Immanuel Kant
Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral
Immanuel Kant

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§2.

Die ersten Gründe der Moral sind nach ihrer gegenwärtigen Beschaffenheit noch nicht aller erforderlichen Evidenz fähig.

Um dieses deutlich zu machen, will ich nur zeigen, wie wenig selbst der erste Begriff der Verbindlichkeit noch bekannt ist, und wie entfernt man also davon sein müsse, in der praktischen Weltweisheit die zur Evidenz nöthige Deutlichkeit und Sicherheit der Grundbegriffe und Grundsätze zu liefern. Man soll dieses oder jenes thun und das andre lassen; dies ist die Formel, unter welcher eine jede Verbindlichkeit ausgesprochen wird. Nun drückt jedes Sollen eine Nothwendigkeit der Handlung aus und ist einer zwiefachen Bedeutung fähig. Ich soll nämlich entweder etwas thun (als ein Mittel), wenn ich etwas anders (als einen Zweck) will, oder ich soll unmittelbar etwas anders (als einen Zweck) thun und wirklich machen. Das erstere könnte man die Nothwendigkeit der Mittel (necessitatem problematicam), das zweite die Nothwendigkeit der Zwecke (necessitatem legalem) nennen. Die erstere 290 Art der Nothwendigkeit zeigt gar keine Verbindlichkeit an, sondern nur die Vorschrift als die Auflösung in einem Problem, welche Mittel diejenige sind, deren ich mich bedienen müsse, wie ich einen gewissen Zweck erreichen will. Wer einem andern vorschreibt, welche Handlungen er ausüben oder unterlassen müsse, wenn er seine Glückseligkeit befördern wollte, der könnte wohl zwar vielleicht alle Lehren der Moral darunter bringen, aber sie sind alsdann nicht mehr Verbindlichkeiten, sondern etwa so, wie es eine Verbindlichkeit wäre, zwei Kreuzbogen zu machen, wenn ich eine gerade Linie in zwei gleiche Theile zerfällen will, d. i. es sind gar nicht Verbindlichkeiten, sondern nur Anweisungen eines geschickten Verhaltens, wenn man einen Zweck erreichen will. Da nun der Gebrauch der Mittel keine andere Nothwendigkeit hat, als diejenige, so dem Zwecke zukommt, so sind so lange alle Handlungen, die die Moral unter der Bedingung gewisser Zwecke vorschreibt, zufällig und können keine Verbindlichkeiten heißen, so lange sie nicht einem an sich nothwendigen Zwecke untergeordnet werden. Ich soll z. E. die gesammte größte Vollkommenheit befördern, oder ich soll dem Willen Gottes gemäß handeln: welchem auch von diesen beiden Sätzen die ganze praktische Weltweisheit untergeordnet würde, so muß dieser Satz, wenn er eine Regel und Grund der Verbindlichkeit sein soll, die Handlung als unmittelbar nothwendig und nicht unter der Bedingung eines gewissen Zwecks gebieten. Und hier finden wir, daß eine solche unmittelbare oberste Regel aller Verbindlichkeit schlechterdings unerweislich sein müsse. Denn es ist aus keiner Betrachtung eines Dinges oder Begriffes, welche es auch sei, möglich zu erkennen und zu schließen, was man thun solle, wenn dasjenige, was vorausgesetzt ist, nicht ein Zweck und die Handlung ein Mittel ist. Dieses aber muß es nicht sein, weil es alsdann keine Formel der Verbindlichkeit, sondern der problematischen Geschicklichkeit sein würde.

Und nun kann ich mit wenigem anzeigen, daß, nachdem ich 291 über diesen Gegenstand lange nachgedacht habe, ich bin überzeugt worden, daß die Regel: Thue das Vollkommenste, was durch dich möglich ist, der erste formale Grund aller Verbindlichkeit zu handeln sei, so wie der Satz: Unterlasse das, wodurch die durch dich größtmögliche Vollkommenheit verhindert wird, es in Ansehung der Pflicht zu unterlassen ist. Und gleichwie aus den ersten formalen Grundsätzen unserer Urtheile vom Wahren nichts fließt, wo nicht materiale erste Gründe gegeben sind, so fließt allein aus diesen zwei Regeln des Guten keine besonders bestimmte Verbindlichkeit, wo nicht unerweisliche materiale Grundsätze der praktischen Erkenntniß damit verbunden sind.

Man hat es nämlich in unsern Tagen allererst einzusehen angefangen: daß das Vermögen, das Wahre vorzustellen, die Erkenntniß, dasjenige aber, das Gute zu empfinden, das Gefühl sei, und daß beide ja nicht miteinander müssen verwechselt werden. Gleichwie es nun unzergliederliche Begriffe des Wahren, d. i. desjenigen, was in den Gegenständen der Erkenntniß, für sich, betrachtet angetroffen wird, giebt, also giebt es auch ein unauflösliches Gefühl des Guten (dieses wird niemals in einem Dinge schlechthin, sondern immer beziehungsweise auf ein empfindendes Wesen angetroffen). Es ist ein Geschäfte des Verstandes, den zusammengesetzten und verworrenen Begriff des Guten aufzulösen und deutlich zu machen, indem er zeigt, wie er aus einfachern Empfindungen des Guten entspringe. Allein ist dieses einmal einfach, so ist das Urtheil: dieses ist gut, völlig unerweislich und eine unmittelbare Wirkung von dem Bewußtsein des Gefühls der Lust mit der Vorstellung des Gegenstandes. Und da in uns ganz sicher viele einfache Empfindungen des Guten anzutreffen sind, so giebt es viele dergleichen unauflösliche Vorstellungen. Demnach wenn eine Handlung unmittelbar als gut vorgestellt wird, ohne daß sie auf eine versteckte Art ein gewisses andre Gut, welches durch Zergliederung darin kann erkannt werden, und warum 292 sie vollkommen heißt, enthält, so ist die Nothwendigkeit dieser Handlung ein unerweislicher materialer Grundsatz der Verbindlichkeit. Z. E. Liebe den, der dich liebt, ist ein praktischer Satz, der zwar unter der obersten formalen und bejahenden Regel der Verbindlichkeit steht, aber unmittelbar. Denn da es nicht weiter durch Zergliederung kann gezeigt werden, warum eine besondere Vollkommenheit in der Gegenliebe stecke, so wird diese Regel nicht praktisch, d. i. vermittelst der Zurückführung auf die Nothwendigkeit einer andern vollkommenen Handlung, bewiesen, sondern unter der allgemeinen Regel guter Handlungen unmittelbar subsumirt. Vielleicht daß mein angezeigtes Beispiel nicht deutlich und überzeugend genug die Sache darthut; allein die Schranken einer Abhandlung, wie die gegenwärtige ist, die ich vielleicht schon überschritten habe, erlauben mir nicht diejenige Vollständigkeit, die ich wohl wünschte. Es ist eine unmittelbare Häßlichkeit in der Handlung, die dem Willen desjenigen, von dem unser Dasein und alles Gute herkommt, widerstreitet. Diese Häßlichkeit ist klar, wenn gleich nicht auf die Nachtheile gesehen wird, die als Folgen ein solches Verfahren begleiten können. Daher der Satz: thue das, was dem Willen Gottes gemäß ist, ein materialer Grundsatz der Moral wird, der gleichwohl formaliter unter der schon erwähnten obersten und allgemeinen Formel, aber unmittelbar steht. Man muß eben sowohl in der praktischen Weltweisheit, wie in der theoretischen nicht so leicht etwas für unerweislich halten, was es nicht ist. Gleichwohl können diese Grundsätze nicht entbehrt werden, welche als Postulata die Grundlagen zu den übrigen praktischen Sätzen enthalten. Hutcheson und andere haben unter dem Namen des moralischen Gefühls hievon einen Anfang zu schönen Bemerkungen geliefert.

Hieraus ist zu ersehen, daß, ob es zwar möglich sein muß, in den ersten Gründen der Sittlichkeit den größten Grad philosophischer Evidenz zu erreichen, gleichwohl die obersten 293 Grundbegriffe der Verbindlichkeit allererst sicherer bestimmt werden müssen, in Ansehung dessen der Mangel der praktischen Weltweisheit noch größer als der speculativen ist, indem noch allererst ausgemacht werden muß, ob lediglich das Erkenntnißvermögen oder das Gefühl (der erste, innere Grund des Begehrungsvermögens) die erste Grundsätze dazu entscheide.

 


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