daß man genöthigt ist, mit der Einsicht den Jahren vorzueilen, und, ohne die Reife des Verstandes abzuwarten, solche Erkenntnisse ertheilen soll, die nach der natürlichen Ordnung nur von einer geübteren und versuchten Vernunft könnten begriffen werden. Daher entspringen die ewige Vorurtheile der Schulen, welche hartnäckichter und öfters abgeschmackter sind als die gemeinen, und die frühkluge Geschwätzigkeit junger Denker, die blinder ist als irgend ein anderer Eigendünkel und unheilbarer als die Unwissenheit. Gleichwohl ist diese Beschwerlichkeit nicht gänzlich zu vermeiden, weil in dem Zeitalter einer sehr ausgeschmückten bürgerlichen Verfassung die feinere Einsichten zu den Mitteln des Fortkommens gehören und Bedürfnisse werden, die ihrer Natur nach eigentlich nur zur Zierde des Lebens und gleichsam zum Entbehrlich-Schönen desselben gezählt werden sollten. Indessen ist es möglich den öffentlichen Unterricht auch in diesem Stücke nach der Natur mehr zu bequemen, wo nicht mit ihr gänzlich einstimmig zu machen. Denn da der natürliche Fortschritt der menschlichen Erkenntniß dieser ist, daß sich zuerst der Verstand ausbildet, indem er durch Erfahrung zu anschauenden Urtheilen und durch diese zu Begriffen gelangt, daß darauf diese Begriffe in Verhältniß mit ihren Gründen und Folgen durch Vernunft und endlich in einem wohlgeordneten Ganzen vermittelst der Wissenschaft erkannt werden, so wird die Unterweisung eben denselben Weg zu nehmen haben. Von einem Lehrer wird also erwartet, daß er an seinem Zuhörer erstlich den verständigen, dann den vernünftigen Mann und endlich den Gelehrten bilde. Ein solches Verfahren hat den Vortheil, daß, wenn der Lehrling gleich niemals zu der letzten Stufe gelangen sollte, wie es gemeiniglich geschieht, er dennoch durch die Unterweisung gewonnen hat und, wo nicht für die Schule, doch für das Leben geübter und klüger geworden.

Wenn man diese Methode umkehrt, so erschnappt der 298 Schüler eine Art von Vernunft, ehe noch der Verstand an ihm ausgebildet wurde, und trägt erborgte Wissenschaft, die an ihm gleichsam nur geklebt und nicht gewachsen ist, wobei seine Gemüthsfähigkeit noch so unfruchtbar wie jemals, aber zugleich durch den Wahn von Weisheit viel verderbter geworden ist. Dieses ist die Ursache, weswegen man nicht selten Gelehrte (eigentlich Studirte) antrifft, die wenig Verstand zeigen, und warum die Akademien mehr abgeschmackte Köpfe in die Welt schicken als irgend ein anderer Stand des gemeinen Wesens.

Die Regel des Verhaltens also ist diese: zuvörderst den Verstand zu zeitigen und seinen Wachsthum zu beschleunigen, indem man ihn in Erfahrungsurtheilen übt und auf dasjenige achtsam macht, was ihm die verglichene Empfindungen seiner Sinne lehren können. Von diesen Urtheilen oder Begriffen soll er zu den höheren und entlegnern keinen kühnen Schwung unternehmen, sondern dahin durch den natürlichen und gebähnten Fußsteig der niedrigern Begriffe gelangen, die ihn allgemach weiter führen; alles aber derjenigen Verstandesfähigkeit gemäß, welche die vorhergehende Übung in ihm nothwendig hat hervorbringen müssen, und nicht nach derjenigen, die der Lehrer an sich selbst wahrnimmt, oder wahrzunehmen glaubt, und die er auch bei seinem Zuhörer fälschlich voraussetzt. Kurz, er soll nicht Gedanken, sondern denken lernen: man soll ihn nicht tragen, sondern leiten, wenn man will, daß er in Zukunft von sich selbst zu gehen geschickt sein soll.

Eine solche Lehrart erfordert die der Weltweisheit eigene Natur. Da diese aber eigentlich nur eine Beschäftigung für das Mannesalter ist, so ist kein Wunder, daß sich Schwierigkeiten hervorthun, wenn man sie der ungeübteren Jugendfähigkeit bequemen will. Der den Schulunterweisungen entlassene Jüngling war gewohnt zu lernen. Nunmehr denkt er, er werde Philosophie lernen, welches aber unmöglich ist, denn er soll jetzt philosophiren lernen. Ich will mich deutlicher erklären. Alle Wissenschaften, die man im eigentlichen 299 Verstande lernen kann, lassen sich auf zwei Gattungen bringen: die historische und mathematische. Zu den erstern gehören außer der eigentlichen Geschichte auch die Naturbeschreibung, Sprachkunde, das positive Recht u. u. Da nun in allem, was historisch ist, eigene Erfahrung oder fremdes Zeugniß, in dem aber, was mathematisch ist, die Augenscheinlichkeit der Begriffe und die Unfehlbarkeit der Demonstration etwas ausmachen, was in der That gegeben und mithin vorräthig und gleichsam nur aufzunehmen ist: so ist es in beiden möglich zu lernen, d. i. entweder in das Gedächtniß, oder den Verstand dasjenige einzudrücken, was als eine schon fertige Disciplin uns vorgelegt werden kann. Um also auch Philosophie zu lernen, müßte allererst eine wirklich vorhanden sein. Man müßte ein Buch vorzeigen und sagen können: sehet, hier ist Weisheit und zuverlässige Einsicht; lernet es verstehen und fassen, bauet künftighin darauf, so seid ihr Philosophen. Bis man mir nun ein solches Buch der Weltweisheit zeigen wird, worauf ich mich berufen kann, wie etwa auf den Polyb, um einen Umstand der Geschichte, oder auf den Euklides, um einen Satz der Größenlehre zu erläutern: so erlaube man mir zu sagen: daß man des Zutrauens des gemeinen Wesens mißbrauche, wenn man, anstatt die Verstandesfähigkeit der anvertrauten Jugend zu erweitern und sie zur künftig reifern eigenen Einsicht auszubilden, sie mit einer dem Vorgehen nach schon fertigen Weltweisheit hintergeht, die ihnen zu gute von andern ausgedacht wäre, woraus ein Blendwerk von Wissenschaft entspringt, das nur an einem gewissen Orte und unter gewissen Leuten für ächte Münze gilt, allerwärts sonst aber verrufen ist. Die eigenthümliche Methode des Unterrichts in der Weltweisheit ist zetetisch, wie sie einige Alte nannten (von ζητειν), d. i. forschend, und wird nur bei schon geübterer Vernunft in verschiedenen Stücken dogmatisch, d. i. entschieden. Auch soll der philosophische Verfasser, den man etwa bei der Unterweisung zum Grunde legt, nicht wie das Urbild des 300 Urtheils, sondern nur als eine Veranlassung selbst über ihn, ja sogar wider ihn zu urtheilen angesehen werden, und die Methode selbst nachzudenken und zu schließen ist es, deren Fertigkeit der Lehrling eigentlich sucht, die ihm auch nur allein nützlich sein kann, und wovon die etwa zugleich erworbene entschiedene Einsichten als zufällige Folgen angesehen werden müssen, zu deren reichem Überflusse er nur die fruchtbare Wurzel in sich zu pflanzen hat.

Vergleicht man hiemit das davon so sehr abweichende gemeine Verfahren, so läßt sich verschiedenes begreifen, was sonst befremdlich in die Augen fällt. Als z. E., warum es keine Art Gelehrsamkeit vom Handwerke giebt, darin so viele Meister angetroffen werden als in der Philosophie, und, da viele von denen, welche Geschichte, Rechtsgelahrtheit, Mathematik u. d. m. gelernt haben, sich selbst bescheiden, daß sie gleichwohl noch nicht gnug gelernt hätten, um solche wiederum zu lehren: warum andererseits selten einer ist, der sich nicht in allem Ernste einbilden sollte, daß außer seiner übrigen Beschäftigung es ihm ganz möglich wäre etwa Logik, Moral u. d. g. vorzutragen, wenn er sich mit solchen Kleinigkeiten bemengen wollte. Die Ursache ist, weil in jenen Wissenschaften ein gemeinschaftlicher Maßstab da ist, in dieser aber ein jeder seinen eigenen hat. Imgleichen wird man deutlich einsehen, daß es der Philosophie sehr unnatürlich sei eine Brodkunst zu sein, indem es ihrer wesentlichen Beschaffenheit widerstreitet, sich dem Wahne der Nachfrage und dem Gesetze der Mode zu bequemen, und daß nur die Nothdurft, deren Gewalt noch über die Philosophie ist, sie nöthigen kann, sich in die Form des gemeinen Beifalls zu schmiegen.

Diejenige Wissenschaften, welche ich in dem jetzt angefangenen halben Jahre durch Privatvorlesungen vorzutragen und völlig abzuhandeln gedenke, sind folgende:

1. Metaphysik. Ich habe in einer kurzen und eilfertig 301 abgefaßten SchriftDie zweite von den Abhandlungen, welche die K. A. d. W. in Berlin bei Gelegenheit des Preises auf das Jahr 1763 herausgegeben hat. zu zeigen gesucht: daß diese Wissenschaft unerachtet der großen Bemühungen der Gelehrten um deswillen noch so unvollkommen und unsicher sei, weil man das eigenthümliche Verfahren derselben verkannt hat, indem es nicht synthetisch, wie das von der Mathematik, sondern analytisch ist. Diesem zufolge ist das Einfache und Allgemeinste in der Größenlehre auch das Leichteste, in der Hauptwissenschaft aber das Schwerste, in jener muß es seiner Natur nach zuerst, in dieser zuletzt vorkommen. In jener fängt man die Doctrin mit den Definitionen an, in dieser endigt man sie mit denselben und so in andern Stücken mehr. Ich habe seit geraumer Zeit nach diesem Entwurfe gearbeitet, und indem mir ein jeglicher Schritt auf diesem Wege die Quellen der Irrthümer und das Richtmaß des Urtheils entdeckt hat, wodurch sie einzig und allein vermieden werden können, wenn es jemals möglich ist sie zu vermeiden, so hoffe ich in kurzem dasjenige vollständig darlegen zu können, was mir zur Grundlegung meines Vortrages in der genannten Wissenschaft dienen kann. Bis dahin aber kann ich sehr wohl durch eine kleine Biegung den Verfasser, dessen Lesebuch ich vornehmlich um des Reichthums und der Präcision seiner Lehrart willen gewählt habe, den A. G. Baumgarten, in denselben Weg lenken. Ich fange demnach nach einer kleinen Einleitung von der empirischen Psychologie an, welche eigentlich die metaphysische Erfahrungswissenschaft vom Menschen ist; denn was den Ausdruck der Seele betrifft, so ist es in dieser Abtheilung noch nicht erlaubt zu behaupten, daß er eine habe. Die zweite Abtheilung, die von der körperlichen Natur überhaupt handeln soll, entlehne ich aus den Hauptstücken der Kosmologie, da von der Materie gehandelt wird, die ich gleichwohl durch einige schriftliche Zusätze vollständig machen werde. Da nun in der ersteren Wissenschaft (zu welcher um der 302 Analogie willen auch die empirische Zoologie, d. i. die Betrachtung der Thiere, hinzugeführt wird) alles Leben, was in unsere Sinne fällt, in der zweiten aber alles Leblose überhaupt erwogen worden, und da alle Dinge der Welt unter diese zwei Classen gebracht werden können: so schreite ich zu der Ontologie, nämlich zur Wissenschaft von den allgemeinern Eigenschaften aller Dinge, deren Schluß den Unterschied der geistigen und materiellen Wesen, imgleichen beider Verknüpfung oder Trennung und also die rationale Psychologie enthält. Hier habe ich nunmehr den großen Vortheil, nicht allein den schon geübten Zuhörer in die schwerste unter allen philosophischen Untersuchungen zu führen, sondern auch, indem ich das Abstracte bei jeglicher Betrachtung in demjenigen Concreto erwäge, welches mir die vorhergegangene Disciplinen an die Hand geben, alles in die größte Deutlichkeit zu stellen, ohne mir selbst vorzugreifen, d. i. etwas zur Erläuterung anführen zu dürfen, was allererst künftig vorkommen soll, welches der gemeine und unvermeidliche Fehler des synthetischen Vortrages ist. Zuletzt kommt die Betrachtung der Ursache aller Dinge, das ist die Wissenschaft von Gott und der Welt. Ich kann nicht umhin noch eines Vortheils zu gedenken, der zwar nur auf zufälligen Ursachen beruht, aber gleichwohl nicht gering zu schätzen ist, und den ich aus dieser Methode zu ziehen gedenke. Jedermann weiß, wie eifrig der Anfang der Collegien von der muntern und unbeständigen Jugend gemacht wird, und wie darauf die Hörsäle allmählig etwas geräumiger werden. Setze ich nun, daß dasjenige, was nicht geschehen soll, gleichwohl alles Erinnerns ungeachtet künftig noch immer geschehen wird: so behält die gedachte Lehrart eine ihr eigene Nutzbarkeit. Denn der Zuhörer, dessen Eifer auch selbst schon gegen das Ende der empirischen Psychologie ausgedunstet wäre (welches doch bei einer solchen Art des Verfahrens kaum zu vermuthen ist), würde gleichwohl etwas gehört haben, was ihm durch seine Leichtigkeit faßlich, durch das 303 Interessante annehmlich und durch die häufige Fälle der Anwendung im Leben brauchbar wäre; da im Gegentheil, wenn die Ontologie, eine schwer zu fassende Wissenschaft, ihn von der Fortsetzung abgeschreckt hätte, das, was er etwa möchte begriffen haben, ihm zu gar nichts weiterhin nutzen kann.

2. Logik. Von dieser Wissenschaft sind eigentlich zwei Gattungen. Die von der ersten ist eine Kritik und Vorschrift des gesunden Verstandes, so wie derselbe einerseits an die grobe Begriffe und die Unwissenheit, andererseits aber an die Wissenschaft und Gelehrsamkeit angrenzt. Die Logik von dieser Art ist es, welche man im Anfange der akademischen Unterweisung aller Philosophie voranschicken soll, gleichsam die Quarantaine (wofern es mir erlaubt ist mich also auszudrücken), welche der Lehrling halten muß, der aus dem Lande des Vorurtheils und des Irrthums in das Gebiet der aufgeklärteren Vernunft und der Wissenschaften übergehen will. Die zweite Gattung von Logik ist die Kritik und Vorschrift der eigentlichen Gelehrsamkeit und kann niemals anders als nach den Wissenschaften, deren Organon sie sein soll, abgehandelt werden, damit das Verfahren regelmäßiger werde, welches man bei der Ausübung gebraucht hat, und die Natur der Disciplin zusammt den Mitteln ihrer Verbesserung eingesehen werde. Auf solche Weise füge ich zu Ende der Metaphysik eine Betrachtung über die eigenthümliche Methode derselben bei, als ein Organon dieser Wissenschaft, welches im Anfange derselben nicht an seiner rechten Stelle sein würde, indem es unmöglich ist die Regeln deutlich zu machen, wenn noch keine Beispiele bei der Hand sind, an welchen man sie in concreto zeigen kann. Der Lehrer muß freilich das Organon vorher inne haben, ehe er die Wissenschaft vorträgt, damit er sich selbst darnach richte, aber dem Zuhörer muß er es niemals anders als zuletzt vortragen. Die Kritik und Vorschrift der gesammten Weltweisheit als eines Ganzen, diese vollständige Logik, kann also ihren Platz bei der Unterweisung nur am Ende der gesammten Philosophie haben, da die schon erworbene 304 Kenntnisse derselben und die Geschichte der menschlichen Meinungen es einzig und allein möglich machen, Betrachtungen über den Ursprung ihrer Einsichten sowohl, als ihrer Irrthümer anzustellen und den genauen Grundriß zu entwerfen, nach welchem ein solches Gebäude der Vernunft dauerhaft und regelmäßig soll aufgeführt werden.

Ich werde die Logik von der ersten Art vortragen und zwar nach dem Handbuche des Hrn. Prof. Meier, weil dieser die Grenzen der jetzt gedachten Absichten wohl vor Augen hat und zugleich Anlaß giebt neben der Cultur der feineren und gelehrten Vernunft die Bildung des zwar gemeinen, aber thätigen und gesunden Verstandes zu begreifen, jene für das betrachtende, diese für das thätige und bürgerliche Leben. Wobei zugleich die sehr nahe Verwandtschaft der Materien Anlaß giebt, bei der Kritik der Vernunft einige Blicke auf die Kritik des Geschmacks, d. i. die Ästhetik, zu werfen, davon die Regeln der einen jederzeit dazu dienen, die der andern zu erläutern, und ihre Abstechung ein Mittel ist, beide besser zu begreifen.

3. Ethik. Die moralische Weltweisheit hat dieses besondere Schicksal, daß sie noch eher wie die Metaphysik den Schein der Wissenschaft und einiges Ansehen von Gründlichkeit annimmt, wenn gleich keine von beiden bei ihr anzutreffen ist; wovon die Ursache darin liegt: daß die Unterscheidung des Guten und Bösen in den Handlungen und das Urtheil über die sittliche Rechtmäßigkeit gerade zu und ohne den Umschweif der Beweise von dem menschlichen Herzen durch dasjenige, was man Sentiment nennt, leicht und richtig erkannt werden kann; daher, weil die Frage mehrentheils schon vor den Vernunftgründen entschieden ist, welches in der Metaphysik sich nicht so verhält, kein Wunder ist, daß man sich nicht sonderlich schwierig bezeigt, Gründe, die nur einigen Schein der Tüchtigkeit haben, als tauglich durchgehen zu lassen. Um 305 deswillen ist nichts gemeiner, als der Titel eines Moralphilosophen und nichts seltener, als einen solchen Namen zu verdienen.

Ich werde für jetzt die allgemeine praktische Weltweisheit und die Tugendlehre, beide nach Baumgarten, vortragen. Die Versuche des Shaftesbury, Hutcheson und Hume, welche, obzwar unvollendet und mangelhaft, gleichwohl noch am weitesten in der Aufsuchung der ersten Gründe aller Sittlichkeit gelangt sind, werden diejenige Präcision und Ergänzung erhalten, die ihnen mangelt; und indem ich in der Tugendlehre jederzeit dasjenige historisch und philosophisch erwäge, was geschieht, ehe ich anzeige, was geschehen soll, so werde ich die Methode deutlich machen, nach welcher man den Menschen studiren muß, nicht allein denjenigen, der durch die veränderliche Gestalt, welche ihm sein zufälliger Zustand eindrückt, entstellt und als ein solcher selbst von Philosophen fast jederzeit verkannt worden; sondern die Natur des Menschen, die immer bleibt, und deren eigenthümliche Stelle in der Schöpfung, damit man wisse, welche Vollkommenheit ihm im Stande der rohen und welche im Stande der weisen Einfalt angemessen sei, was dagegen die Vorschrift seines Verhaltens sei, wenn er, indem er aus beiderlei Grenzen herausgeht, die höchste Stufe der physischen oder moralischen Vortrefflichkeit zu berühren trachtet, aber von beiden mehr oder weniger abweicht. Diese Methode der sittlichen Untersuchung ist eine schöne Entdeckung unserer Zeiten und ist, wenn man sie in ihrem völligen Plane erwägt, den Alten gänzlich unbekannt gewesen.

4. Physische Geographie. Als ich gleich zu Anfange meiner akademischen Unterweisung erkannte, daß eine große Vernachlässigung der studirenden Jugend vornehmlich darin bestehe, daß sie frühe vernünfteln lernt, ohne gnugsame historische Kenntnisse, welche die Stelle der Erfahrenheit vertreten können, zu besitzen: so faßte ich den Anschlag, die Historie von dem jetzigen Zustande der Erde oder die Geographie im 306 weitesten Verstande zu einem angenehmen und leichten Inbegriff desjenigen zu machen, was sie zu einer praktischen Vernunft vorbereiten und dienen könnte, die Lust rege zu machen, die darin angefangene Kenntnisse immer mehr auszubreiten. Ich nannte eine solche Disciplin von demjenigen Theile, worauf damals mein vornehmstes Augenmerk gerichtet war: physische Geographie. Seitdem habe ich diesen Entwurf allmählig erweitert, und jetzt gedenke ich, indem ich diejenige Abtheilung mehr zusammenziehe, welche auf physische Merkwürdigkeiten der Erde geht, Zeit zu gewinnen, um den Vortrag über die andern Theile derselben, die noch gemeinnütziger sind, weiter auszubreiten. Diese Disciplin wird also eine physische, moralische und politische Geographie sein, worin zuerst die Merkwürdigkeiten der Natur durch ihre drei Reiche angezeigt werden, aber mit der Auswahl derjenigen unter unzählig andern, welche sich durch den Reiz ihrer Seltenheit, oder auch durch den Einfluß, welchen sie vermittelst des Handels und der Gewerbe auf die Staaten haben, vornehmlich der allgemeinen Wißbegierde darbieten. Dieser Theil, welcher zugleich das natürliche Verhältniß aller Länder und Meere und den Grund ihrer Verknüpfung enthält, ist das eigentliche Fundament aller Geschichte, ohne welches sie von Märchenerzählungen wenig unterschieden ist. Die zweite Abtheilung betrachtet den Menschen nach der Mannigfaltigkeit seiner natürlichen Eigenschaften und dem Unterschiede desjenigen, was an ihm moralisch ist, auf der ganzen Erde; eine sehr wichtige und eben so reizende Betrachtung, ohne welche man schwerlich allgemeine Urtheile vom Menschen fällen kann, und wo die unter einander und mit dem moralischen Zustande älterer Zeiten geschehene Vergleichung uns eine große Karte des menschlichen Geschlechts vor Augen legt. Zuletzt wird dasjenige, was als eine Folge aus der Wechselwirkung beider vorher erzählten Kräfte angesehen werden kann, nämlich der Zustand der Staaten und Völkerschaften auf der Erde, erwogen, 307 nicht sowohl wie er auf den zufälligen Ursachen der Unternehmung und des Schicksales einzelner Menschen als etwa der Regierungsfolge, den Eroberungen und Staatsränken beruht, sondern in Verhältniß auf das, was beständiger ist und den entfernten Grund von jenen enthält, nämlich die Lage ihrer Länder, die Producte, Sitten, Gewerbe, Handlung und Bevölkerung. Selbst die Verjüngung, wenn ich es so nennen soll, einer Wissenschaft von so weitläuftigen Aussichten nach einem kleineren Maßstabe hat ihren großen Nutzen, indem dadurch allein die Einheit der Erkenntniß, ohne welche alles Wissen nur Stückwerk ist, erlangt wird. Darf ich nicht auch in einem geselligen Jahrhunderte, als das jetzige ist, den Vorrath, den eine große Mannigfaltigkeit angenehmer und belehrender Kenntnisse von leichter Faßlichkeit zum Unterhalt des Umganges darbietet, unter den Nutzen rechnen, welchen vor Augen zu haben, es für die Wissenschaft keine Erniedrigung ist? Zum wenigsten kann es einem Gelehrten nicht angenehm sein, sich öfters in der Verlegenheit zu sehen, worin sich der Redner Isokrates befand, welcher, als man ihn in einer Gesellschaft aufmunterte, doch auch etwas zu sprechen, sagen mußte: Was ich weiß, schickt sich nicht, und was sich schickt, weiß ich nicht.

Dieses ist die kurze Anzeige der Beschäftigungen, welche ich für das angefangene halbe Jahr der Akademie widme, und die ich nur darum nöthig zu sein erachtet, damit man sich einigen Begriff von der Lehrart machen könne, worin ich jetzt einige Veränderung zu treffen nützlich gefunden habe. Mihi sic est usus: Tibi ut opus facto est, face. Terentius.

 


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