Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Der Mann, der an einem Freitag mitten in der Nacht die Tür eines stattlichen Hauses in der Skalitzer Straße zu Berlin von außen aufschloß, hatte trotz der warmen Frühlingsluft den Rockkragen in die Höhe geklappt und den Hut tief in die Stirn gedrückt, genau wie es der Rentier Schwenndieck zu tun pflegte, wenn er etwas verspätet nach Hause kam.

Der Hausschlüssel, dessen sich der Mann bediente, befand sich an dem Bunde, das er Schwenndieck aus der Tasche genommen hatte, bevor er ihn liegen ließ draußen im Forst am Schlachtensee.

Drinnen auf der Treppe dämpfte der Mann den Tritt kaum mehr, als ein gesitteter Hausbewohner es zu tun pflegt, wenn er die Stunde seiner nächtlichen Heimkehr nicht gerade zu allgemeiner Kenntnis bringen möchte.

Auch der Schlüssel zum Korridor des ersten Stocks befand sich an dem erwähnten Bunde. Der Mann faßte ihn auf den ersten Griff, ein Zeichen, daß er ihn kannte. Nachdem sich die Tür wieder hinter ihm geschlossen hatte, zog er eine elektrische Taschenlaterne hervor. Im Schein derselben schritt er ohne zu zögern und ohne besondere Vorsicht nach den beiden Zimmern, die Schwenndieck von der verwitweten Frau Kemnitz als »möblierter Herr« gemietet hatte.

Der Mann wußte offenbar, daß die Wirtin mit ihrer Tochter Anna gerade an diesem Abend einer Einladung nach den Zelten zum Sommernachtsball Folge geleistet hatte. Indessen, wenn auch jemand durch einen Türspalt geblickt hätte, der Mann sah dem Rentier in Bart und Kleidung so ähnlich, daß eine Unterscheidung der Personen nicht wohl möglich gewesen wäre.

Die Tür zu Schwenndiecks Räumen schloß der Mann hinter sich zu. Die Rollläden an den Fenstern waren schon vorher von der Wirtin heruntergelassen worden. So durfte der Eindringling ohne Scheu die Lampe anzünden. Mit Benützung weiterer Schlüssel an dem erwähnten Bunde öffnete er darauf den Schreibsekretär und alle seine Schubladen. Nur die Wertpapiere, die sich ohne Schwierigkeit in Geld umsetzen ließen, steckte er ein. Dazu noch Schwenndiecks Steuerquittung. Alles übrige kam wieder an seinen Ort zurück. Die fremde Hand, die in allen Schubfächern gewesen war, blieb nirgends erkennbar.

Im Zimmer nebenan stand Schwenndiecks Bett. Der Mann streckte sich lang darauf aus, drehte sich auch mehrmals herum, wie ein Schlafender es zu tun pflegt. Als er aufstand, sah das Lager aus, als ob es die ganze Nacht in gewohnter Weise benützt worden wäre.

Unbemerkt, wie er hineingekommen, verließ der Mann wieder das Haus. Wer ihn die Treppe hätte hinabsteigen sehen, konnte nur glauben, Schwenndieck sei plötzlich zum Nachtschwärmer geworden.

Einmal draußen, schritt der Mann nach dem Zentrum der Stadt. Von der Köpenicker Brücke aus schleuderte er das Schlüsselbund in die Spree. Dann ging er wie nach wohlgelungenem Werk in ein noch geöffnetes Restaurant, um noch etwas zu essen, und begab sich schließlich in ein Hotel.

Am nächsten Tag wurden die Wertpapiere in Gold und Kassenscheine umgetauscht. Nicht alle an derselben Stelle, sondern Stück für Stück – eines hier, das andere in einem anderen Geschäft. Wo es nötig war, diente der gestohlene Steuerzettel als Ausweis.

Als der Fremde am Abend mit dem Eilzug nach Hamburg fuhr, trug er außer barem Gelde einen hohen Kreditbrief auf die Bank von England in der Tasche. Auf dem Passagierdampfer »Northumberland« schiffte er sich nach London ein.

Nach einer Überfahrt von vierzig Stunden betrat er den Boden des Inselreiches. Er hatte nicht nötig, sich zurechtzufragen. Vollkommen ortskundig bestieg er den Zug, der ihn ins Innere von London trug.

Im Straßengewirr der Weltstadt tauchte er unter.


Bei Frau Kemnitz in der Skalitzer Straße blieben am Morgen nach dem Sommernachtsball die Vorhänge an den Fenstern bis über Mittag heruntergelassen.

Als Anna von ihrer Mutter endlich geweckt wurde, lachte sie hellauf. »Zwei ist's, sagst du? Ist wohl nicht möglich!«

»Ja, es ist höchste Zeit!« schalt Frau Kemnitz. »Was denkt bloß Herr Schwenndieck! Keinen Kaffee am Morgen! Solange er bei uns wohnt, ist so was nicht vorgekommen.«

»Er weiß ja, wo wir waren. Und daß wir erst spät nach Hause gekommen sind, kann er sich denken. Natürlich ist er ins Café gegangen, als ihm die Zeit zu lang wurde. So etwas Furchtbares kann ich dabei nicht finden.«

»Es gehört sich nicht,« beharrte Frau Kemnitz. »Wenn ich ein Vergnügen habe, darf kein anderer darunter leiden.«

Herrn Schwenndiecks Zimmer wurden in Ordnung gebracht. Wenn er wiederkam, wollte Frau Kemnitz sich entschuldigen.

Aber der Mieter kam nicht, und am Sonntagmorgen war sein Bett unberührt. Als Schwenndieck auch am Montag und Dienstag nicht sichtbar wurde, ging Frau Kemnitz zur Polizei.

Daß ein lediger Mann, ein Rentier obenein, sich ein paar Tage nicht sehen läßt, könne doch niemand sonderlich in Erstaunen setzen, wurde ihr bedeutet.

»Hat er denn seine Miete bezahlt?« fragte der Beamte noch.

»Ja.«

»Haben Sie etwas Auffälliges an ihm bemerkt?«

»Nein.«

»Na also! Er wird schon wiederkommen. Vorläufig ist in der Sache nichts zu tun.«

Am Donnerstag berichteten die Zeitungen, im Wald am Schlachtensee sei die Leiche eines gutgekleideten Mannes gefunden worden. Ob Mord oder Selbstmord vorlag, sollte durch die angeordnete Leichenöffnung festgestellt werden.

Im weiteren Verlauf der Untersuchung ergab sich, daß der Tote, ein Rentier Schwenndieck aus der Skalitzer Straße, sich mit Zyankali vergiftet hatte, denn offenbar lag Selbstmord vor.

Gegen die Annahme eines Verbrechens sprach besonders der Umstand, daß sich bei der Leiche noch die Börse und die wertvolle goldene Uhr vorgefunden hatten. Es schien auch undenkbar, daß ihm das schnell wirkende Gift von fremder Hand beigebracht worden sein konnte, ohne daß die geringste Spur angewendeter Gewalt darauf hindeutete.

Für die Annahme von Selbstmord sprach auch die Tatsache, daß unter dem Nachlaß in der Wohnung des Verstorbenen, der bisher allgemein für einen wohlhabenden Mann galt, nennenswerte Vermögensbestände nicht vorgefunden wurden. Kisten und Kasten befanden sich in vollster Ordnung. Diebstahl oder Raub schien um so mehr ausgeschlossen, als das Bett des Rentners noch in der Nacht vom Freitag zum Sonnabend benützt worden war. An den folgenden Tagen befand sich nach der Bekundung von Frau Kemnitz stets jemand in ihrer Wohnung, so daß es für einen Fremden völlig unmöglich war, das Zimmer des Verstorbenen unbemerkt zu erreichen. Wahrscheinlich hatte Schwenndieck durch unglückliche Spekulationen sein Vermögen verloren und darauf selbst Hand an sich gelegt.

Der Fall war also zwar nicht in allen seinen Einzelheiten klargestellt und würde voraussichtlich auch niemals ganz klargestellt werden, aber nach Lage der Umstände schien ein Verbrechen wenig wahrscheinlich, wenn nicht völlig ausgeschlossen.

Nach diesen Feststellungen war der »Fall Schwenndieck« sozusagen auf dem toten Punkt angekommen.

Aber Schwenndieck hinterließ Verwandte. Mit diesen Vettern und Basen, Neffen und Nichten war Schwenndieck bei Lebzeiten vollständig zerfallen gewesen. Bei Hochzeiten und anderen Familienfesten blieb er ohne Entschuldigung einfach fort, um das Geschenk zu sparen. So kümmerte man sich im Lauf der Zeit nicht mehr viel um ihn. Er selbst hatte seine Verwandten geradezu gehaßt – aus keinem anderen Grunde, als weil sie ihn dereinst beerben würden. Der Gedanke, sich schließlich doch von seinem Gelde trennen zu müssen, war seines Lebens Bitternis.

Aufhäufen, wenn's nichts kostete – ja! Zusammenscharren, wenn der bereits vorhandene Besitz nicht dadurch gefährdet wurde – mit Wonne! Aber etwas wagen auf die unsichere Aussicht, zu gewinnen – niemals! So hatten die Verwandten den Rentner von früher her in Erinnerung. Darum wollte es ihnen durchaus nicht einleuchten, daß der Erbonkel sein Vermögen verspekuliert haben sollte. Dazu war Schwenndieck ganz und gar nicht der Mann gewesen.

Nach Schwenndiecks Tode gab es also viel Gerede im Kreise der Verwandten. Gar oft versammelte man sich, um die Sache zu besprechen. Ganz gern hätte man ein Ermittlungsinstitut mit der Aufklärung des Todesfalls betraut, aber wer sollte die Kosten bezahlen? Wenn nichts herauskam, war dieses Geld auch noch weggeworfen.

Bei Gelegenheit einer der Zusammenkünfte machte nun Walter Schmidt, ein junger Bankbeamter, die Bemerkung, es sei doch recht auffallend, daß sich in Schwenndiecks Nachlaß weder ein Schlüssel gefunden, mit dem seine Behälter sich öffnen ließen, noch ein Steuerzettel. Wer überhaupt Licht in die Sache bringen wolle, müßte nach seiner Meinung heimlich und unerkannt an der Stelle zu forschen beginnen, wo der Verstorbene zuletzt gewohnt hatte. Niemand könne zum Beispiel wissen, ob nicht Schwenndiecks Wirtin –

Als Walter Schmidt an dieser Stelle zu sprechen aufhörte, starrten ihn alle Anwesenden vor Verwunderung sozusagen mit offenem Munde an. Daran hatte noch niemand gedacht.

Schließlich stand Onkel Wassermann, ein Junggeselle von etwa fünfzig Jahren und von der jüngeren Generation bereits als Erbonkel in Aussicht genommen, gewichtig vom Stuhle auf. Unter allgemeiner Aufmerksamkeit trat er zu Walter Schmidt und legte die Hand auf seine Schulter. »Junge,« sagte er, »Junge, das ist ein Gedanke! Und du selbst mußt die Sache in die Hand nehmen. Ich denke so: Bare Auslagen werden dir ersetzt. Und wenn es dir gelingt, das Geld herbeizuschaffen, zahlt dir jeder Erbe zehn Prozent von seinem Anteil als Honorar.«

»Zwanzig Prozent!« sagte Walter Schmidt, der Bankbeamte.

Schließlich kam man überein, daß Walter Schmidt fünfzehn Prozent der Summe vorweg erhalten sollte, die er den Erben retten würde.


Die Sturmstraße liegt ziemlich weit im Norden der Reichshauptstadt. In der dritten Etage des Hauses Nummer 69 B befand sich zwar kein photographisches Atelier, aber trotzdem wurde von den Bewohnern eine Blitzlichtaufnahme ins Werk gesetzt. Die Vorbereitungen waren seltsam genug.

Auf einem mit schwarzem Tuch behängten und von demselben vollständig verdeckten Katafalk stand ein offener Sarg, innen mit weißem Stoff ausgeschlagen.

Auch das Kissen am Kopfende fehlte nicht. Ein wenig zur Seite ruhte der abgehobene Deckel mit jedem Ende auf einem Stuhl, als warte er des Augenblicks, in dem er über die Leiche gedeckt werden sollte. Zu Häupten des Sarges waren hohe Leuchter aufgestellt, aber die Kerzen brannten noch nicht. An den Seiten und am Kopfende jenseits der Leuchter zog sich in geringem Abstand eine Dekoration im Halbkreise um den Katafalk, eine Art Kulisse wie im Theater, bemalt mit Palmen und exotischen Pflanzen in Kübeln. Der ganze Aufbau gab das Bild eines Zimmers, bevor die Leichenfeier beginnt. Nur der Tote fehlte im Sarge.

Eine junge Dame in Trauergewändern legte die letzte ordnende Hand an die Aufstellung. Sie änderte hier, verbesserte dort und ließ zuletzt den Blick prüfend über das Ganze gleiten. Der Aufbau befriedigte ihr offenbar geschultes Auge.

Nunmehr stieg sie die Stufen einer Stehleiter hinan, die in einiger Entfernung aufgestellt war. Dort oben hatte man schon vorher einen photographischen Apparat befestigt, dessen Objektiv die junge Dame jetzt auf den Trauerrahmen unten im Zimmer einstellte. Als sie auch damit fertig und von der Leiter wieder heruntergestiegen war, schüttete sie das Pulver zum Blitzlicht an seinen Ort, fügte auch einen Streifen Salpeterpapier als Lunte zum Abbrennen ein, ohne indessen Feuer daran zu legen.

Nunmehr wandte die junge Dame ihre Augen nach dem Eingang zum Nebenzimmer. Die Tür stand halb offen, aber zu sehen war niemand.

»Bist du fertig, George? Hier ist alles in Ordnung.«

»Einen Augenblick Geduld, Ursel! Die Maske muß vollkommen sein. Fehlt die Ähnlichkeit, so ist alle Arbeit verloren. Und mehr als das! – Aber ich bringe das Gesicht schon noch heraus! Es soll und muß gelingen! Ich sehe alle Tage mehr ein, wie gut es war, daß ich mich früher neben anderen Dingen auch mit der edlen Frisierkunst befaßte.«

Die Dame lachte erheitert. »Was hat mein lieber Bruder wohl nicht alles gelernt!«

Auch jenseits der Tür klang halblautes Lachen. Dann kamen die Worte: »Na ja – es geht! Am meisten freut mich, daß ich fliegen kann. Auf dem Platz in Johannisthal ernte ich jetzt Lorbeeren.«

»Das Ende wird sein, daß ich eines Tages deine zerbrochenen Knochen auf dem Felde zusammensuchen muß.«

»Man soll mit seiner Zeit Schritt halten, Ursel! Früher war das Auto das Höchste. – Weißt du noch damals in Mexiko, wo ich mich als Chauffeur betätigte?«

»Ich weiß. Bei Götze. Übrigens sorgst du heute abend dafür, daß mir der Mann nicht aus dem Gedächtnis kommt.«

»Er baut jetzt Motore in Rio und konstruiert Flugmaschinen.«

»Wie kannst du das wissen?«

»Ich hab's gelesen. – Eine tolle Geschichte – damals in Mexiko! Schade, daß sie nichts einbrachte! Ich mußte ein wenig übereilt abreisen – leider!«

»Ich vielleicht nicht? Buchstäblich durch dick und dünn!«

»Laß gut sein, Ursel – wir sind und bleiben aufeinander angewiesen. Daß wir treu zusammenhalten, hat uns ein gut Stück vorwärtsgebracht und wird uns auch noch weiterhelfen.«

»Aber das Fliegen solltest du aufgeben, George. Es macht mir Sorge.«

»Gefahr hat mich noch niemals geschreckt, das solltest du wissen, kleine Ursel. Es liegt etwas Dämonisches darin, das mich reizt und lockt. Und nebenbei – kein Mensch kann wissen, ob es ihm nicht eines Tages wünschenswert scheint, einen Sprung in die Wolken zu machen und durch die Lüfte zu fahren. – Aber nun bin ich fertig. Zünde die Wachskerzen an!«

In der Tür des Nebenzimmers erschien ein Mann von etwa dreißig Jahren, in Kleidung und Haltung durchaus Gentleman. Den dunklen Bart trug er kurz geschnitten nach Art der Überseer. Aber das Gesicht war ein wahres Totengesicht.

Die junge Dame hatte inzwischen die Kerzen angezündet. Nun ließ sie die Augen prüfend über ihren Bruder hingleiten. Sie nickte befriedigt. »Wie aus den Augen geschnitten – nur leichenhaft. Du bist ein Künstler, George!«

»Wenn du es sagst, darf ich mich vertrauensvoll in den Sarg legen. Reich mir beim Hinaufsteigen die Hand, Ursel, daß ich nichts umstoße!«

Dann ruhte der Herr mit geschlossenen Augen auf dem unheimlichen Lager. Die junge Dame legte seine Hände der Sitte gemäß entsprechend ineinander und strich die Falten aus dem weißen Stoff. Einen Augenblick verweilte sie mit gesenktem Haupt und verschlungenen Händen wie schmerzversunken an dem Sarge, um die Stellung zu proben. Dann war sie mit ihren Vorbereitungen an dieser Stelle zu Ende. Das elektrische Licht wurde abgedreht.

Im Dämmerschein der Kerzen stieg Ursel noch einmal die Trittleiter zu dem photographischen Apparat hinauf und warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel der Kamera. Alles war in Ordnung.

»Bist du bereit, George?«

»Ich warte, Ursel.«

»Vergiß nicht, die Augen geschlossen zu halten!«

Mit raschem Griff entfernte die junge Dame die Verschlußklappe am Objektiv, dann war sie schnell unten, um den Funken an die Lunte zum Blitzlicht zu legen.

Während er sich leise knisternd daran weiterfraß, eilte sie auf ihren Platz am Sarge, den sie vorhin probeweise eingenommen hatte.

Grell flammte der Blitz durch das Zimmer. Eine Sekunde nur, dann war es, als sei der ganze Raum in nächtliches Dunkel getaucht. Die brennenden Kerzen zu Häupten des Sarges schienen erst allmählich ihre Leuchtkraft zurückzugewinnen.

»Bleib, wo du bist, George! Ich werde die Platte schnell entwickeln. Falls etwas nicht nach Wunsch geraten ist, müssen wir die Sache gleich noch einmal machen.«

Alles Erforderliche war vorher bereitgestellt. Als die rote Lampe brannte, blies Ursula die Kerzen am Sarge aus und legte darauf die Platte in die Entwicklungsflüssigkeit.

Eine Zeitlang blieb es totenstill in dem Gemach. Neben der Schale mit der Platte glühte purpurn die Flamme der Lampe, der ganze übrige Raum lag in völliger Dunkelheit.

Ursula folgte mit sachverständiger Aufmerksamkeit dem Fortschritt in der Entwicklung der Platte. Dann nahm sie das Gespräch wieder auf.

»Wie bist du eigentlich auf die Idee gekommen, George?« fragte sie. »Ich meine mit dem Bilde.«

»Wie das so geht. Drüben war es, während meines Aufenthalts in England, wo ich die drei Vorträge hielt. Ich lese die Zeitungen stets sehr aufmerksam. So fand ich unter den Telegrammen der ›Times‹ die Nachricht, daß unser Bekannter jenseits des Wassers bei einem Probeflug mit einer Maschine seiner neuesten Konstruktion abgestürzt ist, so daß man an seinem Aufkommen zweifelt. Diese Notiz in Verbindung mit dem Umstand, daß Rio weit und nicht so rasch zu erreichen ist, gab mir den Anstoß. Da wir beide den Mann von Angesicht kennen, mußte die Sache durchführbar sein. In England segelte ich unter amerikanischer Flagge. Die Propheten von drüben werden noch immer am meisten geschätzt und am besten bezahlt. Von früher her wußte ich die Adresse der verwitweten Frau Götze hier in Berlin. Ich habe die Dame wiederholt im Klub der Okkultisten gesehen. Sie gilt dort viel. So eine Art Protektorin ist sie. Nach ihren überseeischen Beziehungen habe ich mich unter der Hand erkundigen können. Alles paßt vorzüglich. Die Dame ist reich. An diese Frau schrieb ich – immer unter amerikanischer Firma betreffs dreier Vorträge und stellte zugleich das nie geschaute Wunder in Aussicht. Dann bildete sich hier ein Komitee. Es kam eine Einladung für mich. Na, so ging's weiter. Wenn unsere Vorbereitungen beendet sind, können die Séancen beginnen. – Wie steht's mit der Platte?«

»Einen Augenblick noch. Ich habe sie schon ins Fixierbad gelegt.«

Mit kritischem Auge prüfte Ursula das fertige Bild vor dem durchscheinenden Licht der roten Lampe, dann drehte sie das elektrische Licht auf, daß es hell wurde im Zimmer.

»Du darfst aufstehen, George. Die Aufnahme ist gelungen.«

»Ihre Verwendung wird auch gelingen, hoffe ich. Es muß sehr eindrucksvoll sein, wenn aus der dunklen Höhe gleichzeitig eine Stimme tönt.«

»Was für eine Stimme?«

Er lachte. »Du weißt doch, daß ich das bei meinen – Vorträgen brauche!«


Frau Kemnitz war Eigentümerin des schuldenfreien Zinshauses, in dem sie wohnte, und nebenbei eine überaus stattliche Witwe. Ein Mädchen hielt sie nicht, obschon ihre Mittel das sehr wohl erlaubt hätten. Wenn eine Nachbarin ihr solchen Gedanken nahelegte, konnte sie sogar sehr eifrig werden.

Dagegen vermietete sie zwei möblierte Zimmer von ihrer eigenen Wohnung an einen einzelnen Herrn, nicht des baren Vorteils halber, sondern aus Gründen größerer Sicherheit. »Eine Mannsperson im Hause flößt den Räubern und Spitzbuben mehr Respekt ein als zwei einzelne Frauen,« sagte sie.

Mit Schwenndieck hatte Frau Kemnitz freilich kein Glück gehabt. Aber nun erst recht nahm sie nicht jeden Beliebigen in ihre Wohnung.

Da kam aber eines Morgens ein junger, netter Mann. Walter Schmidt nannte er sich. Er vermochte sich als Buchhalter in einem großen Bankgeschäft auszuweisen, er gefiel ihr und durfte einziehen.

Von seiner eigentlichen Absicht hatte Frau Kemnitz freilich keine Ahnung. Wäre ihr nur der entfernteste Gedanke gekommen, zu welchem Zweck der junge Buchhalter gerade in ihr Haus zog, und wie der Satz lautete, den er bei der Beratung im Kreise von Schwenndiecks Erben nicht zu Ende sprach, nun und nimmer hätte Walter Schmidt einen Fuß über die Schwelle der Damen gesetzt. Aber Frau Kemnitz ahnte nichts, und der Buchhalter vergaß seinen Nebenberuf, sobald er der Haustochter vorgestellt wurde.

Anna Kemnitz machte mit ihren achtzehn Jahren durchaus den Eindruck eines jungen Mädchens, das noch nicht zum Bewußtsein des Weibes erwacht ist. Über ihre ganze Erscheinung war der Duft erster Frühlingstage ausgegossen, bevor die steigende Sonne die Knospen zur Entfaltung bringt. Wenn jemand diese blütenweiße Stirn, auf die die flachsblonden Löckchen neckisch hinunterhüpften, mit unheilvollen Anschlägen betreffs Schwenndieck in Verbindung gebracht haben würde, Walter Schmidt hätte solchen Verdacht verbrecherisch genannt. Es tat ihm wohl, in das frische, lichtvolle Gesicht zu schauen.

So machte er seine eleganteste Verbeugung und setzte seine Worte so ansprechend, daß sie in Verbindung mit dem dunklen Schnurrbart, unter dem sie hervorklangen, einen durchaus empfehlenden Eindruck hervorbrachten.

Nachdem Walter Schmidt seine Sachen in Schrank und Schubladen untergebracht, saß er allein auf dem Sofa, auf dem vor ihm Schwenndieck heimisch gewesen war. Da überfiel ihn die Erinnerung mit erdrückender Gewalt.

Der Nachforschungen halber befand er sich an diesem Ort! Um einen Mord aufzuklären! Wie hatte er nur glauben dürfen, in diesem Hause die Schuldigen oder Mitschuldigen zu finden! Er schämte sich vor sich selber.

Niemals durften die Damen Kemnitz nur die leiseste Ahnung haben von seinem früheren Verdacht. Lieber wollte er sich selbst für den Mörder halten, als daß er Mutter und Tochter fürderhin mit solchen Gedanken zu nahe trat.

Dieser Vorsatz war sein erster Erfolg als Detektiv im Nebenberuf. Wie in stummer Abbitte befleißigte er sich von nun an doppelter Höflichkeit.

Aber die steife Förmlichkeit hielt nicht stand vor dem lachenden Blick aus Annas Augen, so strahlend blau wie Kornblumen. Die junge Dame freute sich des neuen Mieters. Sie nahm ihn ohne Hintergedanken als guten Kameraden für sich in Anspruch, und bald waren die beiden auf dem Standpunkt harmloser, freundschaftlicher Neckerei angekommen.

Onkel Wassermann hütete sich vorläufig, den Neffen in seiner neuen Behausung aufzusuchen. Er sorgte auch dafür, daß die übrige Verwandtschaft fernblieb. Die Nachforschungen müßten ganz heimlich betrieben werden, sagte er. Aber wenn er am dritten Ort mit Walter Schmidt zusammentraf, pflegte er sich sehr eingehend nach den Fortschritten zu erkundigen.

Bei solchen Gelegenheiten legte der junge Herr dreimal die Hand ins Feuer für Mutter und Tochter Kemnitz – in Gedanken natürlich. Im übrigen erging er sich in dunklen Reden, daß er noch nichts sagen könne und sagen dürfe. Ihm war nicht ganz wohl bei der Sache. Er wußte eben nichts und sah auch keinen Weg, etwas zu erfahren.

Eines Tages glaubte Walter Schmidt aus allerhand kuchendurchdufteten Anzeichen entnehmen zu müssen, daß sich in der Familie Kemnitz eine Feier vorbereitete.

Auf seine Anfrage hatte Anna nur ein spitzbübisches Lachen. »Sie mögen wohl gern Kuchen? Ich rieche nichts!« Sie zog das Näschen kraus, als ob sie schnuppere. »Ich rieche wirklich nichts!«

Aus dieser Ableugnung schloß der junge Herr nicht ohne inneren Grund, daß die Haustochter selbst im Mittelpunkt der Feier stehen werde. Er wendete sich diskret an Frau Kemnitz, und die Dame vertraute ihm ebenso diskret an, ihre Tochter vollende am nächsten Tage das achtzehnte Lebensjahr.

Vielleicht war es ein Rest von heimlichem Schuldbewußtsein in Erinnerung an früheren Verdacht, wodurch Walter Schmidt zu der Überzeugung gedrängt wurde, der Festtag dürfe ihn nicht ungerüstet finden.

Am Abend erstand er sechs der schönsten langstieligen Rosen, wahre Prachtexemplare. In Seidenpapier trug er das duftige Angebinde nach Hause. Dort aber überfiel ihn der Schrecken. Wo würde er die Blumen während der Nacht verwahren, damit sie nicht welk wurden? Wasser mußten sie haben, sonst gingen Duft und Blütenpracht verloren. Von Frau Kemnitz durfte er sich kein Gefäß leihen, dadurch würde ja die Überraschung verdorben.

Walter Schmidt sah sich im Zimmer um. In einer Ecke stand eine bemalte Vase auf einem Untersatz, darin ein paar künstliche Blumen als Schmuck. Das war, was er brauchte.

Er nahm das Gefäß herunter und zog den papierenen Zierat heraus. Als er einen Blick in den Hohlraum der Vase warf, gewahrte er darin noch ein zusammengerolltes Blatt. Auch dieses zog er hervor und versorgte dann seine Rosen aufs beste mit Wasser.

Ohne sich viel dabei zu denken, wickelte Walter Schmidt die kleine Papierrolle aus dem Glasgefäß auf. Seine Augen, anfangs gleichgültig, wurden plötzlich starr. Was er in der Hand hielt, war nicht mehr und nicht weniger als ein nach Titeln und Nummern wohlgeordnetes Verzeichnis von Wertpapieren.

Es war ein hübsches Vermögen, das da aufgeschrieben stand. Wer hatte das Verzeichnis in die Vase gesteckt? Vorsichtige Leute ohne feuer- und diebessicheren Geldschrank pflegen dergleichen getrennt von den Wertstücken aufzubewahren, um im Fall des Verlustes in den Nummern und Titeln Deckung zu haben.

Den Gedanken an Frau Kemnitz ließ der junge Mann ohne weiteres fallen. Die Dame hatte in den von ihr selbst benützten Zimmern Platz genug, wenn sie dergleichen verstecken wollte und zu verstecken hatte. Nur der frühere Bewohner dieser Räume konnte das Blatt in die Vase getan haben – Schwenndieck, sein Verwandter, der so geheimnisvoll starb, und dessen Vermögen verschwunden war. Richtig! Da stand ja sogar der Name des alten Herrn unten am Rande des Papiers. Walter Schmidt beglückwünschte sich. Jetzt hatte er einen wirklichen Erfolg aufzuweisen – dank Annas Geburtstag. Das Verzeichnis legte er in seine Brieftasche. Er würde im Geschäft darauf achten, ob eine der Effekten durch seine Bücher ging. Aber den Damen Kemnitz wollte er nichts von seinem Funde erzählen, um sie nicht zu beunruhigen. Er hätte sonst beichten müssen, weshalb er zu ihnen gezogen und in welchem Verhältnis er zu Schwenndieck und seiner Hinterlassenschaft stand.

Der Morgen des Festtags verlief in angenehmster Weise. Als Anna Kemnitz ihr Näschen senkte, um den Duft der Rosen einzusaugen, die dank der aufgewendeten Sorgfalt in voller Frische prangten, blühten ihre Wangen wie ein warmer Frühlingstag. Über die Blumen hinweg begegneten ihre lachenden Augen den Blicken des Spenders, so daß Walter Schmidt darob alle Wertpapiere der ganzen Welt nebst zugehörigen Verzeichnissen vergaß. Als er sich auf den Weg ins Geschäft machte, trug er eine Einladung für den Abend mit sich fort.

Noch niemals hatte der Buchhalter die Geschäftsstunden so lang und langweilig gefunden wie an diesem Tage. Endlich gingen sie doch vorüber. Und dann saß er als einziger Herr zwischen einem halben Dutzend liebreizender Mädchen, eine immer freundlicher als die andere. Und alle trugen den Schalk in den Augen und auf den Lippen, so daß der junge Mann gar nicht wußte, wohin er sich zuerst wenden sollte.

Anna Kemnitz ging ab und zu. Ihre Augen wachten, daß es nirgends an etwas fehle.

Wieder klang draußen die Glocke, und wieder ging die Haustochter hinaus, um nachzusehen. Die Tür zum Korridor blieb halb geöffnet hinter ihr, so daß man die Stimmen draußen unterscheiden konnte.

»Ah – Herr Fröhden!« Anna rief es, und helle Verwunderung klang aus ihrem Ton. »Wo in aller Welt kommen Sie denn her?«

»Geradeswegs aus Paris, mein verehrtes Fräulein Kemnitz. Ich habe mich beeilt, um heute noch rechtzeitig als Gratulant antreten zu können. Meinen allerherzlichsten Glückwunsch!«

»Das scheint ja eine gewaltige Freundschaft da draußen,« dachte Walter Schmidt. Seine Blicke richteten sich unwillkürlich auf die Tür. Wie sah dieser Herr Fröhden aus, der aus Paris kam, nur um Anna Kemnitz zum Geburtstag zu gratulieren?

Dann erschien ein Mann auf der Schwelle, gut gekleidet, von guter Haltung, ohne jeden Bart, das Haar überall gleichmäßig zurückgeschnitten. Etwa dreißig Jahre mochte er zählen.

»Bis auf Haar und Bart der richtige Heiratskandidat,« dachte wieder Walter Schmidt. »Wie kann sich ein Mann in diesem Alter nur den Kopf derart verschandeln lassen!« Die Verbeugung, mit der er die Vorstellung des Ankömmlings quittierte, fiel recht gemessen aus. Der Mann gefiel ihm ganz und gar nicht.

Auch bei längerem Zusammensein mit Fröhden wurden die Gefühle des jungen Buchhalters nicht freundlicher. Und doch tat der neue Gast nichts anderes, als was die Leute im allgemeinen tun, wenn sie die Menschen kennen und die Welt gesehen haben.

Er stellte sein Licht nicht unter den Scheffel. Aber Walter Schmidt hatte sich zu wohl gefühlt als einziger Herr zwischen den sprühenden Augen und den plappernden Mäulchen, als daß er jetzt ohne inneres Murren den Teilhaber hingenommen hätte. Er fand das verbindliche Lächeln um Fröhdens bartlose Lippen einfach unausstehlich. Er ärgerte sich über dieses Lächeln, besonders wenn es an seine Adresse gerichtet war. Spöttisch überlegen kam es ihm vor, boshaft in erheuchelte Liebenswürdigkeit gekleidet.

Den jungen Mädchen aber war der Mann offensichtlich überaus interessant.

Anna Kemnitz ging hin und her zwischen ihren Gästen. Sie goß die Schale ihrer Liebenswürdigkeit in gerechtem Maß über alle aus. Männlein und Weiblein wurden gleicherweise bedacht, Fröhden nicht minder als Walter Schmidt.

Aber gerade der letzte Umstand versetzte den Buchhalter in nervöse Unruhe. Wie Fröhden jetzt wieder vor der Haustochter stand! So siegessicher und überlegen! Er wollte gar nicht hören, was der ihm so unsympathische Mensch zu Anna Kemnitz sprach, und konnte doch nicht hindern, daß plötzlich Schwenndiecks Name an sein Ohr schlug. Da wurde er aufmerksam.

»Ja, wissen Sie denn das noch nicht?« fragte die junge Dame.

»Woher sollte ich's denn wissen, gnädiges Fräulein? Nicht die leiseste Ahnung hatte ich bis zu diesem Augenblick. Ich bin erst vorgestern abend aus Paris gekommen, wie ich schon sagte. Heute hoffte ich ihn hier zu treffen. – Armer Freund! So zu enden!«

Walter Schmidt war tiefsten Erstaunens voll. Dieser verhältnismäßig jugendliche Mann, der eben aus Paris kam, nannte Schwenndieck seinen Freund, denselben Schwenndieck, der mit keinem Menschen aus seiner eigenen Familie verkehrt hatte! Das mußte jedenfalls eine seltsame Freundschaft gewesen sein.

Dann setzte man sich zum Abendessen. Walter Schmidt, innerlich ergrimmt, daß auch Fröhden Platz nehmen durfte, dieser selbst nach allen Seiten hin verbindlich, die liebenswürdige Heiterkeit in Person. Die jungen Damen lachten und schwatzten. Zwischen ihnen saß das Geburtstagskind, immer von neuem besorgt, daß auch alle Gäste von den guten Sachen tüchtig nahmen. Frau Kemnitz, an einer Schmalseite des Tisches sitzend, war die Respektsperson und höchste Instanz.

Unter den jungen Damen entstand ein heimliches Kichern und Flüstern. Auch Anna Kemnitz wurde davon angesteckt. Offenbar hatte man ein sehr interessantes Thema zu verhandeln.

»Na, was habt ihr denn schon wieder?« fragte Frau Kemnitz.

Da war es das Geburtstagskind, das allen vernehmlich die Frage stellte: »Glauben Sie an Hexerei, Herr Schmidt?«

[Augenblicklich] trat tiefes Schweigen ein. Messer und Gabeln ruhten. Es war fast unheimlich still. In Fröhdens Augen zuckte ein Blitz auf – ganz kurz nur. Dann schaute er interessiert zu Walter Schmidt hinüber. Auch all die blauen und braunen Augenpaare waren erwartungsvoll auf den jungen Mann gerichtet. Was ein heiratsfähiger Herr in gut bezahlter Stellung über Hexerei zu sagen hat, ist stets beachtenswert.

Walter Schmidt sah der Fragerin verblüfft ins Gesicht. »Hexerei? Wie meinen Sie das? Ich weiß nicht, was Sie dabei im Sinn haben.«

»Wahrsagen,« kam die Antwort. »Wahrsagen aus den Karten, aus der Hand, aus Kaffeegrund, aus allen möglichen Dingen. Gegenwart und Vergangenheit wissen von Leuten, die man noch nie gesehen hat. Die Zukunft vorhersagen können. Liebestränke und Zaubermittel haben. Das ist Hexerei. Wir alle am Tisch kennen unsere Ansicht untereinander. Manchmal sind wir fest überzeugt, daß es so etwas gibt. Manchmal glauben wir's wieder nicht. Es kommt ganz darauf an, ob uns geweissagt wird, was wir gewünscht haben. Aber gelegentlich gehen wir doch immer wieder hin – Herr Fröhden nicht ausgeschlossen. Sie, Herr Schmidt, sind der einzige, von dem man noch nichts weiß. Glauben Sie also an Hexerei, oder glauben Sie nicht?«

Walter Schmidt sah aller Augen auf sich gerichtet und ärgerte sich. Es verdroß ihn, daß Fröhden gewissermaßen einer Gemeinschaft zugezählt wurde, der er selbst nicht angehörte. Aber vielleicht hätte er die Sache dennoch gelassen aufgenommen, wenn ihm nicht ein spöttischer Zug, den er auf dem Gesicht des anderen zu bemerken glaubte, das Blut so heiß in die Stirn getrieben hätte, daß er darüber Ort und Gelegenheit vergaß. Aus seinem Ärger heraus kam eine Antwort, mehr hölzern als geistreich, gröber als sich's schickt von einem jungen Herrn gegenüber einem achtzehnjährigen Geburtstagskinde, namentlich wenn dieses Geburtstagskind eine so liebe und freundliche Dame ist, kurz eine Antwort, einzig zu entschuldigen durch das Bestreben, einem unsympathischen Menschen eins auszuwischen.

»Ich glaubte über den Verdacht erhaben zu sein, daß derartige Kindereien in meinen Gedanken Platz hätten.«

»Kindereien? – Nanu!« sagte Fröhden.

Der Ton reizte Walter Schmidt noch mehr. Er wurde heftig. »Jawohl – Kindereien zum mindesten! Das Wort ist eigentlich viel zu gelinde für so gemeingefährliche Dinge.«

»Kinder, regt euch nicht auf! Laßt doch jeden, glauben, was er will!« sagte Frau Kemnitz.«

Das Geburtstagskind war ganz bestürzt. Einen Scherz hatte sie im Sinn gehabt, nun artete die Sache in einen Streit aus. Sehr unzufrieden war sie mit Walter Schmidt. Er hätte wirklich nicht nötig gehabt, eine harmlose Frage in dieser Weise zuzuspitzen.

Da wendete sich Fröhden mit lächelndem Gesicht zu ihr. »Sie kennen meine Ansicht, Fräulein Anna. Ich werde daran festhalten, auch wenn Herr Schmidt sie für gemeingefährlich hält. Natürlich finden sich Betrüger unter den Wahrsagern und Zauberern – wer wollte das leugnen! Aber das Wesen der Sache wird dadurch nicht berührt. Es gibt trotzdem Dinge, von denen sich die sogenannten vernünftigen Menschen nichts träumen lassen. So ist es festgestellt und wissenschaftlich erhärtet, daß Geister sich manifestiert haben, daß –«

»Einen Augenblick, Herr Fröhden!« unterbrach ihn Frau Kemnitz. »Meine Tochter wollte nur aussprechen, daß sie selbst, wie wohl alle ihre Freundinnen, schon bei der Kartenlegerin gewesen ist. Ich war natürlich auch schon da, besonders in jüngeren Jahren. Das kann jeder halten, wie er will. Herrn Fröhdens Ansicht haben wir gehört. Von Herrn Schwenndieck, der ein paar Jahre bei uns gewohnt hat, weiß ich bestimmt, daß er mit Hilfe von Geistern die Nummer des großen Loses erforschen wollte – vor der Ziehung natürlich. Wenn nun Herr Schmidt die Sache anders ansieht, soll ihm das unbenommen sein. Jedenfalls meine ich, daß wir lieber von etwas anderem reden. – Anna, laß doch die Platte mit dem Aufschnitt noch einmal herumgehen!«

Die Unterhaltung fand sich in ungefährliche Bahnen zurück. Nur Walter Schmidt blickte noch nachdenklich auf seinen Teller. Er war unzufrieden mit sich selbst, und zugleich hatte ihn die Bemerkung betreffs Schwenndiecks mit Erstaunen erfüllt. Nach dem, was er im Kreise seiner Verwandten gehört, war dem Rentner schon zuzutrauen, daß er's mit Geistern versucht hatte.

Als Fröhden sein Glas erhob und ihm zutrank: »Darum keine Feindschaft, Herr Schmidt! Ihr Wohlsein!« mußte er Bescheid tun.

Nach Tisch war der neckische Kobold in Anna Kemnitz schon wieder lebendig. Sie trat unauffällig zu Walter Schmidt. »Warten Sie nur! Ich bin Ihnen recht böse, Sie Spielverderber!«

»Ich will alles tun, um Ihr Wohlwollen zurückzugewinnen, Fräulein Anna,« sagte er und machte eine zerknirschte Miene.

»Alles?«

»Jawohl – alles.«

»Und nie mehr Spielverderber sein?«

»Niemals!«

»Schön! Ich halte Sie beim Wort. Vor acht Tagen wollte ich zu der Talbot. Das ist nämlich eine berühmte Kartenlegerin. Die Frau ist verzogen, sagte man mir. Nun passen Sie auf! Sobald ich die Adresse habe, gehen Sie hin und lassen sich die Karten legen!«

»Ich?«

»Ja – Sie! Wer dachten Sie sonst? Und wenn Sie da gewesen sind, erzählen Sie mir alles, was sie Ihnen gesagt hat.«

Ehe er sich noch wehren konnte, war Anna Kemnitz weg.


Eine Woche verstrich, ohne daß Walter Schmidt Gelegenheit fand, mit der Haustochter mehr Worte zu wechseln, als zu einem Gruß gehören. Wenn er Anna Kemnitz wirklich einmal im Korridor gewahrte, war sie sicher verschwunden, bevor er näher kam. Das geschah mit Absicht – er merkte es wohl.

Eines Tages aber änderte sich die Sache.

Als Walter Schmidt aus dem Geschäft heimkehrte, öffnete Anna Kemnitz die Tür ihres Wohnzimmers.

»Guten Abend, Herr Schmidt!« rief sie. »Hier ist die Adresse!«

Dabei drückte sie ihm ein Stückchen Papier in die Hand.

»Welche Adresse denn?«

»Sie wollten doch zu der Kartenlegerin gehen. Da auf dem Papier steht ihre Wohnung.«

»Das habe ich gewollt?«

»Allerdings. Und wenn Sie dort gewesen sind, wollten Sie mir alles berichten, was sie Ihnen erzählt hat, sagten Sie.«

»Das hätte ich gesagt?«

»Wer denn sonst?«

»Wenn ich nun aber nicht hingehe?«

»Ich habe noch nicht erlebt, daß ein Herr einer jungen Dame gegenüber sein Versprechen abgeleugnet oder nicht gehalten hätte.«

Dabei traf Walter Schmidt ein Blick aus den blauen Augen, daß er sich nicht verhehlen konnte, sein Standpunkt betreffs des Besuchs bei der Wahrsagerin sei weniger fest, als er bis dahin angenommen hatte.

»Fröhden war wohl wieder hier?« fragte er.

»Jawohl. Er hat mir die Adresse gebracht. Ich hatte ihn darum gebeten.«

Walter Schmidt richtete sich straff auf. »Sagen Sie, Fräulein Anna, woher stammt eigentlich Ihre Freundschaft mit dem Herrn Fröhden?«

»Freundschaft? – Herr Fröhden hat mit uns überhaupt nichts zu tun. Ein Bekannter von Herrn Schwenndieck ist er gewesen. Bei dem habe ich ihn ein paarmal gesehen. Doch was die miteinander abzumachen hatten, blieb mir stets verborgen.«

»Aber Ihren Geburtstag wußte Fröhden. Und darum kam er direkt aus Paris, um Ihnen zu gratulieren!«

»Sehr nett von ihm! Finden Sie nicht?«

»Und als er erfuhr, daß sein Freund so schrecklich geendet, setzte er sich und feierte Feste mit Leuten, die er gar nicht kennt.«

»Hat mich auch ein bißchen gewundert. Aber nachher war es doch sehr nett, daß er blieb. Er plaudert famos!«

»Und ich komme dabei in Verdacht, ein unverträglicher Mensch zu sein!«

»Jedenfalls hat Herr Fröhden nicht vergessen, daß man versprochene Dinge ausführen muß,« versetzte Anna Kemnitz ein wenig schnippisch. »Die Adresse haben Sie jetzt.«

Weg war sie.

In seinem Zimmer las Walter Schmidt den Zettel mehrmals aufmerksam durch:

Frau Talbot, Sturmstraße 69 BIII, Freitag abend acht Uhr.

Der junge Mann betrachtete die Buchstaben mit bemerkenswertem Interesse. Eine feine Damenhandschrift! Sicher hatte Anna Kemnitz selbst aufgeschrieben, was Fröhden ihr sagte. Es war die erste Schriftprobe von der Haustochter, die ihm zu Gesicht kam.

Er legte den Zettel sorgfältig in sein Notizbuch. Aber hingehen, die Kartenlegerin aufsuchen – das gab's natürlich nicht! –

Auch auf dem Kontorschemel finden sich freie Augenblicke. Walter Schmidt zog auch dort den Zettel wieder hervor und verglich die Buchstaben mit seiner eigenen Schrift. Dabei dachte er an die Hand, die auf dem Zettel geruht hatte. Zu dieser Hand gehörte das Gesicht mit den übermütigen Augen so blau wie Kornblumen.

Gehen oder nicht gehen?

Noch am Freitagmittag glaubte Walter Schmidt ganz bestimmt, daß er die Talbot nicht aufsuchen würde.

Am Abend, genau fünf Minuten vor acht Uhr, stieg er in der Sturmstraße 69 B die drei Treppen hinauf.

Ein Schild aus Messing mit dem Namen Talbot zeigte ihm, daß er vor der richtigen Tür stand. Seine Hand berührte den Druckknopf der Klingel.

Nach kurzem Warten vernahm er drinnen schlürfende Schritte. Ungefähr in Gesichtshöhe war ein verdecktes Guckloch in der Tür angebracht. Walter Schmidt gewahrte, daß sich innen die Verschlußklappe zur Seite bewegte. Dann wurde die Sicherheitskette abgehoben. Die Tür ging auf.

Im Korridor sah sich Walter Schmidt einem Mann in reiferen Jahren gegenüber. Ein einfacher Hausanzug umschloß die hagere Gestalt. Das Gesicht war von einem ergrauenden Bart umrahmt.

»Mein Name ist Lehmann,« sagte Walter. »Ich möchte Frau Talbot sprechen.«

»Einen Augenblick! Werde Bescheid sagen.«

Während der Mann in das Innere der Wohnung ging, ließ der Besucher seine Augen durch den Korridor schweifen. Von der Decke herab verbreitete eine Ampel gelbliches Licht. An einer Seitenwand stand ein Kleiderrechen mit Spiegel. Walter hängte seinen Hut auf.

Der Mann kam zurück. »Sie können schon hineingehen.«

Walter Schmidt trat in ein mäßig großes Zimmer. Süßliche Luft schlug ihm entgegen, als ob ein schweres Parfüm darin verstäubt sei. Die Lampe auf dem Tisch verbarg ihr Licht hinter einem dichten Schirm, so daß der größte Teil des Raumes im Schatten blieb. Hinter dem Tisch saß eine Frau im Lehnstuhl, und von dorther klang eine seltsam tiefe Stimme: »Setzen Sie sich zu mir!«

Der Frau gegenüber nahm Walter Schmidt den Stuhl ein, der für ihn bereit stand. Er sah ein Gesicht, über das etwa vierzig Jahre hingegangen sein mochten. Die Züge waren tief gebräunt, um die Stirn dickes, bereits angegrautes Haar. Die ganze Erscheinung hatte etwas Zigeunerhaftes. Dem entsprach auch die Kleidung. Das bemerkenswerteste an der Frau blieben jedenfalls die nachtschwarzen Augen, in denen ein schier jugendliches Feuer glühte.

»Was wünschen Sie von mir zu wissen?s «?

Walter Schmidt fühlte einen dumpfen Druck in der Stirn. Die Luft war unerträglich schwer. Dabei wurde ihm zumute, als lauere ein Geheimnis um ihn her, in den Schatten etwas Unheimliches, das unsichtbare Hände nach ihm ausstreckte. Er mußte sich zusammennehmen, um an den Zweck seines Hierseins zu denken.

»Die Karten möchte ich mir legen lassen,« sagte er.

»Vergangenheit oder Zukunft?«

Die Frage überraschte Walter Schmidt nur einen Augenblick. Natürlich rechnete die Kartenlegerin damit, daß er die Zukunft wissen wollte. Deshalb kamen die Leute ja zu ihr. Da durfte sie reden, was sie wollte, und kein Mensch vermochte sie zu widerlegen. Ihre Frage war einfach ein Trick, um sich ein Ansehen zu geben. Aber er selbst war doch nur gekommen, um Anna Kemnitz einen Gefallen zu tun. An Wahrsagerei brauchte er deshalb noch lange nicht zu glauben. Um die offenbare Schwindlerin zu täuschen, hatte er ja auch einen falschen Namen genannt.

»Vergangenheit,« sagte er.

Ohne ein weiteres Wort streckte die Kartenlegerin die Hand nach der Seite aus. Von irgendwoher aus dem Schatten nahm sie ein Spiel Karten, das sie dem Besucher reichte.

»Mischen Sie!«

Walter Schmidt kam der Aufforderung nach. Dann gab er die Karten schweigend zurück, und schweigend legte die Frau mit ihren braunen Händen die Blätter auseinander, hierhin und dorthin. Dem Anschein nach folgte sie dabei einer bestimmten Regel, bis das ganze Spiel in vier Reihen zu acht Blättern aufgeschlagen auf dem Tisch lag.

Der Besucher folgte dem Vorgang mit großer Aufmerksamkeit. Wenn nur die schwere Luft und der Druck in der Stirn nicht gewesen wären!

Die Blicke der Wahrsagerin ruhten sinnend auf den Karten. Dann hoben sich die schwarzen Augen zum Gesicht des Besuchers, als suchten sie dort die Bestätigung dessen, was sie in den Bildern gelesen. Doch ohne ein Wort zu sagen, schob sie die Blätter scheinbar achtlos zusammen und reichte sie Walter zum nochmaligen Mischen zurück.

Das Verfahren wiederholte sich zum zweiten Male und auch zum dritten Male. Stets hatte Walter den Eindruck, daß bestimmte Karten wieder an derselben Stelle lagen.

Wieder ruhten die Blicke der Wahrsagerin auf den bunten Bildern, und wieder traf das Feuer der schwarzen Augen das Gesicht des Buchhalters. Dann begann die tiefe Stimme zu sprechen, fast traurig: »Dreimal sind die Blätter im Namen des Geistes geschichtet, dreimal liegen die Karten gleich, dreimal sicher ist die Wahrheit, die sie verkünden.«

Einen Augenblick blieb der Mund der Wahrsagerin stumm. Dann begann der Zeigefinger der braunen Hand einzelne Blätter zu berühren. Die tiefe Stimme erklang von neuem. Und während sich die Sätze abgerissen folgten, gingen die Augen der Frau zwischen den Karten und dem Gesicht des Mannes hin und her, als müsse sie dem Eindruck folgen, den die Verkündigungen hervorbrachten.

»Die Vergangenheit liegt vor mir – ein wenig beschriebenes Blatt. Der Geist sorgt nicht um Einzelheiten, die jeder kennt. Ödes Gleichmaß der Tage zwischen Arbeit und Lust, wie junge Leute sie suchen bis ganz zuletzt. Falschheit in der Seele, Trug auf den Lippen – traten Sie über diese Schwelle. Sie suchen nicht Wahrheit, des Geistes wollen Sie spotten –«

Walter Schmidt fühlte, daß ihm das Blut zur Stirne stieg. Wieder hatte er die Empfindung, ein Geheimnis zöge sich um ihn zusammen. Aus den schwarzen Augen vor ihm spann sich's um ihn herum, streckte hinter seinem Rücken aus den Schatten unsichtbare Krallen nach ihm aus, als ob es ihm den Verstand rauben wollte.

Doch schon sprach die merkwürdige Frau weiter: »Wo Sie leben – Trug. Sie suchen und wollen es nicht sagen. Sie sind jemand, und keiner soll es wissen. Eine Leiche –«

Noch mehrmals tippte der Zeigefinger der braunen Hand auf einzelne Bilder, der Mund blieb stumm.

Dann sah die Wahrsagerin dem Besucher starr in die Augen. Sie schob die Blätter achtlos zusammen.

»Weiter steht nichts in den Karten,« sagte sie endlich.

Walter holte tief Atem. »Wollen Sie mir jetzt die Zukunft deuten?«

»Vergangenes und Zukünftiges stehen nicht auf demselben Blatt. Sie hatten die Wahl. Wenn Sie die Zukunft erfahren wollen, müssen Sie wieder kommen.«

»Wann?«

»Sie haben an einem Freitag begonnen, Sie bleiben an den Freitag gebunden.«

Walter Schmidt stand zwar jetzt aufrecht auf seinen Füßen, aber wie Schwindel kreiste es in seinem Hirn.

»Was bin ich schuldig?« fragte er.

»Der Geist hat keine Taxe.«

Er legte ein Geldstück auf den Tisch. Dann ging er die Treppe hinab und stand endlich aufatmend auf der Straße.

Langsam ging er weiter, die Augen gesenkt, den Kopf voll Gedanken.

Da schlug plötzlich eine bekannte Stimme an sein Ohr. »Guten Abend, Herr Schmidt! Nein, über den Zufall, der uns zusammenführt!«

Walter strich mit der Hand über die Stirn. Er mußte sich erst sammeln. »Fräulein Kemnitz – seh' ich recht?«

»Natürlich bin ich's. – Sind Sie oben gewesen?«

»Wo?«

»Tun Sie doch nicht so! Sie wissen ganz genau, was ich meine.«

»Lassen Sie uns erst weitergehen, Fräulein Kemnitz. Ich setze voraus, daß wir denselben Weg haben. Oder irre ich?«

»Ich will jedenfalls nach Hause. – Aber nun sagen Sie schnell: Sind Sie bei ihr gewesen? Wenn Sie die Wahrheit gestehen, will ich Ihnen auch ein Bekenntnis machen.«

»Angenommen! Also was haben Sie zu beichten, Fräulein Anna?«

»Erst sind Sie an der Reihe. Waren Sie oben?«

»Ja – leider!«

»Wieso?«

»Weil's Unsinn ist. Und Unsinn wird es bleiben trotz alledem und alledem!«

»Interessant ist's darum doch. – Und nun will ich auch gestehen, daß es gar kein Zufall ist, wie wir uns begegnet sind. Ich wollte Sie unterwegs treffen. Ich bin so neugierig – oh, so furchtbar neugierig! Ich konnte es gar nicht zu Hause aushalten. Aufgelauert habe ich Ihnen auf der Straße. Und nun erzählen Sie! Was hat Ihnen die Talbot gesagt?«

»So rasch ist das nicht abgemacht. Sehen Sie, dort drüben ist eine Konditorei. Wenn ich Sie einladen darf – bei einer Tasse Kaffee plaudert es sich gemütlicher. Oder ziehen Sie Schokolade vor?«

»Mit Schlagsahne schon.«

Bald saßen die zwei jungen Leute behaglich an einem der runden Tischchen.

»Nun spannen Sie aber meine Neugier nicht länger auf die Folter – bitte, bitte!« sagte Anna Kemnitz.

»Nachdem ich geklingelt hatte –«

»Da sah der Mann durchs Guckloch und ließ Sie dann ein. Weiß ich alles. Sie wurden angemeldet und saßen dann –«

»Immer langsam voran! Mein Name ist Lehmann, sagte ich zu dem Mann. Es braucht doch nicht jede Kartenlegerin zu wissen, wie ich heiße.«

»Sehr schlau! – Aber als Sie dann vor der Zigeunerin mit den schwarzen Augen saßen –«

»Zunächst hat Sie mich vor meinen Hausgenossen gewarnt. Sie sprach von lockenden Augen.«

»Von meinen Augen hat sie geredet?«

»Das weiß ich nicht. Sie erwähnte nur trügerisch lockende Augen.«

»Da hört doch –«

»Besonders vor der jüngeren Dame sollte ich mich in acht nehmen, sonst würde ich ein waschlederner Handschuh in ihren Fingern.«

»Jeder muß wissen, was aus ihm werden kann,« sagte Anna Kemnitz trocken. Sie durchschaute den Scherz. »Weiter!«

»Und dann fragte sie mich, ob ich Vergangenheit oder Zukunft wissen wolle.«

»Sie ließen sich natürlich die Zukunft sagen. Die Vergangenheit kennen Sie doch selber.«

»Nein, ich wählte die Vergangenheit.«

»Wie schade!«

»Keineswegs. Ich konnte dabei feststellen, ob sie mich anlog. Betreffs der Zukunft hätte ich alles gläubig hinnehmen müssen.«

»Aber das ist doch gerade interessant! Also die Vergangenheit? Hat sie Ihnen alle Ihre Sünden richtig aufgezählt?«

»So ungefähr. Meine Seele wäre voll Lug und mein Mund voll Trug, meinte sie.«

»Stimmt!« sagte Anna Kemnitz mit ernstestem Gesicht.

»Wieso?«

»Haben Sie sich nicht Lehmann genannt, als Sie oben waren?«

Walter mußte lachen. »Sie haben recht, Fräulein Anna. Doch Scherz beiseite! Die Talbot wußte etwas von mir. Ob viel, ob wenig mag dahingestellt bleiben. Rätselhaft ist mir eigentlich nur ein Wort – doch davon später.«

»Welches Wort?«

Walter sah einen Augenblick vor sich hin. Jetzt war nicht die Zeit und an dieser Stelle auch nicht der Ort, Anna Kemnitz in den ernsten Zusammenhang der Dinge schauen zu lassen. Aber eine direkte Unwahrheit wollte er auch nicht sagen. So half er sich, so gut es ging. »Nur vier Silben äußerte die Talbot: Eine Leiche –«

»Herr Schwenndieck!« sagte Anna ernst. »Aber das geht Sie doch gar nichts an!«

»Ich vermute selbst, daß sie den alten Herrn gemeint hat. Aber woher weiß die Frau, wer mein Vorgänger in der Wohnung war? Das muß ihr jemand gesagt haben.«

»Wer könnte das sein?«

»Fräulein Anna, erwähnten Sie nicht, daß Sie die Adresse von Fröhden erhalten haben? – Schön! Dann behaupte ich, daß die Talbot ihre Wissenschaft betreffs der Verhältnisse und meiner Person nur diesem Herrn verdankt, nur ihm verdanken kann. Aber welchen Zweck verfolgt er dabei?«

»Wahrscheinlich will er Sie gläubig machen.«

»Es ist möglich, daß Sie recht haben, Fräulein Anna. Möglich ist auch, daß er mich bloß lächerlich machen will. In beiden Fällen wäre Fröhden ein Lügner. Hat er nicht feierlich erklärt, daß er an Geister glaubt?«

»Aber er hat gleich dabei gesagt, daß es auch Schwindler gibt.«

»Richtig! – Indessen als angeblich überzeugter Spiritist oder Okkultist durfte er sich niemals herbeilassen, den Schwindel zu unterstützen oder ihn erst möglich zu machen.«

Da schwiegen beide.

Als Walter die Unterhaltung wieder aufnahm, schien er mit sich im reinen zu sein. »Fräulein Anna, ich habe die Erlaubnis erhalten, über acht Tage wieder zur Talbot zu kommen, um nun die Zukunft zu hören. Ich werde dort sein. Jetzt bin ich selber neugierig, was mir Herr Fröhden durch ihren Mund mitteilen wird. Aber um eines bitte ich Sie recht herzlich: Kein Wort von unserer heutigen Unterhaltung zu irgend einem Menschen, wer es auch sei! Kein Wort von der ganzen Angelegenheit – ja?«

Er streckte die Hand aus.

Anna Kemnitz legte ihre Rechte hinein. »Und hier an dieser Stelle treffen wir uns dann wieder, damit Sie mir alles erzählen,« ergänzte sie seine Worte.


Bei seiner Heimkehr an einem der nächsten Tage bemerkte Walter, daß die Tür zu dem Wohnzimmer der Frau Kemnitz nur angelehnt war. Da ihm eine Art Ahnung sagte, er möchte drinnen nicht unwillkommen sein, klopfte er an.

Die Haustochter war allein in der Stube. Ein leises Lächeln spielte um ihren Mund. Dann aber sprach sie mit ernstem Gesicht ihr Bedauern aus, daß die Mutter gerade ausgegangen sei. Sie werde aber gleich wiederkommen, und Herr Schmidt möge nur Platz nehmen.

Nach dieser Begrüßung wendete Anna ihre Aufmerksamkeit ungeteilt der Stickerei zu, die sie in der Hand hielt.

Walter hatte plötzlich alles vergessen, was er fragen könnte. Er benützte also die Gelegenheit, die fleißigen Hände der jungen Dame aufmerksam zu beobachten.

»Nun, was gibt's Neues, Herr Schmidt?« fragte Anna Kemnitz, um die Unterhaltung in Fluß zu bringen.

»Nichts von Belang. – Wie geht es Ihnen, Fräulein Kemnitz?«

»Danke! Ganz gut!«

Wieder eine Pause.

So durfte es nicht weitergehen. Anna hatte zudem etwas auf dem Herzen, das sich nur unter vier Augen erledigen ließ. »Wissen Sie, wer am Nachmittag bei uns war?« fragte sie.

»Doch nicht dieser Fröhden? – Was wollte denn der schon wieder?«

»Eigentlich gar nichts. Nur so ganz nebenbei hat er gefragt, ob Sie schon bei der Wahrsagerin gewesen seien.«

»Diese Teilnahme ist ja geradezu rührend. – Und was haben Sie geantwortet?«

»Gelogen habe ich – Ihnen zuliebe gelogen. Ich wüßte nichts davon, habe ich gesagt.«

»Das war brav – das freut mich!« Walter dachte einen Augenblick nach. »Fräulein Anna, können Sie mir vielleicht sagen, womit dieser Fröhden seine Zeit ausfüllt? Ich meine, was er ist und was er tut? Er scheint mir doch noch viel zu jung, um ohne Erwerb in der Welt umherzuziehen.«

»Soviel ich weiß, ist er gelernter Ingenieur. Jetzt übt er sich in Johannisthal als Flieger ein.«

»Welches Interesse kann es für diesen Mann haben, ob ich bei der Talbot war oder nicht? Er kennt sie, das ist sicher. Weshalb erkundigt er sich nicht an Ort und Stelle? Oder war die Nachfrage bei Ihnen nur ein Vorwand? Vielleicht zieht ihn etwas anderes in dieses Haus?«

Die Augen so blau wie Kornblumen begegneten den Blicken des jungen Bankbeamten völlig harmlos. Offenbar hatte Anna Kemnitz in ihres Herzens Unberührtheit gar nicht verstanden, worauf der Besucher hinzielte. »Ich wüßte nicht, was ihn außer der Neugier herführen sollte.«

»War an Ihrem Geburtstag nicht die Rede davon, daß Herr Schwenndieck mit Hilfe von Geistern das große Los gewinnen wollte?«

»Mutter sagt es. Sie sprachen öfter von dergleichen Dingen. Herr Schwenndieck hatte wirklich manchmal sonderbare Ansichten.«

»Fröhden nicht?«

»Nun ja – der redete auch mit. Das ging nur so durcheinander von Spiritismus und Okkultismus und zeitlichen Fernwirkungen – wer soll das alles behalten! Er fing ja neulich schon wieder davon an. Dagegen ist doch das Kartenlegen eine ganz harmlose Sache. So eine Art Zeitvertreib. Man braucht ja nicht zu glauben, was so eine alte Hexe sagt.«

»Wann ist Fröhden eigentlich nach Paris abgereist damals? Oder wissen Sie es nicht?«

»Reichlich acht Tage bevor Herr Schwenndieck nicht wieder nach Hause kam. Genau kann ich's nicht sagen, aber es war eine ganze Zeit vorher.«

Walter überlegte, ob er jetzt von seiner Aufgabe sprechen sollte. Zeit und Ort waren so günstig wie denkbar. Er schwieg dennoch – ohne Falschheit. Es war kein Verdacht irgend einer Art, der ihm den Mund schloß. Er durfte die kristallklare Seele dieses jungen Mädchens nicht mit schwarzen Möglichkeiten beunruhigen, für die jeder Beweis fehlte.

Draußen im Korridor ging die Tür. Frau Kemnitz kehrte heim.

»Vergessen Sie nicht – in der Konditorei nächsten Freitag!« konnte Anna eben noch sagen. Ihr ganzes Gesicht strahlte vor Freude über das harmlose Geheimnis. Sie war wirklich noch ein Kind in Herz und Gedanken.


Zur festgesetzten Zeit saß Walter Schmidt Sturmstraße 69 B gegenüber der Frau im Lehnstuhl. Diesmal benützte die Talbot andere Karten, das Verfahren war aber im übrigen dasselbe. Dennoch konnte sich der Besucher des Eindrucks nicht erwehren, als sei eine Änderung eingetreten seit seinem ersten Besuch. Wohl fühlte er wieder das Geheimnisvolle um sich, aber es hatte nichts Schreckhaftes mehr. Selbst die Luft schien weniger schwer, und sein Kopf blieb freier. Vielleicht war's damals auch nur das Neue, Ungewöhnliche gewesen, das heute sich nicht mehr so eindrucksvoll zeigte.

Als alles vorbereitet war, ruhten die Blicke der Wahrsagerin längere Zeit auf den bunten Blättern, um sich dann zum Gesicht des Besuchers zu erheben. Dabei schien es Walter, als ob ihn die Frau heute anders ansähe als beim ersten Besuch. In den nachtschwarzen Augen glomm ein eigenes, mildes, fast inniges Licht. Auch die Stimme schien verändert. Die Worte hatten einen Klang von innerem Frohlocken und kamen doch mild und einschmeichelnd über die Lippen.

»Ihre Zukunft liegt rosig vor Ihnen. – Das Glück wartet auf Sie. – Reichtum und Liebe –«

Sie stockte. Wieder ruhten die Augen der Wahrsagerin sinnend und warm auf dem Gesicht des Mannes.

»Von aller Unrast der Zeit heilt Sie ein Weib. Eine Dame tritt in Ihr Leben – bald. Noch kennen Sie sie nicht – Jugend und Schönheit umfließen Sie beide – Jugend und Schönheit, Reichtum und Glück, wohin ich sehe.«

Sie stand auf, um Walter damit anzudeuten, daß die Sitzung beendet sei.

Als er die Straße erreichte, wollte er lachen, konnte aber nicht. Das war doch dasselbe Lied, das wahrscheinlich da oben allen gesungen wurde! Aber in den Augen der Frau hatte etwas geglommen, das in ihm fortleuchtete, in den Worten lag ein Klang, der in ihm nachhallte.

Walter strich mit der Hand über die Stirn. Sirenenklänge, hervorgelockt durch die Sucht nach Gewinn! Fort damit! Diesmal hatte Fröhden die Wahrsagerin sicher nicht beeinflußt, das lag auf der Hand.

In der Konditorei wartete Anna Kemnitz.

»Nun? Wie war es, Herr Schmidt? Was hat sie gesagt?«

Er zuckte die Achsel. »Nachdem ich die Melodie gehört, erkenne ich sie wieder aus der Zeit, in der mir Märchen Wirklichkeit bedeuteten. Ehrlich gestanden ich bin enttäuscht.«

»Aber warum denn? Erzählen Sie doch!«

»Das Glück wartet auf mich – rosenrot – Jugend und Schönheit – Reichtum und Liebe! Das alte Lied, womit man Kinder in Schlaf lullt und klügere Leute trunken macht, daß sie träumen in süßem Nichtstun.«

»Und dann sind Sie enttäuscht!«

»Nach dem vielversprechenden Anfang vor acht Tagen hatte ich eigentlich etwas anderes erwartet.«

»Jugend und Schönheit, Reichtum und Liebe – etwas Besseres können Sie sich doch gar nicht wünschen.«

»Nun, man besitzt noch nicht, was einem ein Zigeunerweib in Aussicht stellt.«


In ihrer Wohnung saß die Wahrsagerin nachdenklich im Lehnstuhl. Vor ihr stand der hagere Mann, der Walter als Türhüter entgegengetreten war.

»Was hast du eigentlich mit diesem Lehmann im Sinn, Ursel?« fragte er.

»Mit welchem Lehmann?«

»Meinethalben also mit Herrn Schmidt, der eben hinausging. Du weißt doch, wen ich meine!«

»Aber ich weiß nicht, wie du auf die Frage kommst.«

»Ich habe mir erlaubt, nebenan ein wenig zu horchen. Da verstand ich einiges, aber nicht alles.«

»Und nun?«

»Was du ihm gesagt hast, bleibt sich im Grunde gleich – Speck, mit dem wir fette Mäuse fingen, seit unser Aufstieg begann. So müßte es auch mit diesem Manne sein. Aber dein Ton, Ursel, die Stimme, mit der du sprachst, das war nicht mehr die kalte Pythia, das war Ursel persönlich, das war das Weib, das seine eigenen Wünsche in die Form einer Weissagung kleidet. Sag es ehrlich, Ursel! Siehst du diesen Mann anders an als andere Männer?«

»Und wenn ich es täte?«

»Müßte ich es bedauern.«

»Und dann?«

»Ursel, kleine Ursel, muß ich dich an alte Zeiten erinnern, als wir beide allein zurückblieben in der Welt, du in einem Kartoffelkorb, der deine Wiege war, und ich daneben als zehnjähriger Junge! Keine Seele, die um uns bangte! Lauter Hände, die schlugen und stießen, keine einzige, die streichelte. Du und ich, wir beide allein, immer allein! Allen eine Last, niemand eine Lust! Seit jener Zeit ist meine Schwester das einzige Weib, der einzige Mensch, den ich liebe.«

»Ich weiß es, George.«

»Dann kam der Tag, an dem eine rohe Faust mich mißhandelte, weil ein anderer etwas verkehrt gemacht hatte. Am Abend nahm ich dich bei der Hand, führte dich fort auf deinen trippelnden Füßchen, trug dich auf meinen Armen, wenn du müde wurdest, stahl für dich, wenn du Hunger hattest. So begann unsere Wanderschaft. Du noch ein Kind und ich nicht viel mehr.«

»Ich weiß es, George, und danke es dir noch heute.«

»Mit fahrenden Leuten ging's durch die Welt, hierhin und dorthin. Du lerntest mit meinen Augen sehen, mit meinem Kopfe denken, mit meinem Herzen verachten, bis wir uns auf eigene Füße stellten, du und ich, wir beide allein, ohne Freund, ohne Vertrauten, nur wir beide. – Weißt du das noch, Ursel?«

»Ich weiß es, George.«

»Damals kam jenes alte Buch in unsere Hände. Weißt du es noch? Das verschlangen wir beide wieder und immer wieder. Da ging uns das Ziel auf. Das doppelte Ziel: Rache und Reichtum! Rache an der Gesellschaft, die uns mißhandelt hat, Reichtum, um sie uns zu Füßen zu werfen! Noch ist es nicht erreicht. Wir dürfen nicht rechts blicken und nicht links. Für uns gibt es keinen Freund, der unsere Geheimnisse kennt, keinen Vertrauten und Helfer, der uns verrät. Wir dürfen keine Liebe fühlen, die uns ablenkt vom Wege. Du und ich, wir beide, nur wir beide, immer wir beide. Was neben uns liegen bleibt, worüber wir hinschreiten, das sind Schlacken. Keinen Blick zur Seite, keinen Blick zurück! Vor uns liegt das Ziel: Rache und Reichtum! Wer ward groß, dessen Weg nicht über Leichen führte? Unentwegt geradeaus, unter die Füße getreten, wer sich in den Weg stellt! So haben wir es gehalten bis heute. Suchst du jetzt ein Schäferidyll? Zu spät, Ursel! Nur du und ich, wir beide, nur wir beide! Zu uns kann niemand gehören. Wir haben eine Scheidewand aufgerichtet zwischen uns und den anderen.«

»Weshalb hast du den Mann zu mir gebracht? Unsere Zelte waren abgebrochen, die Firma Talbot gelöscht. Ohne dich hätte er den Weg hierher nicht gefunden. Zu holen ist nichts bei ihm. Nun kehre ich die Frage um: Weshalb brachtest du ihn her? Was hast du mit ihm im Sinn?«

»Es mußte mich interessieren, was man in jenem Hause sprach und dachte. So ging ich hin und sah den neuen Mieter. Er spielte sich auf als starker Geist, gebrauchte heftige Worte. So hielt ich es für angebracht, mich nach seiner Person zu erkundigen. Er gehört zur Sippe des Alten, der früher dort wohnte. Warum verschwieg er es den Wirtsleuten? Er will heimlich forschen und Spuren suchen. Grund genug, ein Auge auf ihn zu haben. Ich gab dir Fingerzeige, daß er sich in deinen Worten erkennen mußte, mochte er Vergangenheit oder Zukunft wählen. Zu Hause hat er nichts von seinem Hiersein gesagt, ich fragte dort nach. Er ist ein Heimlicher, und solche Leute können gefährlich werden. Ich hoffte, er sollte hier Fragen stellen, woraus sich seine Pläne erraten ließen. Meine Erwartung hat sich nicht erfüllt. Keinen Schritt bin ich weitergekommen. Dagegen hast du dich selbst gebunden.«

»Noch tat ich nichts dergleichen.«

»Wirst du es auch in Zukunft nicht tun? Bedenke den Einsatz, Ursel! Es geht um mehr, als was eine Laune wert ist. Dieser Zwischenfall hier muß abgeschlossen sein. Wir geben diese Räume auf, wie wir's auch anderswo getan. Du behältst dein Heim für dich unter anderem Namen, ich desgleichen. Dann ist jede Spur ausgelöscht. Bist du einverstanden?«

»Unternimmst du weiteres gegen den Mann?«

»Solange uns keine unmittelbare Gefahr von ihm droht – nein!«

»Wirst du es mir vorher sagen, wenn du etwas gegen ihn unternehmen mußt?«

»Falls es zu deiner Beruhigung dient – ja.«

»Unter dieser Bedingung bin ich einverstanden.«

»Gib mir die Hand, Ursel! Du und ich, wir beide allein, wie bisher! – Es ist mir ganz lieb, daß die Sache hier wieder ein Ende hat. In der Tiergartenstraße gibt's demnächst Arbeit genug. Wir müssen versuchen, die Sache zu beschleunigen, damit uns von jenseits des Ozeans keine Überraschung kommt.«

»Ist so etwas überhaupt möglich?«

»Man muß auch das scheinbar Unmögliche ins Auge fassen, wenn's ungünstig ist. Man bleibt dann vor bösen Rechenfehlern bewahrt.«


Die Wogen des Ozeans folgen einander, durchbrechen einander, verschlingen einander, aber sie gleichen sich nicht. Kein Tropfen kennt den anderen, grüßt den anderen, sorgt um den anderen. Jeder sucht seinen Weg.

So ist Berlin.

Im Osten ist die Menschenwelle rauher geartet als im Tiergartenviertel. Rußige Fabrikschornsteine blicken herab auf den wimmelnden Schwarm, der in Arbeitskleidern mit schwieligen Händen sein Werk angreift, daß in den Köpfen kein Raum bleibt für überflüssige Gedanken.

In Berlin W schauen schmucke Villen zurückhaltend durch das Grün der Blätter auf die Schlacht der Schmetterlinge, die jenseits des verschnörkelten Eisengitters am Garten Süßigkeiten aus der Lebensblüte saugen.

Auch die geistigen Strömungen, die das Leben gestalten, sind andere, wo der Lastwagen mit dicken eisernen Radreifen das Pflaster schlägt, als wo das Gummirad geräuschlos über den Asphalt rollt. Drüben in Räumen voll Menschen und Tabaksqualm lauter Streit der Meinungen über die realsten Dinge des Lebens, hüben in kleineren Kreisen hinter geschliffenen Fensterscheiben spintisierende Gedanken von jenseits der Grenzen, die dem menschlichen Verstande gezogen sind.

Organisation dort – Sensation hier.

Wieder einmal erwartete die gläubige Schar der Okkultisten mit flüsternder Sehnsucht ihre neueste Sensation. Mr. Sled sollte sie bringen.

Er stammte aus Amerika, woher alle großen Leuchten kommen, deren Licht jenseits der Grenzen menschlichen Erkennens am hellsten strahlt.

Auf seiner Rundreise um den Erdball war Mr. Sled bis nach England gelangt. Von dort aus setzte er sich mit Frau Konsul Götze in Verbindung, deren Teilnahme für die »gute Sache« ihm bekannt geworden war. Unter dem Ehrenvorsitz dieser Dame bildete sich alsbald ein Ausschuß, der die Vorarbeiten für Mr. Sleds Auftreten ungesäumt in die Hand nahm.

Da Mr. Sled sich nicht mit grob materiellen Dingen befassen konnte, hatte er einen Herrn Fröhden als seinen Berliner Vertrauensmann bezeichnet. Durch diesen gelangten die Verhandlungen verhältnismäßig schnell zum Abschluß.

Es leuchtete ein, daß Mr. Sled während seines Berliner Aufenthalts weder in einer Pension noch in einem Hotel Aufenthalt nehmen konnte. Dort wie hier war viel zu viel Lärm und Störung, durch die der Herr seinen übersinnlichen Studien entzogen wurde.

Da man auch eines verschwiegenen Versammlungsraumes benötigte, wurde in der Tiergartenstraße für die erforderliche Zeit eine leerstehende Villa gemietet. Ein Möbelverleihgeschäft übernahm es, für Sled einige Zimmer auszustatten und was sonst nötig war zu besorgen.

Die Darbietungen konnten natürlich nicht umsonst sein, denn dazu ist eine Rundreise um die Erdkugel zu teuer, auch lassen sich Geister nicht umsonst anrufen. Anderseits wollte man weder die Öffentlichkeit noch das weitere Publikum mit der Sache befassen. So ließ der Ausschuß in den beteiligten Kreisen unter der Hand eine Liste herumgehen, in die jeder seinen Beitrag einzeichnete und dafür Anweisungen auf Plätze in Empfang nahm. Da sich's um ganz außerordentliche, nie geschaute Dinge handelte, kam eine hübsche Summe zusammen, die nach Abzug der Kosten für die Villa dem Vertrauensmann Sleds überreicht wurde.

Außerdem aber war, echt amerikanisch, auf Anregung des Herrn Fröhden am Eingang eine Sperre angebracht, sinnreich und einträglich zugleich. Wer die schwere Eingangspforte der Villa durchschritten hatte, fand sich drinnen vor einer zweiten Tür ohne Drücker. An dessen Stelle war ein Automat angebracht, der den Zugang nach Einwurf eines Zwanzigmarkstücks selbsttätig öffnete und schloß. Diese Summe bildete das Eintrittsgeld für die Sitzung.

Fröhden selbst erhielt natürlich für Sled einen Schlüssel ausgehändigt.

Auf diese Art war man völlig gegen den Zutritt unberufener Personen gesichert.

Als Sled in aller Stille eintraf, durfte er in der Villa ungestört seinen Studien obliegen und anderen Dingen, die er etwa für nötig halten sollte, nachgehen. Es bedurfte angestrengter geistiger Sammlung, um Seele und Leib für den großen Tag in die rechte Verfassung zu setzen. Fröhden unterbreitete dem Ausschuß den Willen des großen Mannes, daß er jeden Besuch höflich, aber bestimmt ablehnen müsse, damit er durch nichts von seiner seelischen Hingabe abgelenkt würde.

Drei »Sitzungen« waren in Aussicht genommen. In der ersten entwickelte Sled in geistvoll fesselnder Form die Organisation des Geisterreichs. Wer ihn gesehen und gehört hatte, wollte zwei Tage später nicht fehlen, als in nicht minder überzeugenden Worten über den Gegenstand gesprochen wurde: Einfluß der abgeschiedenen Seelen auf die Menschenwelt. Und nun, wieder zwei Tage später, stand die größte Sensation unmittelbar bevor. Sled wollte seine persönlichen Beziehungen zur Geisterwelt enthüllen.

An diesem letzten Vorgang sollte die Zuhörerschaft im hohen Grade beteiligt werden. Sled wollte nicht irgend einen Geist aus vergangenen Jahrhunderten rufen, den niemand kannte – nein, die Bestimmung sollte in die Hände der Erschienenen gelegt werden oder vielmehr in das gläubige Verlangen jedes einzelnen. Im gegebenen Augenblick würde Sled das Zeichen geben. Dann hatte jeder Anwesende seine Gedanken mit ganzer Seelenkraft auf ein ihm liebes Wesen zu richten. Wem es gelang, in der Selbstversenkung den höchsten Grad zu erreichen, den geliebten Geist am innigsten zu umfassen, dem würde er sich »manifestieren« in der Lage, in der er sich gerade befand, aber nicht nur dem Beter – nein, der ganzen Zuhörerschaft in gleicher Weise, völlig und deutlich sichtbar.

Auch Geister wissen die Fortschritte der Technik zu nützen. So hatte Sled durch Fröhden verlautbart, daß die Zitation nicht stattfinden würde durch Tischrücken und Klopftöne oder herabfallende Blumen oder auf andere, veraltete Art. In ganz neuzeitlicher Weise würde sich der Geist in leiblicher Gestalt auf einer Leinwand darstellen, so etwa wie im Kino Bilder dargestellt werden. Doch nur die Leinwand mußte man dem Geiste bieten. Auf jede Lichtquelle wurde verzichtet. Geister haben ihr eigenes Licht und bedürfen keiner Projektionslampe. Wer am innigsten gerufen wurde, dessen Licht strahlte am hellsten, der ward sichtbar. Wer nicht sichtbar wurde, war eben nicht inbrünstig genug gerufen worden.

Dagegen ließ sich nichts sagen. Jeder hatte den Schlüssel zum Geisterreich sozusagen in der eigenen Hand. Wenn er ihn nicht zu benützen verstand – Sled war jedenfalls nicht verantwortlich dafür.

Im Hinblick auf diese letzte, größte, nie dagewesene Sensation war es wohl begreiflich, daß Teilnehmer an dieser Sitzung, die einen der vorangegangenen Vorträge oder gar alle beide aus irgend einem Grunde versäumt hatten, das Eintrittsgeld nachbezahlen mußten. Leute, denen das zuviel deuchte, wünschte Sled grundsätzlich nicht zu seinen Füßen sitzen zu sehen.

Seit acht Uhr war die Gartenpforte in der hohen Einfriedigung aus Gußeisen nur angelehnt. Alsbald verschwanden in wechselnden Zwischenräumen dunkle Gestalten unauffällig durch den Vorgarten nach der Villa hin. Jenseits der automatischen Tür befand sich die Garderobe. Dort walteten zwei Damen und zwei Herren vom Ausschuß ihres Amtes. Sie nahmen die Eintrittskarten in Empfang und machten sich nach Umständen nützlich. Auf die Einstellung bezahlter Kräfte war aus Gründen der Verschwiegenheit grundsätzlich verzichtet worden. Fröhden, der an dieser Stelle wirken wollte, hatte wegen plötzlicher Erkrankung schon die beiden ersten Vorträge versäumen müssen und war leider noch immer nicht genesen.

In dem großen Hauptsaal glühten die elektrischen Flammen. Eine ältere Dame, völlig in Schwarz gekleidet, begrüßte daselbst die Eintretenden mit einer stummen Verbeugung. Damen und Herren standen in zwanglosen Gruppen beisammen oder nahmen Platz auf den Stühlen, die in Reihen aufgestellt waren. Wo eine Unterhaltung stattfand, erklangen die Worte nur flüsternd. Aller Augen streiften, sei es neugierig oder voll scheuer Ehrfurcht, wenigstens einmal die Leinwand, die zurzeit hinter dem Rednerpult aufgerollt an der Decke hing.

Der metallene Ton eines Gongs hallte durch das Haus. Ein einziger Schlag nur.

Der äußere Eingang wurde verschlossen. Damen, die noch nicht Platz gefunden hatten, beeilten sich, zu ihren Sitzen zu gelangen. Eine Anzahl Herren zog es vor, hinter den Stuhlreihen Aufstellung zu nehmen.

In der Mitte, nahe der Wand, stand das Pult für Sled. Eine schwarze Decke war darüber gebreitet. Hinter dem Pult die Wand mit dunkler Tapete, im übrigen glatt und kahl. Nur oben, in der Kehle, wo Wand und Decke zusammenstießen, die erwähnte Leinwand auf einer Rolle. An jeder der beiden Ecken ein Gewicht, um die Fläche glattzuziehen.

Im Vordergrund links hatte sich die Empfangsdame niedergelassen. Das dunkle Haar lag in glattem Scheitel um die Stirn. Eine Harfe lehnte sich an ihren Schoß. Vor ihr, auf schwarzem Sockel, brannte ein einzelnes Licht.

Und wieder der volle Metallton des Gongs. Zwei Schläge diesmal.

Selbst die geflüsterte Unterhaltung erstarb. Zwei Herren vom Ausschuß gingen nach vorn. Sie rollten die Leinwand ab, bis sie straff an der Wand hing, zogen sie dann aber wieder in die Höhe, daß alles war wie zuvor. Die Wand dahinter zeigte die dunkle Tapete glatt und kahl. Jeder wußte jetzt, daß sich hinter der Leinwand nichts verbarg, sich nichts verbergen konnte.

Und zum letzten Male der metallene Klang des Gongs. Drei Schläge.

Mächtige Akkorde der Harfe, lang verhallend. Der Glanz des elektrischen Lichtes sank auf halbe Stärke. Unhörbar öffnete sich eine Seitentür. Sled trat in den Saal, schritt zum Pult, ohne Hast, ohne theatralische Bewegung, stand vor seinen Zuhörern hoch aufgerichtet und straff. Ein schwarzer Talar umfloß die Gestalt, schneeweiß rieselte der Bart hinab zur Brust, schneeweiß rollten die Locken vom Haupt auf Schultern und Nacken. Weiß wie Schnee auch das Gesicht, in dem zwei dunkle Augen Feuer sprühten und die roten Lippen glühten.

Gewaltig rollten die Akkorde der Harfe zum letzten Male auf und erstarben dann leise verklingend.

Sled begann zu sprechen. Seine Stimme war Wohllaut, seine Worte Musik. Wie ein Gewinde aus duftigen Blumen schlang sich der Rede Bau um Herz und Sinne der Hörer, daß die Gedanken einschlummerten und nichts übrigblieb als berauschendes Wohlempfinden. Jene paradiesischen Tage wurden lebendig, als der Mensch eins war mit der Natur und ihre Sprache verstand, die Sprache der Tiere, die um ihn waren, die Sprache der Geister, die zu ihm redeten aus jedem Busch und jedem Baum. Die Tiere lebten zusammen wie Kameraden. Löwen und Tiger lagen wie Lämmer zu den Füßen des sündlosen Menschen. Dann entschwand das Paradies den Menschen, aber es schwand nicht von der Erde.

Tief in Indien, von einem Zauberwald umschlossen, den Menschenfüße nie durchschritten, Menschenaugen, trüb durch den Fall, nur im Traum noch durchdringen, dehnt sich der Garten Eden. An seinen vier Strömen wohnen die seligen Geister, die den groben Erdenleib nebst allen Mühen und Plagen abgestreift haben. Sie leben daselbst in paradiesischen Wonnen. Der Zauberwald hält sie nicht fest, wie er den sterblichen Menschen hindert. Sie finden den Weg zu uns, wenn wir sie zu rufen verstehen mit reinem Herzen. Dazu bedarf's der Versenkung in sich selbst, des völligen Vergessens der Welt, der Hingabe an einen einzigen Geist.

Dieser Kraft, die die Geister bezwingt und den Widerstand der Materie besiegt, war sich Sled für seine Person in Indien bewußt geworden, als er Jahrzehnte im Urwald lebte. Im Schatten eines Baumes, der riesenhaft aus vergangenen Jahrtausenden herüberragte, legte er sich nieder, eine Stunde zu ruhen oder auch zwei. Da erwachte um ihn her, was die Poesie des Morgenlandes in die Sage gesponnen, was das Abendland in duftige Märchen gewoben. Wirklichkeit war's, doch nur für ihn selbst. Die Geister waren lebendig, Feen und Elfen umtanzten ihn. Sled lebte mit ihnen, lernte ihre Sprache, begriff die Art ihres Seins, die heiligen Gesetze, denen auch sie unterstehen vom Anfang an.

Als er aufwachte nach kurzem Schlummer, wie er meinte, war die Geisterwelt verschwunden. Aber zurückkehrend unter die Menschen, kannte er niemand mehr, er selbst war vergessen von seinem Geschlecht. Eine andere Welt war geworden, während er zu träumen meinte im Zauberwalde. Er fand sich allein, ganz allein. Voll Trauer über seine Einsamkeit, rief er die Geister, die um ihn gewesen unter dem Baum aus der Vorzeit – und sie kamen! So ward er sich seiner Kraft bewußt.

Das Mitleid mit seinem Geschlecht lehrte ihn, sie in den Dienst der Brüder und Schwestern zu stellen. Seitdem durchzog er die Welt, ein Künder seiner selbst, ein Priester der Geister. Wer sich mit ihm vereinte, sich versenkte mit ihm und durch ihn, dem mußte der Geist erscheinen, den er herbeizwingen wollte.

Unter den vielen Leuten, die heute gekommen waren, sollte dem die Palme zufallen, der ihm am weitesten zu folgen vermochte auf dem Wege völliger Selbstvergessenheit.

Die beiden Herren vom Ausschuß gingen nach vorn, und wieder rollte die Leinwand mit leisem Rauschen hinab, bis sie fest und straff an der Wand hing. Dann begaben sich die zwei zurück auf ihre Plätze.

Die elektrischen Flammen schalteten sich aus, eine nach der anderen, bis milde Dämmerung den ganzen Raum erfüllte. Endlich erlosch auch die letzte der Glühbirnen. Nur die eine Kerze vor der Dame mit der Harfe brannte noch. Der schwarze Sockel, auf dem sie stand, verschwand in der Dunkelheit. So schien ein Punkt lebendigen Feuers in der Dunkelheit zu leben.

Leise Töne rannen durch den Raum, wie wenn Geisterflügel über die Harfe strichen. Da erlosch auch die einsame Kerze. Purpurne Finsternis überall, nur das bleiche Gesicht über dem Pult blieb erkennbar, Haare und Bart durchzittert von phosphoreszierendem Licht. Der übrige Körper war verschwunden.

Ein Schauer rann durch die Seele der atemlos harrenden Menschen. Niemand vermochte zu denken. Nur starren konnten sie, mit zitternden Nerven hinstarren auf das geisterhafte Gesicht mitten in der schwarzen Nacht.

Noch immer zitterten die Harfenklänge wie Geisterhauch. Der Mund in dem weißen Gesicht öffnete sich zu einem Gesang. Eine Melodie, die niemand jemals gehört, Worte, die keiner verstand. Eine Anrufung war's wohl für die Geister, die das Dunkel durchschwebten. Dann schwieg der Gesang, aber die Akkorde der Harfe brausten gewaltig empor. Zugleich gewahrten die Hörer, daß das weiße Gesicht dort vorn mit seinem Glorienschein nach unten verschwand, gleichsam unterging in Finsternis.

Die Klänge der Harfe brandeten immer mächtiger. Kein anderer Ton ward vernehmbar.

Wie viele Minuten verstrichen – wer wollte es sagen! Am allerwenigsten die Menschen in dem grabesdunkeln Raum, den auch nicht die Spur eines Lichtes, woher auch immer, durchfloß. Die Ekstase hielt Atem und Sinne gefangen. Nur wenige erinnerten sich, daß sie sich in sich selbst versenken, einen Geist mit aller Kraft ihrer Seele umfassen und zur Erscheinung zwingen sollten.

Die brausende Gewalt der Harfenklänge ebbte ab zum leisesten Pianissimo. Oben über die Häupter der regungslosen Hörer ging es hin, ein Hauch, ein Seufzer aus angstvoller Menschenbrust: »Komm! O komm!«

Auf der Leinwand, straff an der Wand, begann sich's zu regen von geheimem Leben. Lichtreflexe, kaum wahrnehmbar, huschten darüber hin wie Geisterspuren. Immer deutlicher, immer häufiger wurde der huschende Schein, wie wenn der dünne Stoff sich innen mit Helligkeit erfüllte. Licht und Schatten kämpften miteinander. Dann stand es vor den Augen der Schauenden, in jeder Einzelheit allen klar erkennbar. Selbst der Atem wurde still in der pochenden Menschenbrust.

Ein Gemach war's. Im Halbkreis tropische Pflanzen als Trauerausschmückung. Inmitten dieses Halbrunds auf dunklem Katafalk ein offener Sarg, brennende Lichter zu seinen Häupten, an der Seite ein junges Weib, die Hände verschlungen, das Haupt gebeugt in herzbrechendem Jammer. Im Sarge selbst der Tote mit bleichen, starren Zügen, dahingerafft in der Blüte der Jahre.

Und über dem allem geisterhaftes Licht.

In der Dunkelheit des Saales löste sich ein Wehlaut aus weiblichem Munde, ein tiefster Brust entquellendes Stöhnen. Dann gellte es herzzerreißend durch die Dunkelheit: »Mein Sohn! Mein Sohn!«

Ein dumpfer Fall.

In der nächsten Minute flammte das Licht auf im Saal. Das Bild auf der Leinwand war verschwunden.

Mitleidige Hände beschäftigten sich mit der Ohnmächtigen.

In dem Eingang zum Nebenraum, dessen Tür er halb geöffnet hielt, stand Sled. Bei der allgemeinen Erregung hätte niemand sagen können, ob er schon länger daselbst verweilte oder wie er dorthin gekommen.

Sein Gesicht war unbewegt, die Stimme völlig ruhig.

»Bitte, hier herein!« sagte er.

Die Empfangsdame hatte ihre Harfe an den Stuhl gelehnt. Nun schritt sie voran in das anstoßende Gemach, wo man die noch immer Bewußtlose auf einer Ottomane niederlegte. Außer der Empfangsdame blieben noch etliche Damen der Gesellschaft zu ihrem Beistand zurück.

In dem völlig erhellten Saal standen die Herren in Gruppen beieinander. Mit halblauter Stimme besprach man den Vorfall.

Die ohnmächtige Dame war Frau Konsul Götze, die eifrige Förderin der Sitzungen. Drüben in Rio war ihr einziger Sohn bei einem Probeflug abgestürzt und schwer verletzt worden. Ein Telegramm hatte es vor einiger Zeit gemeldet. Weitere Nachrichten fehlten – fehlten bis heute! Vor wenigen Minuten war nun die fehlende Nachricht eingetroffen. Jeder Irrtum war ausgeschlossen. Alle hatten gesehen und konnten bezeugen, der Tote hatte sich selbst angekündigt.

Die Tür zum Nebengemach öffnete sich. Die Empfangsdame sprach einige leise Worte zu Sled, der sich alsbald an die Versammelten wendete.

»Der Unfall hat keine weiteren Folgen. Die beklagenswerte Dame ist bereits wieder bei Bewußtsein und tritt in Begleitung einer Freundin soeben den Heimweg an. Ich wünsche den Herrschaften gute Nacht.«

Eine Viertelstunde später lag die Villa dunkel und verlassen.


Der Hochsommer setzte kräftig ein. Die Glücklichen, denen Zeit und Geld eine Reise erlaubten, zogen an die See oder ins Gebirge, aber noch Millionen blieben zwischen den hohen Steinmauern Berlins, wo sie trotz Staub und Sonnenbrand Tag für Tag über die heißen Steine der Bürgersteige ihrem Erwerb nachgehen mußten. Wer es konnte, suchte wenigstens am Abend einen der großen Biergärten auf, an denen in den äußeren Straßenzügen kein Mangel ist. Bei Konzert und einem kühlen Trunk durfte man sich einbilden, irgendwo fern von Berlin im Kurgarten zu sitzen.

Eines Abends schloß sich Walter Schmidt den Damen Kemnitz an. Bald saßen die Hausgenossen unter den dichtbelaubten Linden in einer Gartenwirtschaft.

Über den Köpfen flüsterten die Blätter. Rote, blaue, gelbe Lämpchen schwangen sich in bunten Linien wie Blumengewinde an den Kieswegen entlang. Die Trompeten jauchzten in lustigen Weisen. Die Herzen waren froh und leicht.

Walter wollte eben das Glas an den Mund setzen, als ein Blitz aus den nachtschwarzen Augen einer vorüberschreitenden Dame sein Gesicht streifte. Der aufgehobene Arm blieb in der Schwebe. Der ganze Mann saß wie erstarrt. Wo hatte er diese Augen schon gesehen?

Anna Kemnitz sah ihren Hausgenossen erstaunt an.

Da lachte sie leise. »Können Sie Rätsel raten, Herr Schmidt?«

Er mußte sich erst besinnen. »Rätsel? – Ich weiß nicht – –«

»Versuchen Sie's einmal!« rief Anna lachend. »Welcher Unterschied ist zwischen Ihnen und Lots Weib?«

»Zwischen mir und Lots Weib? – Ich weiß wirklich nicht –«

»Ich will's Ihnen sagen: Gar keiner! Sie erstarrten alle beide zur Salzsäule.«

Walter setzte jetzt das Glas an den Mund und trank. Dann neigte er sich ein wenig zu seiner Nachbarin und sagte mit gedämpfter Stimme: »Fräulein Anna, ich möchte Ihnen etwas sagen. Aber ich bitte Sie vorher, sich nicht auffällig umzusehen. Am fünften Tisch hinter Ihnen sitzt eine Dame mit schwarzen Augen neben einem Herrn. Ich muß ihr schon einmal begegnet sein, ich weiß nur nicht wo. Die Dame ging eben vorüber. Ihr Blick war es, der mir auffiel. – So! Nun wollen Sie sich umwenden. Neben dem Herrn mit dem grauen Backenbart.«

Anna Kemnitz tat, wie ihr gesagt war. Als sie sich wieder zu ihrem Tischnachbar wendete, schien sie einen Augenblick nachzusinnen. »Die Dame dort kenne ich auch nicht. Kleidung, Gesicht, Haar – alles ist mir fremd. Aber als ich hinübersah, hat sie mich eine Sekunde angefunkelt, als ob sie mich mit den Augen durchbohren wollte. Gesehen habe ich sie sicher schon.« In demselben Augenblick leuchtete es auf in Annas Gesicht. »Und wissen Sie wo?« Sie blickte Walter Schmidt wohlgelaunt an. »Bei der Talbot.«

Da wachte auch in ihm die Erinnerung auf. Im Glanz solcher Augen wurde ihm damals eine rosige Zukunft prophezeit. Er blickte heimlich noch einmal nach der fremden Dame hinüber. Sie hatte sich zu ihrem Herrn gewendet und kümmerte sich nicht im geringsten um die Gruppe der Hausgenossen. Die Wahrsagerin war das nicht. Erst Anna Kemnitz hatte ihn an die Pythia erinnert.

Ein sinnender Zug kam in Walters Gesicht. Jugend und Schönheit! Reichtum und Glück! Lag das wirklich irgendwo für ihn bereit?

»Und soll ich Ihnen das Allerneueste sagen?« flüsterte Anna eifrig weiter. »Ich wollte auch zu der Talbot, nachdem sie Ihnen so hübsche Dinge geweissagt hat. Ich wollte wissen, ob ich auch solche Aussichten habe. Wissen Sie, was mir da passiert ist?«

»Keine Ahnung!« sagte Walter zerstreut.

»Wo lassen Sie eigentlich Ihre Gedanken spazieren gehen?« fragte Anna lachend. »Wenn eine junge Dame Ihnen etwas anvertrauen will, müssen Sie aufpassen.«

»Fräulein Anna, Sie kränken mich,« versicherte Walter eifrig. »Ich bin ganz und gar bei der Sache. Sie wollten mir erzählen, was Ihnen passiert ist.«

»Also gut! Ich komme an die Tür – das Schild mit dem Namen Talbot ist verschwunden. Ich klingle einmal, noch ein paarmal – nichts regt sich. Aber so leicht gibt sich Anna Kemnitz nicht zufrieden. Wozu ist ein Hausverwalter da? Bei dem erfuhr ich, die Talbot sei ausgezogen, unbekannt wohin. Die Miete bis zum nächsten Termin sei vorausbezahlt. Da stand ich und wußte nicht, was ich machen sollte. Während ich noch nachdenke, lacht mir der Mensch, der Hausverwalter, so recht hinterlistig ins Gesicht. Und wissen Sie, was er sagte? Wenn's nur wegen des Wahrsagens wäre, das könne er auch. Ich kriegte sicher einmal einen Mann und 'n ganz schmucken. Dazu brauche man gar keine Karten. Na, Sie können sich denken, wie ich ihn angesehen habe!«

Walter mußte lachen. »Ich kann nicht finden, daß der Mann schlecht geweissagt hat.«

Da wurde Anna rot bis hinter die Ohren.

»Was habt ihr denn da so eifrig zu tuscheln?« fragte Frau Kemnitz. »Wenn zwei leise reden, wird der dritte schlecht gemacht.«

»Das glaubt ja Mutterchen selber nicht,« sagte Anna.

An dem fünften Tisch hinter ihnen unterhielten sich der Herr und die schwarzäugige Dame mit gedämpfter Stimme, obgleich die Trompeten der Kapelle diese Vorsicht beinahe entbehrlich machten.

»Hast du ihn gesehen?«

»Vorhin im Vorbeigehen. Wer ist übrigens die alte Dame?«

»Die Mutter des Fräuleins. Ich glaube, aus den beiden jungen Leuten wird wohl noch ein Paar.

»Meinen Segen haben sie.«

»Weshalb erzählst du mir das??«

»Um dich zu wecken, Ursel, um dir zu zeigen, wie die Dinge in Wahrheit liegen. Du träumst jetzt so oft mit wachenden Augen. Du bist nur mit halber Seele bei unserer Sache.«

»Hast du dich über mich zu beklagen, George? Habe ich irgend etwas versehen?«

»Nein, Ursel. Aber du tust mir leid. Ich möchte, daß du wieder ganz du selbst würdest – mein Kamerad mit hochgetragenem Nacken. Glaubst du, daß der dort drüben ein Mitarbeiter für uns sein könnte, wo es um Kopf und Kragen geht?«

»Nein.«

»Ich auch nicht. Das bürgerliche Element steckt ihm im Blut, in der Erziehung. Er sucht es im Umgang. Wer uns verstehen, mit uns arbeiten, wer ganz der Unsere sein wollte, müßte unsere Vergangenheit haben.«

»Was hindert uns, einen Strich darunter zu setzen und mit dem, was wir haben, ein neues Leben zu beginnen?«

»Der Verstand muß uns hindern, auch nur den Versuch zu machen. Für uns gibt es kein Leben als Bürger zwischen Bürgern. Wir müssen unseren Weg einsam verfolgen bis zur Höhe, wo uns nichts mehr erreicht. Dann stehen wir über den Menschen. Dann kommt auch das sogenannte Glück.«

»Was hat dich immer wieder in jenes Haus gezogen und zieht dich noch hin? Sage es ehrlich, George. War's die fürsorgende Wachsamkeit allein, oder übte auch das Mädchen eine Anziehungskraft?«

»Auch das Mädchen sah ich gern, ich leugne es nicht. Ein Mann in meinen Jahren ist nicht gefeit gegen weiblichen Liebreiz. Aber du hörtest auch vorhin, daß ich die beiden dort drüben gemütsruhig als ein Paar für die Zukunft bezeichnete. Nicht in dieser oder jener flüchtigen Empfindung liegt für uns die Gefahr, nur die Herrschaft darf sie nicht über uns gewinnen, darf uns nicht hinreißen zu Unbedachtsamkeiten, die sich rächen müssen. Wenn wir am Ziel stehen – dann!«

»Das Ziel ist so weit, so weit, George! Manchmal dünkt mich, es rückt immer weiter von uns fort.«

Die Worte klangen wie ein Seufzer.

»Nicht den Mut verlieren, Ursel! Was jetzt eingeleitet ist, da im Westen, bringt uns wieder ein Stück weiter. Und so fort Schritt um Schritt! Und gilt dir der Kampf nichts, der Kampf gegen alle? Mir bereitet das Bewußtsein, die ganze Welt und ihre Gesetze zu bekriegen, das Behagen gesteigerten Selbstbewußtseins. Manchmal ist mir der Kampf mehr wert als der Gewinn.«

»So weit kann ich dir nicht folgen. Wahrhaftig, George, zuweilen denke ich, es müßte schön sein, die ganze Vergangenheit mit einem Strich auszuwischen.«

»Ich weiß auch warum. Und da das nicht geht, bitte ich dich immer wieder, hänge dein Empfinden nicht an jemand, den ich vernichten müßte, sobald feststeht, daß er gefährlich werden kann. Verliert sich der Mann drüben in jene blauen Augen, so ist es ein Glück für uns alle, für ihn vermutlich das größte. Laß dir daran genügen, Ursel.«

»Und wenn es gelänge, ihn zu uns herüberzuziehen? Ein Mann wird nicht nur Vater und Mutter, er wird auch ihre Gebote vergessen und zu seinem Weibe halten.«

»Ursel, daran denkst du? Das hältst du für möglich? Dann ist das Unheil schon weiter gediehen als ich glaubte. Der Versuch wäre tödlich!«

»Deine Meinung wollte ich hören, George – weiter nichts.«

»Du kennst meine Meinung längst, du hast sie vorhin selbst ausgesprochen. Er kann kein Mitarbeiter sein für uns. Niemand kann das. Du und ich wir beide allein und niemand sonst! Laß jede Hoffnung hinter dir, Ursel!«

»Und wenn ich's nicht tue?«

Der Mann schwieg einen Augenblick, dann streckte er ihr beide Hände hin. »Wohin verirren wir uns, Ursel! Schulter an Schulter haben wir zusammengestanden, Bruder und Schwester, nach einem Ziel. Keiner von uns kann den anderen entbehren, keiner darf den anderen verlieren! Ich kenne dich besser, als du selbst dich kennst. Vor die Wahl gestellt: er oder ich, wirst du nicht schwanken. Eher gehst du ohne jenen mit mir in den Tod als mit jenem ohne mich in ein Leben, das keines wäre. – Gib mir deine Hand, Ursel! Vielleicht kommst du früher los von mir, als wir beide es denken. Die Aviatik ist eine halsbrecherische Kunst.«

»Sprich nicht so, George!«

Sie legte beide Hände in die seinigen.


In der folgenden Nacht träumte Walter Schmidt zum zweiten Male, daß zwei schwarze Augensterne ihm glückverheißend winkten.

Er wollte ihnen folgen, aber sie wichen vor ihm zurück, immer weiter, immer unerreichbarer, bis sie in unbekannte Fernen entschwanden. Dann sah er sich allein in kalter, finsterer Nacht und fand keinen Weg, den Fuß darauf zu setzen.

Als er am Morgen aufwachte, sah er nach der Uhr. Sein Dienst begann erst um neun Uhr. Wenn er sich beeilte, konnte er noch vorher das Meldeamt aufsuchen.

Gegen Erlegung einer Reichsmark schlug ihm der Beamte das Register auf.

»Geschwister Talbot nach außerhalb abgemeldet. Aufenthalt unbekannt.«


Für Sonntag stand auf dem Flugplatz in Johannisthal ein Preisfliegen in Aussicht. Die Damen Kemnitz zeigten große Lust, sich die Sache anzusehen.

Walter Schmidt war mit von der Partie.

»Aber wir gehen auf den offenen Platz,« sagte Annas Mutter. »Was tu' ich auf der Tribüne! Auf der anderen Seite kann man sich bewegen, wie man will, braucht nicht auf einer Stelle zu bleiben und sieht alles ohne Angst, daß einem einer auf den Kopf fällt.«

Das Schauspiel verlief in bekannter Weise. Besondere Teilnahme erregte es, wenn eine Anzahl Flugzeuge hoch oben gleichzeitig ihre Kreise zogen, einer immer über dem anderen.

Ein paar Herren unterhielten sich über die Flieger. »Der da drüben mit der Albatrostaube, das ist Fröhden. Soll ein gewaltiger Sportsmann sein. Kürzlich hat er einen Preis erhalten für die größte Stundengeschwindigkeit. Die Taube hat Fröhden gekauft. Aber er ist selber Techniker und bessert daran herum.«

»Ist das vielleicht unser Bekannter?« wendete sich Walter zu den Damen.

»Natürlich!« rief Anna Kemnitz. »Neulich wußte Grete Neumann zu erzählen, daß er oft hier draußen ist.«

Drüben schraubte sich Fröhdens Flugzeug in immer kühneren Kreisen nach oben. Höher und höher ging der Flug. Zuletzt war wenig mehr als ein Punkt im blauen Äther zu unterscheiden.

»Vielleicht gilt es einen Höhenrekord,« meinte Walter.

Nach längerem Harren senkte sich die Taube wieder zur Erde. Von Minute zu Minute wuchs sie an Größe, um nach prachtvollem Gleitflug genau vor der Tribüne die Erde zu berühren.

Drüben begrüßte stürmisches Händeklatschen den Flieger.

»Ich verstehe ja nichts davon,« rief Walter, »aber alles was recht ist. Nach meiner Meinung war das eine brillante Leistung.«

»Jeder kann seine Haut zu Markte tragen, wie er will,« versetzte Frau Kemnitz trocken. »Ich fahre nicht mit.«

»Ich auch nicht!« sagte Anna mit Überzeugung.


Als Walter Schmidt am nächsten Morgen die Treppe hinunterstieg, um ins Geschäft zu gehen, begegnete ihm der Briefträger.

»Einen Augenblick! Ich habe etwas für Sie,« sagte der Mann. Dabei öffnete er die Tasche.

Walter legte den Brief vorläufig in sein Notizbuch. Erst in der Hochbahn fand er Muße, den Umschlag zu öffnen. Der eingelegte Bogen enthielt nur wenige Worte.

»Donnerstag abend 9 Uhr Brauerei Königstadt im Garten.«

An Stelle der Unterschrift stand in lateinischen Lettern das Wort »Schweigen«.

Walter betrachtete Umschlag und Einlage. Offenbar eine energische Damenhandschrift. Oder hatte sich ein Bekannter einen Ulk gemacht? Den Brauereigarten kannte er. Jeden Donnerstag konzertierte daselbst eine angesehene Kapelle. Hingehen konnte er ja auf alle Fälle.

Er faltete Brief und Umschlag zusammen und versenkte alles in seine Rocktasche. –

 

Zur bezeichneten Stunde befand sich Walter Schmidt am bestimmten Ort. Vom Podium her klang eine flotte Marschweise. Die Tische waren ziemlich besetzt, doch fanden sich noch Lücken. Zum Zweck der Umschau machte Walter zunächst einen Rundgang durch den Garten. Niemand rief ihn an, er selbst gewahrte keinen Bekannten. So ließ er sich schließlich an einem Tisch nieder, an dem bereits zwei Ehepaare Platz genommen hatten. Ein Stuhl blieb noch frei an seiner Seite.

Walter bestellte sich ein Glas Bier und zündete behaglich eine Zigarre an. Wenn ihn jemand treffen wollte, durfte er kommen.

Die beiden Paare am Tisch unterhielten sich jedes für sich. So hatte er Zeit, dem Konzert zu lauschen.

Bald kam er so weit, daß er die Ursache seiner Anwesenheit völlig vergaß. Er schrak erst auf, als er unmittelbar neben sich eine Stimme vernahm.

»Ist dieser Stuhl vielleicht noch frei?«

Walter blickte auf zu einer Dame. Wenig über zwanzig mochte sie zählen. Die Kleidung sehr fein, aber in keiner Weise auffallend. Er beeilte sich, den Stuhl zurechtzurücken.

»Danke!«

Dabei traf ihn ein Blick aus nachtschwarzen Augen.

Zweimal hatte er so dunkle Augen blinken sehen. Das erste Mal, als er der Wahrsagerin gegenübersaß, und dann wieder neulich im Konzert. Aber jedesmal gehörten sie einer anderen Dame, und jene beiden waren längst über die erste Jugend hinaus, während seine Nachbarin –

Walter Schmidt suchte einen weiteren Blick zu erhaschen. Es gelang ihm nicht. Die Dame saß etwas von ihm abgewendet. Nur von der Seite konnte er sie sehen. Sie schien sich ganz dem Genuß des Konzerts hinzugeben.

Walter wußte ganz bestimmt, daß er die Dame nicht kannte. Ein rascher Blick in die Runde überzeugte ihn, daß die Tische tatsächlich voll besetzt waren. In dem Verhalten der Fremden deutete nichts darauf hin, daß sie ihn kannte oder gar seine Nachbarschaft gesucht hatte. Es waren zufällige Umstände, die sie auf den Stuhl an seiner Seite führten. Nun erinnerte er sich auch, daß er achtlos die Hand auf die freie Lehne gelegt und so den Platz gewissermaßen in Beschlag genommen hatte. Nur einer Notwendigkeit war die Dame gefolgt. Den Brief, den er in der Tasche trug, hatte sie ganz sicher nicht geschrieben.

Hatte ihn überhaupt jemand im Ernst an diesen Ort bestellt? Ob Weib oder Mann – er hätte längst hier sein müssen. Wahrscheinlich wollte ihm jemand einen Streich spielen. Mochte es sein! Der Aufenthalt unter den grünen Bäumen inmitten der bunten Lichter war angenehm, das Konzert gut. Er wollte an nichts anderes mehr denken.

Die Nummer, in der ein Solist sein Bestes gegeben, war zu Ende. Wohlverdienter Beifall rauschte durch den Garten. Auch Walter klatschte in die Hände. Er war hochbefriedigt und folgte nur dieser Empfindung. In seiner gehobenen Stimmung tat er wohl des Guten ein wenig zu viel, denn er gewahrte, daß ein Blick seiner Nachbarin ihn streifte, wobei ein flüchtiges Lächeln um ihren Mund huschte.

Er hörte auf zu klatschen und lüftete den Hut. »Entschuldigen Sie, gnädiges Fräulein! Ich vergaß, daß ich nicht allein am Tisch sitze.«

Sie neigte kaum merklich den Kopf. »Desto ehrenvoller für den Künstler! Es war wirklich eine tüchtige Leistung und der Beifall voll verdient.«

»Aber man braucht nicht wie ein Wilder zu klatschen.«

»Weshalb nicht? Vorausgesetzt, daß der Beifall einer durch die künstlerische Leistung ausgelösten Gefühlswallung entspricht. Die Wilden sind doch sozusagen Gefühlsmenschen.«

»Dann darf ich mich mit unbeschwertem Gewissen diesen braven Zeitgenossen zuzählen.«

»Nicht doch! Von der Empfindung sprach ich, die im Beifall zum Ausdruck kommt und kommen soll. Ist sie stark und echt, so ehrt sie den Künstler und den Hörer zugleich.«

Der Faden war angesponnen und riß nun nicht wieder ab. So anregend fand Walter die Unterhaltung mit der Unbekannten, daß er nicht nur das Konzert, sondern auch den Brief vergaß, den er in der Tasche trug. Als nach Erledigung des Programms das Publikum von den Tischen aufbrach, machte er ein ganz erstauntes Gesicht, dem sich eine kleine Beigabe von Enttäuschung beimischte.

»Schon?! – Wenn ich jetzt Faust wäre, würde ich zum Augenblick sagen: Verweile doch, du bist so schön!«

Aber das Gesicht der Dame huschte ein freundliches Lächeln. Ein warmer Blick der schwarzen Augen traf den Sprecher. »Nun, dann will auch ich Ihnen gestehen, daß ich mich so gut unterhalten habe wie – wie selten zuvor. – Aber nun ist meine Zeit abgelaufen.« Sie streckte die Hand aus. »Leben Sie wohl – und besten Dank!«

»Auch ich will mich auf den Heimweg machen. Darf ich mich Ihnen anschließen, gnädiges Fräulein?«

Plaudernd erreichten sie die Straße. An der Haltestelle der elektrischen Bahn stand das Fräulein still.

»Hier trennen sich unsere Wege,« sagte sie. »Noch einmal – leben Sie wohl!«

»Nicht auf Wiedersehen?«

Sie wiegte nachdenklich das Haupt. »Ich habe schon vorhin bekannt, daß ich mich in Ihrer Gesellschaft recht gut unterhalten habe. Aber bis zur förmlichen Verabredung ist doch noch ein weiter Schritt. Ich will nicht sagen ja – ich will nicht sagen nein. Steht es in den Sternen geschrieben, daß wir uns an irgend einem Ort wieder begegnen sollen, so wird es mich freuen. Bis dahin – sehen Sie, da kommt meine Straßenbahn.«

Ruhig streckte sie ihm die Hand hin. »Noch ein letztes Mal – leben Sie wohl!«

Leicht und gewandt erstieg sie die Stufen.

»Auf Wiedersehen!« rief Walter, indem er den Hut zog.

Schon rasselte der Wagen weiter.


Im Salon von Frau Konsul Götze saß Mr. Allington der Hausherrin gegenüber. Der Herr war, wie er sagte, erst vor etlichen Tagen auf einer Geschäftsreise in Europa eingetroffen. Er benützte die Gelegenheit seines Aufenthalts in Berlin, um der Mutter seines in Amerika auf so traurige Art ums Leben gekommenen Freundes Alfred Götze die letzten Grüße ihres Sohnes zu überbringen.

Die alte Dame preßte das Taschentuch an die Augen, um die perlenden Tränen zu verbergen. Ob schon sie durch Sleds letzte Sitzung auf die Trauerbotschaft vorbereitet war, brach ihr Schmerz doch mit erneuter Gewalt hervor.

Um nicht zu stören, wollte sich der Besucher empfehlen, aber die Frau Konsul hielt ihn zurück.

»Bleiben Sie nur noch, Mr. Allington! Bitte, bleiben Sie! Meine Tränen dürfen Sie nicht anfechten, gelten sie doch dem Sohne. Großer Gott, meinem einzigen Sohne! Ich habe noch so viel zu fragen. Und meinem Herzen tut es wohl, dem gegenüberzusitzen, dem Alfreds letztes Wort gegolten, auf dem sein letzter Blick ruhte. Gott, mein Gott, wenn ich denke, wie er vor drei Jahren nach seinem Besuch hier Abschied nahm! So voll froher Hoffnung war er, so ganz erfüllt von weit ausschauenden Plänen! Die Herstellung von Flugmaschinen wollte er in seinen Geschäftsbetrieb aufnehmen. Mit den bekanntesten Aviatikern hatte er Anknüpfung gesucht, um ihre Wünsche und Ansichten zu erforschen. Und nun soll ich ihm nie mehr ins Antlitz schauen, niemals wieder seine Stimme hören!«

Die Tränen der Mutter begannen aufs neue zu fließen.

Allington wischte sich die Augen, als sei er selbst von Rührung übermannt. Er war ein stattlicher Mann um die Mitte der dreißiger Jahre. Haar und Bart trug er nach amerikanischer Sitte. Auch die Kleidung ließ den Ausländer erkennen. Beim Sprechen schien ihm zuweilen ein deutsches Wort zu fehlen. Er ersetzte es dann durch ein englisches.

»Ich habe für Sie noch ein Andenken an Ihren Sohn, Frau Konsul. Es war sein letzter Wunsch, daß nach seinem Tode ein Bild von ihm hergestellt würde, eine bleibende Erinnerung für seine Mutter. Aber Ihr Schmerz ist vielleicht noch zu neu und zu heftig, um es jetzt schon zu sehen. Die Aufregung könnte Ihnen schaden.«

»An meinen Tränen dürfen Sie nicht Anstoß nehmen, Mr. Allington! Bitte, zeigen Sie mir nur das Bild! Geben Sie es mir gleich! Ich besitze nichts aus meines Sohnes letzter Lebenszeit, kein Erinnerungszeichen. Und er hat an mich gedacht – noch ganz zuletzt! Bitte, geben Sie mir das Bild!«

Mr. Allington suchte einen Augenblick in seinem Taschenbuch. Dann brachte er eine Photographie zum Vorschein, einen Abzug der Platte, die in der Sturmstraße entstanden war und darauf zur Herstellung des Films für die Projektion des Lichtbildes in der Tiergartenstraße gedient hatte.

Beim ersten Blick auf die Photographie entrang sich ein Ausruf der Verwunderung dem Munde der Frau Konsul. »Dasselbe! Großer Gott, genau dasselbe!«

In fliegenden Worten erzählte sie, was in der Sitzung geschehen war.

Mr. Allington hörte ruhig, aber mit der Aufmerksamkeit des teilnehmenden Freundes zu. Dann bedauerte er, daß ihm die Geschäfte keine Muße ließen, derartigen Dingen Interesse zu schenken. Aber an die Worte der Frau Konsul würde er sich erinnern, wenn er sich einmal vom Geschäft zurückgezogen haben würde. Dann wollte er der neuen Lehre besondere Aufmerksamkeit widmen.

Die Frau Konsul versenkte sich in die Einzelheiten des Bildes. Immer wieder tupfte sie mit dem Tuch die perlenden Tränen aus den Wimpern.

»Wie soll ich, wie kann ich Ihnen danken, Mr. Allington?«

Der Fremde bemerkte, daß er nur den Wunsch eines sterbenden Freundes erfülle. Für Frau Konsul vermochte er einen Grund zur Dankbarkeit nicht anzuerkennen.

»Da steht eine junge Dame am Sarge. Der Tod meines Sohnes scheint ihr nahezugehen. Wer ist die junge Dame, Mr. Allington?«

»Das ist Miß Allington, meine Schwester.«

Es waren Mutteraugen, die auf das Bild niederschauten, und diese Augen feuchteten sich, bis sie nichts mehr zu unterscheiden vermochten. Dann sank die Hand mit dem Bilde in den Schoß der alten Dame.

»Sagen Sie mir alles, Mr. Allington. Ihr Fräulein Schwester hat meinem Sohn nahegestanden – sie hat ihn geliebt?«

Große Zurückhaltung war im Ton des Besuchers.

»Ich habe Grund zu glauben, daß Mr. Götze meiner Schwester nähertrat, daß diese Annäherung sie beglückte. Die beiden schmiedeten Pläne, weit ausschauende Pläne für die Zukunft. Ich hatte nichts dagegen zu erinnern. Da kam der Tod und zog den Schlußstrich.«

Frau Konsul Götze sah das Bild an. Sie murmelte vor sich hin: »Sie hat ihn geliebt! Mein Sohn hat sie geliebt!«

Da hob sie die Augen. »Sagen Sie mir, ob mein Sohn sich mit Ihrer Schwester schon verlobt hatte, Mr. Allington.«

»Ich glaube sagen zu dürfen, daß die Heirat bereits verabredet war. Was aber für Mr. Götze bei Lebzeiten eine glückliche Zukunft bedeutete, bleibt für die Mutter des Verstorbenen ein Wort ohne Inhalt.«

»Und wo lebt Miß Allington jetzt? Wo hält sie sich auf?«

»Meine Schwester befindet sich in diesem Augenblick im Hotel Windsor, wo wir abgestiegen sind.«

Die Frau Konsul richtete sich lebhaft auf. Blick und Wort waren nicht frei von Vorwurf. »Und das erfahre ich erst jetzt, Mr. Allington! Die Verlobte meines Sohnes weilt in dieser Stadt, und ich weiß es nicht! Bringen Sie Alfreds Braut sofort zu mir, Mr. Allington! Ich will ihr in die Augen sehen, will die Hände streicheln, die in meines Sohnes Händen ruhten. Bringen Sie mir – – aber nein!« Sie streckte den Arm aus nach der elektrischen Glocke.

»Lassen Sie sogleich ein Auto rufen, Lisa!« rief sie dem eintretenden Mädchen zu.

Und nun wandte sie sich wieder zu dem Besucher.

»Ich selbst will zu Ihrer Schwester fahren, Mr. Allington, und Sie werden mich begleiten. Ich will sie bitten, daß sie bei mir wohnt, bei mir bleibt, mit mir weint.«

So kam Ursula in das Haus von Frau Konsul Götze.

Das Zusammenleben der Damen gestaltete sich so harmonisch wie denkbar. Die Frau Konsul tat alles, ihrem Gast den Aufenthalt in der Villa möglichst angenehm zu machen. Schon nach wenigen Tagen fing sie an, Ursel ihr liebes Töchterchen zu nennen. Es war ihrem Herzen eine Wohltat.

Bei alledem blieb Ursula völlig Herrin ihrer Zeit. Es war der dringende Wunsch der alten Dame, daß sich die Geschwister durch Ursulas Übersiedlung nach der Villa in keiner Weise in ihrer Bewegungsfreiheit beengen ließen. Der Bruder war ein für allemal geladen und willkommen, die Schwester sollte gehen und kommen, wie es ihrem Bedürfnis entsprach.

Nur vor einem begann die Frau Konsul mehr und mehr zu bangen. Im Hotel Windsor hatte sie Ursula in dunklen Gewändern gefunden, die zugleich dem Zweck der Reise entsprachen. Trauerkleider, die zugleich Reisekleider waren, trug die junge Dame auch in der Villa. Dadurch wurde die Frau Konsul beständig an die bevorstehende Trennung erinnert. Wie sollte sie das Leben ertragen, wenn Ursula wieder von ihr ging? Täglich fürchtete sie das Wort »Abreise« zu hören. Schließlich konnte sie nicht anders, sie mußte ihrer Sorge Ausdruck geben.

»Kommen Sie doch mit uns, Mütterchen!« gab Ursula zur Antwort.

Die alte Dame sah den Gast mit erstaunten Augen an. »Ist das Ihr Ernst, Ursula?«

»Weshalb sollte es nicht mein Ernst sein? Glauben Sie, es wird mir leicht, von Ihnen zu gehen, nachdem ich in Ihnen eine Mutter gefunden, die ich seit meiner Kindheit entbehrte? Was hält Sie hier? Drüben ist Alfreds Grab!«

Von diesem Tage ab ließ der Gedanke an die Reise die alte Dame nicht mehr los. Ursulas Bruder wurde in die Sache eingeweiht. Er hatte keinerlei Bedenken und freute sich für seine Schwester. Dabei machte er darauf aufmerksam, daß wenn sich niemand um die Hinterlassenschaft drüben bekümmerte, dieselbe bald in alle Winde zerflattern würde. Selbst im Fall die Regierung Hand darauf legte, war wenig gebessert. Nachher war es ungeheuer zeitraubend und recht kostspielig, zu seinem Recht zu gelangen. Auch aus diesem Grunde mußte er empfehlen, daß Frau Konsul wenigstens auf einige Zeit mit nach Amerika kam, um selbst nach dem Rechten zu sehen.

Mr. Allington fühlte sich noch zu einem anderen Vorschlag gedrängt. Er wollte seine weiteren Geschäftsreisen durch das Deutsche Reich ohne Ursulas Begleitung antreten und in kurzen Zwischenräumen immer wieder nach Berlin zurückkehren. Vorausgesetzt natürlich, daß den Damen ein Gefallen damit geschah.

Die Frau Konsul war ganz überwältigt von so viel Liebenswürdigkeit. Sie zauderte nur, ob sie dieses neue Opfer von Miß Allington annehmen durfte.

Ursula beruhigte die Sorglichkeit der alten Dame. Sie wußte, daß der Vorschlag ihres Bruders dazu diente, die falsche Vorstellung von dem in Geschäften nach Deutschland gekommenen Ausländer zu stützen. Daneben sicherte sich Mr. Allington auf diese Art volle Bewegungsfreiheit.

Gar gern glaubte Frau Konsul Ursulas Versicherung, daß sie kein Opfer brachte, wenn sie bei ihrem »Mütterchen« blieb.

So reiste Mr. Allington beruhigt ab, und seine Schwester machte sich in der Villa Götze so nützlich wie möglich. Wenn der Postbote sichtbar wurde, ging sie ihm stets bis an die Gartenpforte entgegen, um ihm die Postsachen abzunehmen. Es deuchte ihr stets ein gutes Zeichen, wenn kein amerikanischer Stempel sich dazwischen zeigte.


Als die Dame mit den schwarzen Augen sich von Walter Schmidt getrennt hatte, folgten die Blicke desselben sehnsüchtig dem Wagen, der die Unbekannte forttrug. Erst nachdem die Elektrische an der nächsten Ecke verschwunden war, machte sich der junge Mann gleichfalls auf den Heimweg. Seine Gedanken verweilten noch immer bei der Fremden.

Wer war die Dame?

Ein ruhiges, gehaltvolles Mädchen, an das sich kecke Zudringlichkeit sicher nicht heranwagte. So stand sein Urteil. Aber eine Meinung über den Charakter gibt noch keine Aufklärung betreffs der gesellschaftlichen Stellung. Stand oder Beruf der Fremden war Walter ebenso unbekannt geblieben wie ihr Name oder ihre Wohnung. Sie zog um ihre Persönlichkeit einen Kreis, in den müßige Neugier nicht hineinblicken durfte. Und war sie die Absenderin der brieflichen Aufforderung?

Walter hätte gern Gründe der Bestätigung gehabt, aber er verneinte die Frage, sobald er sie sich gestellt hatte. Wäre der Brief von der Fremden gekommen, so hätte sie nicht während der ganzen Unterhaltung so unbefangen bleiben können. Die Dame kannte ihn so wenig, wie er selbst etwas von ihr wußte. Daß die schwarzen Augen ihn an die Talbot erinnerten und noch an eine andere Persönlichkeit, war ohne Bedeutung. So selten sind schwarze Augen doch nicht, um ein sicheres Erkennungszeichen zu bilden, wenn alles andere nicht stimmt. Zudem war die Wahrsagerin nach außerhalb gezogen, unbekannt wohin. Und überhaupt das Alter, die ganze Persönlichkeit – nein! Und welche Veranlassung sollte die Talbot haben, ihn auf diese Art ins Konzert zu bestellen?

Walter fand keinen Schlüssel zum Verständnis der Sache.

Brauchte er aber einen Schlüssel? Gab es überhaupt einen? Wozu eigentlich?

Wenn eine fremde Dame aus Mangel an Sitzgelegenheit den freien Stuhl an seiner Seite beanspruchte, sich weiter nicht um ihn kümmerte, erst rein zufällig in eine verspätete Unterhaltung mit ihm geriet, ihren Namen nicht nannte und jede Verabredung eines Wiedersehens ablehnte, so gab es da weder ein Geheimnis noch einen Schlüssel dazu.

Blieb immer wieder die geheimnisvolle Bestellung! Das konnte auch eine Irreführung sein. Gemeldet hatte sich jedenfalls niemand. Oder sollte er glauben, die Unbekannte habe ihn anonym ins Konzert bestellt, um ihm dann ein Wiedersehen abzuschlagen? Dergleichen wäre wirklich noch nicht dagewesen.

Und dann kam der Augenblick, wo Walter mitten auf der Straße stillstand und sich mit der Hand an die Stirn schlug. Hatte er denn sich selbst vorgestellt?

Wie durfte er erwarten, daß eine Dame von Welt und Erziehung damit den Anfang machte! Woher nahm er die Kühnheit, zu vermuten, daß eine solche Dame einem Menschen mit mangelhaften Umgangsformen, wie er sie bewiesen hatte, ein Wiedertreffen bewilligen werde, selbst wenn sie vorher eine Annäherung gewünscht haben sollte!

So gingen die Gedanken des jungen Mannes im Kreise herum, bis er am nächsten Abend wieder an derselben Stelle im Konzertgarten saß.

Die Fremde kam nicht. Sie kam auch am zweiten und dritten Abend nicht.

Walter wurde immer aufgeregter. Die innere Unruhe ließ ihn nicht eher los, bis er wieder auf dem Platz im Konzertgarten saß, der nun beinahe sein Platz war. Er wollte sich der Unbekannten vorstellen, wie es seine Pflicht war. Nur sich vorstellen – weiter wollte er nichts. Wenigstens redete er sich das vor.

Die Fremde sollte und durfte ihn nicht für unhöflicher halten, als er war.

Aber sie kam nicht.

Über dem einen Gedanken vergaß Walter alles andere. Er dachte nicht mehr an seine Aufgabe, er vernachlässigte seine Hausgenossen und wurde sich der Unart in seinem Verhalten nicht einmal bewußt. Am Morgen stand er auf in der Zuversicht: heute! Am Abend legte er sich nieder in der Hoffnung: morgen!

»Ich weiß nicht, was in unseren Herrn gefahren ist. Man sieht ihn kaum noch,« sagte Frau Kemnitz.

»Laß ihn doch!« war Annas schnippische Antwort. »Was geht uns unser Mieter an?«

Daraufhin mußte Frau Kemnitz glauben, zwischen den jungen Leuten habe es eine jener Unstimmigkeiten gegeben, die in erregten Zeiten vorkommen. So etwas läuft sich von selbst wieder zurecht. Sie kümmerte sich nicht mehr darum.

 

Die Woche ging herum – sieben volle Tage.

Walter Schmidt saß wieder auf »seinem« Platz.

Der Sicherheit halber hatte er den Arm auf die Lehne »ihres« Stuhls gelegt. So war dieser nicht dem Zugriff fremder Leute preisgegeben.

Und wieder grübelte Walter, ob die schwarzen Augen niemals mehr neben ihm aufleuchten würden.

Die Tageszeitungen fielen ihm ein. Sollte er ein Inserat erlassen? Nur ihr allein verständlich um ein Wiedersehen bitten?

Mit zusammengezogenen Brauen starrte er vor sich hin. Was sollte er tun? Was konnte er tun? Den Gedanken an die Fremde abschütteln? Das vermochte er nicht. Tag und Nacht würden die schwarzen Augen in seiner Seele brennen.

Indem er brütend also dasaß, verlor er das Bewußtsein der Gegenwart und seiner Umgebung. Nicht einmal die schmetternden Klänge der Trompeten vermochten die wogenden Gedanken und Empfindungen zu durchdringen, in die seine Seele sich einspann.

So ward er nicht gewahr, daß eine verspätete Dame den Hauptgang des Gartens heraufkam. Die dunklen Augen flogen den Füßen suchend voran. Als sie Walter Schmidt erblickte, zuckte ein Blitz der Freude über ihr Gesicht.

Sie trat an den Tisch. Der grübelnde Mann ward ihrer nicht gewahr. Sie stand neben ihm. Er starrte noch immer vor sich hin und regte sich nicht.

»Guten Abend!« sagte sie mit ihrer tiefen Stimme.

Walter fuhr auf aus seinen Gedanken, starrte ihr ins Gesicht, als könne er nicht an die Wirklichkeit glauben, die er sich eine ganze Woche lang ausgemalt hatte. Dann flog über sein Gesicht der Ausdruck so unverkennbarer Freude, daß sie, die kein Zucken seiner Züge verlor, wohl damit zufrieden sein konnte.

»Endlich!« Es klang wie ein befreites Aufjauchzen aus seiner Brust. »Oh, wie haben Sie mich gequält!«

»Darf ich mich wieder auf meinen alten Platz setzen?«

Da sprang er auf und schob ihr den Stuhl zurecht.

»Seit acht Tagen habe ich ihn für Sie belegt.«

»Für mich? Aber wir hatten ja gar nichts verabredet! Alles sollte doch dem Zufall überlassen bleiben!«

»Und um den Zufall nicht zu hindern, habe ich hier auf Sie gewartet – Abend für Abend!«

»Ich kann leider nicht immer über meine Zeit verfügen. Als ich heute abend frei hatte, dachte ich an unser Plauderstündchen neulich. Und da meinte ich – aber das darf ich Ihnen eigentlich gar nicht sagen!«

»Weshalb nicht? Bitte, bitte, Fräulein, sagen Sie es mir!«

»Nun, es fuhr mir durch den Sinn, ob's vielleicht der Zufall fügen möchte, daß ich einen gewissen Jemand da wiederfände, wo wir vor acht Tagen so nett beisammen saßen. Darum ging ich her. Und siehe – da ist er! Aber Ihren Namen weiß ich deshalb noch immer nicht.«

Er sprang auf. »Walter Schmidt heiße ich. Diese ganze Woche habe ich mit mir gescholten, daß ich damals unterließ, mich vorzustellen. Nun hätte ich's beinahe wieder vergessen. Aber glauben Sie mir, es lag keine Absicht darin.«

»Und ich heiße Ursula Allington. Drüben in Amerika ist es nicht Sitte, daß man feierlich seinen Namen nennt, wenn man mit jemand zwei Minuten am Biertisch sitzt. Freilich, wenn man öfter zusammenkommt – also deswegen wurden Sie nicht bestraft. Aber in meiner Stellung und in meiner Lage – ich bin Gesellschafterin einer älteren Dame – ist es niemals klug, wenn man sich ersten günstigen Eindrücken gar zu willig überläßt. Großstadt ist Großstadt! Übrigens würde ich mich auch zu verteidigen wissen. Wo ich fremd bin, gehe ich niemals ohne meinen Revolver aus. Vielleicht ist es töricht, aber ich bin daran gewöhnt.«

Walter konnte eine Gebärde des Erstaunens nicht unterdrücken.

»Ländlich – sittlich!« meinte Ursula Allington. »Ich wollte vorhin nur ausdrücken, daß Sie sich wegen der vergessenen Vorstellung keine Vorwürfe zu machen brauchen. Das gute Glück hat uns ja auch ohnedies wieder zusammengeführt.«

»Nicht das blinde Ungefähr! Meine Ausdauer ist belohnt worden. Ich bin so froh, so sehr froh, Miß Allington!«

Sie streckte ihm lächelnd die Hand hin. »Es tut mir ja leid, daß Sie sich meinethalben Unbequemlichkeiten gemacht haben, aber es war doch nicht so schwer, zu erraten, daß ich nicht frei über meine Zeit verfügen kann, wie Sie vielleicht. Ich sagte schon, daß ich Gesellschafterin bin. Frau Konsul Götze ist mir herzlich zugetan, aber sie nimmt meine Zeit stark in Anspruch. Ich bin froh, wenn ich gelegentlich einen Abend für mich gewinne. Und da heute gerade acht Tage um waren, dachte ich – na und so weiter. Doch nun genug davon! Ich habe Ihnen schon viel zu viel gestanden. Plaudern wir von etwas anderem.«

»Zum Beispiel von Iren Augen! Miß Allington, ich weiß bestimmt, daß ich Sie vor acht Tagen zum ersten Male gesehen habe, und doch werde ich die Empfindung nicht los, als hätte ich schon einmal in Ihre Augen geblickt.«

»O weh! Und ich habe mir immer eingebildet, in meinen Augen etwas Besonderes zu besitzen. Das ist nun wieder nichts.«

»Vor einiger Zeit sah mich eine Dame mit Ihren Augen an.«

»Mit meinen nicht! Schwarze wird sie gehabt haben.«

»Und noch ein zweites Mal eine andere an anderem Ort.«

»Ich bin also schon die dritte?« scherzte Ursula.

»Eine Wahrsagerin war die erste.«

»Glauben Sie auch an dergleichen?« fragte Ursula.

»Nein. Daß ich hinging, hatte besondere Gründe.«

»Und was haben Sie Gutes erfahren?«

»Daß meine Zukunft in Rosenrot liegt. Jugend und Schönheit, Glück und Liebe erwarten mich.«

»Sie Glücklicher! Wenn mir doch auch dergleichen bestimmt wäre! Aber Sie glauben ja nicht daran.«

»An Jugend und Schönheit glaube ich jetzt.«

»Spötter!«

»Ich spotte nicht!« versetzte er ernsthaft und sah ihr tief in die schwarzen Augen. –

 

An diesem Abend trennten sich die beiden nicht, ohne ein neues Zusammentreffen verabredet zu haben. Aber Ursula Allington fuhr darauf nicht sofort nach dem Hause der Frau Konsul Götze. In ihrer Privatwohnung vertauschte sie das Abendkleid mit der dunklen Gewandung, in der die Frau Konsul sie kannte.

Nach dem Umkleiden trat sie noch einmal vor den Spiegel und schaute sich aufmerksam in die Augen. Dann lächelte sie sich an. »Mich hat er vor acht Tagen zum ersten Male gesehen, aber euch hat er wiedererkannt, ihr schwarzen Sterne! An Jugend und Schönheit glaubt er bereits, an Glück und Liebe soll er bald glauben lernen!«


In seiner gewählt eingerichteten Junggesellenwohnung saß George Fröhden, der Mann mit den vielen Namen, zu denen er ebensoviele verschiedene Gesichter vorrätig hielt. Auch betreffs der Heimstätten war er wohl versorgt. Stets verfügte er mindestens über zwei Wohnungen, von denen er gewöhnlich nur die auf den Namen Fröhden gemieteten Räume benützte. Im übrigen wechselte er mit der Rolle zugleich auch die Wohnung.

Die Förmlichkeiten der polizeilichen An- und Abmeldung pflegte er beim Wohnungswechsel stets pünktlich und dabei in einfachster Weise zu erfüllen. Im Besitz der nötigen Ausweispapiere aus aller Herren Ländern begab er sich nach der amtlichen Meldestelle. Seine höfliche Anfrage in mangelhaftem Deutsch, ob er zu vorübergehendem Aufenthalt als Weltreisender einer besonderen Anwesenheitsbescheinigung bedürfe, fand ebenso höfliche Antwort. Gauner, Hochstapler und sonst anrüchige Personen pflegen ihre Beziehungen zur Polizei weniger sorgfältig zu regeln. Man warf einen Blick in die mitgebrachten Papiere – sie waren in bester Ordnung. Man fragte höflich nach dem Verlauf der Reise – und alles war erledigt. Wollte er an einer Stelle seine Zelte abbrechen, so bedurfte es nur einer einfachen Mitteilung. Als nächsten Aufenthaltsort bezeichnete er Wien oder Budapest oder Konstantinopel – ganz genau wußte er gewöhnlich selbst noch nicht, wohin er sich zu längerem Aufenthalt begeben würde. Manchmal führte seine angebliche Reise auch über den Ozean.

Daß er in solchem Fall Berlin wirklich verließ, war keineswegs nötig. Er zog einfach in einen anderen Stadtteil, um dasselbe Spiel unbesorgt unter anderem Namen zu wiederholen. Da er sich mit Vorliebe nach außerhalb abmeldete, waren Nachforschungen über seinen Verbleib ausgeschlossen. Und wollte wirklich jemand wissen, wo er vorher gewesen, so nannte er irgend eine ausländische Stadt. Wer mochte den Kreuz- und Querzügen eines Weltbummlers nachspüren?

Im Hause Kemnitz galt Fröhden als ein in Berlin ansässiger, wenn auch häufig auf Reisen befindlicher Ingenieur.

Augenblicklich saß er an seinem Schreibtisch. Vor ihm stand eine größere Kassette aus Aluminium. Der Deckel war aufgeschlagen. Fröhden lehnte sich in den Stuhl zurück und blies den Rauch seiner Zigarre in dicken Wolken von sich nach der unbewußten Art mancher Leute, die angestrengt nachdenken.

Der jüngste seiner Anschläge reifte dem Gelingen entgegen. Frau Konsul Götze war bereit, in Ursulas Gesellschaft die Reise über das große Wasser anzutreten. Befand sich die alte Dame erst völlig in seiner Gewalt, so bot sich auf dem Schiff oder nach der Landung leicht Gelegenheit, sich ihrer zu entledigen. Tote werden keine Ankläger, das war George Fröhdens Grundsatz. Gefahr lag vorläufig ja nicht vor, wenn sich die Abreise auch noch etwas hinausschob. Ursula prüfte die Post der alten Dame in bezug auf Eingänge aus Amerika für den Fall, daß der Absturz nicht den Tod ihres Sohnes herbeigeführt haben sollte. Aber längere Zögerung schien ihm zum mindesten überflüssig. Er wollte die Hände frei haben für weitere Unternehmungen.

Daneben sprach noch ein zweiter Grund für Beschleunigung in Sachen Götze. Fröhden liebte seine Schwester auf seine Weise. Er zweifelte keinen Augenblick, daß Ursula in jeder ernsten Frage unentwegt an seiner Seite stehen werde. Aber zugleich hielt er ihre Neigung zu Schmidt für tiefgehend genug, um sie unter Umständen in gefährliche Lagen zu verstricken. Ursula war ein Weib und als Weib ihrer Natur unterworfen. Wenn aber die Empfindungen, die Schmidt in ihr wachgerufen hatte, mehr bedeuteten als eine Laune, die der Augenblick bringt und der Augenblick verweht, so würde sie Mittel und Wege suchen, den Mann an sich zu ziehen. Vielleicht hatte sie dieselben schon gefunden.

Darin lag die Möglichkeit einer Gefahr, der Fröhden jedenfalls rechtzeitig begegnen mußte.

Fröhden legte den Rest seiner Zigarre aus der Hand. Einem Fach der Kassette entnahm er das Material zu einer Barttracht, an deren Fertigstellung er schon längere Zeit gearbeitet hatte. Die Geschicklichkeit, mit der er ans Werk ging, bewies zur Genüge, daß ihm die Kunst des Perückenmachens nicht fremd war. Was er zur Maskierung von Kopf und Gesicht gebrauchte, fertigte er sich stets selbst an. So gab es niemand, der seine Heimlichkeiten kannte oder auch nur ahnte. Nicht ohne Grund hielt er sein natürliches Gesicht bartlos und das Kopfhaar ganz kurz geschnitten. Dadurch wurde die Verwendung künstlicher Haartrachten wesentlich erleichtert. Jetzt lag ihm daran, sich eine Maske zu schaffen, die auch Ursula nicht kannte.

Nach einer Stunde eifriger Arbeit war das Werk so weit gefördert, daß er vor dem Spiegel Anprobe halten konnte. Frisur und Barttracht waren der von Walter Schmidt nachgebildet. Als geübter Mimiker hatte Fröhden seine Züge derart in der Gewalt, daß er nach vorangegangener Übung jeden ausdrucksvollen Kopf nachahmen konnte. Hier und da half er jetzt mit einigen Schminkstrichen nach. Dann aber war die Ähnlichkeit mit Walter Schmidt so vollkommen, daß er selbst ein Lächeln nicht unterdrücken konnte. »So, kleine Ursel, nun wollen wir gelegentlich die Probe machen.«

Nachdem der vielgestaltige Herr die falsche Haartracht wieder abgelegt hatte, wusch er sein Gesicht und verwandelte sich darauf in die Phantasiegestalt des Mr. Allington. Sein Kleiderschrank enthielt Anzüge in verschiedenstem Schnitt, so daß er seine Tracht dem zurechtgemachten Kopf anpassen konnte.

Bevor er aber zu Frau Götze hinausfuhr, um Ursel abzuholen, ließ er das Auto vor einer lithographischen Kunstanstalt in der Leipziger Straße halten.

»Sind die Verlobungskarten für Fröhden fertig?«

»Werde gleich nachsehen,« sagte die Dame hinter dem Verkaufstisch.

Nach kurzer Zeit kam sie mit einem zierlichen Karton zurück.

Fröhden prüfte Ausführung und Text der buchartig gefalteten Karten. Auf einem Blatt stand eine Anzeige, die als von den Brauteltern ausgehend gedacht war, auf dem angebogenen zweiten Blatt war zu lesen:

 

Als Verlobte empfehlen sich
Jeannette Grandidier – George Fröhden.
Paris – Berlin.

 

Fröhden steckte das Schächtelchen ein und erlegte den geforderten Betrag. Dann stieg er in das Auto, um nunmehr als Mr. Allington zu Frau Konsul Götze zu fahren.

Da es sich um eine Verabredung handelte, wartete Ursel bereits auf ihn.

Eine halbe Stunde darauf saßen die Geschwister vereint in der rebenumrankten Box einer feinen Weinstube der Friedrichstadt, wo sie unbesorgt plaudern konnten.

»Wie sieht's in der Tiergartenstraße aus?« fragte Ursel.

»Die verschließbare Wandöffnung über dem Pult, durch die ich das Lichtbild vom Nebenraum her auf die Leinwand werfen konnte, ist wieder beseitigt. Alles sieht aus wie vorher. Die Villa steht zur Verfügung des Ausschusses. – Und wie weit bist du selbst, Ursel? Ich meine, wie schaut's mit der Abreise aus?«

»Die Sache ist erledigt – das weißt du. Die alte Dame wird uns begleiten, sobald wir reisen wollen. Die Geldsachen mußt du selbst mit ihr besprechen. Aber ich meine auch jetzt noch, wir sollten die Sache nicht überstürzen. Da sind die Dienstboten nebst der Nachbarschaft und wer sich sonst dafür interessiert. Der Haushalt muß langsam aufgelöst werden. Die Abreise darf auch nicht entfernt wie eine heimliche Entführung aussehen.«

»Vollkommen richtig! Aber nutzloses Aufschieben kann auch gefährlich werden.«

»Haben die Zeitungen nichts mehr über den Fall Götze berichtet?«

»Nein. – Aber wenn ich auch nicht glaube, daß von drüben jetzt noch Nachricht kommt, eine Garantie ist nicht geboten.«

»Ich nehme die Post regelmäßig selbst in Empfang.«

»Du bist nicht immer da.«

»Ich weiß die Zeiten, wann der Briefträger kommt, und richte mich danach.«

Ursel hatte das Kinn leicht auf die Hand gestützt. Ihre Augen folgten dem ausgestreckten Zeigefinger der Rechten, wie er unsichtbare Hieroglyphen auf die Tischplatte schrieb. Dann hob sie plötzlich den Kopf. »Ist es nicht bald genug, George?«

»Was ist genug?«

»Ich meine, ob es nicht bald reicht, jedem von uns ein sorgenfreies Dasein zu ermöglichen?«

»Was verstehst du unter einem sorgenfreien Dasein, Ursel? Iß dich satt – iß dich gut satt! Trink auch dazu! Im Winter Theater, im Sommer eine Reise – dazu wird's wohl reichen. Aber Ursel, war das unser Ziel?«

»Jedes Ding muß doch schließlich ein Ende haben.«

»Ich weiß nicht, wie du mir heute vorkommst, Ursel. Brave Bürgersleute ziehen sich vom Geschäft zurück, um von ihren Renten zu leben. Das können wir doch nicht! Für uns gibt es kein Ausbiegen, kein Innehalten auf der betretenen Bahn.«

»Inzwischen verfliegen die schönsten Jahre des Lebens ohne Zweck, ohne Inhalt!«

»Du wirst sentimental, Ursel! Oder hast du besondere Gründe zu solchen Gedanken? Halt, da fällt mir etwas ein.« Er zog den Karton mit den Verlobungskarten heraus. »Sieh dir das einmal an, Ursel!«

Erstaunt sah sie auf die zusammengebogene Karte.

»Das hast du getan? Du willst also glücklich sein, und ich sollte es nicht dürfen! Mir predigst du Verzicht, und du selbst –«

Mit überlegenem Lächeln hörte Fröhden den Ausbruch an. »Bist du fertig, Ursel? – Dann gib acht! Diese Jeannette Grandidier existiert gar nicht. Die Verlobung ist nur ein Trick, der mir Bewegungsfreiheit schafft. Wenn Mr. Allington mit der Frau Konsul über See geht, verschwindet auch Fröhden. Das könnte auffallen. Wenn aber Fröhden vorher erklärt, er habe sich verlobt, und geht nach Paris zu seiner Braut, wundert sich kein Mensch. Übrigens habe ich gestern mein Flugzeug nach Hamburg aufgegeben.«

»Mag sein, daß du alles richtig berechnest – aber ich bin so müde, George, so sehr müde!«

»Wessen müde?«

»Unseres Weges müde, unseres Lebens. Ich will auch unter die Leute gehen, wie ich wirklich aussehe, nicht immer verkleidet und maskiert, heute so und morgen anders.«

»Als schöne, junge, wohlhabende Dame meinst du?«

»Es kommt mir vor, als wäre ich gar nicht mehr ich selbst. Wie ausgetauscht komme ich mir vor.«

»Ja, das Leben im Hause Götze hat meine liebe Ursel verdorben. Deine Stimmung beweist, daß du ein wohlumfriedigtes Dasein im Bürgerhause nicht ertragen kannst. Es wird Zeit, daß wir weiter kommen!«

»Im Gegenteil! Der Aufenthalt bei Frau Konsul beweist mir täglich mehr, worauf ich verzichte, welches Leben ich aufgegeben habe!«

»Verzichtet, Ursel? Ich denke, von dem Kartoffelkorb, der deine Wiege war, von der Existenz der fahrenden Leute fand sich wenig Gelegenheit, aufzugeben und zu verzichten.«

»Mag sein. Aber die alte Frau tut mir leid. Sie meint es wirklich gut mit mir. Und wenn ich dann denke, wie ich ihr lohne und lohnen soll – George, manchmal packt mich ein Grauen vor mir selbst.«

»Es kommt etwas spät, dieses Grauen!«

»Ich wünschte, du möchtest sie schonen.«

»Hast du gehört, daß der Löwe davonschlich, wenn er zum Sprung angesetzt hatte? Schlag dir doch solche Schwäche aus dem Sinn, Ursel!« –

 

Als Mr. Allington seine Schwester vor dem Hause der Frau Konsul Götze aus dem Auto steigen ließ, ging er nicht mit hinein. »Viele Grüße!« rief er ihr nach, dann fuhr er zur Stadt zurück.

Während seine Augen über den Rand des Gefährts hinweg die Passanten auf dem Bürgersteig streiften, wälzten sich die Gedanken durch sein Hirn. »Es wird Zeit, die allerhöchste Zeit!« murmelte er zwischen den Zähnen.


Anna Kemnitz befand sich noch immer in durchaus kriegerischer Stimmung. Wenn Walter Schmidt kein Bedürfnis fühlte, gelegentlich ein paar Worte mit ihr zu wechseln, sie selbst brauchte seine Gesellschaft ganz gewiß nicht.

Da traf Fröhdens Verlobungsanzeige ein.

»Na, so was!« rief Frau Kemnitz, als sie den Umschlag entfernt hatte. »Fröhden hat sich verlobt!«

»Mit wem denn?« fragte Anna gleichgültig.

»Hier ist die Karte! Eine Pariserin!«

»Darum ist er also öfter hinübergefahren!«

Damit war die Sache für sie erledigt.

 

Gegen Abend kam Lieschen Kleberg, die Nachbarstochter, auf einen Augenblick zum Plaudern herüber. Sie hatte eine große Neuigkeit auf dem Herzen, aber erst nachdem sie von Fröhdens Verlobung Kenntnis erhalten, kam sie damit heraus.

»Gestern abend waren wir im Konzert.«

»War's schön?«

»Weißt du, wer auch da war? – Herr Schmidt – euer Mieter! Er war nicht allein. Mit einer jungen Dame saß er am Tisch. Schade, daß du ihn nicht auch gesehen hast!«

Anna Kemnitz fühlte, daß sie beobachtet wurde. Auf keinen Fall durfte sie sich etwas merken lassen. »War sie hübsch?« fragte sie ruhig. Sie wunderte sich selbst über den gleichgültigen Ton, in dem die Frage über ihre Lippen kam.

»Na, das ließ sich aushalten,« meinte Lieschen Kleberg einigermaßen enttäuscht. Dann zog sie kräftigere Saiten auf. »Du hättest nur sehen sollen, wie vertieft er in die Unterhaltung war. Kein Auge hat er von ihr gelassen. Ich bin etliche Male dicht vorbeigegangen, aber er hat mich gar nicht gesehen.«

»Laß ihn doch! Was geht's uns an?« sagte Anna Kemnitz mit einiger Anstrengung. »Oder hattest du dir Rechnung auf ihn gemacht?«

»Ich? Nicht in die Hand! – Aber ich dachte, du bist doch viel mit ihm zusammengewesen und –«

»Da irrst du dich aber gründlich!«

»Desto besser! Ich glaube, die beiden sind sich schon einig. Es sah ganz danach aus. – Na, gute Nacht, Anna!«

 

Dann stand Anna Kemnitz am Fenster und blickte auf die Straße hinab. Sie sah nichts von dem Treiben dort unten.

Hatte nicht einmal ein Wort sie berührt von einer Zukunft in Rosenrot? War sie es selbst, die das Leben vor sich gesehen hatte wie den jungen Tag, bevor die Sonne aufgeht?

Jugend und Schönheit – Glück und Liebe!

Verklungen, verweht – so lange, so lange schon! Und vor ihr lag die Zukunft so fern, so weit und so freudenleer!

Und dann kam die Nacht, die endlose Nacht. Anna Kemnitz lag auf ihrem Bett und starrte in der Dunkelheit zur Decke empor.

Was eben hatte aufblühen wollen, war schon zertreten. Für sie gab es keine Zukunft mehr. Trüb und grau lag der kommende Tag vor ihr – alle kommenden Tage. Jugend und Schönheit verblühten. Für sie blieb weder Liebe noch Glück. Nur die Sehnsucht lebte, die namenlose Sehnsucht.


Walter Schmidt trat aus seinem Bankhaus. Die Geschäftszeit war vorüber, aber er wollte nicht erst nach Hause. Sein Schritt war eilig. Auf die ihm Begegnenden gab er nicht acht. Er hatte genug zu tun mit seinen glücklichen Gedanken.

Wie anders schaute die Welt ihm in die Augen als noch vor einigen Wochen! Das Weib, von dem die Talbot gesprochen, war wirklich in sein Leben getreten. Rosenrot lag die Zukunft vor ihm. Jugend und Schönheit, Glück und Liebe winkten ihm freundlich. Walter Schmidt hatte nur noch einen Gedanken – Ursel!

Er schaute verwundert und gar nicht freundlich auf, als er sich auf der Straße mit Namen anrufen hörte.

Es war Fröhden.

»Lange nicht gesehen, Herr Schmidt! Wie geht es denn?« Fröhden streckte dem Buchhalter die Hand hin. »Wenn's Ihnen recht ist, schließe ich mich Ihnen ein wenig an.«

»Sehr angenehm!« sagte Walter.

Weshalb sollte er dem Mann da böse sein? Sie hatten beide eine kleine Meinungsverschiedenheit gehabt, die längst vergessen war. Über seine eigene veränderte Stellung zum Glauben an die Kunst des Wahrsagens hatte er kaum noch nachgedacht. Aber wenn die Prophezeiung der Talbot betreffs seiner Zukunft ganz genau eingetroffen war, weshalb sollte die Frau nicht auch betreffs der Vergangenheit unterrichtet gewesen sein, ohne daß Fröhden sie beeinflußt hatte? Und begann die prophezeite Zukunft nicht bereits Wahrheit zu werden, war sie es nicht schon geworden so ganz und gar, so über Erwarten herrlich?

Walter tauschte höflich Rede und Gegenrede. Er hatte dem Mann am Ende doch unrecht getan.

Fröhden merkte den Umschwung. Er glaubte auch die Ursache zu erraten. Für ihn selbst war die Sache allerdings nur zur Hälfte erfreulich. Schmidt war ein durchaus ungefährlicher Mensch, wie er ihn jetzt sah. Nur daß Ursula in derselben Zeit weniger zuverlässig geworden war. Indessen – die Trennung stand bevor. Dann zog sich alles wieder ins alte Geleise. Bis dahin mußte er die Augen offen halten.

Vor einem bekannten Bierlokal blieb Fröhden stehen. »Darf ich Sie zu einem Schoppen einladen? Ich habe ganz besondere Ursache, vergnügt zu sein.«

Walter überlegte schnell. Ihm blieb fast noch eine Stunde zur Verfügung. Und dann fiel ihm ein, was er über Fröhdens Verlobung gehört. Er folgte also der Aufforderung.

Der Kellner brachte die schäumenden Gläser.

»Ihr Wohlsein, Herr Schmidt!«

»Wohlsein, Herr Fröhden! – Gestatten Sie, daß ich zugleich herzlich gratuliere.«

»Verbindlichsten Dank! – Die Damen Kemnitz haben natürlich geplaudert. Ist ja auch kein Geheimnis. So müssen wir alle einer nach dem anderen daran glauben. Ihre Zeit wird auch kommen, Herr Schmidt. Dann ist es vorbei mit der goldenen Freiheit. Was mich betrifft – ich spüre es jetzt schon. In nächster Zeit muß ich nach Paris fahren.«

»Sie fühlen sich ja furchtbar unglücklich deswegen!« spottete Walter.

Vergnügt plauderten sie weiter, bis Walter sich plötzlich erhob. »Jetzt muß ich aber gehen, meine Zeit ist abgelaufen.«

»Bestellung?« witzelte Fröhden.

»Nein, ich habe noch geschäftlich zu tun.«

Fröhden sah ihm nach. Auf seinem Gesicht lag jetzt ein Schatten. Er überlegte. »Kellner, zahlen!« rief er dann.


Eine halbe Stunde später fuhr Mr. Allington zu Frau Konsul Götze hinaus.

»Ist Miß Allington anwesend?« fragte er das Hausmädchen.

»Miß Allington fuhr vorhin zur Stadt, aber Frau Konsul ist zu Hause.«

»Beste Empfehlung an die gnädige Frau. Ich wollte nur meine Schwester abholen. Ich habe mich etwas verspätet, da ist ihr wohl die Zeit lang geworden. Sie wird mich erwarten.«

Als Mr. Allington wieder zur inneren Stadt fuhr, war der Schatten auf seinem Gesicht noch deutlicher. »Ich dachte es mir! Sie hat sich mit diesem Schmidt verabredet. – Eine Liebe ist der anderen wert, kleine Ursel! Hast du dein Versprechen, die Verbindung mit ihm abzubrechen, nicht gehalten, so bin ich meines Versprechens ebenfalls ledig. Das Spiel ist zu hoch, als daß wir's verlieren dürften. Ich muß dich bewahren vor dir selber.«


Die Glocke zum Korridor erklang. Frau Kemnitz ging selbst hinaus, um nachzusehen. Sie fand sich einem stattlichen, gutgekleideten Herrn gegenüber.

»Wohnt hier vielleicht Herr Walter Schmidt?« fragte er.

»Herr Schmidt wohnt bei uns. Aber er ist augenblicklich nicht zu Hause,« sagte Frau Kemnitz.

»Das ist schade! Ich hätte notwendig mit ihm zu reden. Ich bin nämlich sein Onkel Wassermann. Walter ist ein Neffe von mir. Aber wenn er nicht zu Hause ist, was soll man da machen?«

Frau Kemnitz schaute Herrn Wassermann nicht unfreundlich an. Um die fünfzig herum mochte derselbe zählen. Und sehr vertrauenerweckend sah er aus. Auf dem Gesicht lag die reine Gutmütigkeit. Und da Onkel Wassermann noch immer zögerte, als erwarte er ihre Antwort auf seine Frage, was man da machen könnte, brachte sie die Sache kurz zum Schluß. »Herr Schmidt ist also im Augenblick nicht zu Hause – wie gesagt. Aber Sie könnten ja ein bißchen warten. Vielleicht kommt er bald.«

»Wenn Sie erlauben.«

»In seine Stube kann ich Sie natürlich nicht lassen, während Herr Schmidt nicht da ist. Sie müssen schon bei uns vorliebnehmen.«

Dann saß Onkel Wassermann bei Frau Kemnitz in der Wohnstube. Der alte Herr wußte recht nett zu plaudern. Nicht nur Frau Kemnitz, auch ihre Tochter Anna hörte ihm sehr gern zu. Die Haustochter schenkte ihm auch gelegentlich einen rätselhaften Blick, aber ganz heimlich. Wer seelenkundig gewesen wäre, hätte sich diesen Blick übersetzen mögen: Wird Walter Schmidt in späteren Fahren auch noch so nett plaudern wie Onkel Wassermann? Aber dann huschte stets ein Schatten über ihr Gesicht. Walter saß wohl jetzt dem hübschen Mädchen gegenüber, mit dem ihn Lieschen Kleberg gesehen hatte. Da fühlte sie jedesmal einen Stich in der Brust.

Und dennoch war es Anna Kemnitz, der zuerst eine eigenartige Bewegung von Onkel Wassermann auffiel. Er griff mehrmals nach der Brusttasche, als ob er etwas herausziehen wollte. Aber immer schien er sich zu besinnen und brachte die Hand leer zurück, wobei ein gewisses Bedauern in seinen Zügen unverkennbar war.

Schließlich konnte sich Anna nicht enthalten, direkt zu fragen: »Vermissen Sie etwas, Herr Wassermann?«

»Was meinen Sie?«

»Weil Sie immer an Ihre Brusttasche fassen, als ob Sie etwas suchten, was nicht da ist.«

Herr Wassermann machte ein verschmitztes Gesicht.

»Es ist schon da! Ich weiß nur nicht, ob ich's herausnehmen darf.«

Nun wurde in Anna Kemnitz die Neugier lebendig.

»Was ist's denn?« fragte sie.

»In der Brusttasche steckt nämlich meine Zigarrentasche. Ich bin ein leidenschaftlicher Raucher. Mir fehlt etwas, wenn die Zigarre nicht brennt. Aber das geht doch nicht hier!«

Schon stand Anna vor dem alten Herrn, das Feuerzeug in der Hand. »Nun aber schnell die Zigarre heraus! Ich warte schon mit dem Feuer.«

»Meinen Sie, daß ich wirklich darf?« fragte Wassermann mit unverkennbarer Freude in dem guten Gesicht.

»Gewiß – Sie dürfen!« sagte Frau Kemnitz. »Als mein seliger Mann noch lebte, war die Stube manchmal ganz blau. Ich mag's sehr gern.«

Anna ließ sich's nicht nehmen, das Zündholz selbst an den Tabak zu halten, während Wassermann schier andächtig an der Zigarre sog.

Als dann der Brand vollkommen war, tat er ein paar mächtige Züge. »Gemütlich war's ja vorher auch schon, aber jetzt ist es doch noch hübscher. Ordentlich heimatlich kommt es mir hier vor.«

Frau Kemnitz fand das sehr nett gesagt.

»Nun dürfte aber mein Herr Neffe auch bald kommen, sonst wird's Schlafenszeit,« meinte Wassermann zwischen zwei Zügen. »Wie sind Sie überhaupt mit dem Jungen zufrieden?«

Die Frage war an Frau Kemnitz gerichtet, aber der Blick des alten Herrn suchte Anna, die sogleich die Augen niederschlug.

»Wir haben recht gut Freundschaft gehalten bisher,« meinte Frau Kemnitz. »In letzter Zeit hat Herr Schmidt wohl viel zu tun. Er kommt jetzt meistens erst spät nach Hause, wir sind dann schon zu Bett.«

»Sieh einer den Tausendsasa! Nein, Frau Kemnitz, das weiß ich besser. Um diese Stunde hält ihn die Arbeit nicht mehr. Da hat er was anderes vor. Na warte, Junge, dir werde ich den Standpunkt klarmachen! Sitzt in den Kneipen herum, während er es zu Hause so gemütlich haben könnte!«

Wieder suchten seine Blicke Annas Gesicht. Aber sie hatte die Lider über die Augen gesenkt und regte sich nicht.

»Sagen Sie ihm lieber nichts, Herr Wassermann!« warf Frau Kemnitz ein. »Sonst denkt er, wir hätten ihn verklatscht.«

»Lassen Sie mich nur machen, Frau Kemnitz! Ich werde ihm schon ein Licht aufstecken, ohne daß Sie in Verdacht geraten! – Ja so – Verdacht!« Der alte Herr wurde plötzlich ganz verlegen. »Sie haben mich so freundlich aufgenommen, Frau Kemnitz, daß ich Ihnen in aller Form den – den Verdacht abbitten muß, den wir vielleicht einmal gehabt haben.«

»Verdacht? – Sie auf uns? Wieso denn?« sagten Frau Kemnitz und ihre Tochter wie aus einem Munde.

In kurzen Worten erzählte Wassermann, wie und warum Walter in das Haus gekommen war.

»Aber so was!« rief Frau Kemnitz. Im ersten Augenblick wußte sie nicht, ob sie sich entrüsten oder die Sache von der heiteren Seite nehmen sollte.

Anna aber lachte ihr fröhlichstes Lachen. »Und da haben Sie gedacht, wir hätten den armen Herrn Schwenndieck umgebracht!«

»Aber Anna!« rief Frau Kemnitz entrüstet.

Die junge Dame fand noch immer kein Ende in ihrer Heiterkeit. »Das haben Sie doch geglaubt! Nicht wahr, Herr Wassermann?«

Der alte Herr versuchte in Annas Heiterkeit einzustimmen. »Na, ganz so war's ja nicht. Aber mein Neffe ist wirklich hergezogen, weil wir glaubten, er könnte hier etwas erfahren. Sie sind uns doch deshalb nicht böse, verehrte Frau Kemnitz, mir nicht und ihm auch nicht? Niemand kannte Sie. Jetzt liegt ja die Sache natürlich ganz anders. Also nicht böse sein, Frau Kemnitz! – Und Sie auch nicht, Fräulein Anna!«

»Daß Herr Schmidt uns auch nachträglich nichts gesagt hat!« staunte Frau Kemnitz.

»Er hat sich geschämt,« versicherte Wassermann eifrig. »Er hat sich geschämt, gerade wie ich mich jetzt schäme! – Aber nun Schwamm drüber! Nicht wahr, Frau Kemnitz?«

Jetzt wurde es aber doch Zeit, daß der alte Herr aufbrach.

»Ich darf Sie nicht weiter stören, Frau Kemnitz. Würden Sie meinem Neffen sagen, daß ich hier war, und daß ich ihn sobald als möglich bei uns erwarte. Er hat schon ein paar Wochen nichts mehr von sich hören lassen.«

 

Erst nachdem Wassermann gegangen war, kam den beiden Damen voll zum Bewußtsein, wie ungeheuer kränkend die Zusammenhänge waren, die Walter Schmidt in ihr Haus führten.

Diese Stimmung, aus Ärger und Kümmernis entstanden, verflog auch am nächsten Morgen noch nicht. Frau Kemnitz fühlte sich nicht bewogen, ihrem Mieter die Botschaft seines Onkels auszurichten. Statt dessen stellte sie Anna vor die Frage, ob einem Menschen, der mit so beleidigenden Gedanken ins Haus kam und sie nachher hinterlistig verschwieg, nicht ohne Umstände gekündigt werden müsse.


Walter Schmidt saß im »Rheingold« am Potsdamer Platz und starrte wie verzaubert in zwei nachtschwarze Augen. Es war ein stilles Plätzchen, das die beiden sich ausgesucht hatten. Ursulas Stuhl stand so, daß sie den Eingang und damit das Publikum im Auge behielt. Walter an der gegenüberliegenden Seite des Tisches sitzend, hatte überhaupt keinen Blick für andere Leute.

Liebte er Ursula wirklich?

Wenn die flatternde Motte die Flamme der Lampe liebt, gegen die sie wieder und immer wieder anfliegt, deren Glut sie fühlt, und vor der sie doch nicht fliehen kann, bis sie mit verbrannten Flügeln und verschrumpftem Leibe zu ihren Füßen liegen bleibt, dann liebte Walter das Mädchen, von dem er nichts weiter kannte als den Namen und nichts anderes wußte, als was sie selbst ihm von sich zu erzählen für gut befunden.

Und das war sehr wenig. Ihre Herkunft blieb ihm unbekannt, ihr ganzes früheres Leben lag unter einem Schleier, auf den sie selbst nur wenige Blumen von außen aufgestickt hatte. So blieb Ursula von einem Geheimnis umgeben, das ihn reizte. Hatte er nicht ihre Stimme, um sich daran zu berauschen? Flutete ihm nicht aus den dunklen Augen heiße Leidenschaft entgegen, die sein Senken verwirrte und sein Fühlen immer tiefer hineinzog in die glutende Flamme?

Auf der anderen Seite war es kein Wunder, daß Ursula alles erfuhr über ihn und durch ihn, ohne daß er sich klar darüber wurde, wie sie seine Seele durchblätterte. Es blieb ihr nicht verborgen, daß er den Zipfel des Schleiers in der Hand hielt, als er den Zusammenhang zwischen Fröhden und der Talbot argwöhnte. Sie wußte, daß in seiner Seele die Frage schlummerte: Wer sandte jene Zeilen, die den Grund legten zu dem Verkehr zwischen ihnen beiden. Ohne mit der Wimper zu zucken, plauderte sie mit ihm über diese und ähnliche Dinge und brachte selbst allerhand Möglichkeiten vor, wie es gewesen sein könnte.

Mußte sie nicht fürchten für sich und den Bruder?

Nein! Walter Schmidt lag in ihren Händen wie Wachs. Sie durfte ihn formen, wie es ihr gefiel. Sie konnte ihn lenken, wohin sie wollte.

Weshalb liebte sie ihn?

Er hatte Tausende seinesgleichen in dieser Stadt und in jeder anderen, Tausende, die mehr waren als er.

Weshalb liebte sie ihn?

Wohin die Liebe fällt, dahin fällt sie. Kein Mensch vermag etwas dagegen zu tun. Aber weil sie ihn liebte, darum mußte sie ihn führen und auch den Bruder, damit die beiden nicht aufeinanderstießen, damit ihr die Wahl erspart blieb zwischen dem einen und dem anderen.

Mit mildem Wort und sanften Augen redete sie Walter Schmidt alle Gedanken aus, die er jemals betreffs Fröhden gehegt. Und Walter glaubte nun, daß Schwenndieck ein Sonderling war, der freiwillig den Tod gesucht, nachdem er sein Vermögen einem Wahn geopfert. Er sah ein, daß die Talbot ein zigeunerhaftes Weib war, ohne eine Ahnung von Fröhden, ohne jede Beziehung zu diesem Mann, aber ausgerüstet mit der prophetischen Gabe, die manchen Frauen ihres Stammes verliehen ist. Er verstand, daß jene erste Einladung ein Scherz war eines Bekannten, der dadurch unbewußt das Fundament gebaut zu dem schönen Seelenbunde mit Ursula. Und wo er ihren Worten nicht glaubte, wo er nur Musik hörte aus ihrem Munde, ohne die Bedeutung zu prüfen, da glaubte er ihren nachtschwarzen Augen und dem leisen Druck ihrer Hand.

An jenem Abend im »Rheingold« ging Ursula einen Schritt weiter auf dem Wege, auf den den Freund zu führen sie sich vorgesetzt hatte. Walter erfuhr, daß sie fort wollte, fort sollte von ihm – weit über das Meer mit jener alten Dame, deren Gesellschafterin sie angeblich war.

Walter war mehr als bestürzt. Entgeistert starrte er sie an. Dann sprudelte es hervor in überstürzten Worten. Von ihm wollte sie gehen? Das durfte sie nicht, sollte sie nicht! Das konnte sie ihm nicht antun!

Niemals würde er in eine Trennung willigen – niemals!

»Sie haben gut reden, lieber Freund! Ein junges Mädchen ohne Mittel, ohne Schutz gleicht dem armen Vöglein, dem sein Nest zerstört wurde. Es flattert angstvoll herum, hierhin und dahin, froh, wenn es einen schützenden Zweig findet, der ihm vorübergehende Herberge gibt. Frau Konsul meint es gut mit mir. Sie ist mehr meine mütterliche Freundin als meine Herrin. Weshalb sollte ich ihr nicht folgen in das Land, in dem ich geboren bin?«

»Und ich? Wo bleibe ich? Was wird aus mir? Ursel, für mich gibt es kein Leben mehr ohne Sie! Muß ich es Ihnen erst sagen!«

»Nein, Walter, das brauchen Sie nicht zu sagen. Das weiß ich aus mir selbst, weil ich dasselbe fühle. Auch für mich ist die Zukunft eingeschlossen in die Gemeinschaft mit Ihnen. Aber müssen Sie hier bleiben? Was hält Sie in diesem Lande der streng geschiedenen Stände und der abgezirkelten Lebensverhältnisse? Dort drüben ist Platz. Dahin gehören Leute mit Ihrem Geist und Ihren Gaben. In dem Lande der unbeschränkten Freiheit führt auch Ihr Weg hinauf zur Höhe. Jugend und Schönheit, Glück und Liebe warten auf Sie – dort drüben! War Ihnen nicht auch Reichtum verheißen? Wo wollen Sie ihn hier gewinnen in diesem Lande? Ein Weib tritt in Ihr Leben – sagten Sie nicht, daß die Verheißung so lautete? Nun wohl, denken Sie, ich sei dieses Weib – Sie werden mir folgen, Walter!«

»Drüben werden Sie meinen Augen entschwinden.«

»Wenn Sie jetzt heimgehen, sehen Sie den Nordstern an. Er bleibt auf seinem Platz unbeweglich, unverrückbar. So warte ich auf Sie!« Sie streckte ihm die Hand hin. »Walter, lernen Sie glauben an Ursula, an den Nordstern! Zu ihm schauen Sie auf, wenn ich nicht bei Ihnen bin. Von dort oben winke ich herab: Walter, komm!«


Am nächsten Morgen ging Ursula wieder dem Postboten bis an die Gartenpforte entgegen, um die eingelaufenen Briefschaften in Empfang zu nehmen. Im Zurückgehen sah sie die Adressen durch. Dabei fiel ihr ein Umschlag auf, der in der Ecke eine mexikanische Marke trug. Trotzdem der Brief die Adresse der Frau Konsul zeigte, steckte ihn Ursula in ihre Tasche.

Eine Stunde später schon stieg sie die Treppe zu Fröhdens Wohnung hinauf.

»Lies dies!«

Er nahm den Brief aus ihrer Hand und sah die Aufschrift an. »Weshalb erst lesen? Da er geschrieben hat, ist er nicht tot. Das übrige interessiert mich nicht. Ob er kommt, wirst du mir sagen.«

»Jawohl, er kommt. Er betrachtet die Seereise gewissermaßen als Kur. Das Datum der Abreise ist nicht angegeben, ebensowenig der Name des Schiffes.«

»Darauf kommt es nicht an. Da ich eine derartige Wendung von vornherein als möglich ins Auge faßte, kann sie mich jetzt nicht überraschen.«

»Was denkst du zu tun?«

»Ich werde Frau Konsul mitteilen, daß eine Geschäftsdepesche mich sofort nach Amerika ruft, und ihr anheimstellen, ob sie uns begleiten will. Wenn du die Zeit in ihrem Hause gut angewendet hast, wird sie wollen. – Aber etwas anderes, Ursel!« Er sah ihr starr ins Gesicht. »Wo warst du gestern abend?«

»Mit Herrn Schmidt im ›Rheingold‹. Es war übrigens nicht das erste Mal, daß wir uns getroffen haben.«

»Ich ahnte dergleichen. Als er mich verließ, hätte ich ihm folgen können. Ich tat's nicht. Welchen Zweck konnte es auch haben, ob ich euch zusammensitzen sah!«

»Statt dessen hast du das Hausmädchen bei Götze gefragt.«

»Ich wollte Gewißheit haben.«

»War das Gewißheit?«

»Laß uns doch nicht Verstecken spielen, Ursel! Ich kenne dich und weiß, wen du kennst. Als du gestern nicht im Hause warst, stand es für mich fest, wessen Gesellschaft dich fernhielt. Du spielst um Kopf und Kragen, Ursel. Scheint dir der jetzige Augenblick wirklich geeignet zu einem Flirt mit unserem Todfeind?«

»Ich füge mich dir, wo du recht hast, George. In diesem Fall sehe ich schärfer als du! Hinter Walter Schmidt steht seine ganze Sippe, in der jeder weiß, was er entdecken will. Er selbst ahnt den Zusammenhang zwischen dir und Schwenndieck, zwischen dir und der Talbot. Er war nahe daran, auch den Zusammenhang zwischen mir und der Talbot zu finden.«

»Und darum wiederhole ich meine Frage: Hältst du diesen gefährlichen Menschen für geeignet, um mit ihm zu flirten? – Ich verstehe dich nicht, Ursel!«

»Du wirst mich im Augenblick verstehen. Er liebt mich, er ist Wachs in meinen Händen. Seine Vermutungen hat er mir alle anvertraut. Seine Gedanken liegen vor mir wie ein aufgeschlagenes Buch. George! solange ich sein Beichtiger bin, ist Walter Schmidt vollständig ungefährlich. Siehst du das nicht ein?«

»Solange du es bist! Der Augenblick kommt aber, da du es nicht mehr sein wirst, da er erkennt, daß du mit ihm gespielt hast. Dann wird seine Liebe in Haß umschlagen. Er ist gefährlich schon jetzt, wenn wir unsere Abreise wegen Götzes Ankunft beschleunigen müssen.«

»Überlaß ihn mir, George! Ich stehe dafür ein, daß er dir, daß er uns niemals gefährlich wird. Genügt dir das nicht?«

Fröhden zuckte stumm die Achsel, nahm seinen Hut und begleitete seine Schwester zu Frau Götze.

Die Geschwister saßen bald darauf der alten Dame gegenüber.

»Niemand bedauert mehr als ich, daß mir ein Kabeltelegramm die Möglichkeit abschneidet, meinen Aufenthalt hier noch länger auszudehnen,« sagte Mr. Allington. »Ich muß mit dem nächsten Schiff zurück. Im Geschäft sind wir schließlich alle nur Sklaven. Schon morgen fahre ich nach Hamburg, wo ich noch einiges zu erledigen habe. Wenn es aber Ihren Absichten auch jetzt noch entspricht, sich auf der Überfahrt uns anzuschließen, verehrte Frau Konsul, so wird Ursula gern noch einen Tag oder zwei bei Ihnen verweilen, um Sie alsdann nach Hamburg zu begleiten.«

»Weshalb sollte ich schwankend werden, wenn auch die Abreise ein paar Tage früher erfolgen soll, als wir dachten? Seit ich den Entschluß gefaßt habe, selber eine Handvoll Erde vom Grabe meines Gatten auf der letzten Ruhestätte meines Sohnes niederzulegen, habe ich in aller Ruhe meine Abreise vorbereitet. Mein Haus mit der ganzen Einrichtung übergebe ich einem Makler. Er mag ein paar alte Leute hineinsetzen, die mir alles in Ordnung halten, bis ich wiederkomme oder sonst darüber verfüge. Und was die Geldsache anlangt, die ist bereits nach Ihrem Rat erledigt, Mr. Allington.«

Frau Konsul ging zu ihrem Schreibtisch. Einer Schublade desselben entnahm sie ein Papier.

»Hier ist der Ausweis, daß mein Bankier vierhunderttausend Mark an die Anglo-Deutsche Bank zur Überweisung auf das Konto Allington in Mexiko eingezahlt hat. Wo ich bin, soll mein Vermögen auch sein. Natürlich bleibt mir noch genügend Reisegeld. – Also ich bin bereit und reise mit, und wenn es morgen sein soll. Hauptsache ist mir, daß ich mich von meiner lieben Ursel nicht zu trennen brauche.«

»So erübrigt nur, daß ich Ihnen einen gleichwertigen Scheck ausfertige, Frau Konsul.«

»Das eilt wirklich nicht, Mr. Allington.«

»In Geldsachen soll alles Zug um Zug gehen, Frau Konsul. Wir sind nicht Herr über Leben und Tod – leider! Auch ich bin ein sterblicher Mensch. Im Notfall ist ja freilich Ursel da. Indessen Ordnung ist die Seele vom Geschäft.«

Mr. Allington zog sein Scheckbuch hervor und schrieb. Dann reichte er der alten Dame das Blatt.


Wassermann hielt sich den Kopf mit beiden Händen. – Wie konnte er nur! Wie durfte er nur! Von dieser Schuld vermochte ihn nichts loszusprechen – nichts in der ganzen Welt. Er hatte die Damen Kemnitz ja nicht gekannt. Aber war das eine Entschuldigung für ihn? Im Gegenteil!

Seine Unrast wuchs immer mehr. Er bereute sein Unrecht tief. Völlig zerknirscht war er. Aber er war zugleich ein guter Mensch, er sehnte sich nach Vergebung.

Frau Kemnitz hatte versichert, daß sie ihm nicht mehr böse sei – gewiß! Sogar die Hand hatte sie ihm darauf gegeben. Aber durfte er sich damit begnügen? Konnte er wissen, ob nicht ganz tief in ihrem Herzen doch noch ein Fünkchen Groll übrig blieb, das nun in seiner Abwesenheit zu hellen Flammen aufschlug? Darauf durfte er es nicht ankommen lassen. Nur ein Mittel gab es, die Sache ins Lot zu bringen: er mußte zu Frau Kemnitz gehen und sich noch einmal entschuldigen.

Als sich der brave Wassermann zu dieser Erkenntnis durchgerungen hatte, hörte seine Unrast auf. Sie machte sogar einer bemerkenswerten Entschlossenheit Platz. Wenn er schon gehen wollte, weshalb tat er's nicht gleich? Weshalb die Sache erst aufschieben? Ein Mensch ist ein sterbliches Wesen. Er selbst konnte sterben, Frau Kemnitz konnte sterben –

Der letzte Gedanke erschreckte Wassermann derart, daß er sofort seinen besten Anzug aus dem Kleiderschrank nahm und sich fertig machte.

Unterwegs fiel es ihm ein, daß er eigentlich etwas mitbringen müsse, irgend ein Symbol seiner guten Absicht. Selbst die Taube wird als Friedensbringerin nicht ohne Ölblatt abgebildet. So erstand er in einem Blumenladen den schönsten Strauß, den er finden konnte.

Als er klingelte, öffnete Anna die Tür. »Onkel Was– Herr Wassermann!«

Die Überraschung leuchtete hell über ihr Gesicht.

»Weshalb nicht Onkel Wassermann? In der ganzen Verwandtschaft nennt kein Mensch mich anders.«

Das junge Mädchen errötete ein wenig. »Ich bin aber doch nicht Ihre Verwandte.«

Wassermann lachte. »Na, gut Ding will Weile haben.«

Was er damit meinte, blieb unausgesprochen. Gar zu jäh schoß die Purpurglut in Annas Wangen.

»Jetzt müssen Sie mich also unbedingt als Onkel anerkennen. Ich müßte sonst denken, Sie sind mir noch immer böse.«

»Weshalb?«

»Na wegen der dummen Idee. Wir sprachen ja neulich davon.«

»Ach so!« Anna lachte. »Kommen Sie nur herein! Mutter wird sich freuen, daß Sie wiederkommen. Sie hat wirklich ein bißchen gescholten hinterher.«

Nun stand Wassermann vor Frau Kemnitz.

»Ich hab's mir gedacht, daß der Groll noch nicht ganz verflogen ist. Sehen Sie, verehrte Frau Kemnitz, ich bin keine Taube, und was ich Ihnen hier bringe, ist kein Ölblatt, aber nehmen Sie's an zum Zeichen, daß Sie mir wieder ein bißchen gut – ich meine, daß Sie mir nicht mehr böse sind und mich nicht für einen schlechten Kerl halten.«

Frau Kemnitz errötete wie ein junges Mädchen.

Den Blumenstrauß nahm sie an, und es flog dabei etwas wie Freude über ihr Gesicht. »Nehmen Sie nur Platz, Herr Wassermann!«

Dann stand Anna Kemnitz vor Walters Onkel. Die Zündhölzerschachtel hielt sie schon in der Hand. »Die Zigarren sind in Ihrer Brusttasche, Onkel Wassermann. Das Feuer wartet schon.«

Da lachten alle.

Als der alte Herr nach einer Stunde Abschied nahm, tat er's nur ungern. Walter hatte er wieder nicht gesehen. Aber daran dachte er eigentlich nicht, das war ihm gar nicht so unlieb.

Jetzt durfte er doch wieder kommen!


Weniger hoffnungsfreudig sah Walter Schmidt augenblicklich in die Welt. Er hielt ein Schreiben von Ursula in der Hand, wenige Zeilen nur, aber völlig ausreichend, alle seine Luftschlösser in Schutt und Asche zu verwandeln. Er hatte fest darauf vertraut, ihr die Auswanderungsgedanken doch noch auszureden. Nun teilte sie ihm brieflich mit, daß sie in Gesellschaft von Frau Konsul bereits abgereist war. Allerdings nur bis Hamburg vorläufig. Dort gab es noch einigen Aufenthalt bis zur Ausreise des Schiffes. Aber an der Sache selbst war nichts mehr zu ändern. Nur um Tage konnte sich's handeln. Dann schwamm Ursula auf hoher See, und ihm selbst blieb nichts als der Nordstern, auf den sie ihn hingewiesen hatte als auf das Symbol der Beständigkeit und unwandelbaren Treue.

Mit vollem Bewußtsein und berechnender Absicht sei ihm der Tag der Abreise verschwiegen worden. Um sich selbst und ihm nutzlose Worte und Tränen zu ersparen, um einen Damm aufzurichten, über den sie nicht mehr zurückkönne, so schrieb Ursula. Dagegen würde sich vielleicht noch in Hamburg Gelegenheit bieten, einen letzten Händedruck zu wechseln, wenn er sich einen Tag freimachen könnte.

Walter lachte auf, hohnvoll und bitter. In Hamburg! Jawohl in Hamburg! Keine Adresse, kein Hotel, kein Ort war angegeben, wo er sie finden konnte, nicht einmal der Name des Schiffes, mit dem sie abreisen würde. Jawohl in Hamburg!

Und wieder lachte Walter bitter und hohnvoll.

Aber schon am nächsten Morgen waren Hohn und Bitterkeit in eine fieberhafte Spannung umgeschlagen.

Natürlich konnte Ursel ihm in Berlin noch nicht schreiben, wo sie in Hamburg zu treffen sei. Von dort aus würde schon noch Nachricht kommen, damit er sich freimachen konnte.

Nach Schluß des Geschäfts eilte er in seine Wohnung, um nachzusehen, ob ein Brief oder Telegramm für ihn angekommen war. Nichts! Er erinnerte sich, daß der Prokurist allein im Geschäft zurückblieb, um die letzte Post zu erwarten. Noch einmal lief er dorthin. Nichts!

Endlich am nächsten Morgen lief ein Telegramm für ihn ein.

»Mit Zug 11.7 abends hier – Hauptbahnhof. Sonntag für uns. U.«

Walter dachte wieder an den Nordstern. Sie hatte alles richtig berechnet. Am Sonnabend konnte er früh genug aus dem Geschäft gehen, um den Zug zu erreichen.

O Ursula!


Am Freitag gegen Abend wurde von Kuxhaven aus der Passagierdampfer »Pedro« gesichtet. Zwei Stunden später stiegen die Kajütenpassagiere ans Land, um mit der Unterelbischen Eisenbahn die alte Hansestadt Hamburg in einem Bruchteil der Zeit zu erreichen, deren das Schiff zur Fahrt stromauf benötigte.

Unter den Reisenden, die zwecks Zeitersparnis die Bahnfahrt vorzogen, befand sich Alfred Götze aus Mexiko. Während der Überfahrt hatte er die letzten Folgen seines Sturzes überwunden. Nun lag ihm daran, am Sonnabend in der Frühe die Reise nach Berlin fortsetzen zu können.


Getreu seinem Grundsatz, stets an verschiedenen Stellen zu Hause zu sein, hatte Fröhden auch in Hamburg zwei Gestalten und zwei Hotelwohnungen. Das große Reisegepäck war von Berlin aus durch die Schiffsagentur befördert worden. Das Flugzeug befand sich in Fuhlsbüttel, wo kürzlich – man schrieb das Fahr 1912 – der neue Flugplatz eröffnet worden war. So wurden weder Fröhden selbst, noch die Damen durch Koffer in ihrer Bewegungsfreiheit behindert. Wer Geld bei sich trägt, hat niemals etwas vergessen, meinte Fröhden.

Am Freitag abend begab sich Mr. Allington nach dem Schiffskontor, um sich betreffs der Ankunft des Dampfers zu unterrichten.

Die Auskunft befriedigte ihn. »Pedro« war bereits aus Kuxhaven signalisiert. Im Lauf des nächsten Vormittags sollte das Schiff am Amerikakai vertauen. Die Ausreise würde dann in längstens drei Tagen angetreten, doch sollten sich die Reisenden schon vom Montag ab bereithalten.

Befriedigt verließ Mr. Allington das Kontor.

Als er aus den Großen Bleichen in die Poststraße einbog, gewahrte er Ursula in einiger Entfernung vor sich. Sie kam aus dem Portal des Postgebäudes und schlug die Richtung nach dem Rathausmarkt ein. Bemerkt hatte sie ihn nicht. Allington machte einige schnelle Schritte, um die Schwester einzuholen. Er besann sich indessen plötzlich wieder anders und blieb absichtlich zurück.

Was hatte Ursula, ohne daß er davon wußte, in der Post zu besorgen? Irgend eine Korrespondenz unterhielt sie nicht, außerdem war für abzusendende Briefe ein Kasten am Hotel. Ihre einzige Bekanntschaft war jener Schmidt. Nur ihm konnte sie Nachricht gesandt haben. Die Verbindung war also auch nicht durch die Abreise unterbrochen worden.

Allington beschloß, seine Beobachtung zu verschweigen. Er wollte abwarten, ob Ursula ihren Ausgang selbst erwähnen würde.

Als er im Hotel mit der Schwester zusammentraf, deutete dieselbe mit keiner Silbe auf die Sache hin. Das machte ihn argwöhnisch. Hatte Ursula hinter seinem Rücken eine besondere Verabredung mit Schmidt getroffen? Sie schien sich überhaupt nicht mehr an Schmidt zu erinnern. Das stimmte nicht zu ihrem ganzen Charakter. Irgend etwas ging da vor. Er beschloß, die Augen offen zu halten.

 

Am Samstag abend fühlte sich Frau Konsul recht abgespannt, so daß sie sich früh zur Ruhe begab. Allington schlug seiner Schwester noch einen kleinen Spaziergang vor, an den sich der Besuch eines Kaffeehauses schließen sollte. Ursula schien einen Augenblick zu schwanken, dann willigte sie jedoch ein.

Während des Spazierganges an der Alster und auch nachher im Café glaubte Allington eine gewisse Unruhe an seiner Schwester wahrzunehmen. Gegen ihre Gewohnheit blickte sie in kurzen Zwischenräumen nach der Uhr.

»Du bist zerstreut, Ursel! Fehlt dir etwas?«

»Müde bin ich.«

»Erwartest du jemand?«

»Nein! – Wie kommst du auf den Gedanken?«

»Weil du jeden Augenblick nach der Uhr siehst.«

»Tue ich das? – Dann geschieht es eben ganz unbewußt. Aber ich fühle mich wirklich müde und möchte nach dem Hotel fahren. Du brauchst dich dadurch nicht stören zu lassen, George.«

Es war ihm nicht gelungen, das leiseste Zucken in Ursulas Gesicht zu erkennen. Kein Stocken ihrer Stimme, keine Schwankung im Ton deutete darauf hin, daß sie etwas anderes im Sinne hatte, als sie sagte. Ruhig und gleichmäßig kamen die Worte über ihre Lippen, und schon stand sie auf, um dem Entschluß die Ausführung folgen zu lassen.

Allington zollte ihrer Selbstbeherrschung alle Anerkennung. So war sie ganz seine Schwester. Aber er glaubte ihr in diesem Augenblick kein Wort. »Wie du meinst, Ursula,« sagte er. »Was mich betrifft – ich möchte tatsächlich noch ein Stündchen bleiben.«

Er begleitete die Schwester nach draußen. Vor dem Café auf dem Platz hielten Auto. Er rief eines herbei, Ursula stieg ein und nannte dem Führer ihr Hotel.

»Angenehme Ruhe!« rief Allington ihr nach, dann ging er wieder ins Lokal zurück. »Wenn es ist, wie ich denke, muß ich sie auf dem Hauptbahnhof sehen,« überlegte er.

Er rief den Kellner und bestellte das Kursbuch. Er verglich seine Uhr mit den angegebenen Zeiten und nickte befriedigt. »Elf Uhr sieben Minuten läuft der Schnellzug aus Berlin ein. Ein anderer kommt nicht in Frage.«

Kurz darauf verließ Allington das Lokal in gemächlichem Schritt. Mit ein paar Handgriffen entledigte er sich draußen der Frisur und des Bartes, die ihn zu Allington machten. Nun hatte er wieder Fröhdens Aussehen. Er betastete seine Tasche. Der Revolver befand sich an seinem Ort. Dann rief er ein vorüberfahrendes Auto an und stieg ein.


Der Chef hatte nichts dagegen, daß Walter Schmidt auf seinen Wunsch am Sonnabend etwas früher aus dem Geschäft fortging. So bestieg der junge Mann, die kleine Handtasche in der Rechten, rechtzeitig den Eilzug, der zur Abfahrt nach Hamburg bereitstand.

Nachdem er sich eines Platzes versichert, stellte er sich ans Fenster, um die Nachkommenden zu mustern, aber der Andrang schien nicht gar groß, und Walter war auch zu sehr mit sich selbst beschäftigt.

»Noch vier Stunden!« weiter vermochte er nichts zu denken. Alles andere glitt schemenhaft an ihm vorüber.

Schon wollte der Beamte den Signalstab mit der Scheibe zum Zeichen der Abfahrt aufheben, als atemlos ein verspäteter Reisender herbeistürzte. Kaum hatte er den Wagen erklettert, als der Zug sich in Bewegung setzte.

Walter sah die Zurückbleibenden auf dem Bahnsteig an sich vorübergleiten. Schon nach wenigen Minuten war das letzte wehende Taschentuch seinen Blicken entschwunden.

Er hatte gehofft, in seinem Abteil allein zu bleiben. Als er sich jetzt umwandte, sah er, daß gerade der Nachzügler sich in demselben niederließ.

Der Fremde mochte etwas über dreißig Fahre zählen. Das sonnengebräunte energische Gesicht war umrahmt von dem kurzgeschnittenen Vollbart, die Gestalt sehnig und straff. War der Mann kein Ausländer, so mußte er doch lange im Auslande unter einer heißeren Sonne gelebt haben.

Unaufhaltsam brauste der Zug dahin. Walter überließ sich den Gedanken an das erhoffte Wiedersehen und achtete nicht auf den Flug der Zeit. Auch der Fremde schien ganz und gar mit sich selbst beschäftigt. Bald warf er sich auf das Polster des Abteils, dann wieder sprang er auf, um vom Gang aus in die vorüberfliegende Landschaft zu schauen. Dabei hatte er jeden Augenblick die Uhr in der Hand. Es schien, als ob ein einziger Gedanke den Mann vollständig im Bann hielt, ihn peitschte, im Geist dem Zuge vorauszueilen, dem er doch nicht entrinnen konnte.

In Wittenberge gab es kurzen Aufenthalt. Die beiden Herren blieben auch jetzt noch allein.

Immer weiter brauste der Zug. Walter rechnete schon nach Minuten. Wo würde Ursula ihn erwarten? Im Geiste sah er die nachtschwarzen Augen – bald, bald!

Die Stimme des Mitreisenden schreckte ihn aus seinen Gedanken. »Entschuldigen Sie! – Mein Name ist Götze. – Sind Sie vielleicht in Hamburg bekannt?«

»Nicht sehr. Aber immerhin – vielleicht kann ich Ihnen dienen. Ich war bereits mehrere Male dort.«

»Können Sie mir sagen, wo sich die Polizei befindet?«

Walter mußte lächeln. »Das weiß ich allerdings nicht. Aber wenn Sie ein Auto nehmen, fährt Sie das bis vor den Eingang der Polizeidirektion.«

Der Fremde sah ihm starr ins Gesicht, wie geistesabwesend. Einen Augenblick nur. Dann irrte etwas gleich dem Schatten eines Lächelns über sein Gesicht.

»Danke! – Entschuldigen Sie!«

Der Zug verminderte seine Geschwindigkeit, polterte über die Weichen.

Walter griff nach seiner Handtasche und schritt zum Ausgang des Wagens. Keine Minute wollte er verlieren.

Dumpfes Brausen. Man fuhr in die Halle. Walter sprang aus dem Wagen. Seine Augen suchten Ursel – nur Ursel!

Suchend ging er am Zug entlang den Bahnsteig hinunter. Hastende Menschen stießen gegen ihn, er merkte es nicht. Ursel – nur Ursel!

Jenseits der Sperre stand eine einzelne Dame. Ein Mantel umhüllte die Gestalt, das Gesicht verbarg sich hinter einem Schleier. War sie es – war es Ursel?

Zwischen drängenden Menschen durchschritt Walter den Engpaß der Sperre. Kaum war er hindurch, da fühlte er eine Hand auf seinem Arm. Ein Wort schlug an sein Ohr – halb geflüstert: »Walter!«

Er wollte stehen bleiben, ihre Hand fassen. Sie drängte ihn vorwärts. »Nicht hier! Nicht auffallen! Draußen sind Wagen!«

Seinen Arm hielt sie aber fest.

Die beiden hatten keinen Gedanken für ihre Umgebung, keine Augen. So gewahrten sie den Mann nicht, der etwas abseits am Ausgang die Ankommenden musterte. Aber Fröhden sah Walter Schmidt, er wußte, wer an seinem Arm hing.

»Das sind sie! Nun hab' ich ihn ja hier – entwischen soll er mir –«

Der Gedanke erstarb in Fröhdens Seele. Seine Augen ruhten starr auf dem Gesicht jenes anderen Mannes, der im Bahnhofausgang zwischen den hastenden Menschen auftauchte. Wie eine Vision erstand ein längst vergessenes Bild vor seinem Geiste.

 

Im mexikanischen Gebirge war es, Meilen entfernt vom nächsten Wohnort der Menschen. Zur Rechten und zur Linken himmelstrebende Baumriesen. Am Boden tropisches Unterholz, undurchdringliches Gestrüpp.

Auf der Straße hin sauste das Auto. Vorn der Chauffeur, die Hände am Lenkrad, neben ihm die Schwester, die mitfahren sollte bis zur nächsten Stadt.

Hinten im Fond Alfred Götze, der Besitzer des Wagens, in tiefe Gedanken versunken. Fünfzehntausend Dollar trug er in der Tasche. Der Chauffeur wußte es, desgleichen das Mädchen neben ihm.

Plötzlich hielt das Auto. Der Chauffeur stieg ab, als ob er etwas nachsehen müßte.

»Was gibt's?« fragte der Herr. Da starrte er schon in die schwarze Mündung des Revolvers.

»Hände hoch!«

Götze gehorchte ohne Zögern. Jederzeit gilt das Leben mehr als der Besitz.

Die Schwester des Chauffeurs begann die Taschen des Herrn zu durchsuchen. Die fünfzehntausend Dollar wollte sie haben.

Da erklang die Hupe eines anderen Autos in der Ferne. Einen Augenblick nur wendete der überraschte Chauffeur die Augen von seinem Opfer. Die Zeit reichte aus, dem bedrohten Mann den Sprung aus dem Wagen zu erlauben. Laut scholl sein Hilferuf den Ankommenden entgegen.

Mit einem Fluch sprang der Chauffeur seitwärts ins Gebüsch. Ihm folgte die Schwester – mit leeren Händen. Der Busch entzog beide der Verfolgung.

 

Blitzschnell zuckten diese Bilder jetzt durch Fröhdens Hirn, denn jenes Gesicht, das dort auftauchte im Strudel hastender Menschen, gehörte Alfred Götze, den er zum letzten Male gesehen hatte im mexikanischen Waldgebirge. Der Mann war nach Deutschland gekommen. Er kam jetzt aus Berlin. Fröhden wußte, zu welchem Zweck.

Walter Schmidt und seine Begleiterin waren inzwischen verschwunden. Um Ursel sorgte Fröhden sich nicht. Sie würde wiederkommen. Jetzt galt es drängenderer Gefahr zu begegnen, als Schmidt sie verkörperte. Götze war in Hamburg. Er suchte seine Mutter.


Als Götze gegen Mitternacht vor dem Gebäude der Polizeidirektion anlangte, waren die Tore natürlich längst geschlossen.

»Das beste ist, wir fahren nach der Hauptwache, denn die ist Tag und Nacht offen,« sagte der Führer des Wagens.

Gleich darauf stand Alfred Götze im Wachtlokal.

Der Beamte hörte den Reisenden ruhig an. »Was wünschen Sie nun, das geschehen soll?«

»Alles, was erforderlich ist, um den Aufenthaltsort meiner Mutter festzustellen und der Verbrecher habhaft zu werden. Bestimmte Ratschläge kann ich natürlich nicht geben.«

Der Polizeibeamte wippte seinen Bleistift zwischen den Fingern. »In diesem Augenblick können wir überhaupt nichts tun. Es ist mitten in der Nacht. Morgen werden wir Sie bei den Nachforschungen nach Ihrer Frau Mutter gern unterstützen. Von dem Ergebnis der Erkundigungen wird dann das weitere abhängen. Ich bitte Sie, zu bedenken, daß ein zwingender Grund zur Annahme eines Verbrechens zurzeit keineswegs vorliegt.«

»Ich habe aber doch in Berlin festgestellt, daß zwei angebliche Mexikaner bei meiner Mutter ein und aus gegangen sind. Die Frauensperson hat sogar bei ihr gewohnt. Nun sind sie allesamt verschwunden. Ist das nicht Grund genug?«

»Zur Beunruhigung für Sie – vielleicht. Zum Einschreiten für uns – nein! Ich meine, der Zufall führte Ihre Frau Mutter mit zwei Leuten zusammen, die aus Amerika abgereist sind, nachdem sie von Ihrem Absturz gehört hatten, aber nicht von Ihrer Genesung. Sie selbst haben, wie Sie sagten, Ihrer Frau Mutter telegraphisch Mitteilung von dem Unfall gemacht, dessen Opfer Sie wurden. Sie haben ihr später den Entschluß, nach Deutschland zu kommen, angekündigt, ohne bestimmte Zeitangabe. Es ist zu vermuten, daß die Frau Konsul die letzte Mitteilung überhaupt nicht erhalten hat. Voll mütterlicher Sorge schloß sie sich den beiden Reisenden an, um selbst den Sohn aufzusuchen, wobei ein Zufall es so unglücklich fügte, daß die Wege der sich Suchenden aneinander vorbeiführten. Das ist einfach und logisch. Ihre Frau Mutter befindet sich im Vollbesitz ihrer Kräfte. Daß junge Mädchen entführt oder verschleppt werden, ist leider nicht selten, betreffs älterer Damen ist dergleichen weit weniger wahrscheinlich. Alles spricht dafür, daß die Dame sich den Reisenden freiwillig angeschlossen hat. Sie selbst haben das Schiff gestern abend in Kuxhaven verlassen. Der ›Pedro‹ liegt zurzeit am hiesigen Kai und ist vermutlich von Ihrer Frau Mutter zur Überfahrt in Aussicht genommen. Wenn Sie morgen früh im Kontor der Reederei und in den hiesigen Hotels nachfragen, werden Sie die Reisenden schon finden. Von dem Ausfall Ihrer Erkundigungen wird es dann abhängen, ob für uns ein Anlaß zum Einschreiten gegeben ist.«

Bei den letzten Worten hatte sich der Beamte erhoben. Götze erkannte, daß die Unterredung zu Ende war. So empfahl er sich, etwas enttäuscht zwar, aber doch in gewissem Sinn beruhigter.

Draußen wartete noch das Auto, das ihn nun nach dem nächsten Hotel fuhr.


Walter Schmidt saß neben Ursula auf dem Rücksitz des Autos. Die Hände hatten sich gefunden.

»Ich danke dir, Walter, daß du gekommen bist.«

»Ich danke dir, Ursula, daß du mich gerufen hast.«

Dann war es wieder still zwischen den beiden.

Vor einem Café am Gänsemarkt stiegen sie aus. Dann saßen sie beisammen an einem der kleinen runden Tische. Das duftige Getränk stand vor ihnen, aber sie ließen es unberührt. Die Augen ruhten ineinander, bald fanden sich auch die Hände wieder.

»Du Lieber!«

»O Ursula, das waren erst wenige Tage! Wie soll ich die Trennung ertragen in der langen, langen Zeit!«

»Ich werde dir schreiben, Lieber, und du wirst mir antworten. Und sieh, damit du mich nicht ganz vergißt, wenn ich fort von dir bin, habe ich dir etwas mitgebracht.« Aus ihrer Handtasche nahm sie einen steifen Umschlag. »Ich habe mich vorher noch niemals photographieren lassen, Walter. In meinem ganzen Leben noch nicht. Und auch jetzt, vor meiner Abreise aus Berlin, nur für dich, ganz allein für dich. Damit du mich ganz allein hast, durfte der Photograph nur ein Bild anfertigen. Die Platte habe ich gekauft und sofort vernichtet. Es gibt in der ganzen Welt keinen Menschen, der ein Bild von mir besitzt oder besitzen wird außer dir. Ursel ist dein ganz allein. – Da hast du mich nun!« Sie reichte ihm das Bild. »Gefalle ich dir?«

Er nahm das Bild aus dem Umschlag und ließ die Augen zwischen diesem und dem lebenden Original hin und her gehen. »Wen man liebt, der gefällt einem nicht, den liebt man. Aber schön bist du, Ursel! Unendlich schön!«

»Ein Engel!« sagte sie neckend. »Ein Engel – aber nur für dich, für die anderen ein Teufel!«

»O Ursel, wie soll ich dir danken!«

»Danken sollst du mir gar nicht, liebhaben sollst du mich!«

Er schob das Bild in den Umschlag zurück und barg es in seinem Taschenbuch. »Vorläufig suchen meine Blicke noch den Strahl der lebendigen Augen. Das Bild wird bald genug mein einziger Trost sein.«

»Nun erzähle mir etwas von der Reise! Wie war's unterwegs? Hast du Gesellschaft gehabt?«

Walter erzählte von dem starren Schrecken, in den ihn Ursulas unerwartete Abschiedszeilen versetzten, und daß er nicht eher Rast gefunden, als bis ihr Telegramm ihn erreichte.

Sie drückte ihm wortlos die Hand.

Dann fiel ihm sein seltsamer Reisegefährte ein. Er berichtete ihr davon. »Götze nannte er sich. Offenbar war's ein Ausländer. Aber die Frage nach der Adresse der Hamburger Polizei brachte mich doch beinahe zum Lachen.«

Ursel hörte zu, ohne mit der Wimper zu zucken. Als der Name Götze an ihr Ohr schlug, setzte ihr Herzschlag einen Augenblick aus, aber nur einen Augenblick. Dann war sie wieder völlig Herrin ihrer selbst. »Ein Ausländer, sagst du? Woher kannst du das wissen?«

Die Frage klang völlig ruhig.

»Nun, das sieht man doch! So eine Haut wie aus Pergament gibt's hierzulande nicht. Und dann der kurzgeschorene schwarze Bart, und die Kleidung – na, der ganze Mann, wie das eben so ist.«

»Und der wollte noch mitten in der Nacht nach der Polizei? Dann hatte man ihm wohl das Reisegeld gestohlen?«

»Davon weiß ich nichts. Nur furchtbar aufgeregt schien der Herr. Er lief immer hin und her zwischen seinem Platz und dem Fenster, als ob er die Zeit nicht abwarten könnte, bis wir in Hamburg waren.«

»Götze sagtest du? – Das ist ja derselbe Name, den meine Frau Konsul trägt.«

»Jetzt fällt mir's auch auf, Ursel. Ein Verwandter vielleicht?«

»Ich glaube kaum – und wenn auch. Mir kann's schließlich gleich sein.«

In völlig ruhigem Ton plauderte Ursel noch von gleichgültigen Dingen. Sie drückte Walter die Hand, so oft er ihre Rechte suchte, bis sie plötzlich nach der Ahr sah.

»Mein Gott, schon über zwölf. Ich muß jetzt machen, daß ich ins Hotel komme!«

»Eine Viertelstunde noch, Ursel – bitte! Die Trennung war so lang und liegt noch länger vor uns!«

Sie nahm seine Hand und streichelte sie. »Nicht so, Walter! Meine Dame ist natürlich längst zur Ruhe gegangen, aber ich darf die Freiheit, die sie mir läßt, nicht mißbrauchen. Leb wohl, Lieber! Morgen ist auch noch ein Tag!«

»Darf ich dich nicht begleiten?«

»Bis ans Auto – weiter nicht! Übrigens bin ich in weniger als fünf Minuten am Hotel. – Komm, bring mich zum Wagen!«

Draußen hielten wartende Autos in längerer Reihe. Ursel stand noch einmal still. »Lebe wohl, Walter!«

Er ergriff ihre Rechte. »Auf Wiedersehen, Ursel! Aber du hast mir ja noch nicht gesagt, wo ich dich morgen finde!«

Einen Augenblick senkte sie die Augen. Blitzgleich zuckten die Überlegungen durch ihren Kopf. Ein Ausländer, der in höchster Aufregung die Polizei suchte Götze. Unter allen Umständen mußte sie noch heute ihren Bruder sehen und sprechen. »Warte um zehn Uhr auf der Esplanade beim Kriegerdenkmal. Es fällt nicht auf, wenn du es besiehst, auch wenn ich nicht ganz pünktlich bin. – Gute Nacht, Walter!«

Einen Augenblick ruhten die Hände zum Abschied ineinander. Dann legte sie plötzlich beide Arme um seinen Hals.

»Leb wohl, Walter!« Ihre Lippen berührten seinen Mund. »Vergiß mich nicht! Ich hab' dich lieb!«

Es klang fast wie verhaltenes Weinen.

Ehe er noch ein Wort erwidern konnte, saß sie im Wagen. Das Auto raste fort, bevor er noch ein Wort über die Lippen brachte.

In halber Betäubung stand Walter auf der Straße. Was war das gewesen? Was war plötzlich über Ursula gekommen?

Er starrte dem Wagen nach, bis er an der Ecke verschwand.


Ursel sah nicht rückwärts. Das Schicksal hatte drohend die Hand erhoben. Man muß stets den schlimmsten Fall ins Auge fassen, pflegte ihr Bruder zu sagen. An der Seite des Bruders war jetzt ihr Platz. Wo aber sollte sie ihn suchen? Nur Stunden blieben, wenn sie dem drohenden Schlage ausweichen wollten. Mit dem Licht des Morgens erwachte die Rache.

Ursel sah nicht rückwärts. Ihr Gesicht blieb völlig unbewegt. Auch darin folgte sie den Lehren des Bruders. Hüte dich zu jeder Zeit vor Gesten und Gebärden! Sie bessern nichts und nie. Wenn die Seele bewegt ist, bildet der Körper die Resonanz. In Gesicht und Bewegung verrät sich die Stimmung, aber Gesichtsausdruck und Geste schaffen auch die Stimmung. Beherrsche dich selbst, so beherrschest du die Menschen.

Vor dem Hotel stieg Ursel aus dem Wagen. Sie zögerte, bis der Chauffeur davongefahren war. In einiger Entfernung bemerkte sie eine Männergestalt, die sich langsam auf dem Bürgersteig bewegte. »Das ist George!« fuhr es durch ihren Sinn. Sie ging ihm entgegen.

Als ihre Schritte neben ihm klangen, wendete Fröhden sich an sie. Er redete sie in englischer Sprache an. »Guten Abend, Ursel! Ich habe auf dich gewartet.«

»Ich war ratlos, wie ich dich finden sollte. Ich muß mit dir reden!«

»Sprich nicht so laut, Ursel! Laß uns drüben die Straße entlang gehen, das fällt nicht auf. Ich weiß, aus wessen Gesellschaft du kommst.«

»Aber du weißt nicht, was ich erfahren habe.«

»Ich weiß es, Ursel! Es ist jemand angekommen, der seine Mutter sucht. Ich sah ihn selbst, als du mit deinem Freund den Bahnhof verließest. Seitdem erwarte ich dich.«

»Er ist es wirklich, meinst du?«

»Kein Zweifel, Ursel. Schließlich muß ich mich noch bei deiner Empfindung für diesen Schmidt bedanken. Ohne deine abenteuerliche Idee, ihn hierher zu bestellen, säßen wir morgen früh in der Falle. Er kann nur mit dem ›Pedro‹ eingetroffen sein.«

»Und nun?«

»Wenn's nur die Sache mit der alten Dame wäre, brauchten wir uns nicht sonderlich aufzuregen. Was bis jetzt geschehen ist, mag dunkel und verdächtig sein, aber der Sohn wird sich freuen, wenn er die Mutter wiederfindet. Doch wenn er uns sieht, wacht die alte Geschichte wieder auf. Kein Mensch kann wissen, was sonst noch an den Tag kommt. Wir müssen fort.«

»Du siehst, ich stehe an deiner Seite, wie immer.«

»In dem Sinn habe ich niemals an dir gezweifelt. Ich will's nicht leugnen, vielleicht hätte der Mann deiner Sehnsucht Hamburg überhaupt nicht lebend verlassen. Vielleicht hätte ich es mir auch anders überlegt – das ist jetzt vorbei. Uns frommt nur noch sofortiges Verschwinden.«

»Aber wie? Eisenbahnen, Schiffe, Autos können wir nicht benützen, ohne Spuren zu hinterlassen, die uns verraten müssen.«

»Morgen früh beginnt die Suche nach der alten Frau und nach den Geschwistern Allington. Von Fröhden und seiner Schwester weiß kein Mensch etwas. Das wird unsere Rettung.«

»Ich verstehe nicht –«

»Bis es hell wird, bleibt jeder von uns in seinem Hotel, du hier, ich selbst, wo Fröhden wohnt. Sobald der Tag graut, verläßt du das Haus. Dem Portier wirst du sagen, daß du baden gehst und nachher eine Ruderpartie mit mir verabredet hast. Um ein Uhr zum Essen bist du zurück und so weiter, das ist alles. – Da niemand ahnt, daß wir gewarnt sind, wird man auf unsere Rückkehr warten, selbst wenn die alte Dame bis dahin schon den Sohn bei sich haben sollte.«

»Und du?«

»Mich triffst du am Rödingsmarkt. Meine Albatrostaube wartet in Fuhlsbüttel auf uns.«


Draußen lagerte dunkle Nacht. In Ursulas Hotelzimmer brannte das elektrische Licht. Sie selbst saß vor einem Briefbogen, aber sie schrieb nicht.

War es ihr eigenes Leben, das an ihrem Geiste vorüberzog, so kurz an Jahren, so voll von Kampf, so belastet mit Schuld, ausgefüllt durch die Jagd nach einem Phantom, nur erhellt durch die Anhänglichkeit an den Bruder, dessen Leben dem ihrigen gleich war?

Und ganz zuletzt war die Liebe gekommen.

Wirklich die Liebe? Die echte, wahre Frauenliebe, die alles erträgt, alles hofft, alles glaubt, alles duldet? Die Liebe, die nicht das ihre sucht und nimmer aufhört?

Nein! Ihre Liebe war nicht des Weibes Ruhm und Krone. Furcht ist nicht in der Liebe, denn die völlige Liebe treibt die Furcht aus. Wer sich aber fürchtet, der ist nicht völlig in der Liebe. Und sie fürchtete sich, daß Walter sie von sich stoßen möchte, wenn er sie durchschaute und ihre Schuld. Und weil sie sich fürchtete, darum warf sie nicht das Leben von sich um der Liebe willen, sondern sie gab die Liebe hin und suchte das Leben. Der Mensch in ihr war stärker als das Weib, deshalb siegte die Lebensliebe über die Frauenliebe.

Ursel strich sich über die Stirn. »Es war ein Traum und mußte ein Traum bleiben – ein berauschender Traum, aber ein Traum!« flüsterte sie vor sich hin.

Entschlossen griff sie zur Feder. Ohne auch nur einmal aufzuschauen, warf sie die Zeilen aufs Papier.

 

»Du Lieber!

Wann es auch sei, daß meine Worte in Deine Hände gelangen, weder mein Bruder noch ich werden dann wohl noch unter den Lebenden weilen. Du kennst meinen Bruder. Es ist Fröhden. Er und ich sind verbunden durch gemeinsame Schuld zu gemeinsamem Schicksal. Aber niemals wird die irdische Gerechtigkeit Hand an uns legen. Jeder von uns beiden trägt ein sicher wirkendes Gift beständig an seinem Körper, dasselbe Gift, durch das Dein Verwandter Schwenndieck am Schlachtensee starb, dasselbe Gift, durch das – doch wozu die Schatten rufen, die im Grabe ruhen! Aber dasselbe Gift, durch das die Frau Konsul gestorben sein würde, wäre die Entdeckung nicht zu früh erfolgt. Der Mann, der mit Dir in der Eisenbahn fuhr, war ihr Sohn. Er sucht seine Mutter und wird sie finden. Man wird auch uns suchen. Ob unsere Flucht gelingt, weiß ich nicht. Aber ich treffe Vorsorge, daß diese Zeilen unter allen Umständen in Deine Hände gelangen. Nach meinem Tode zwar, aber sie werden Dich sicher erreichen. – – Morgen erwartest Du mich vergeblich. Kehre heim und werde glücklich ohne mich! Das ist mein Wunsch. Verfluche nicht mein Andenken, wenn vor Deinen Augen der Schleier zerreißt, der Dir mein wahres Wesen verhüllte. Schäme Dich auch nicht Deiner jetzigen Empfindung, wenn Du später mein Bild betrachtest. Tue es nicht, Walter! Das ist meine letzte, meine innige Bitte. Du hast geliebt, was gut in mir war. Ich habe Dich geliebt mit aller Kraft meiner Seele – auf meine Art. Einen Gott wollte ich aus Dir machen, und Deine Göttin wollte ich selber sein. Ich war es, die Dir eine rosige Zukunft versprach voll von Jugend und Schönheit, von Liebe und Reichtum. Ich sandte Dir die Einladung zu unserer ersten Begegnung. Ich liebte Dich schon, und Du lerntest mich lieben. O Walter! – Jetzt klopft das Schicksal drohend an. Muß ich seine Rechnung schon jetzt begleichen? Eines soll glatt werden nach meinem Tode. Das Geld, das Schwenndieck gehörte, liegt in der Bank von England - 125+000 Mark! Mit Hilfe des beiliegenden Schecks wirst Du sie erheben, nicht als mein Vermächtnis, sondern als Beauftragter Deiner Familie. – Und nun leb wohl, Du Lieber! Ein Wiedersehen gibt es für uns nicht. Doch laß mich's noch einmal sagen: Ich habe Dich geliebt und liebe Dich noch – Dich allein! Nie hat der Gedanke an einen Mann meinen Herzschlag beflügelt, bevor ich Dich sah. Wann auch mein letzter Atemzug verweht, er wird ein Gruß für Dich sein.

Ursula.«

 

Keinen Blick warf Ursula mehr auf die Zeilen, nachdem sie geendet. Sie faltete den Bogen zusammen und schob ihn in einen Umschlag, auf den sie Walter Schmidts Adresse setzte. Ohne den Brief zu schließen, schob sie ihn in ihr Kleid.

Dann stand sie einen Augenblick überlegend still. Ihr Bruder hatte von seinem Flugzeug gesprochen. Sie wußte, daß ihm die kühnsten Wege stets die liebsten waren, weil sie ihm am sichersten dünkten. So glaubte sie seinen Plan zu durchschauen.

Leise öffnete sie die Verbindungstür nach dem anstoßenden Zimmer, dann hielt sie lauschend inne. Die Atemzüge der Frau Konsul schlugen gleichmäßig an ihr Ohr. Durch die halbgeöffnete Tür fiel genügend Licht in den Raum. Behutsam schritt Ursula nach dem Waschtisch und nahm von ihm eine Flasche mit Bayrum, die sie selbst dort niedergesetzt. In ihrem Zimmer goß sie den Rest des Inhalts in das Wassergefäß und legte darauf die leere Flasche verkorkt in die Tasche, in der sich ihre Wertsachen bereits befanden.

Dann schob sich Ursula einen Stuhl an das Fenster, stellte das Licht ab und erwartete ohne ein Zeichen der Ungeduld das Anbrechen der Dämmerung.


Kein Zeichen deutete darauf hin, daß Ursel, als sie das Hotel verließ, davonging, um nicht wiederzukehren. Ihre Handtasche schien ganz geeignet, die Badeutensilien einer Dame zu bergen.

Vom Rödingsmarkt her kam ihr Fröhden entgegen, ohne jede Spur von Hast oder Unruhe in Schritt und Haltung. Auch die Begrüßung vollzog sich, als ob sich alte Bekannte zu einem Morgenspaziergang vereinigten.

Fröhden wollte nach einem Auto ausspähen, doch Ursel hielt ihn zurück.

»Einen Augenblick, George! Bevor wir einsteigen, möchte ich etwas Geschäftliches ordnen. – Ich habe brieflich Abschied genommen fürs Leben. Du weißt von wem. Am Kriegerdenkmal wird er mich heute vergeblich erwarten und zuletzt traurig heimkehren. Er liebt mich wohl auch, aber er ist noch jung. Er wird das Glück finden ohne mich. Und nun sollst du mir einen Scheck schreiben auf die Bank von England über jenes Geld von Schwenndieck.«

Fröhden wollte sie unterbrechen, doch Ursula hob beruhigend die Hand.

»Höre mich erst zu Ende, George! Es handelt sich nicht um eine Rückzahlung heute oder morgen. Der Abschiedsbrief ist an meinem Körper verwahrt. Der Scheck soll hinzugefügt werden. Alles bleibt bei mir, bis die Stunde gekommen ist. Es liegt nicht in meiner Absicht, deine und meine Sicherheit durch irgend einen Schritt zu gefährden. Seit gestern weiß ich, daß wir vereint bleiben müssen – du und ich, wir beide allein. Auch der Tod wird uns zusammen finden. Es sind keine trüben Ahnungen, die mich erfüllen, aber ich fühle es, wir werden unser Ziel nicht erreichen. Eines Tages muß das Ende kommen. Wer sich auflehnt gegen die Ordnung der Welt, kann nicht sterben wie alte Leute. Aber nicht eher, als bis du selbst erklärst, alles sei verloren, kommt der Abschiedsbrief und sein Inhalt aus meinen Händen. Erst dann will ich ihn der Gelegenheit anvertrauen, die sich gerade bieten wird. Doch wenn wir beide nicht mehr sind, soll er das Geld erhalten, das ihm zusteht und denen, die zu ihm gehören. Bist du einverstanden, George? Wirst du den Scheck schreiben?«

»Du weißt, daß ich dir nichts abschlage, was sich mit unseren Interessen verträgt. Aber dein Versprechen gilt. Brief und Scheck bleiben bei dir, bis wir selbst kein Interesse mehr haben, was nach uns sein wird. Gilt das, Ursel?«

»Es gilt, George!«

»Schön! Sobald wir in dem Flugzeug sitzen, erhältst du den Scheck.«

»Ich danke dir, George! Ich habe damit gerechnet, daß du den Luftweg wählen würdest.«

»Bevor man uns hier vermissen wird, hoffe ich über die Niederlande und Belgien hinweg England zu erreichen. Was andere können, können wir auch. Bist du einverstanden, Ursel?«

»Ich begleite dich auf jedem Wege.«

»Wenn wir Glück haben, können wir in England sein, ehe vierundzwanzig Stunden vergehen. – Da kommt ein Auto!«

Auf den Flugplätzen heißt es früh aufstehen. Wenn das Licht erwacht, ist die Luft am ruhigsten. Während Fröhden sein Fahrzeug mit der Sorgfalt eines Fachmannes in allen Teilen prüfte und den Motor anlaufen ließ, fanden sich noch andere Piloten ein, die die Frühe des Morgens zu einem Übungsfluge benützen wollten.

Bald saßen die Geschwister in der Albatrostaube. Fröhden nahm seine Füllfeder hervor und schrieb den Scheck, den er seiner Schwester reichte.

»Fertig, Ursel?«

»Ich bin bereit, George.«

Schon nach kurzem Anlauf kam man von der Erde frei, und dann stieg die Taube zu immer lichteren Höhen, bis sie den Augen der wenigen Gäste des Flugplatzes entschwand. Einmal aus Gesichtsweite des Flugfeldes, nahm Fröhden Richtung nach Belgien.


Als Götze am Sonntag morgen die Schiffsleiter zum Bord des »Pedro« erstiegen hatte, erfuhr er vom ersten Offizier, daß die Passagierliste sich noch in der Schiffsagentur befand. So kletterte er wieder in die Jolle, die ihn herangebracht hatte, und ließ sich ans Land zurückrudern.

Das Kontor war noch nicht geöffnet. Trotz aller Ungeduld mußte er warten. Ihm blieb die Wahl, seine Nachforschungen von Hotel zu Hotel aufzunehmen oder die erzwungene Wartezeit zu benützen, um etwas zu frühstücken. Er hatte am Tage zuvor nur wenige Bissen genossen. Wenn er nachher aus der Passagierliste das Hotel feststellte, in dem seine Mutter sich aufhielt, fand er voraussichtlich noch eher sein Ziel, als wenn er aufs Geratewohl in der Stadt herumfuhr.

Auf dem Kontor erfuhr er dann die ersehnte Adresse. Und nun kam der Augenblick, da die Mutter den bereits totgeglaubten Sohn in den Armen hielt. Im ersten Glück des Wiederfindens vergaß Frau Götze völlig den Zusammenhang der Dinge. Erst ganz allmählich besann sie sich.

»Du lebst – du lebst! Wie wird sich deine Braut freuen, Alfred!« rief sie aus. »Wie wird sie sich bloß freuen!«

»Meine Braut?«

»Sie ist hier. Sie schläft im Zimmer nebenan. Freilich, du kannst das ja nicht wissen. Ich werde sie gleich wecken.«

Aber das Nebenzimmer war von innen verschlossen. Die alte Dame klopfte, aber es kam keine Antwort. Man klingelte dem Zimmermädchen und hörte von diesem, Miß Allington sei schon in der Frühe des Morgens zum Baden gegangen und wollte darauf mit ihrem Bruder eine Ruderpartie machen. Zu Tische um ein Uhr würden die Herrschaften wieder zurück sein.

Immer mehr besann sich Frau Konsul – und immer mehr kamen ihr die Unstimmigkeiten zum Bewußtsein. Sie sah den Sohn wortlos an und ging dann kopfschüttelnd zu ihrer Handtasche.

»Ist das dein Bild, Alfred?«

Er schaute lange auf den Mann, der anscheinend tot im Sarge lag, und mußte sich allerdings in dem Bilde erkennen. Auch aus dem Gesicht der Dame am Katafalk sprach ihn die Erinnerung an etwas Gewesenes an, ohne daß er im Augenblick den Zusammenhang fand. Ein dunkles Geheimnis ruhte auf dem allen. Entweder lag eine grausame Personenverwechslung vor, oder er war gerade zur rechten Zeit gekommen, seine alte Mutter vor einem schrecklichen Schicksal zu bewahren, in dessen ersten Schlingen sie schon verstrickt saß.

Er reichte die Photographie zurück. »Das scheint mein Bild zu sein, Mutter. Aber sei nur ruhig! Ich stehe jetzt lebendig vor dir. Da ist hinterher noch so viel geschehen, wovon auch Miß Allington nichts wissen kann. Wenn sie zurück ist, erzähle ich alles, sonst müßte ich dasselbe zweimal sagen.«

Dem Sohne lag daran, der alten Mutter Aufregung und Schrecken zu ersparen. So ließ er die alte Dame erzählen von Ursula und Mr. Allington, und wie das alles gekommen sei. Während er zuhörte, verstand er immer besser, welch raffiniert ausgeklügeltes Verbrechen durch sein Erscheinen vereitelt worden war. Auch den Scheck sah er an, den Frau Konsul von Mr. Allington erhalten hatte als angebliche Sicherheit für ihr Vermögen. Er legte das Papier in sein Taschenbuch.

Man wartete. Ursula kam aber nicht zur festgesetzten Zeit. Alfred Götze war nun überzeugt, daß sie niemals wiederkommen würde. Auf irgend eine Art mußten die Geschwister Kenntnis von seiner Ankunft erlangt haben. Wahrscheinlich hatten sie die Listen der angekommenen Passagiere des »Pedro« eingesehen.

»Ich darf jetzt nicht länger warten, Mutter,« sagte er. »Ich habe ganz notwendig mit unserem Konsul zu reden, und du sollst mich begleiten.«

Die Unterredung mit dem Konsul ergab, daß die Auszahlung oder Überweisung von Frau Götzes gefährdetem Kapital durch Kabeldepesche amtlich unmöglich gemacht und die Rückleitung des Geldes nach Berlin angebahnt wurde.

Als Mutter und Sohn nach dem Hotel zurückfuhren, war die alte Dame sehr ängstlich geworden. »Was bedeutet das alles, Alfred? Schon seitdem du bei mir bist, fühle ich, daß du mir etwas verbirgst. Sage mir alles! Die Aufregung macht mich sonst krank.«

»Du hast keine Ursache mehr, etwas zu befürchten. Der Bann ist gebrochen. Ich habe keine Braut, Mutter, und war niemals verlobt. Ich lag auch niemals im Sarge. Ich fürchte, du bist Betrügern in die Hände gefallen.«

»Mein Gott! Und Ursula? Sie war so lieb zu mir!«

»Beruhige dich, Mutter! Ich bin jetzt bei dir. Alles andere wird sich aufklären.«


Um zehn Uhr am Sonntag vormittag schritt Walter Schmidt froh erregt zum Kriegerdenkmal auf der Esplanade. Als aber Viertelstunde auf Viertelstunde verstrich, ohne daß die Erwartete sich zeigte, sank seine hochgestimmte Zuversicht tiefer und tiefer. Das jubelnde: Sie wird kommen! wurde zum zagenden: Wo bleibt sie? Das entschuldigende: Sie kann nicht! wandelte sich zum zürnenden: Sie will nicht!

Die Erinnerung an den vorigen Abend wachte auf. Das war schon der Abschied gewesen, der Abschied auf immer! Und deutlicher noch als jemals zuvor empfand er es in diesem Augenblick, Ursula war nicht ein Weib wie andere, ein Geheimnis lagerte um sie her, war in ihr.

Als von der Petrikirche her zwölf Schläge die Mitte des Tages kündeten, verließ Walter die Esplanade. Er wußte nicht den Namen des Hotels, wo Ursel sich aufhielt, nicht die Adresse, wohin sie ging. Absichtlich hatte sie ihn im Dunkeln gelassen, das fühlte er sicher. Weshalb hatte sie mit ihm gespielt – weshalb nur?

Aber tausendmal nein! Es war kein Spiel! Sie hatte ihm ihr Bild gegeben – das einzige in dieser Welt. So spricht kein Weib in kokettem Spiel. Ursula hatte ihn geliebt, liebte ihn noch. Weshalb ging sie von ihm? Weshalb ging sie so von ihm? Weshalb, weshalb?

Walter fuhr nach Berlin zurück. Er ging nicht in seine Wohnung, sondern blieb die Nacht im Hotel. Am Morgen sandte er durch einen Hoteldiener ein paar Worte an Frau Kemnitz, daß sie sich nicht beunruhigen möchte. Aber auch nach Schluß des Geschäfts ging er nicht nach Hause. War es Scham oder war es ein Schuldgefühl – der Gedanke, jetzt mit Anna unter demselben Dach leben zu sollen, war ihm unerträglich. War sie nicht seine Vertraute gewesen? Hatte sie nicht als treuer Kamerad sein Geheimnis geteilt? Hatte er selbst sie nicht hochgeschätzt, bis das andere über ihn kam wie Trunkenheit?

Er war ja keine Verpflichtungen eingegangen gegen Anna, mit keinem Wort hatte er sich gebunden oder sie – aber gibt es für den Ehrenmann keine andere Form, sich zu verpflichten als das dürre Wort? Stand er wirklich so fleckenlos da?

Brutal hatte er sich von Anna gewendet, um den dunklen Sternen nachzujagen. Eine Roheit war's, wie er ihr Vertrauen belohnte. Wenn sie ihn jetzt behandeln würde, wie er selbst sie behandelt hatte, so geschah ihm nur sein Recht.

Aber dahin sollte es gar nicht kommen. Nicht um seiner gerechten Strafe zu entgehen, sondern um Anna die Pein beständigen Zusammentreffens zu ersparen, das nie und nimmer so sein konnte wie in jener ersten Zeit, durfte er seine Wohnung nicht behalten.

So suchte Walter Schmidt den Grund seiner Entschließung in der Rücksicht auf Anna, und dennoch war es mehr das Gefühl der Scham, das ihn trieb, seine Wirtin schriftlich dahin zu verständigen, daß er mit Rücksicht auf veränderte Geschäftslage eine andere Wohnung nehmen müsse. Seine Sachen lasse er abholen.


Onkel Wassermann fühlte sich im tiefsten Herzensgrunde noch immer nicht überzeugt, daß ihm die Damen Kemnitz den schmählichen Verdacht in Sachen Schwenndieck ganz vergeben hätten. Er war entschlossen, seine Besuche so lange fortzusetzen, bis auch der letzte Schatten einer Befürchtung aus seinem Gemüt verschwunden sein würde. Auf welche Art das geschehen sollte, darüber dachte er nicht weiter nach.

Wenn er das behagliche Wohnzimmer der Damen betrat, ward ihm stets unendlich wohl, viel wohler als ihm in seiner Junggesellenklause jemals gewesen war.

Auch während seines Aufenthalts daselbst hatte er nicht den Eindruck, daß in der Brust von Frau Kemnitz noch eine Falte des Grolls gegen ihn vorhanden sein möchte. Aber wenn er fern bleiben mußte – er konnte als wildfremder Mensch unmöglich jeden Tag hingehen – plagte ihn der Gedanke, Mutter und Tochter dürften gerade jetzt unfreundlich seiner gedenken. Er sann ehrlich auf Mittel zur Abhilfe, und gelegentlich durchzuckte ihn der Gedanke, es müßte für alle Teile am besten sein, wenn er Frau Kemnitz einfach heiratete. War sie erst seine Gattin, so konnte sie unmöglich länger glauben, daß er sie fürder im Verdacht des Mordes oder der Beihilfe zum Morde hatte. So viel stand fest: eine außerordentliche Genugtuung war er Frau Kemnitz schuldig. Und gerade die Genugtuung in Form einer Heirat entsprach so ganz der Anlage seines Gemüts, daß er sich immer mehr in diesen Gedanken versenkte.

Aber würde Annas Mutter auch wollen?

Bei seinem nächsten Besuch zeigte ihm Frau Kemnitz die paar Zeilen, die Walter Schmidt geschrieben hatte, als er plötzlich die Wohnung aufgab und seine Sachen abholen ließ. Sie sah dabei ein wenig erregt aus. Auch die Tochter blickte scheu und ängstlich auf Wassermann, der ihr in der kurzen Zeit ihrer Bekanntschaft so vertraut geworden war, als ob er wirklich ihr Onkel sei und immer gewesen wäre.

Wassermann starrte wortlos auf die Zeilen des Neffen. Er sprach kein Wort, aber allmählich stieg es dunkel in seine Stirn. Dann ballte er das Papier ingrimmig zusammen. »Da soll doch gleich ein – Was fällt dem Jungen eigentlich ein! Na warte, Bürschchen! Dir werde ich den Standpunkt klarmachen! Eine hochachtbare Familie, zwei wehrlose Damen in dieser Weise zu behandeln! Da hört doch alles auf. Aber warte nur!«

In Annas Augen perlten Tränen. Schluchzend, abgerissen rangen sich die Worte aus ihrer Brust: »Ach Gott, er hält uns – noch immer – für – für Mörder!«

Ein Aufschrei war's aus tiefgequälter Brust! Mit tränenüberströmtem Gesicht eilte Anna hinaus.

Wassermann sah ihr sprachlos nach und stotterte dann fassungslos: »Das – das glauben Sie wirklich?«

Auch in den Wimpern der guten Frau perlten jetzt schwere Tropfen. »Was sollen wir anderes denken?« Sie preßte die Hände vor das Gesicht, daß die Tränen zwischen ihren Fingern hindurchliefen. »Keinem Menschen darf man mehr ins Gesicht sehen. So geht man doch nicht aus einem anständigen Hause, so fordert man seine Sachen nicht ab!«

In Wassermanns weichem Herzen quoll es warm empor vor Mitgefühl. Er trat zu der weinenden Frau und nahm ihr sanft die Hände von dem tränenüberströmten Gesicht. »Nicht weinen – nicht weinen, Frau Kemnitz!«

Ohne es recht zu wissen, zog er die Trostlose an sich, und ohne es recht zu wollen, lehnte sie ihren Kopf an seine Schulter. Er fühlte das Schluchzen, das immer wieder in ihr aufstieg. Warm und innig klangen seine Worte. »Lassen Sie mich gut machen, was der Junge Ihnen Leides zugefügt hat. Lassen Sie uns den Rest des Lebens zusammenlegen, den das Schicksal uns noch vorbehält! Nicht sage ich das, um Sie zu trösten, schon seit ich Sie kenne, trage ich den Gedanken mit mir herum. Frau Kemnitz, wollen Sie mir angehören für den Rest des Lebens?«

Sie sagte nicht ja, sie sagte nicht nein. Ihr Kopf ruhte auf seiner Schulter. Noch immer fühlte er das Schluchzen, das in ihrer Brust aufstieg.

Da schloß sich sein Arm noch inniger um ihre Schultern. »Auch für Anna ist es besser. Ich habe das Kind gern, und sie nennt mich ja jetzt schon Onkel. Ihr wird es kein Schmerz sein, wenn unser Lebensfaden sich noch enger verknüpft. Hinter ihrem Kummer über die Unart meines Neffen verbirgt sich ein anderes Gefühl. Ich glaube auch, daß die innerste Ursache seines unbegreiflichen Verhaltens etwas anderes ist als ein unmöglicher Verdacht. So trennt man sich nicht von einem gleichgültigen Mädchen. Glauben Sie es mir. Es gibt da etwas Verborgenes zwischen den beiden. Ich weiß nicht, was es ist, aber ich werde es erfahren. Verdacht gegen dieses Haus liegt meinem Neffen fern, das vertrete ich schon heute. Auch für diese beiden jungen Menschen ebnen wir den Pfad, der zum Glück führt. Willst du mir also angehören?«

Er suchte mit der Rechten ihre freie Hand und fühlte ihren Druck.

Seine Lippen berührten ihre Stirn, die seine Wange streifte.


Walter Schmidt ging morgens ins Geschäft und kehrte abends in seine neue einsame Behausung zurück, die er dann nicht mehr verließ. Ein dumpfer Druck lastete auf seiner Seele. Er fühlte es, da lag noch etwas dunkel vor ihm in der Zukunft, aber er grübelte nicht darüber. Die Spannkraft seines Geistes war vorläufig gebrochen. Er wollte niemand mehr sehen. Keinen Menschen! Doch ins Geschäft mußte er gehen, Tag für Tag.

Am Donnerstag früh, während die jungen Leute im Kontor ihr Frühstück einnahmen, saß Walter vor sich hinbrütend auf seinem Schemel. Er wollte nicht hören, was gesprochen wurde und konnte sich doch dem Klang der Worte nicht entziehen. Der Name Fröhden schlug an sein Ohr.

Einer von den jungen Leuten hielt ein Zeitungsblatt in der Hand und fuhr fort: »Ich habe diesen Fröhden selbst gekannt. Das heißt, ich habe ihn gesehen auf dem Flugplatz in Johannistal. Ein verwegener Mensch! Nun hat ihn das Schicksal ereilt. Bei einem Versuch, den Kanal an breiterer Stelle zu überfliegen als bisher geschah, faßten Böen sein Flugzeug und kippten es um. Ein englischer Kreuzer, der ihm zu Hilfe eilen wollte, kam zu spät. Die Wellen hatten das Flugzeug bereits verschlungen. Von den beiden Insassen fand sich keine Spur.«

»Woher weiß man, daß der Pilot nicht allein war?« fragte einer der jungen Leute.

»Eine Flaschenpost wurde aufgefischt, schreibt die Zeitung.«

»Und wer war sein Passagier?«

»Seine Schwester.«

Während die jungen Leute weiter ihre Meinungen über den Absturz des Aviatikers tauschten, senkte Walter das Gesicht über seine Bücher, aber er arbeitete nicht.

Fröhden und seine Schwester!

Seine Schwester? Er hatte nie etwas von einer Schwester gehört. War das der verborgene Faden, der hinüberführte zu Ursel, die ihn in Hamburg so geheimnisvoll verließ? Ihre letzten Worte paßten als Abschied vor einem so tollkühnen Unternehmen. Auch die Plötzlichkeit ihrer Entschlüsse ließ sich damit in Verbindung bringen.

Aber die Namen! Fröhden und Allington waren doch nicht zu vereinigen!

Und dann tauchten Ursulas dunkle Augen vor ihm auf, Augen, wie sie die Kartenlegerin hatte. Damals streifte ihn der Gedanke an eine Verbindung Fröhdens mit der Wahrsagerin. Dort wie hier das plötzliche Verschwinden!

Aber wie wäre Ursula so rasch über die Nordsee gekommen? Fuhr Ursula nicht mit Frau Konsul Götze nach Amerika?

Götze!

Nannte sich der seltsame Reisegefährte auf dem Wege nach Hamburg nicht Götze? Ließ sich Ursel nicht eingehend über diesen Mann berichten?

Walter preßte die Hände an die Schläfe. Das Geheimnis wurde dunkler und immer dunkler. Ihm wirbelte der Kopf.

Während der Mittagspause kaufte er sich eine Zeitung. Er fand nichts anderes darin, als was er schon gehört hatte.

Als Walter abends nach Geschäftsschluß nach Hause ging, trat ihm sein Onkel Wassermann auf der Straße entgegen. Walter war wenig erbaut von dem plötzlichen Überfall, und Wassermann hatte die Empfindung, sein Verwandter möchte plötzlich davongehen und ihn einfach stehen lassen.

Da legte er seine Hand in den Arm des jungen Mannes. »Du brauchst keine Pläne zu machen, wie du mich loswerden kannst. Fort kommst du mir nicht, nachdem ich dich abgefangen habe. Also gib dir keine Mühe! Du hast das Aussuchen. Soll ich dich in deine neue Bude begleiten – die Damen Kemnitz lassen übrigens grüßen – oder willst du mit mir in eine gemütliche Weinstube gehen? Letzteres wäre mir lieber. – Dein Aussehen gefällt mir nämlich ganz und gar nicht, mein Sohn! Eine kleine Herzstärkung würde dir bekömmlich sein. Ich weiß hier herum eine stille Klause, wo man einen guten Tropfen bekommt und dabei ein Wort im Vertrauen reden kann. – Nun, wie ist's? Wohin willst du?«

Walter brummte etwas vor sich hin.

»Also vorwärts!« sagte Onkel Wassermann, und ohne den Arm des Neffen loszulassen, führte er ihn nach dem Eingang zu dem historischen Weinkeller von Luther & Wagner, ließ ihn auch der Vorsicht halber zuerst die Stufen hinuntersteigen.

Als er ihn dann unter dem niedrigen, rauchschwarzen Gewölbe zwischen den Wänden einer Nische an einem Tische festgesetzt hatte, in den einst Devrient seinen Namen schnitzte, hob er sein Glas: »Dein Wohl, Walter! – Und nun erzähle!«

»Ich habe nichts zu erzählen.«

»Aber trinken darfst du. Oder hältst du es nicht der Mühe für wert, mit deinem Onkel anzustoßen?« Nachdem der alte Herr dann selber einen guten Zug getan, sprach er behaglich weitet: »Also du weißt nichts! Du bist doch sozusagen unser beauftragter Detektiv. Und nachdem du Frau Kemnitz und ihre Tochter des Mordes an Schwenndieck oder wenigstens der Beihilfe dazu beschuldigt hast –«

»Das hätte ich getan!« fuhr Walter auf.

»Wer sonst?«

»Ist mir gar nicht eingefallen.«

»Ein Mann von Bildung verläßt nicht ein gutes Bürgerhaus, wie es mein Herr Neffe zu tun beliebte. So verschwindet man höchstens aus einer Räuberhöhle.«

»Daran hat meine Seele nicht gedacht.«

»Jedenfalls haben die Damen Kemnitz rotgeweinte Augen – alle beide! Dein schnöder Verdacht –«

»Ich habe ja gar keinen Verdacht, Onkel! Gewiß und wahrhaftig nicht!«

»Das wollte ich mir auch gefälligst ausbitten. Ich habe mich nämlich mit Frau Kemnitz – verlobt. Du brauchst gar keine so großen Augen zu machen! – Also verlobt, um für die Damen eintreten zu können. Es wird dir einleuchten, daß auf dem guten Ruf meiner künftigen Frau und meiner künftigen Tochter auch nicht das leiseste Stäubchen sitzen darf. Begreifst du das, oder soll ich es dir noch besonders klarmachen?«

Walter gab keine Antwort. Er schaute nur fassungslos in das ernste Gesicht des alten Herrn.

»Übrigens ist es ganz gut,« fuhr dieser fort, »daß du heraus bist aus der Wohnung. Wir hätten dir sonst kündigen müssen. Erstens brauchen wir die beiden Stuben nach der Hochzeit selber, dann aber kann ich nicht dulden, daß ein junger Dachs wie du es gar zu bequem hat, wenn er mit – meiner Tochter sprechen will. – Wie heißt denn das Mädchen, das –«

»Welches Mädchen?«

»Du willst mir doch nicht erzählen, daß da kein Weib im Spiel war! Also heraus mit der Sprache! Wer war es?«

»Miß Allington!«

»Also was Englisches! Auch noch! – Und was ist sie?«

»Sie war Gesellschafterin bei Frau Konsul Götze und wollte mit ihr nach Mexiko fahren. In Hamburg ist sie verschwunden.«

»Verschwunden? – So! – Also darum! – Und wo wohnt diese Frau Konsul Götze?«

Walter nannte die Adresse.

Wassermann nickte ein paarmal schweigend mit dem Kopf. Dann schien er mit sich im reinen. Es war wieder der alte joviale Ton, mit dem er sprach: »Bis jetzt habe ich übrigens umsonst gewartet, daß du mir zu meiner Verlobung gratulierst. Stoß an, Walter! Und heute abend haben wir ein paar Leute eingeladen – das heißt Frau Kemnitz hat sie eingeladen. Ich bin natürlich dabei. Unsere Verlobung muß doch vorschriftsmäßig den beiden Familien bekannt gegeben werden. Also Frau Kemnitz hat mich beauftragt, dich in ihrem Namen einzuladen. Wir werden ganz in der Familie sein, ohne besonderen Aufputz. Wirst du kommen?«

»Erlaß mir das noch, Onkel! Es ist mir peinlich, den Damen unter die Augen zu treten. Später vielleicht, wenn ich erst wieder ruhiger geworden bin. Aber meine beste Empfehlung richte aus und die herzlichsten Glückwünsche!«

Damit schieden die beiden Herren. Walter Schmidt ging sehr, sogar sehr nachdenklich nach Hause.

 

Wenige Tage später erwartete Wassermann abermals seinen Neffen vor der Bank. »Du,« rief er ihm entgegen, »ich bin heute bei Frau Konsul Götze gewesen.«

»Bei Frau Götze?« Maßloses Erstaunen klang aus dem Wort.

»Natürlich! Die Dame ist aus Hamburg wieder zurückgekommen, aber ohne die englische Miß. Dafür war ihr Sohn bei ihr.«

»Ihr Sohn? – Ich denke, der ist tot!«

»Ja, das hatten die beiden Allington der guten Dame vorgeredet, aber es entsprach durchaus nicht der Wahrheit. Einen schweren Sturz hatte der junge Götze getan, aber gestorben ist er nicht daran. Als er sich einigermaßen hergestellt fühlte, hat er eine Besuchsreise nach Europa zu seiner Mutter angetreten. Hier in Berlin fand er das Nest leer, da ist er den Reisenden nach Hamburg nachgefahren.«

»Richtig – Götze! Das war ja mein Gefährte im Zuge.«

»Warst du auch in Hamburg?«

»Ja, Onkel! – Aber weiter! Was geschah in Hamburg?«

»Götze traf seine Mutter im Hotel. Die beiden Schwindler, Allington und seine Schwester, müssen wohl Wind von seiner Anwesenheit gehabt haben. Sie waren über Nacht verschwunden. Keine Spur ist von ihnen geblieben. Das Geld der alten Dame hatten sie schon beinahe in ihren Händen. Mit Hilfe der Behörden wird's wohl noch gerettet werden. – Also du kommst auch heute noch nicht, Walter? – Schade! Na, dann ein andermal! Auf Wiedersehen, mein Junge! Ich muß zu meiner Braut und habe Eile.«

Walter stand da, wie vom Donner gerührt. War das die Lösung des Geheimnisses? Hier Allington und Schwester verschwunden, dort Fröhden und Schwester ins Meer gestürzt!

»Gott, mein Gott, ist das möglich! Ursula eine –«

Walter mußte sich zusammennehmen, daß er nicht taumelte.

 

Und wieder verstrichen etliche Tage, da empfing Walter Schmidt durch Vermittlung des Auswärtigen Amtes jenes Schreiben, das Ursula in der verhängnisvollen Nacht an den Mann gerichtet, den sie nicht wiedersehen durfte. Der Scheck auf die Bank von England fehlte. Das Begleitschreiben der Behörde enthielt die Mitteilung, daß Ursulas Brief in einer Flasche aus dem Meer gefischt worden war als einziges Zeugnis des Unglücks, das ein englischer Kreuzer aus der Ferne beobachtet hatte. Der Scheck war amtlich zurückgehalten worden. Nach Prüfung des Anspruchs würde der Betrag gezahlt werden.

Walter las Ursulas Brief wieder und wieder. Der Faden war jetzt gefunden, der furchtbare Ring war geschlossen. Nichts fehlte mehr.

Walter erhob sich schwer. Jetzt wollte er zu Anna gehen. Jetzt sollte sie, jetzt mußte sie alles wissen.


Anna Kemnitz hatte sich in den letzten Wochen stark verändert. Ernster und gereifter empfing sie Walter und lud ihn zum Sitzen ein. Ihr Antlitz war nicht ungütig. Sie fühlte, daß der Mann vor ihr die Beute eines ungeheueren Schmerzes war.

Walter reichte ihr Ursulas Brief. »Lesen Sie, Anna,« sagte er nur.

Indem sie las, begannen ihre Lippen zu beben, Tränen schimmerten in ihren Wimpern. Als sie die Augen zu dem Mann aufschlug, hatte Walter das Gesicht in die Hände gepreßt, sein Körper erzitterte in lautlosem Schluchzen.

Da hob sie sanft die Hand und ließ sie weich über seinen Scheitel gleiten. »Armer, armer Freund!«

Müde stand er auf vom Stuhl, müde klang seine Stimme. »Nun wissen Sie alles, Anna, und ich weiß auch, Sie haben mir verziehen. – Lebe wohl, Anna!«

»Lebe wohl, Walter!«

Sie senkte das Haupt zum Abschied, aber in ihrem Herzen flüsterte leise, leise eine Stimme: »Auf Wiedersehen!«


Die Hochzeit von Onkel Wassermann und Frau Kemnitz fand im kleinsten Kreise statt. Walter Schmidt befand sich nicht unter den Gästen. Eine tiefe Schwermut war über ihn gekommen. Er ließ sich auf sechs Monate beurlauben und reiste nach dem Süden, um unter fremden Menschen und in heiterer Umgebung das Gleichgewicht seiner Seele wiederzufinden. So konnte er nicht Zeuge sein, wie Onkel Wassermann und Frau Kemnitz verbunden wurden.

Aber Anna war Zeuge. Sie hatte den Onkel vom ersten Tage an in ihr Herz geschlossen. Vielleicht war es die Blutsverwandtschaft des alten Herrn mit Walter, die ihr Empfinden von vornherein in diese Bahnen leitete. So wurde es ihr auch nicht schwer, den »Onkel« zu einem lieben »Papa« umzutaufen.

In die Zeit der Abwesenheit Walters fiel die Auszahlung des von Schwenndieck hinterlassenen Vermögens. Walter verzichtete auf den Anteil, der ihm als ein Voraus hätte zufallen sollen. Auf Vorschlag Wassermanns wurde die Summe bei der Bank niedergelegt mit der Bestimmung, daß die Zinsen zur Speisung armer Kinder verwendet werden sollten.

Und dann endlich brachte das Frühjahr 1915 den Tag von Walters Wiederkehr. Onkel Wassermann erwartete den Ankommenden auf dem Bahnhof, die Gattin stand neben ihm.

Walter entstieg dem Wagen, die Augen blitzend wie einst, das Gesicht gebräunt. Er begrüßte die Verwandten mit größter Herzlichkeit, dann aber gingen seine Blicke suchend umher.

»Wo ist Anna?«

»Zu Hause ist sie,« sagte Onkel Wassermann Mit ernsthaftestem Gesicht. »Sie kocht inzwischen Kaffee.«

Da hatte Walter plötzlich keine Zeit mehr. »Tu mir den Gefallen,« sagte er, »und sorge für mein Gepäck. Hier ist der Schein. Ich nehme ein Auto. Ich muß zu Anna! Ich muß sie sofort sehen.«!

Und weg war er.

Daheim trat den Ankommenden ein glückliches Brautpaar entgegen.

 

Ende

 


 << zurück