Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Daß mein chinesischer Freund und Dschungelgefährte den Orang Utan, den er endlich nach tagelangen Bemühungen in den Bambuskäfig gelockt und gefangen hatte, wieder laufen ließ, war ja an sich ein sehr hübscher Charakterzug Chi Apis. Es war eben derselbe Maia gewesen – Malaien und Dajak als farbige Ureinwohner Borneos bezeichnen den Orang Utan mit Maia, ein Ausdruck, der etwa Waldherrscher bedeutet –, der bereits vor wenigen Tagen der List der Menschen erlegen war, außerdem auch dasselbe Tier, dem wir die erste sichere Botschaft von Anja van Vanderoos verdankt hatten, und Freund Chi konnte beim besten Willen nicht voraussehen, daß dieser Menschenaffe, ein Exemplar von außergewöhnlicher Stärke für Margrit Jossi die Ursache furchtbarster Todesangst werden sollte.

Als Chi mir damals kurz nach Mitternacht das abgesplitterte Propellerstück gezeigt und sehr bald begriffen hatte, daß irgendwo in der Nähe unserer Urwaldhütte ein Flugzeug notgelandet sein müßte, war er sofort Feuer und Flamme dafür, dieses Flugzeug zu suchen, zumal wir annehmen mußten, daß die Insassen sich in den Gipfeln der Urwaldriesen in höchster Bedrängnis befanden, falls sie nicht bereits tot wären.

Es war eine sternklare, warme Nacht, und über die Berge von Madjang strich ein erquickender Wind hin. Gut bewaffnet wie immer schritten wir den Dschungelpfad entlang bis zu jener Stelle, wo Chi das frische Propellerstück – es war weder feucht noch zeigte die Bruchstelle Spuren längeren Liegens im hohen Grase – zufällig bemerkt hatte.

»Freund Olaf, hier war es«, erklärte Chi am Rande der Lichtung und deutete erst auf den Boden und dann auf einen vereinzelten Baumriesen. »Und dort fing ich den Maia, Olaf … Du hättest nur sehen sollen, wie eilig er wieder seine grüne Heimat, die Baumkronen, aufsuchte und …«

»&… Still!!«

Ich hatte unwillkürlich Chis Arm umklammert.

»Hörtest du …?« flüsterte ich und wandte den Kopf aufwärts.

Wie eine schwarze Mauer standen die Giganten des Dschungels vor uns, Stämme von vierzig, fünfzig Meter Höhe, zumeist jene Rasamala-Arten, die selbst die kalifornische Kiefer an Höhe und Durchmesser übertreffen.

Und … abermals kam da von oben her der gedämpfte und trotzdem gellende Schrei …

Chi meinte höflich wie stets: »Freund Olaf, du denkst an einen Menschen, der sich in Todesnot befindet, gestatte jedoch, daß ich dir widerspreche: Es ist nur ein junger Gibbon (die zweite Menschenaffenart Borneos), der von seiner Horde abgekommen ist …«

»Wir lauschten. Chi wußte hier mit allem besser Bescheid als ich, und es wäre von mir etwas anmaßend gewesen, hätte ich meine abweichende Ansicht über den Ursprung des seltsamen Rufes energisch verfochten.

»So hörte ich noch keinen Gibbon schreien«, erklärte ich leise …

Chi hatte sich gebückt. Was er da aus dem hohen Grase aufhob, war eine Flasche …

Meine Laterne beleuchtete sie. Es war eine Likörflasche mit langem Hals und dickem Bauch. Sie war leer, aber zugekorkt, und zugleich mit dem Korken war ein Stück Leinwand halb in den Hals hineingetrieben und hing als helle Fahne schlaff herab.

Chi meinte erstaunt: »Die Leinwand ist ein Taschentuch, Olaf, und …«

Da – – zum zweiten Male versetzte der eigentümliche Schrei meine Nerven ins Schwingen.

Chi Api stutzte.

»Es ist kein Gibbon«, sagte er ehrlich. »Es ist ein Mensch …«

»Ein Mensch, der diese Flasche aus den Baumkronen herabschleuderte, vielleicht in der Hoffnung, daß sie …«

Mein pockennarbiger Freund war bereits zum nächsten Rasamala geeilt und schwang sich an ein paar armdicken Lianen, die wie Taue von den untersten Ästen herabhingen, gewandt empor.

Chi ist kein Schwätzer. Seine gemessene Höflichkeit hält weise Maß mit jedem Wort.

Als ich ihm folgte, als wir nun, nur mit den Händen in der Finsternis und in dem Astgewirr der Krone uns weitertastend, nach unendlichen Anstrengungen etwa dreißig Meter hoch geklommen waren, schimmerte uns ein matter Lichtschein entgegen.

Über uns lag eingekeilt zwischen den Riesenästen der Rumpf eines Eindeckers. Die Flügel waren abgebrochen und mußten anderswo in der Krone hängen. Aus einem Fenster des Rumpfes kam der schwache Lichtschein.

Dann ein Splittern von Glas … Ich sah vor dem Fenster den unverkennbaren Schatten eines Orang Utan, ich vernahm nun aus nächster Nähe denselben schrillen Ruf, und dann … fiel ein Schuß …

Der Menschenaffe glitt zurück, prasselnd brachen unter ihm die Zweige, und offenbar sauste er schwer verletzt in die Tiefe.

Dann ward alles wieder still.

Ich beeilte mich … Ich packte eine dünne Ranke irgendeines Schmarotzergewächses, – – ich war als erster vor dem durch den Maia zertrümmerten Fenster und rief überlaut:

»Nicht schießen …! Wir kommen Ihnen zu Hilfe …!!«

Ich hatte mich des Englischen bedient.

Urplötzlich erlosch das Licht, und die Person in der kleinen Kabine des Eindeckers war so unhöflich, sich nicht auf Englisch, sondern durch einen zweiten Schuß zu melden. Die Kugel pfiff zwar weitab durch die Äste, – – immerhin, diese Art Empfang empörte den liebenswürdigen Chi derart, daß er dem Schützen zubrüllte:

»Wer Sie auch sein mögen: Behandelt man so zwei Leute, die …«

Peng – –, abermals.

Dritter Schuß …

Auch mir riß der Geduldsfaden.

»Sind Sie des Teufels!!« Chis Stimme ist nichts gegen die meine. Chi reicht nur bis zur Schulter, und seine zierlichen Gliedmaßen stehen durchaus im Einklang mit seinem sanften Organ.

Der Mensch da oben war wirklich des Teufels.

Vierter Schuß …!!

Die Sache begann mich nun doch nach einer anderen Richtung hin zu interessieren.

»Der Kerl hat allen Grund, uns mit Blei zu begrüßen, flüsterte ich Chi zu, der neben mir auf einem Ast hockte. Drei Meter vor uns war das Fenster. »Der Bursche mag annehmen, daß …«

»Wer sind Sie?«

Englisch …

»Olaf, ein Weib«, sagte Chi in mildestem Tone. »Die Angst vor dem Maia dürfte ihr die Sinne verwirrt haben, und …«

»Wer sind Sie?!« Es war ein weicher, aber kraftvoller Sopran, und ich stellte mir vor, daß die Frau außerordentlich willensstarken Charakters sein müsse.

»Zwei harmlose Tierfänger«, erwiderte ich rasch, um diese merkwürdig angriffslustige Dame nicht zum fünften Schuß zu veranlassen.

Viel war wie gesagt von dem Flugzeugrumpf nicht zu erkennen: Ein heller breiter Streifen! – Die Lage des Fensters ahnte ich jetzt nur ungefähr.

Eine geraume Weile blieb es still.

Das war seltsam.

Allem Anschein nach war die Frau allein und hätte sich freuen müssen, hier in der Wildnis Hilfe gefunden zu haben.

Was tat sie? Sie meldete sich nicht, und als sie sich meldete, war es nur eine erneute Frage in demselben kurz angebundenen Tone:

»Wo befinde ich mich?«

Chi hatte seine besondere Sorte Humor allzeit auf Lager. Er hatte nun ebenfalls gemerkt, daß die Frau mit ihren Patronen aus bestimmten Gründen, die uns noch verborgen, so verschwenderisch umging.

»In einer Baumkrone«, erklärte er sanft. »Etwa dreiunddreißig Meter über dem Erdboden in dem Rumpf eines …«

»Wollen Sie mich verhöhnen?! Scheren Sie sich wieder vom Baume hinab, rate ich Ihnen! Ich höre es Ihrem Englisch an, daß Sie ein Chinese sind, und ich …«

Wir hatten uns geirrt. Der Maia war doch nicht so schwer verletzt … Der Maia gab den Dingen eine andere Wendung, und unsere Lady lernte den Orang Utan von seiner unangenehmsten Seite kennen.

All diese Menschenaffen bewegen sich selbst bei Nacht mit völliger Lautlosigkeit in den Baumkronen. Sie sind eben Baumbewohner, kommen selten zur Erde hinab und besitzen einen so feinen Tastsinn und ein so scharfes Auge, daß sie selbst bei tiefster Finsternis niemals etwa einen verdorrten brüchigen Ast zur Fortsetzung ihres Weges durch die Gipfel benutzen werden.

Nicht einmal wir beide hatten das Nahen des schwer gereizten Tieres wahrgenommen. Wir wurden durch den kurzen Kampf in der Kabine und die gellenden Hilferufe der Frau vollständig überrascht. Der Orang Utan war lautlos durch das zertrümmerte Fenster eingestiegen, und als ich nun in wilder Hast mich höher schwang und mit der bisher abgeblendet gehaltenen Laterne hineinleuchtete, packte mich ein Entsetzen, wie ich es selten gespürt habe.

Der Maia hatte die Frau zu Boden geworfen und preßte ihr mit der Linken den Hals zusammen, während er mit der anderen Hand ein Stück Eisenstange – offenbar eine Strebe der Flügel – zum tödlichen Hiebe schwang.

Chi war wie ein Blitz an mir vorbei durch das Fenster geschlüpft und stieß jene merkwürdigen Töne aus, die nur die Orang-Utan-Weibchen zu gewissen Zeiten von sich geben. Man könnte dieses langgezogene anschwellende Heulen mit Sirenengesang bezeichnen, wenn es nicht so unheimlich tierisch klänge.

Chi, von Jugend an mit den Eigenarten der Menschenaffen vertraut, wollte lediglich den grimmen, blutenden Maia von dem Zuschlagen mit der Eisenstrebe abhalten.

Es gelang. – Der Riesenaffe war durch den Laternenschein geblendet, und als er nun horchend und blinzelnd den rechten Arm sinken ließ, tat Chi abermals das in dieser Lage einzig Richtige. Er spie dem Maia den braunen Tabaksaft seines Priems (der gute Chi priemte zur Zeit aus Not, unsere sonstigen Tabakvorräte waren nämlich aufgebraucht) zielsicher in die Augen und erreichte dadurch, daß der Affe scheu zurückwich und sich heftig die tränenden Augen rieb.

Gewiß: Eine Pistolenkugel hätte ihn rasch erledigt, aber Chi und ich sind keine Schießer und Mörder, und einen Orang Utan niederzuknallen, ist Mord an einem uns Menschen verwandten Geschöpf.

Da der Maia den Eisenstab hatten fallen lassen, genügte dann meinerseits ein derber Kopfhieb, den behaarten Gegner außer Gefecht zu setzen.

Während Chi ihn kunstgerecht fesselte, bemühte ich mich um die bewußtlose Frau.

Ich hatte die Laterne auf den Boden der Kabine gestellt. Ihr Schein übergoß ein schmales, seltsam kühnes, pikantes Gesicht.

Die Frau mochte dreißig Jahre alt sein. Sie trug ein Kleid aus Khakistoff, das entschieden billigste derbste Dutzendware und sehr geschmacklos, aber praktisch war. Die Blässe ihrer Züge trug nur dazu bei, dieses eigenartige Antlitz noch reizvoller erscheinen zu lassen.

Sie kam sehr bald wieder zu sich. Sie war zweifellos nicht verweichlicht, ihre schmalen Hände sahen sogar verarbeitet und schwielig aus, die Fingernägel waren kurz und ungepflegt, obwohl das Äußere der Unbekannten unbedingt auf eine Zugehörigkeit erster Kreise hindeutete.

Als sie die Augen aufschlug, ruhte ihr verwirrter Blick sekundenlang in tiefem Nachdenken auf meinem Gesicht, das dem ihren so nahe war. Dann erinnerte sie sich wohl an die letzten Vorgänge, und mit einem Ruck setzte sie sich aufrecht und wandte den Kopf nach der ungewöhnlichen Gruppe hin, die mein pockennarbiger Freund und der bereits gefesselte Maia in der Ecke bildeten.

»Ich danke Ihnen«, sagte sie mit belegter Stimme. »Ich war dem Tode nahe, – das Ungeheuer hätte mich …«

Chi verneigte sich tief, diesmal sichtlich ironisch. »&… getötet, Miß, – wahrscheinlich«, ergänzte er etwas rücksichtslos. »Ein angeschossener Orang Utan ist schlimmer als ein Tiger, die es hier auf Borneo zum Glück nicht gibt. – Pflegen Sie Ihre Helfer immer mit Pistolenschüssen zu begrüßen, Miß?! Es wäre das eine wenig angenehme Eigentümlichkeit, und mein Freund Olaf und ich hätten …«

»&… Oh, – verzeihen Sie bitte …« – und ihre Stimme war bereits freier und kräftiger. »Verzeihen Sie einer Frau, die unter so seltsamen Umständen gezwungen war, auf fremde Hilfe möglichst zu verzichten.«

Sie erhob sich vollends und ließ sich in einen der vier Korbsessel fallen. »Mir ist noch ganz schwindelig …« meinte sie mit erneutem scheuen Blick auf den Menschenaffen, der sich bereits zu regen begann. »Das Tier besitzt ungeheure Kräfte. Ich bin auch nicht gerade ein Schwächling, aber …«

Chis Augen, die starr auf ihre Khakijacke gerichtet waren, in der ein quadratisches Stück etwas über dem Herzen fehlte, brachte sie in Verwirrung. Sie schwieg und suchte dieses Loch in ihrer Oberkleidung, das ungeschickt hineingeschnitten zu sein schien, mit dem linken Ellenbogen zu verdecken.

Chi sagte sanft – nur ein Wort:

»Gellajore …!!« Er betonte es ganz unmerklich, und er lächelte dazu nachsichtig und wiederholte nochmals:

»Gellajore, Miß … Welche Nummer?«

Sie wurde sehr rot, dann noch bleicher, und über die vollen Lippen kam ein pfeifender Ton, als müßte sie mühsam einen Schrei unterdrücken.

Gellajore?! – Ich kannte den Ort nicht, falls es einer war, und wenn es ein Name sein sollte: In jedem Falle übte er auf die Fremde eine starke Wirkung aus.

Sie ließ den halb erhobenen linken Arm wieder sinken, – sie sprach mit erlöschender Stimme zu Chi, der das Jackenloch unverwandt beäugte, unter dem ein bläulicher Stoff sichtbar war:

»Haben Sie Erbarmen mit mir! Wenn Sie mich etwa verraten wollen und das Geld besitzen möchten: Ich kann Ihnen Tausende bieten anstelle der zwanzig Pfund Sterling …«

Mehr brauchte sie nicht zu verraten.

Jetzt besann ich mich: Gellajore war die Zuchthauskolonie unweit der großen Hafenstadt Singapore, auf einer Insel gelegen, eingezäunt mit elektrisch geladenen Stacheldrähten.

Nur Schwerverbrecher kommen nach Gellajore. Von Gellajore ist jede Flucht unmöglich, nimmt man allgemein an.

»&… die zwanzig Pfund, die auf die Wiedereinbringung von Nummer 32, weibliche Abteilung, ausgesetzt worden sein dürften«, vollendete die Frau den begonnenen Satz mit einem verzweifelten Stöhnen. –

Die Frau war Margrit Jossy, und ihr Leben war eine Tragödie seltsamster Art.

»Ich werde anbauen«, sagte Chi Api mit größter Selbstverständlichkeit und half Margrit über einen Baumstamm, der den schmalen Dschungelpfad sperrte. »Wir sind nun drei Menschen und zwei Affen, und da dürfte die Hütte zu klein sein.«

Ich schritt mit der Laterne voraus, hinter mir folgte unser neuer Schützling, und Chi trottete hinterdrein. Den verwundeten Orang Utan hatten wir verbunden und in den Fangkäfig gesperrt. Ihm nochmals die Freiheit zu schenken, war nicht ratsam, da seine Schußverletzung an der Schulter unfehlbar ohne Pflege geeitert und das arme Tier zu langsamem Siechtum verdammt hätte.

Margrit wandte den Kopf zurück. »Ich möchte Ihnen beiden keine Arbeit machen, Mr. Chi … Ich weiß gar nicht, ob ich lange bei Ihnen verweilen kann, da ich die Polizei auch hier im Urwald zu fürchten habe.«

Chi lachte sein lautloses Lachen. »Der nächste Polizist des weißen Radschas ist von hier einige fünfzig Meilen entfernt. Unsere nächsten Nachbarn sind Bergdajak, Miß, und da nicht einer von ihnen lesen und schreiben kann und der Begriff Steckbrief ihnen völlig fremd ist, sind sie genau so wenig zu fürchten wie die Polizei.«

Unsere Unterhaltung auf dem Rückmarsch zu unserer Hütte wurde häufig genug unterbrochen. Es war windig geworden, und gerade dieser Teil des Dschungels enthielt zahllose morsche Baumriesen, die nur noch durch die dicken Taue der Schlingpflanzen aufrecht gehalten wurden. Oft genug stürzte, wenn ein heftiger Windstoß über den Urwald hinfuhr, eine dieser hohlen gigantischen Säulen krachend zu Boden, riß noch andere mit sich und erfüllte das düstere Schweigen dieser grünen Wildnis mit unheimlichen Lauten.

Margrit Jossy blieb stehen und horchte.

»Was war das, Mr. Olaf?« flüsterte sie sichtlich bestürzt. »Das klang genau wie ein Metallglöckchen, und …«

»&… ist doch nur die Stimme eines kleinen borneanischen Laubfrosches«, beruhigte ich sie halb scherzend. »Sind Sie noch nie auf den Sunda-Inseln gewesen, Miß Jossy? Dieser Frosch ist geradezu berühmt, und die Reichweite seiner metallischen Kehllaute ist einfach verblüffend. Es gibt nichts Ähnliches im Tierreich, so weit mir bekannt, und sollte ich je das Glück haben, diesen Panga …«

»Panga?«

»So nennen die Dajak den Frosch, die Malaien sagen Pungi, was auf dasselbe hinauskommt: Der Rufer heißt es.«

»Ich kenne nur Indien und Arabien«, beantwortete sie meine Frage in vorsichtiger Kürze. »Der Panga ist also schwer zu fangen?«

»Sehr schwer. Seine Stimme hat die Eigentümlichkeit, niemals den Platz zu verraten, wo das Tier im Laubgewirr sitzt. Die Blätter verändern den Schall wie Kulissen, und wenn man dicht vor dem Tierchen sich zu befinden glaubt, ist es sicherlich drei Meter entfernt und ›läutet‹ … Da, hören Sie, nun sind es gar drei Pangas, die eifrigst ihre Glöckchen ertönen lassen …«

»Wundervoll …« sagte Margrit Jossy leise. »Es klingt in der Tat wie …«

Was sie als Vergleich heranziehen wollte, erfuhr ich nie.

Margrit schrie auf, denn von einer pendelnden Liane war mir mit zärtlichstem Zwitschern mein Peter um den Hals geflogen. –

Ich habe Tiere lieb. Ich habe Hunde besessen, die mir mehr galten als die Vertreter des kaltherzigen Menschengeschlechtes. Ich habe nie einen einzigen Affen gekannt, der mich so mit Liebe überschüttete wie diese Kapuzineräffchen mit dem melancholischen Kindergesicht und den hellbraunen, ernst fragenden Kinderaugen.

Wie Peter den Weg hier an die Südwestgrenze Sarawaks gefunden hatte, wem er vordem gehört haben mochte, denn er kam freiwillig vor einer Woche in unsere Hütte und schloß sofort mit mir Freundschaft, – nein, ich wußte nichts von Peter, und ich hätte nie erwartet, daß dieser drollige kleine Kerl mit dem langen Greifschwanz die Geschicke zweier Menschen so nachdrücklich beeinflussen könnte.

Peter war gestern früh verschwunden. Daß es sich nur um einen Ausflug gehandelt hatte, bewies jetzt sein Erscheinen hier so dicht vor unserer Hütte. –

Margrit war erstaunt über Peters übergroße Wiedersehensfreude.

»Ah, – ein Kapuzineräffchen …« meinte sie eigentümlich gedehnt, als ich nun den Lichtkegel der Laterne auf Peterle fallen ließ, der sein Köpfchen an meine bärtige Wange geschmiegt hatte.

Chi freute sich genau so sehr wie ich über Peters Heimkehr.

»Miß Jossy, ihm fehlt nur die Sprache, er ist sehr klug, und seine Vogeltöne haben so feine Abstufungen, daß Olaf und ich stets genau wissen, was er will … Jetzt freut er sich über alle Maßen. Seine Liebe gilt nur Olaf, ich bin kaum für ihn vorhanden, und …«

Wir waren stehen geblieben.

Margrit hatte unbewußt ein einzelnes Wort hervorgestoßen, das ich nicht verstand.

Aber Peter hatte es verstanden. Sein Köpfchen zuckte zurück, legte sich zur Seite … Er horchte, seine blanken Augen ruhten auf Margrits Gesicht.

Wieder sagte sie da, und diesmal ganz deutlich:

»Maugli!!«

Mein Peter schnellte über meine Schulter hinweg in Margrits Arme.

Was er mir an Zärtlichkeiten geschenkt hatte, war nichts im Vergleich zu den stürmischen Liebkosungen, mit denen er die Fremde überschüttete. Sein Zwitschern war hell und schrill wie das Zirpen großer Grillen, und diese Töne hatte er selbst an meinem Halse niemals erklingen lassen.

Peter, der also in Wahrheit Maugli hieß, war Margrit nicht nur ein alter lieber Bekannter, sagte ich mir im stillen Anschauen dieser Szene, die sogar Chis abgeklärte Ruhe erschütterte, – nein, Maugli mußte dieser Frau gehören, denn nur so ließ sich dieses Übermaß an Wiedersehensfreude deuten.

Margrit weinte und herzte das Äffchen und hatte alles ringsum vergessen. Ihre Stimme flüsterte den Namen Maugli, der durch Kiplings Dschungelbuch so berühmt geworden, mit einer heißen Inbrunst, als gälte diese einem vergöttertem Manne.

Maugli als Name ist wie geschaffen dazu, von einem weichen Sopran durch alle Stufenleitern der Zärtlichkeit gehaucht zu werden.

Maugli-Peter war zu beneiden. Von Margrit derart geliebkost zu werden, muß immerhin ein Genuß sein. Und wenn ein Mann wie ich, gesund, kräftig, abgehärtet, seit langem hier in den Madjang-Wäldern nur die an sich erfreuliche Gesellschaft Chis und den Anblick halbnackter Dajakfrauen genossen hat, spürt wohl jeder in seinem Inneren das gewaltige Urfeuer des Triebes. Margrit war eine Weiße. Dajakmädchen sind braun, und ich hatte nie Neigung für farbige Weiber gehabt und schon gar nicht für die schlanken Dajakfräulein, da dieses Volk der Kopfjäger im Punkte Moral zumeist mit Giftpfeilen über Verfehlungen quittiert. –

Maugli sollte die Wandelbarkeit weiblicher Gunst sehr bald erfahren. Margrits Person schien mit raschem Szenenwechsel innigst verknüpft, – vergleiche das Baumkronenvorspiel.

Meiner Laterne Lichtkegel zeigte mir eine allmähliche Wandlung im Ausdruck des tränenfeuchten Gesichts unseres Schützlings. Die Zärtlichkeit erlosch, und in Minuten wurden diese pikanten Züge hart und starr und haßerfüllt.

Jählings stieß sie das Äffchen von sich …

»Ich … hasse dich!«

Und als leiseren Nachsatz:

»&… Wie ihn …!«

Als Begleitmusik dieses vor innerer Bewegung vibrierenden Ausrufs meldeten sich mit dumpfem Krachen die stürzenden morschen Giganten und das brausende Rauschen der Baumkronen. Wir selbst standen hier in dem feierlichen Urwalddom inmitten lianenumkränzter Säulen mit wenig Unterholz. Unsere Füße waren langsam in dem weichen Humus versunken. Käfer, Schmetterlinge, Fledermäuse huschten durch den Lichtschein … ein gespenstisches Treiben, noch sinnverwirrender durch das lautlose Dahinschweben zahlreicher fliegender Hunde, die gerade an dieser Stelle eine Kolonie gebildet haben mußten. Es sind gesellig lebende Tiere, sie bevorzugen bestimmte Bäume, und niemand weiß, weshalb sie ausgerechnet zu dreißig bis vierzig tagsüber, Kopf nach unten, an einzelnen Ästen hängen wie bräunliche Früchte. –

&… Wer – – »ihn«?!

Wem galt dieser Haß?!

Törichte Frage. Einem Manne. Dem Manne hatte Maugli gehört, auf Maugli übertrug sich der Haß, und das wenige, was Margrit bisher über ihre Person angedeutet hatte, gab keinen Aufschluß über diesen Mann. Immerhin, sie haßte ihn, und der tief gekränkte und enttäuschte Peter flüchtete vor den fast rohen Händen an meine Brust zurück.

Chi Api, dem Confuzius, der Heilige, mehr gilt als ich, und das will schon etwas heißen, meinte mit mildem Vorwurf:

»Miß Jossy, der heilige Confuzius sagt an einer Stelle seiner weisen Bücher: »Das Tier ist geschaffen, damit es dem Menschen diene und …«

»Woher haben Sie Maugli?!« fragte Margrit mich mit rauher Stimme, und ihre Augen waren voller Argwohn.

»Er fand sich vor acht Tagen bei uns ein …« erklärte ich nicht minder enttäuscht wie der kleine verschüchterte Kapuziner. Diese Margrit behagte mir gar nicht.

»Allein?!« Auch das scharf und befehlend und noch mißtrauischer.

»Ja, allein …«

Sie strich sich das aschblonde wirre Haar mit der Linken zurück und ließ die Hand auf der Stirn ruhen. Ihre Züge wurden wieder elastischer. Sie schämte sich ihres Temperamentausbruches.

»Verzeihen Sie …« – und zu Maugli:

»Armer Kerl, – du bist wahrhaftig nicht dafür verantwortlich, daß alles so gekommen ist. – Geben Sie mir Maugli, Mr. Olaf … Ich … ich bin ihm keine Fremde, unsere Bekanntschaft ist älter und hat nur einen breiten Riß erhalten, durch dessen Öffnung das Bild einer Vierfachzelle von Gellajore hindurchgrinst …« Unendliche Bitterkeit durchzitterte die letzten Worte.

Chi drängte zum Weitermarsch.

»Ihre leichten Strümpfe dürften den Blutegeln kaum gewachsen sein, Miß Jossy … Gehen wir.«

Er hat recht. Wie immer. Die borneanischen Urwaldegel, die in den tieferen feuchten Schichten des Humus zu Tausenden sich aufhalten, sind eine gefährliche Bande. Sie wittern jedes Opfer mit untrüglichem Instinkt, im Nu arbeiten sie sich nach oben und überfallen Mensch und Tier, saugen sich fest und schwellen zu runden Klumpen an wie die Zecken. So manches arme Wildschwein, das durch den Giftpfeil der Dajak verletzt im Dickicht liegt, bildet in kurzem nur noch ein einziges unheimliches Gebilde von braungelben oder blauschwarzen Knollen und verreckt unter gräßlichen Qualen.

Maugli streikte. Maugli war empfindlich, und als Margrit ihn nehmen wollte, biß er nach ihren Fingern und zwitscherte wütend. Die Freundschaft war dahin.

Wir setzten unseren Weg fort. Das Gelände stieg an, der Urwald ward lichter, und dann waren wir am Ziel.

Unsere Hütte eignete sich nicht für Damenbesuch, da hatte Chi vorhin mit gutem Grund von Anbauen gesprochen. Für den Rest der Nacht spannten wir eine Wolldecke aus als Wandschirm, und Margrit fiel sofort in tiefem Schlaf auf meinem Lager, das so köstlich nach dem Sarfagras duftete, mit dem die Matratze gefüllt war.

Wir hörten ihre Atemzüge, und Chi winkte mir und wir traten leise wieder hinaus auf die Bergterrasse, deren nahe Baumkulissen wie Kerkermauern waren, die uns abschlössen von der lärmenden fernen Welt der Menschen, – und das war gut.

Chi setzte sich auf einen Stein, der bereits ganz blank gerieben war, und ich stand neben ihm und fragte, indem ich Maugli den Kopf kraulte:

»Was mag sie verbrochen haben?«

Mein Freund erwiderte kühl:

»Mord, nehme ich an … Man schickt nur Europäer nach Gellajore, die zum Tode verurteilt und begnadigt wurden.«

Ich war bedrückt und verlegen. »Traust du ihr einen Mord zu?« – Margrit Jossy hatte auf mich einen ganz anderen Eindruck gemacht. Mörderin?! Niemals!

Chi schob mit der Zunge den Priem von links nach rechts und schaute geradeaus, wo im Osten der Himmel bereits leicht hell sich färbte.

»Ich traue ihr alles zu, Olaf. Freilich, ich kenne weiße Frauen wenig. Unsere Frauen sind so ganz verschieden von denen Europas. Die Tradition Chinas weist den Frauen eine Rolle zu, die stets Statistinnen aus ihnen macht. Ihr seid schlechter daran. Und doch habe ich meine Frau über alles geliebt. Du kennst ihr Grab, Olaf, du kennst auch meinen Sohn …« Ein Leuchten verklärte seine Züge. Sein Sohn war der erwählte Nachfolger des Maiakönigs geworden, – der sagenhafte See Tapulat und all das, was wir dort erlebt, gelitten und verloren, war ausgelöscht. Es war.

»&… Diese Frau, Olaf, die dort in unserer Hütte schläft, trägt das Kennzeichen großen Leides in den Fältchen um den herben Mund … Leid hat ihre Seele gepanzert gegen alles Weiche und Gute, Haß hat ihr Herz versteinert … Sie hat geliebt, ward betrogen und ermordete den Mann, der ihr Sklave sein sollte. Unsere Frauen sind duldsamer.«

Maugli-Peter war halb unter meine zerschlissene Jacke gekrochen. Der Morgenwind war kühl, und die ersten Vogelstimmen begleiteten meine nachdenkliche Antwort.

»Deine Kombinationen sind kühn, lieber Chi. Sie mögen stimmen. Fürchtest du für uns?«

Seine erhabenen klar-ruhigen Augen trafen mich wie erstaunt. »Die Frau wird nur denen etwas zu leide tun, die ihr Leid mit hervorriefen. Ich traue ihr alles zu, nur nicht gegen uns. Sei überzeugt, Olaf: Wir werden in einer Stunde, die das Schicksal uns nähert, von Miß Jossy alles hören, alles … – Du kannst mir helfen Bambus holen … Wir wollen den Anbau vorbereiten. Schlafen?! Jetzt?! Nach alledem?!«

Er erhob sich und brachte die breiten Beile herbei. Sie waren noch schartig von der glasharten Rinde der Bambusstangen, aus denen wir den Fangkäfig hergestellt hatten. Ich trug Peter in den kleinen Anbau unseres Heims, und hinter mir erscholl das schabende metallische Geräusch des Wetzsteines, den Chi über die Schneiden gleiten ließ. Gehorsam wühlte Peter sich in sein Körbchen und das weiche Heu ein, blinzelte mich an, umfaßte spielend meinen Zeigefinger und zwitscherte müde. Dann schlief er ein.

Wir schritten die Terrasse hinab zu dem verkrauteten Teich, an dessen Ufern der Stangenwald des Bambus gelblich schimmerte. Chi war schweigsam. Vorhin hatte er sein Weib und seinen Sohn seit langer Zeit wieder einmal erwähnt. In seiner Seele waren Erinnerungen erwacht an die Jahre, die er in seiner Doppelrolle als Stationsbeamter und Radscha von Tapulat verbracht hatte. All das war dahin … Seine versonnenen Züge strafften sich erst beim Fällen des Bambus. Seine Schläge trafen haarscharf die Knotenstellen, wo die Schneide nicht abgleitet.

Es war hell geworden. Sechs Uhr morgens also. Borneo kennt keinen Wechsel von Tagesanfang. Die Waldbewohner brauchen keine Uhr mit Federantrieb und kompliziertem Zifferblatt. Unter jedem Gemeinschaftshause der Bergdajak, luftige Bauten auf hohen Eichenpfählen, sind an den Eckpfosten unten Bretter mit Holzpflöcken angebracht, deren längster die Mittagsstunde bedeutet, – der Pfahl wirft den Schatten auf das Brett, und die Pflöcke sind die Ziffern. Ein Missionar zeigte den Dajak diese uralte chinesische Kunst, die Sonne als Uhr zu benutzen, und zum Dank hängt des wackeren Mannes geräucherter Kopf nun in einem Pfahlbau – irgendwo. Es ist ehrenhaft, den Kopf auf die Art zu verlieren. Andere verlieren den Kopf zur Unzeit. Der Missionar erst nach seinem Tode. So erzählt man in den Dajaksiedlungen.

Chi Api sagte, als er das Bauholz an den Schnittflächen glättete:

»Warum warf sie die Flasche mit dem eingeklemmten Taschentuch herab, wenn sie allein bleiben wollte?!«

»Ja, warum …«

Ich schaute zur Hütte empor. Büsche verdeckten sie halb. Ich sah durch das stellenweise sehr hohe Gras eine kleine Gestalt herbeihumpeln.

Es war mein Peter.

Wir hatten nun zwei Affenpatienten. Peters rechte Hand war blutig. Über die Innenhand lief ein glatter Schnitt hin.

Peter zwitscherte in dunklen Tönen. Er hielt die Hand, von der das Blut herabtropfte, weit von seinem Körperchen ab. Er war sehr sauber, so sauber, daß er jeden Zinnteller, jeden Aluminiumtopf erst ausleckte, sofern die Speisereste ihm schmeckten, und dann mit dem Ende seines langen Ringelschwanzes nachhalf, worauf er schleunigst zum Bache eilte und besagtes behaartes Schwänzlein hineinhing.

Heute hätte Peter kaum Lust gehabt, sich als Tellerwäscher zu versuchen. Trauriger hatte ich sein Gesichtchen noch nie gesehen.

Er war wie immer an meine Brust geflüchtet, und als Chi die kleine verletzte Pfote verbinden wollte, gab es einen bösen Kampf zwischen den beiden. Peters Intelligenz überwog den Selbsterhaltungstrieb, Chi, sah er ein, wollte ihm nicht ans Leben, sondern nur Gutes erweisen, und sehr bald hatte das Händchen einen weißen Überzug von Streifen eines frisch gewaschenen Taschentuches.

Woher der Schnitt?! – Chi und ich waren ziemlich ratlos. Daß Peter sich an einem Stück Glas verletzt haben könnte, erschien unmöglich, denn wir hatten kaum etwas von Scherben in der Nähe unseres Heimes oder im Stalle, und – er hatte doch geschlafen! Das tagelange Vagabundieren hatte auch ihn ermüdet.

Chis dünne Lippen zogen sich noch schmäler.

»Ein Messer«, sagte er achselzuckend. »Und Miß Margrit Jossy …« fügte er hinzu, blickte zur Seite und überließ mir die Ausfüllung der Lücken seiner für Margrit wenig schmeichelhaften Gedankengänge.

Ich hatte den rechten Fuß auf den Stapel Bambuspfähle gestellt und zog meine Schnürsenkel fester. Es waren längst nicht mehr kultivierte Erzeugnisse dieser Branche, sondern nur dünne selbstgeschnittene Riemchen, und die dazu gehörigen Schuhe hätte kein Stromer aus dem Chausseegraben aufgelesen, sie dienten mir nun bereits vier Monate, und vier Monate im Borneodschungel sind mörderisch für allerbestes Leder. Chis Schusterkünste hatten Risse geflickt, hatten Rüster aufgesetzt, – es waren unglaubliche Stiefel, unglaublich wie meine ganze Kluft und mein mit einer verrosteten Nagelschere zurechtgestutzter Spitzbart. Die Rasierklingen waren ebenfalls der Feuchtigkeit erlegen. Borneos Urwälder fressen Stahl wie Konservenbüchsenblech.

»Das wäre hundsgemein«, sagte ich und zog den Knoten grimmig fest. »Wer wird seinen Haß an einem wehrlosen Tierchen auslassen?!«

Ich richte mich wieder auf. Chi lächelte unmerklich.

»Du hast mich mißverstanden, Freund Olaf.«

Die Sonne war bereits in einem Einschnitt der nächsten Bergkette sichtbar geworden. Ihre noch müden ersten Strahlen, verschlafen wie das Zwickern von Kinderaugen nach dem Erwachen, warfen einen Schatten über den Grasraum zwischen Chi und mir.

Vor uns stand Tabeh, das Oberhaupt der nächsten Dajaksiedlung, ein Mann in mittleren Jahren mit fast europäischen Zügen und hellbrauner Haut, die ganz wenig olivengrün schimmerte.

Tabeh war unser Freund. Vor zwei Monaten nannte er sich noch Ampani, was so viel wie Feuer, Hitze, Sonne bedeutet. Dann aber hatte Ampani das Fieber gepackt, und als er genesen, legte er nach altem abergläubischem Dajakbrauch den Namen Ampani ab und nannte sich Tabeh, »Guter Tag«, damit die Fieberdämonen für die Zukunft irregeführt würden.

Es klang nur sehr seltsam, wenn Häuptling Tabeh uns mit »Tabeh« begrüßte, also »Guten Tag«, – auch die übliche Redensart bei Begegnungen.

Tabeh war im vollen Schmuck seiner Waffen. Sein Stolz war seine Vorderladerflinte, die niemandem mehr etwas zuleide tat. Nebenbei trug er das federgeschmückte Beil mit der schmalen Schneide, fast hammerähnlich, das Blasrohr, den Beutel mit Giftpfeilen, einen langen Kris und eine Bambuslanze. In bezug auf Toilette war Herr Tabeh bescheidener. Ihm genügte ein Bastschutz und das bekannte Sitztuch der Dajak, das zumeist aus Leder besteht und nur dazu dient, den Träger hinterwärts vor direkter Berührung mit dem Boden zu schützen.

»Tabeh, Freunde«, sagte der muskelstrotzende Mann und nickte uns zu. »Viele Knoten fremder Vergehen sind in meinem Herzen, Freunde.« (Das hieß: Jemand hat mir ein Leid angetan. – Die Rede-Außenseite der Vorgänge in Form von Vergleichen.)

Er sprach diesen Nachsatz mit rauher Stimme, stieß seine Lanze mit der Spitze in den Boden und fügte hinzu:

»Es kam ein Tuwan, der mit seinen Worten ruderte (d. h. er log). Er erzählte von allerlei Waren, die am Flusse in seinem Sampan lägen, wir bewirteten ihn, aber sein Herz hatte ein dickes Fell (er war undankbar), und am Morgen war er weg und mit ihm mein bestes Boot. Ich bin zu euch gekommen, zu sehen, ob er hier in der Nähe. Mein Mund hat den Himmel über dem fremden Tuwan beleckt (ich habe ihn verflucht), und wenn ich ihn finde, wird sein Kopf meine Kammer zieren.«

Tabehs Erscheinen kam mir sehr gelegen. Uns fehlte so manches, was er uns von der nächsten Station besorgen konnte. Wir mußten auch Reis von ihm einkaufen, und der fremde Europäer, sicherlich einer jener Strolche, die alle Weltgegenden unsicher machen, war mir sehr gleichgültig.

»Er ist nicht bei uns«, erklärte Chi und betrachtete abschätzend die Bambuspfähle. »Wann war er bei euch?«

»Vor einem Knoten«, antwortete Tabeh gereizt. »Werdet ihr ihn fangen, Chi Api? Es war in der Nacht, als er bei uns draußen auf der Plattform schlief, ein fliegendes Feuer am Himmel (Sternschnuppe), und dieses Feuer gebar andere bunte Feuer und war hier über euren Bäumen irgendwo.«

Jetzt horchte ich auf. – Eine Rakete also?!

Ich fragte hastig: »Sahst du das fliegende Feuer selbst?«

»Ich verjagte nachts die grauen Kra-Affen aus dem Reisfelde, Tuwan Olaf, und ich sah es gut, denn meine Augen sind dünn (scharf) … Der Fremde sah es auch, morgens aber fehlte mein Boot und er selbst.«

Chi tauschte mit mir einen verstohlenen Blick.

Wir waren uns einig darüber, daß Margrit Jossy die Rakete als Signal abgeschossen haben mußte. Mithin hatte der Mann sie hier erwartet, und ihre Landung in den Wipfeln war freiwillig geschehen. Sie mußte auch die Gegend hier sehr gut kennen. Eine Orientierung war am Tage leicht, da die einzelnen Berghäupter des Madjang-Gebirges recht eigenartige Formen haben. Selbst die Flasche mit der Taschentuchfahne hatte nun ihre Erklärung gefunden: Sie war nur ein Zeichen für den Fremden gewesen, wo er das Flugzeug in den Wipfeln finden würde.

Tabeh, nicht ohne Grund Oberhaupt eines Gemeindehauses von über hundert Türen (das bedeutet hundert Einzelfamilien in einem Pfahlbau von mindestens hundertdreißig Meter Länge. Die Gemeinschaftshäuser der Dajak sind sogar zweihundert Meter lang und dann etwa vierzig Meter breit). – Dieser Tabeh, ein Mann von erstaunlicher Klugheit und Vielseitigkeit, schaute jetzt gleichfalls den Stapel Bambus an und fragte leichthin: »Ihr wollt anbauen, Tuwan?«

War es geraten, ihm von Margrit Jossy zu berichten? Konnte Tabeh nicht sofort einen Zusammenhang zwischen ihr und dem Diebe des Sampan wittern?

Aber der Häuptling, durch häufigere Begegnung mit Europäern gewitzigt, merkte an meinem Zögern, daß hier etwas nicht stimmte.

»Tuwan Olaf«, – sein Blick wurde dunkel vor Mißtrauen, »ihr haltet den Mann hier verborgen …!«

Die Feindseligkeit seines Tones schien bedenklich. Auf keinen Fall durften wir es mit ihm verderben. Seine Leute waren äußerst kriegerisch, und man sprach auf der Polizeistation so allerlei über heimliche Kopfjagden und blutige Kämpfe mit einer Malaiensiedlung jenseits des Berges.

Chi Api lenkte ebenfalls schleunigst ein.

»Tabeh, ja, wir vergrößern die Hütte, denn wir haben einen Gast bekommen, eine weiße Frau, die mit …« – er hätte sich beinahe verplappert, er hatte zweifellos sagen wollen, –: Eine Frau, die mit einem Flugzeug hier landete. – Er stockte, wandte den uralten Trick des Hüsteln an und setzte hinzu: »&… mit Freund Olaf befreundet ist … Es ist eine Forscherin, Tabeh, eine Frau, die die Bäume und Pflanzen untersucht … Wenn du sie sehen willst, – sie schläft jetzt in der Hütte, sie war sehr müde von der Reise, sie kam ganz allein über die Grenze …«

Armer Chi!

Tabeh packte seine Lanze, zog sie aus dem Boden und deutete mit der blanken Eisenspitze, die wohl schon so manchem Wildschwein den Tod gegeben, auf unser freundliches Hüttchen.

»Du ruderst mit deinen Worten, Chi!« – Es hätte dieses Vorwurfs der Lüge gar nicht bedurft. Tabehs Gesicht besagte genug. »Deine Worte machen kein Loch in meine Seele – niemals, Chi«, fügte er mit jenem drohenden Hochmut hinzu, den ich schon wiederholt an ihm beobachtet hatte. »Ich habe euch über die Lianenbrücke geführt, und sie schwankte hin und her und zerriß … (d. h. ich habe euch auf die Probe gestellt). Ich verfolgte die Spur des Fremden mit den Zeichen unter den Schuhen bis dort an das Geröll …« Er zog aus seinem Pfeilbeutel ein Lehmstück, in dem der Gummiabsatz seines Stiefels scharf eingeprägt war, und hielt mir diesen Lehmabguß der Fährte dicht unter die Augen. Ich konnte noch genau die Inschrift des Gummiabsatzes und die Riffelung erkennen. Es war ein amerikanisches Fabrikat aus allerbestem Kautschuk.

»Zeige mir die Frau, Tuwan Olaf, und wir bleiben Freunde«, war seine Schlußbemerkung, die bereits so spöttisch klang, daß ich schroff entgegnete:

»Du wirst uns nachher um Verzeihung bitten, Tabeh. Die Frau ist bei uns. Folge mir.«

Der kleine Kapuziner kauerte noch immer halb unter meiner Jacke und schien recht matt zu sein. Als ich nun der Hütte zuschritt, zeigte er eine Unruhe, die beständig wuchs. Sein seltsames Zwitschern ward heller und glich immer mehr einer Grille. Er hatte Angst, er fürchtete sich vor irgend etwas. Ich kannte ihn bereits so gut, daß mir jede Kleinigkeit seines Vernehmens vertraut war.

Die Hütte war leer.

Leer war mein Lager, aber eine dünne Spur von Bluttropfen zog sich von dem niederen Kastenbett zur Tür hin.

Hinter mir erklang das beleidigende Lachen des Häuptlings Tabeh.

Wovor fürchtete er sich?! – Und wieder fragte ich mich: Wie hatte Peter sich die Hand verletzt?! – Undenkbar doch, daß Margrit Jossy tatsächlich so roh gewesen sein sollte, ihren Haß an dem unschuldigen Tierchen auszulassen!

Ich öffnete den Vorhang der Türöffnung, den Chi aus Rotangfasern so zierlich geflochten und so wundervoll nach chinesischem Geschmack mit Pflanzenfarbe betuscht hatte.

»Nun, Tuwan, habt ihr mit den Worten gerudert?!«

Er bückte sich, er zeigte auf den Sand vor der Schwelle, er legte seinen Lehmabguß neben diese unklare Fährte, und ich war um vieles klüger geworden.

Der Fremde, der sich hier in der Gegend mit Margrit Jossy verabredet gehabt hatte, war hier gewesen, beide waren auf und davon, und irgendwie mußte auch Peter-Maugli bei diesem Wiedersehen eine noch unklare Rolle gespielt haben, die ihm einen Schnitt über die Innenhand eintrug.

Tabeh drängte mich beiseite und trat ein. Peter zwitscherte schrill, und Chi raunte mir zu: »Olaf, er ist nicht allein hier … Er hat seine Krieger irgendwo verborgen. Seien wir vorsichtig.«

Standen die Dinge so, dann hieß es rasch einen Entschluß fassen. Niemals würden wir den anmaßenden Tabeh überzeugen, daß wir mit dem Sampan-Diebe nichts gemein hätten. Anderseits waren wir in übelster Lage. Tabeh war nicht der Mann, der irgendwie Rücksicht nehmen würde. Die Dajak aus der Südwestecke von Sarawak sind ein anderer Schlag als ihre Brüder aus Niederländisch-Borneo.

Ich verständigte mich mit Chi durch einen einzigen Blick. Ich ließ Peter zu Boden gleiten. Ich wollte die Arme frei haben.

Tabeh drehte sich jäh um, als ich ihm die Hand auf die Schulter legte. Er starrte wild in das schwarze Mündungsloch der Selbstladepistole. Er kannte die kleinen schwarzen Flinten, die neun Kugeln spucken konnten.

Chi sagte an meiner Statt: »Wie viele deiner Leute liegen im Hinterhalt, Tabeh?! Auch dein Herz hat ein sehr dickes Fell. Hat dir nicht Tuwan Olaf noch letztens deine Büchse in Ordnung gebracht?!«

Das stimmte nicht ganz. An der uralten Knarre war nichts mehr zu retten. Daß ich sie gründlich gesäubert, geölt und daraus einen Schuß abgegeben hatte, dessen Rückstoß mir eine Beule an der Schulter eintrug, hatte nichts zu bedeuten. Chi zählte weitere ähnliche Wohltaten auf. Auf Tabeh machte nur die Pistole Eindruck. Ich wußte, der Manang (Arzt und Zauberer) hatte ihm geweissagt, daß er einst durch eine Kugel ein »Liau« werden, das heißt sterben würde. Wenn nun auch die Bergdajak den Tod nicht fürchten, vielmehr fest an ein »Jenseits« glauben, zu dem sie sich erst als »Geist, Liau« den Weg erkämpfen müssen, so hängen sie doch am Leben und tun dies um so mehr, da ihr sorgenloses Dasein, man kann schon sagen ihr Faulenzerdasein im Jenseits kaum behaglicher sein könnte.

Tabeh sagte merklich kleinlaut: »Tuwan Olaf, stecke die Waffe weg … Ich habe nur acht Krieger bei mir, und wir werden gegen euch beide nichts unternehmen, wenn wir den Dieb erst gefangen haben.«

Ein feiner Diplomat, der Herr Tabeh!! Waffe wegstecken!! Ich lachte ihm ins Gesicht.

»Freundchen, ehrlich Spiel!! Ihr Dajak seid zumeist fanatische Wahrheitseiferer. Du biegst die Wahrheit wie einen Bogen, Tabeh. Wir haben nicht gelogen, wir sahen den Fremden noch nie, und …«

Chi Api, stets für ein abgekürztes Verfahren, meinte mit feinem Witz:

»Entschuldige, daß ich dich unterbreche, Freund Olaf. Worte sind nicht dazu da, sie zu verschwenden. Tabeh hält es wie jener Mann, der auf den Jahrmarkt ging und Eier anbot. Als ein Käufer kam, sagte der Mann: ›Bezahle mir die Eier. Du siehst hier meine Hennen, sie werden noch heute legen.‹ – Diese Geschichte steht in den Schriften des Mandschu-Dichters Coloko. Sie hat noch eine Fortsetzung, Tabeh. Wünschest du sie zu hören.«

Der Dajak wurde noch demütiger.

»Ich glaube euch. Eure Zungen liegen frei. Wir bleiben Freunde.«

»Vortrefflich!« lobte mein kleiner Chi mit ernstestem Gesicht. »Dann mache es dir hier bequem, setze dich und warte, bis Olaf die Fährten der beiden bis in den Wald verfolgt hat. Stelle Lanze, Flinte und Blasrohr dort in die Ecke und begnüge dich mit meiner Gesellschaft. Ich werde dir meine Pistole zeigen und dir erklären, wie die Patronen nach jedem Schuß von selbst in den Lauf gleiten. Schießen werde ich nur im Notfalle, Tabeh«, fügte er ebenso harmlos hinzu.

Tabeh war nicht begriffsstutzig und gehorchte.

Inzwischen hatte mein Peter sich in Margrit Jossys noch warmes Lager behaglich eingewühlt und war eingenickt. Ich nahm die Repetierbüchse und trat ins Freie, während Tabeh unter sicherer Bewachung sich dem Genuß eines Stückchens Kautabaks hingab.

Der köstliche Morgen hier in sechshundert Meter Höhe ließ mich Müdigkeit und all die dunklen Ereignisse minutenlang vergessen. Unsere Bergterrasse bot wunderbare Fernsicht über die nordwestlichen Wälder, die sich zwischen den hellgrünen Berghäuptern wie bunt gemusterte Teppiche ausbreiten. Ich atmete tief die würzige Luft ein, mein Brustkorb dehnte sich, rascher floß mir das Blut durch die Adern und die Trunkenheit der reinen Naturfreunde befiel mich mit derselben berauschenden Macht wie stets, wenn ich, ein Einsamer in der Einsamkeit, mich Gott fühlte inmitten Gottes freiestem Schöpfungswerk.

Mein Leben war seit Jahren nur Pilgerfahrt ins Nichts. Und gerade dieses Ziellose einer Wanderung über den Erdball, gerade dieses völlige Versinken in das Spiel von Zufälligkeiten, die meine Wege kreuz und quer mir aufdrängten, war das wahre Menschentum. Über fernen Meeren und Ländern lag im verstaubten Aktenregal ein verstaubter Aktenband:

Mordsache Olaf Karl Abelsen.

Ganz zuletzt stand da wohl in diesen lächerlichen Papierfetzen eine Notiz: Steckbrieferneuerung!

Drüben in Australien hatte ich es erfahren. Man fahndete noch immer nach mir, dem Totschläger, dem entsprungenen Sträfling. Wie ein wüster Traum waren jene Zeiten nur mehr, als ich eines Nachts mir die Freiheit erobert hatte und dann mit den Wogen der Ostsee gerungen und an der treibenden Mine gehangen hatte …

Es war.

Wie ein schöner Traum die Monate am Gallegos mit Coy Cala …

Alles erwacht. Der Sturm des Schicksals reißt Lücken in die Seele. Und außer Coy habe ich viele und vieles geliebt und bin nur genesen mit meiner gelöcherten Seele durch immer neue Nackenschläge des Geschicks voll süß-bitteren Schmerzes.

Meine Brust dehnte sich, und in dieser Minute begriff ich die Älpler in Deutschland, denen ein Übermaß an Kraftgefühl die Stimme zum weithallenden Jodler anschwellen läßt. –

Die Gegenwart forderte ihren Tribut. Meine Augen spähten umher, die entsicherte Büchse lag mir im Arm, und Coys gelehriger Schüler gebrauchte alle Künste der Selbstsicherung und der Spürtätigkeit.

Von Tabehs Kriegern war natürlich nichts zu sehen. Sie steckten sicherlich irgendwo im Busche und beobachteten mich. Ich hatte sie kaum zu fürchten. Sie ahnten nicht, daß ihr Gemeindehaupt sich von Chi eine Pistole erklären ließ. Dennoch war ich wachsam. Die Fährte des Mannes mit den Gummihacken war unschwer immer wieder zu finden, wenn sie auch für längere Strecken auf Geröll fast völlig verschwand. Jeder weiß, daß Gummiabsätze die Eigentümlichkeit haben, feinste Staubteile aufzunehmen und an anderen glatten Stellen als graue, matte Halbkreise wieder abzugeben. So gelangte ich auf einem Umweg, den die beiden Flüchtlinge nur gewählt hatten, um von uns, den Bambusfällern nicht bemerkt zu werden, zur Einmündung des Dschungelpfades in den eigentlichen Urwald. Es war der Pfad zur Orang-Utan-Falle und somit auch der Weg zu dem in den Kronen hängenden Flugzeug.

Hier auf dem »Djalan monjet«, dem Affenwege, wie die Malaien sagen, war in dem Humus nichts mehr von einzelnen Fährten zu erkennen. Trotzdem konnten die beiden unmöglich zur Seite abgewichen sein. Ein Urwaldpfad in Borneo ist stets so dicht von Stachellianen und anderen unbequemen Gewächsen umsäumt, daß nur das Buschmesser Raum schafft. Ich war noch keine hundert Meter gegangen, als vor mir schrille Stimmen erschollen. Ich drückte mich hinter einen Baumgiganten, und zu meinem Erstaunen gewahrte ich zwei bewaffnete Dajak, die sehr eilig dahergetrabt kamen und in größter Aufregung zu sein schienen.

Mein Anruf bannte sie an derselben Stelle.

»Tabeh, Tuwan …« sagte der eine und blickte mißtrauisch auf meine Büchse. Seine Freundlichkeit war nicht ganz echt.

»Was tut ihr hier?« – und ich brachte den Büchsenlauf noch höher.

Der Mann zögerte.

»Seid ihr Leute Tabehs?« half ich etwas nach. Ich ahnte bereits, was geschehen. »Habt ihr die Frau und den Fremden verfolgt? Sind die beiden etwa auf den Baum geklettert, in dem der große graue fliegende Hund mit der Kurbel der Reismühle liegt?« Diese Umschreibung für Flugzeug war etwas umständlich, aber nötig.

Der Dajak, der mir bekannt vorkam und den ich wohl im Pfahlhause Tabehs gesehen haben mochte, nickte widerwillig.

»Begleitet mich«, sagte ich kurz. »Geht voran zu unserer Hütte.« –

Häuptling Tabeh ließ sich Bericht erstatten. Die beiden Flüchtlinge waren beide oben im Flugzeug, und Tabehs restliche sechs Leute bewachten jetzt den Baum.

Chi meinte mit mürrischer Miene:

»Ihr habt sie nun eingekreist. Aber Olaf und ich werden mit ihnen reden. Es sind Weiße, und du kennst des Radschas Gesetze: Deine Gerichtsbarkeit endet vor jedem weißen Antlitz, Tabeh. – Gehen wir …«

Wir standen alle in der Hütte. Der Vorhang war hochgeschlagen. In der Türöffnung erschien ein kleiner strohblonder Europäer mit nußbraunem, faltigem Gesicht.

»Morgen …« grüßte er in englischer Sprache. »Mein Name ist Borstel, James Borstel, Polizeichef von Lubok Antu …«

Tabeh und seine Krieger verneigten sich bis zur Erde, und auch Chi Api machte einen tiefen Bückling vor Herrn Johann Borstel, einem jener Globetrotter und Allerweltsamtsknechte, die in den Kolonien im Osten vielfach eine so bedeutende Rolle spielen und als Kulturpioniere mehr leisten als die behördlich vorgebildeten Beamten.

Borstels helle nadelscharfe Augen überflogen unsere Gesellschaft. Er nahm seinen schmierigen Tropenhelm ab und enthüllte einen Schädel, der wie eine rotbraune Bürste aussah. – Er hieß mit Recht Borstel, er hatte Borsten und war borstig.

Sein Blick blieb auf mir ruhen.

»Hm …« meinte er gedehnt. »Wer sind Sie, Mr.?«

Seine übermagere Totenschädelvisage zeigte den Ausdruck lauernden Forschens.

»Ein Orang-Utan-Fänger, Mr. Borstel …« – und mir war nicht ganz wohl bei dieser ersten Begegnung mit dem berühmtesten Manne des Südwestdistrikts. Ich hatte von Chi den Namen schon oft vernommen, und als wir vom weißen Radscha von Sarawak die Erlaubnis zum Affenfang erhalten hatten, war das Schriftstück »James Borstel« gegengezeichnet gewesen.

»Sind Sie Mr. Elsen?« fragte er schon einen Deut freundlicher.

»Ja, – Elsen, und das da ist Chi, und …«

»Danke, danke …« Er fächelte sich mit dem Tropenhelm Luft zu und streichelte mit der Rechten seine Hakennase. »Wir haben nämlich in Lubok Antu eine Radiostation und ein Observatorium mit tadellosem Fernrohr, Mr. Elsen … Die Flucht der Margrit Jossy war uns bekannt, auch die Richtung, die das Flugzeug gewählt hatte … Die Rakete wurde beobachtet. Ich hörte hier soeben viel Erfreuliches. Die beiden stecken also im Baume … Freut mich, – brechen wir auf.«

Johann Borstel stülpte seinen verschwitzten Helm über die Borsten und ging uns voran.

Seine ganze Bewaffnung bestand aus einem Bambusstock mit Wildeberzahnkrücke. Dieser kleine Kerl, noch kleiner als Chi, aber mit Schultern eines Stauers, war eines jener seltenen Exemplare aus des Herrgotts Raritätenkiste, die drüben im Mutterlande vielleicht im Zuchthaus Tüten geklebt hätten, – hier waren sie am rechten Platz mit ihrer stark ausgeprägten Verachtung aller gedruckten Paragraphen.

»&… Machen Sie mir keinen Schmus vor«, sagte Borstel, als wir an der Spitze des Zuges dahinschritten. Er sprach deutsch, und daß seine Wiege irgendwo in oder bei Berlin gestanden hatte, verriet sein Dialekt ganz eindeutig. Als ehemaliger Charlottenburger Hochschüler konnte ich das selbst als Schwede beurteilen.

Er schaute mich von der Seite an. »Sie sind der Ingenieur Karl Abelsen, nein, Olaf Karl Abelsen, und unser Fahndungsblatt« – er seufzte schmerzlich – »brachte neuerdings wieder Ihr Bild mit der freundlichen Aufforderung … und so weiter. All dieses gedruckte Schmalz kommt nie auf meine Brotschnitte, Verehrtester. Wenigstens dann nicht, wenn es sich um Leute Ihres Schlages handelt. Was nun die Jossy betrifft, Herr Abelsen, – da liegen die Dinge doch anders. Die hat kaltblütig in einem Hotel in Singapore die Lady Rosselleer niedergeknallt …: Eifersucht! Überlegter Mord, dabei noch ohne wahren Grund, denn der Verlobte der Jossy hatte lediglich mit diesem schönen Satan Fanny Rosselleer ein wenig geflirtet. – Kennen Sie die Geschichte? Die Jossy war doch bei Ihnen, und …«

»Sie nannte nur ihren Namen, Herr Borstel. Und sie stellte sich unter meinen Schutz, weil …«

»Wollen Sie Ritter spielen?!« Er lachte rauh, und als Echo erklang seitwärts von uns das Brüllkonzert eine Gibbonherde. Die Heulbrüder sind morgens stets am eifrigsten. »Wollen Sie Ritter spielen«, wiederholte er noch ironischer, nachdem er eine Weile gelauscht hatte. »Dann würden wir uns ins Gehege kommen, Herr Abelsen, gegenseitig, – widerstreitende Interessen … Täte mir leid … Ich bin Beamter des Radschas und tue meine Pflicht, soweit ich es muß. Wer sich unnötig ein Bein ausreißt, ist ein Narr, Verehrtester … Die Jossy hat mit ihrer Knallerei ungeheuer viel Staub aufgewirbelt … Lord Rosselleer kennt den Radscha persönlich. Ich muß zupacken.«

Er bot mir eine Zigarre an. »Da – bitte … In meinem Motorstänker habe ich noch eine janze Kiste … – Hören Sie nur, die Gibbons sind ja rein des Teufels, die Bande … In Lubok Antu gibt es keine mehr, – zu kultiviert die Jejend. Schade. Als ich vor zehn Jahren hinkam, konnte man die Biester jeden Morgen jodeln hören! Heute, – Kultur!! Alles Viehzeug weg. Feines Hotel im Orte, Radio, Riesenfernrohr, Jazzmusik, – ich baue bald ab. Es behagt mir nicht mehr, jeden Tag vor einem reichen Weltenbummler Kotau zu machen und Süßholz zu raspeln, obwohl ich von Beruf Drechsler bin … Komisch, was? Drechsler, jetzt Polizeichef, Herr über Leben und Tod …«

»Haben Sie denn Ihre Beamten in Ihrem Motorboot gelassen?« lenkte ich wieder in die Gegenwart zurück.

Er warf mir einen spitzen Blick zu. »Beamte?! Ich?! Hat Chi nie von mir erzählt? Ich mache Dienstfahrten stets allein.«

»Verzeihung, – ich entsinne mich …« Die Zigarre war tadellos. »Chi erwähnte, daß Sie sogar niemals Waffen mitnehmen. Ist das nicht etwas gewagt?!«

Er schlug mit seinem Bambus eine Ranke beiseite. »Gewagt?! Ach nein, Herr Abelsen … Ich bin ja ein Manag, das wissen alle Dajak und Malaien …«

Der Manag ist Priester, Zauberer und Arzt in einer Person. Jedes Gemeinschaftshaus besitzt solch einen Wundermann. Sie bilden eine streng in sich abgeschlossene Kaste, und die Prüfung zum Manag ist schwieriger und schmerzhafter als ein Doktorexamen auf einer Universität. Daß ein Europäer jemals der hohen Ehre teilhaftig geworden wäre, ein Manag zu werden, hatte ich noch nie gehört.

James Borstel lächelte vergnügt. »Die Sache hatte natürlich ihre üblen Seiten, – ich meine die Prüfung … Zuerst kriegt man die Stirn mit Affenfett eingerieben, dann muß man um eine Lanze so lange im Kreise herumrennen, bis man zusammenbricht. Ich brach sehr rasch zusammen. Nachher wird man regelrecht massiert, bekommt Goldstaub in die Augen gestreut und muß als Knalleffekt einen Antu einfangen, – Antu ist ja alles: Guter, schlechter Dämon, Krankheitserreger, Unglücksbringer. Die Manag bauen eine regelrechte Falle zu diesem Zweck. Nachher muß in der Falle, wenn der Kandidat die nötigen Beschwörungen gesprochen hat, der Antu in Gestalt eines welken Blattes, eines Dorns, eines toten Käfers oder dergleichen stecken. Ich hatte mir eine richtige Mausefalle mit Blechklappe besorgt. Den nötigen toten Mistkäfer nagelte ich hinein. So wurde ich Manag, mein Ruf als größter Zauberer hätte einen Professor neidisch machen können. Kein Dajak wird es je wagen, sein Blasrohr heimtückisch auf mich zu richten, obwohl ich eine ganze Menge von den Burschen baumeln ließ … Sie wissen ja, die Dajak sind nicht Fußballspieler, sondern noch immer insgeheim Verehrer von geräucherten Menschenschädeln. – Nun aber zurück zu Jossy … Sie ist Engländerin, Sportfliegerin, Waise, reich, lernte in London den auf Urlaub weilenden Major Brasson von der Singapore-Artillerie kennen, besuchte ihn mit ihrem Benzinvogel – Kleinigkeit heute –, ausgerechnet kommt dem Liebespaar die schöne Fanny in die Quere, die mit ihrem Trottel von Gatten einen Spaziergang um den Äquator macht, – der Krach ist da … es knallt, die Lady ist tot, Margrit wird nach Gellajore verschickt, Brasson bereitet ihre Flucht vor, mietet einen alten Küstendampfer, hat treue Diener, läßt das Flugzeug nachts an die Südspitze von Gellajore bringen, fährt hier nach Sarawak: Rakete – – und so weiter. Aus alledem ließen sich zwei Bände Roman schreiben. Das Ende?!«

Er warf seinen Stummel in das Dickicht.

»Das Ende, – ja, das steht nun bevor, leider. Margrit Jossy und Austin Brasson stecken droben im Eindecker, und ich – – was tue ich?! Verfluchte Lage, Verehrtester! Pflicht?! Hm – lasse ich die beiden laufen, sägt mich der Radscha ab … Verhafte ich sie, ist es mit dem wackeren Major Austin Brasson alle … Am liebsten wäre es mir, die beiden hätten ihren Benzinkranich noch in Ordnung und segelten davon. Aber ich kann mir ja vorstellen, wie das Ding nach der Landung in den Baumkronen ausschaut: Bruch, Altmetall, Knüppelholz!! Und mindestens ebenso gern hätte ich es, wenn das Pärchen – hoffentlich lassen sie sich derweil vom Kuckuck trauen! – uns ganz gehörig die …« – er verschluckte den Rest, lachte knurrend und fügte hinzu: »Johann Borstel könnte ehrlich sein, Mr. James Borstel darf es nicht … – Hoppla, das wäre beinahe was geworden!!«

Allerdings beinahe …!

Borstel zog die Nase kraus, die so kühn und schmal dem hageren Gesicht die persönliche Note gab. Wir waren im Eifer des Gesprächs den anderen weit vorausgeeilt, und unversehens waren wir an den Rand der kleinen Lichtung gelangt, in deren Mitte der bewußte einzelne Baum mit Chis Orang-Utan-Käfig und rechts der andere mit dem Rumpfe des Eindeckers stand.

Borstel nahm seinen Tropenzylinder ab und betrachtete mißvergnügt das Loch in der Spitze. Es waren zwei Löcher, Ein- und Ausschuß, und der Kork grinste durch den zerfetzten Stoff hindurch.

»Brasson soll erstklassiger Schütze sein«, sagte der Polizeichef trotzdem anerkennend. »Sehen Sie nur: Genau in der Helmspitze sitzt ein Dum-Dum-Geschoß … Ne, – sitzen tut sie irgendwo dort im Humus. Es heißt doch Humus, Herr Abelsen? Zuweilen vertausche ich die Fremdwörter noch, obwohl ich für meine Bildung ungemein viel tue. Ich habe mir ein Konversationslexikon angeschafft und habe mit Band I begonnen und bin jetzt nach fünf Jahren bei Band II, Kimpolong bis Tonikus, also fehlt mir alles, was nach J kommt.«

Er blickte zu dem Laubdom empor und brüllte mit einer Stimme, die so allerhand leistete:

»Heda, – aha, Mr. Brasson …!!«

Aber als Antwort meldeten sich nur der eingesperrte wütende Maia und die sechs Dajak, die hinter dem Käfig zu hocken schienen, und Chi Api hinter einem entfernteren Baum hervor.

Was diese drei Parteien äußerten, war nicht zu verstehen, zumal Major Brasson und Margrit Jossy gleichzeitig zu schießen begannen.

Im Dämmerlicht des Dschungels verhallten die letzten zwecklosen Schüsse, und es ward still.

Gefechtspause.

Mir kam die ganze Geschichte reichlich komisch vor. Die beiden droben gaben nur Schreckschüsse ab, ich hatte nicht eine Kugel pfeifen gehört, – Borstels Ansicht kannte ich, Chi und ich waren so halb neutral, und Häuptling Tabeh mit seinen famosen braunen Kerlen war gänzlich verduftet.

Auch diese Lichtung zeigte uns nicht den azurblauen Himmel. Die ungeheuren Äste überragten auch sie, und nur stellenweise malte die Sonne weiße Kringel auf den Boden.

Diese tropischen Baumriesen haben sämtlich zwei, nein drei bemerkenswerte Eigentümlichkeiten. Wir Europäer beachten es zunächst kaum, daß die Giganten der Dschungels im Grunde ziemlich dünn belaubt sind. Selbst Baumarten wie Eiche und Buche, die im Urwalde Borneos zumeist nur in Gruppen oder inmitten von Lichtungen vorkommen, da sie sonst einfach erstickt werden würden, tragen spärlichen Blätterschmuck, dessen Einzelteile, jedes Blatt, senkrecht steht, nicht flach wie bei uns. Also: Dünne Belaubung und senkrechte Blattstellung, – drittens: Glänzende, wie lackierte Blattoberseiten, an denen, zumal bei der senkrechten Stellung, die Strahlen der Sonne vorbeigleiten und somit die Hitzewirkung ganz minimal ist. Ständen die Blätter sämtlich flach, also waagerecht, so würde bei den ungeheuren Baumkronen am Boden des Dschungels Dreivierteldunkel herrschen selbst bei strahlendster Helle draußen. – Die Natur ist weise und barmherzig. Damit die kleineren Bäume wenigstens etwas Licht erhaschen, stellt sie die Blätter senkrecht. Damit diese Blätter in der Sonnenglut nicht völlig zu Leder werden (lederartig sind sie zumeist), gibt sie ihnen die feine Glasur. Und doch: Welch ein Kampf nach Sonne und Licht im Dschungel! Jeder Baum müht sich, seine Krone durch die anderen hindurchzutreiben, jeder Baum wird ast- und blattlose Säule im Unterteil, – tiefere Äste faulen, stürzen, vermodern. Nur gewisse Buscharten, Blumen, Lianen und sonstige Schmarotzergewächse fühlen sich im feuchten feierlichen Dämmerlichte wohl. –

Borstel sagte zu mir, indem er Zigarre Nr. 2 in unserer Deckung hinter einer Rotangpalme spendete:

»Der Tabeh ist oben.«

Ich verstand nicht sofort.

Borstel deutete schräg aufwärts.

»Oben in den Ästen … Sie bewachen die beiden … Ich hörte Tabehs Signal soeben …«

Chi kam herbei und lehnte sich an eine schenkeldicke Luftwurzel und zupfte seinen mottenzerfressenen Schnurrbart »Brasson, der Major«, meinte er mit flüchtigen Lippenschürzen, »ist mir nicht fremd.«

»Du kennst alle Menschen, Chi«, nickte James ganz ernst. »Du warst oft in Singapore. Sahst du ihn oben?«

»Ich sah ihn, denn er zeigte sich mir und nickte mir zu«, erwiderte Chi eigentümlich gedehnt. »Es tut mir leid, Borstel, aber es muß sein …«

Wir hatten gute Deckung inmitten eines vielfachen Zaunes von Rotangluftwurzeln. Der Baum selbst – eine Seltenheit – begann erst sieben Meter über dem Boden. Wir hockten hier wie in einem Bienenkorb, und die mäßige Beleuchtung war noch mäßiger.

Ich konnte nur sehen, daß Chi schnell den Arm hob, daß ein dünnes Mündungsfeuer aus der Pistole spritzte und aus einem finsteren Winkel ein Tier fauchend hervorkollerte wie ein schwarzer Ball.

Es war ein malaiischer Bär, possierliche mittelgroße Petze, die aber ebenso hinterlistig sein können.

Diese Nachbarschaft war erledigt, Chis Kugel saß im Schädel, und Borstel stieß den Kadaver mit dem Fuße beiseite.

Chi sagte wieder: »Wir kennen uns, Borstel. Es tut mir leid … Ich kann schießen, und deine Seele hat sicherlich noch kein Verlangen, deinen tadellosen Cordanzug zu verlassen.«

Nun wußte ich Bescheid.

Borstel war ein wenig verblüfft über die Drohung.

»Du bist klug, Chi«, lobte er. »Hättest du die Pistole gezogen, ohne daß der Bär Grund gegeben hätte dazu, würde ich jetzt nicht so hilflos dastehen.«

Diese Verlegenheitsphrasen wurden durch ein Geknatter hoch über uns unterbrochen.

Wir horchten.

Tabeh und seine Kerle, denen die Schüsse galten, antworteten mit einem Hohngelächter und dem üblen Blutrufe He He-lala-he he …

Ich streifte ein paar Blutegel von den Gamaschen aus Nebelparierhaut, die außerordentlich widerstandsfähig ist.

Chi sprach sehr ernst:

»Major Austin Brasson hat mich einst in Singapore in Black Town herausgehauen … Du wirst umkehren, Borstel, und mit deinem Motorboot nach Lubok Antu fahren und Bericht erstatten, du habest niemand und nichts gefunden …«

Der Drechsler a. D. hatte sich bequem auf eine Wurzel gesetzt und blies in seine schief brennende Zigarre hinein.

»Lieber Chi«, entgegnete er und stellte den schmierigen Korkhelm neben sich und tippte auf das Wappen an der Vorderseite, »ich bin Polizeichef, habe auf der Bank in Kuching ein Guthaben von rund zweimalhunderttausend Gulden, besitze sonstige Werte, bin hier mit Tabeh und acht Dajak vom Dorfe Mula Matta zusammen gewesen und würde alles aufs Spiel setzen, wollte ich dir nachgeben, denn auf Tabehs Verschwiegenheit ist nichts zu geben. – Würdest du dein Erspartes im Stiche lassen?«

Chi erwiderte kühl: »Ich habe mehr im Stiche gelassen, Borstel …«

Und das stimmte. Borstel ahnte nicht, was Chi Api alles besessen hatte: Ein eigenes kleines Urwaldreich, eine Goldmine, einen wunderbaren Palast …

»&… Hier handelt es sich um eine selbstverständliche Pflicht der Dankbarkeit«, fuhr er fort. »Ich las in den Zeitungen über den Prozeß Margrit Jossy. Ich sprach mit Freund Olaf absichtlich nicht davon, denn vieles muß falsch sein, was da im Prozeß beschworen wurde.« Seine Miene ward geheimnisvoller … »Ich spare die Worte und handele. Ich ahne vieles und werde Klarheit schaffen. – Wirst du die beiden verhaften?«

Borstel tippte wieder auf das Hoheitsabzeichen von Sarapak an seinem Tropenhelm.

Ich müßte, Chi …«

»Deine Zunge ist dreifach, Borstel«, mahnte mein pockennarbiger Gefährte.

»Du irrst … Laß mich nur machen. Ich bin ein Manang. Du weißt es.«

»Ich weiß es. Und du bist offen und ehrlich, nur heute nicht. Du sparst Geld, und dein Sehnen gilt der Heimat. Ich verstehe das. Auch wir Chinesen lieben die Heimat über alles. Nur würden wir …«

»Warte ab …!«

Borstel erhob sich. »Herr Abelsen, Sie können denen droben etwas zurufen … Gott sei Dank verstehen die Dajak nicht Deutsch. Brasson versteht. Es stand im Radiogramm.«

Er paffte ein paar dicke Wolken.

»Was soll ich rufen?«

»Daß die beiden sich dünne machen und sich in meinem Motorboot verstecken sollen. Brasson findet es schon. Ich habe die Persenning darüber gezogen, und kein Dajak würde es wagen, mein Boot zu berühren. Dort sollen die beiden bleiben, bis wir kommen.«

Ich beugte mich vor und starrte ihm ins Gesicht.

Wie, Sie wollen …«

»Mein Wort: Ich will, und ich bin ein Manang, Abelsen!«

Als ich mich aus dem Riesenbienenkorb von Luftwurzeln herausgewagt hatte, war sofort von droben die bleierne Begrüßung erfolgt, aber man schoß absichtlich vorbei und obwohl ich weder von dem Eindecker noch Brasson etwas sah, verständigten wir uns sehr schnell. Erst zeigte der Major sich noch mißtrauisch. Nachher einigten wir uns. Ich war selbst neugierig, wie Borstel es anstellen würde, den geriebenen Tabeh zu täuschen.

Ich kehrte in den Bienenkorb zurück.

Borstel nickte befriedigt. »Ihnen glaubte er, mir hätte er nicht jejlaubt, Abelsen … Mensch, sagen wir Du zueinander … Wir sind hier nicht im Salon, sondern im Dschungel, und du jefällst mir, Mensch …«

Ein Händedruck, – eine neue Freundschaft war besiegelt. Sie wäre von Dauer gewesen, wenn nicht das Schicksal es anders gewollt hätte. James Borstel war ganz der Mann danach, Treue zu halten und auch zu verteidigen. In diesem kleinen, aber muskelstrotzenden Körper steckte auch eine starke, selbstbewußte eigenwillige Seele. Zu eigenwillig … Der Umgang mit Farbigen, die fast unumschränkte Macht, die er als Polizeichef genoß, hatten ihn zweifellos außerordentlich beeinflußt. Nicht gerade nach der schlechten Seite hin … Alles, was sein Herz an Fehlern barg, wurde überstrahlt, von einem erhabenen großen Empfinden: Der Liebe zur Heimat! Und aus dieser hehren Quelle floß dann auch in schmaleren Rinnsalen all das übrige, das notwendige Folgeerscheinungen eines so hochentwickelten Heimatgefühls sein mußte. Dieser Mann, emporgewachsen aus engsten Verhältnissen, hineingedrängt in einen Beruf, der ihn nicht befriedigen konnte, weil einem so abenteuerlustigen Charakter die Tätigkeit an der Drehbank zur Qual werden mußte, war nahe daran gewesen, lediglich aus diesem Überdruß an seinem jämmerlich eintönigen Sklavendasein moralisch zu scheitern. Schlechte Gesellschaft, verderbte sogenannte Freunde suchten ihn hineinzuziehen in ihre dunklen Kämpfe gegen Recht und fremdes Eigentum. Bereits auf der schmalen Grenze von Gut und Böse angelangt, raffte er sich zu einem verzweifelten Entschluß auf und verließ Heimat und Elternhaus und wurde Vagabund – wie ich! Unser Leben hatte zahllose Berührungspunkte, noch mehr scharfe Scheidelinien freilich. Einer jener Zufälle, die stets unser Dasein an einen Scheideweg zwingen, führt den Zweiundzwanzigjährigen nach Batavia. Die Sunda-Inseln werden ihm zweite Heimat, und wenige Jahre später erkennt Radscha Brooke von Sarawak, einziger weißer Herrscher asiatischer Völker, Borstels vielfache Fähigkeiten, stellt ihn in seine Polizeitruppe ein und überträgt ihm später den wichtigen Posten in Lubok Antu. – All dies hat Freund Borstel mir später gelegentlich erzählt – in Bruchstücken, denn die Stunden, in denen er mir sein Herz erschloß, waren selten. –

»Sagen wir Du zueinander …« – und der Händedruck war warm und ehrlich, und Freund Chi zeigte keinerlei Neid, so sehr er auch an mir hing und sogar auf Peterle ein wenig eifersüchtig war.

Borstel brüllte jetzt in der Dajaksprache dem Häuptling etwas zu, erhielt Antwort und wartete außerhalb des Wurzelversteckes, bis Tabeh vor ihm stand.

Leider begingen Margrit und Brasson einen Fehler: Sie stellten die Schießerei ein, und ein so gewitzter Bursche wie Tabeh mußte notwendig dadurch argwöhnisch werden.

Borstel suchte das wieder auszugleichen, indem er seinerseits den Ängstlichen spielte.

»Tritt näher, Tabeh, – schnell«, – und er zog ihn rasch unter den riesigen Wurzelkorb. Der Dajak spie verächtlich aus und erklärte den Sampandieb für einen Sauschützen – in seiner Sprache und seinen Redewendungen. »Ich helfe dir, Tuwan Borstel«, sagte er voller Respekt, »wir werden die beiden aushungern. Meine Leute sind gut versteckt, und wenn es dunkel wird, schießen wir mit den Blasrohren und töten sie.«

»Das dauert mir zu lange«, meinte Borstel ablehnend. »Ich bin ein Manang, Tabeh, und ich werde die beiden durch den Rauch des heiligen Feuers verderben. Sie werden in tote Baumspitzmäuse verwandelt werden …«

Tabehs Augen funkelten. »Tuwan, wir kennen deine Macht … Es ist recht was du tust. Ich werde trockene Zweige sammeln …«

»Ja – einen recht großen Haufen, Tabeh«, nickte Borstel würdevoll.

Die Dajak von Sarawak, und das sind sämtlich sogenannte Bergdajak, halten gewisse Heilkräuter für heilig, ebenso die Rinde und die Zweige und Blätter des Kampferbaumes und der Betelnußpalmen.

Während Tabeh in aller Eile besonders Kampferbaumäste herbeischleppte, fragte Chi Api den schlauen Borstel, wo er denn so schnell zwei tote Spitzmäuse hernehmen wolle. – Der Herr Polizeichef grinste überlegen.

»Suche doch mal dort in der finsteren Ecke, wo der Bär sein Quartier hatte, lieber Chi … Ich denke, Meister Schwarzpelz wird wohl einigen Vorrat an Kleinviehzeug haben, obwohl er zumeist nur Früchte frißt …«

Chi Api war wieder einmal um ein Geringes klüger geworden. Mit Borstel nahm er es doch nicht auf. Von dem konnte jeder lernen.

Die Mäuse waren da, zwar bereits recht anrüchig, aber es blieben tote Spitzmäuse, Borstel packte sie in ein großes Blatt der Seifenpflanze ein und steckte sie in die Tasche. – Jeder Manang ist ein Schwindler. Borstel war der Oberschwindler.

Der Spaß begann. Freund Manang machte allerhand Hokuspokus, bevor er den Holzstoß anzündete, auf den er noch eine Menge Kampferblätter warf. Da der Scheiterhaufen sich genau unter dem Baume der Flüchtlinge befand, da ferner keinerlei Wind wehte – es hätte auch schon ein Orkan sein müssen, um hier in dieser Waldestiefe zu wirken – stieg der Qualm kerzengerade empor, sammelte sich in der Krone, ballte sich zu immer dickeren Wolken zusammen und verhüllte für die acht droben hockenden Dajakkrieger sowohl Flugzeug als auch die beiden Menschen, die nun hoffentlich gewandt genug waren, von dieser Krone in die nächste hinüberzuklettern und schließlich irgendwo an Lianen hinabzuklettern und den Dschungelpfad zu gewinnen.

Johann Borstel lag jetzt lang vor dem Scheiterhaufen auf dem Boden und schien eifrigst Beschwörungen zu murmeln. Ich erlebte so zum ersten Male hier eine waschechte heilige Dajakzeremonie. Eine Gerichtssitzung hatte ich früher einmal mitgemacht, sie hat mir durch die Würde des Dorfältesten und Richters imponiert, genau wie mir das ganze Dajakvolk trotz mancher Fehler sehr sympathisch war.

Was ich hier sah, konnte nur meinen Sinn für Humor kitzeln. Selbst Chi, der doch an derlei Kulthandlungen gewöhnt war, drückte mir wiederholt heimlich den Arm und flüsterte mir zu, Borstel spiele seine Rolle großartig.

Als der Scheiterhaufen völlig lichterloh brannte, warf Tabeh auf Borstels Geheiß abermals Zweige und Blätter in die Glut, – gelblicher Qualm stieg wieder empor, scharfer Kampferduft umgab uns, und keine einzige Motte wäre in dieser Luft am Leben geblieben.

Tabeh gesellte sich zu uns. »Sie schießen nicht, – sie sind bereits tot und in Mäuse verwandelt«, meinte er äußerst stolz. –

Sie waren tot. Wir alle kletterten nachher nach oben, Freund Manang stieg in das Flugzeug hinein, und zeigte dann die beiden Mäuse vor. Daß sie schon stanken und übel durch die Bärentatzen zugerichtet waren, fiel Tabeh und seinen Leuten nicht weiter auf. Für ihn waren die beiden Fremden erledigt, und da Borstel ihm noch einen Ersatz für den gestohlenen Sampan versprach, war des Häuptlings Laune einfach glänzend, als er auf Freund Manangs Befehl einen Seitenpfad einschlug, um zu seinem Gemeinwesen zurückzukehren, die neun braunen Helden waren reich beladen mit allem, was sie aus dem Eindeckerrumpf noch schnell als Beute hatten mitnehmen können, und das war nicht wenig.

Wir drei wanderten der Hütte zu. Borstel sprach merkwürdigerweise kein Wort, auch Chi schien über irgend etwas nachzugrübeln, und ich tat dasselbe: Würde das Pärchen wirklich das Motorboot aufsuchen?! Und was wußte Chi über Margrit Jossys Mordanschlag?! Es konnte nur irgend etwas sein, das er durch seine weitreichenden Beziehungen längst erfahren hatte, denn Margrit hatte auf der Insel Gellajore volle neun Monate zugebracht, und in dieser Zeit konnten Chi irgendwelche Dinge zu Ohren gekommen sein, die der Öffentlichkeit bisher verborgen geblieben. – –

– – Es sind seitdem Monate dahingegangen, viele reichbewegte Monate. Borneo, Chi, Borstel, Peter-Maugli, Margrit, der Major, Lord Rosselleer, – – alle sind mir entschwunden …

Ich bin allein in diesem dicken Hause aus Felsbrocken, Lehm und Robbenhäuten. Mein einziger Gefährte ist ein Mensch, der mir nie in die Augen schaut, der nie ein Wort spricht. Er ist stumm. Man hat ihm die Zunge halb herausgeschnitten. Vielleicht verdient er es. Als Mensch rechnet er nicht. Er ist ein Mischling und sicherlich ein hartgesottener Schurke.

Mein Schreibtisch ist mit einer fein gegerbten Robbenhaut überzogen. Es ist ein Tisch plumpster Art, zusammengenagelt mit rostigen Nägeln aus einem Schiffswrack, das drüben am Buchtstrande fault, – ein Robbenfänger einst, jetzt eine Leiche. Alles vergeht …

Mein Stuhl ist noch plumper, aber die Zigarre, an der ich sinnend sauge, ist gut. Wir sind vortrefflich versorgt mit allem Nötigen, der stumme Gowin und ich. Gowin haut draußen Brennholz, die Möven kreischen und zanken sich, und ich betrachte das Geschriebene. Ich habe einen Gänsekiel benutzt, und die Schrift ist dick und verlaufen.

Ich langweile mich hier an der Ostküste Sachalins seit Wochen, und ich bin so unendlich träge geworden, daß ich nicht einmal mehr an meiner Schreiberei ein wenig Freude habe.

Wenn ich nun der Stunde gedenke, in der ich dort in den Bergen von Madjang von der lieben freundlichen Bambushütte Abschied nahm, – wie wir schwer bepackt und noch den Käfig mit dem Orang Utan als Sänfte schleppend dem Flusse zustrebten, – all das ist so verschwommen in meiner Erinnerung, und nur das eine weiß ich: Der Abschied fiel mir schwer!

Borstel war an diesem Abschied schuld. Er wollte uns mitnehmen zu einer Strafexpedition nach Matta Ratta, dem alten Piratennest an der Mündung eines Nachbarstromes des großen Batang Lupar, dessen reißende Wasser voll von Rhinozerossen und Krokodilen sind und arm an Fischen, in dem die Flutwelle vom chinesischen Meer hier stets meterhohe Wasserberge auftürmt … –

Mein Gedächtnis ist frischer für den Einzug in Matta Ratta. Drei Motorkutter, zwanzig Beamte, wir Europäer ebenfalls bis an die Zähne bewaffnet, – und die Nacht finster und zerwühlt von einem aufziehenden Gewitter, dessen Schwüle uns fast erstickte.

Die Malaien von Matta Ratta – nur ein Nest von etwa dreißig Pfahlbauten – hatten neuerdings wieder das alte Handwerk begonnen, ließen sich jedoch nie abfassen. Küstenfahrzeuge verschwanden, erzählte Borstel mit grimmiger Miene – und wenn Radscha Brooke sein Kanonenboot ausschickte, fand man in Matta Ratta nur harmlose Fischer und keine Spur von Beutestücken. Die Strafexpedition sollte Borstels letzte Großtat sein, so wollte er es.

Die Kutter wurden die letzte Strecke vor dem Dorfe gerudert. Kein Motorgeknatter sollte die schlauen Halunken warnen. Keine Laterne brannte, niemand durfte rauchen, nur das Plätschern der Ruder tönte uns in die Ohren, und neben mir saßen Major Brasson und Margrit eng aneinander geschmiegt, und der Duft von Margrits Haar war stärker als der Benzingestank und das fragwürdige Parfüm, mit dem der eitle Borstel sich zu Ehren Margrits besprengt hatte.

In der Ferne fuhren Blitze durch schwarze Wolkenbänke, und um uns her war das fahle Glitzern des Flusses und das Schnauben der Krokodile und der Salzodem des Meeres, den ich gierig einsog.

Ich habe das Meer immer geliebt. Ich habe als Knabe mich auf den ankernden Schiffen des Hafens meiner Vaterstadt Malmö umhergetrieben, ich bin mit Freunden hinausgesegelt und habe dafür Hiebe bezogen. Mein Vater war sehr freigiebig damit. Schon damals spukte wohl die Unrast in meinem Blute, und mein eigentliches, eigenes Leben begann erst, als ich als Ingenieur ins Ausland ging. Die Kollegen vom Jungfrau-Bahnbau werden sich meiner erinnern.

Ich spürte das Meer, und das Meer ist Kraft und Macht und Unendlichkeit. In meiner Seele sprang eine verschlossene Pforte wieder auf. Es war die Tür, hinter der ich das Gedenken an Coy vermauert hatte, denn Coy und das Meer und Trangeruch und tiefe herzliche Freundschaft waren eins.

Der steifleinene Major Brasson raunte mir zu, – Gott mochte wissen, wie Margrit sich in diesen Eisstock verliebt hatte …:

»Bisher sind wir zum Glück Europäern nicht begegnet, Mr. Abelsen … Um Lubok Antu und andere Orte machten wir große Umwege, – was werden nun aber Borstels Beamte denken, wenn es auch alle nur eingeborene Polizisten sind?!«

Austin Brasson mochte ein tadelloser Artillerist sein. Ein Geistesheld war er nicht. Im übrigen liebte ich ihn kaum. Daran war Margrit schuld. Wir waren nun ja viele Tage in engster Gemeinschaft zu vieren, nein, zu sechs, durch Berge und Wälder gewandert, wir: Margrit, ihr Verlobter, Chi, ich, der gefangene Maia im Käfig und Peterle. Borstel war mit seinem Motorstänker allein weiter gefahren, nachdem wir bewohntere Gegenden erreicht hatten und die Gefahr bestand, daß wir von den Strafbehörden Prämiierten gesehen werden könnten. Viele Nächte hatten wir in provisorischen Zweighütten verbracht, und wenn auch Margrit stets ihr eigenes Hüttchen bewohnte, ergaben sich aus dieser innigen Weggemeinschaft doch notwendig Vertraulichkeiten, die wieder einmal an mein einsames Herz rührten und etwas wie Eifersucht auf Austin Brasson hochkeimen ließen.

Brasson war eine vornehme Erscheinung, tadellos gewachsen, ein Mann ohne Nerven, ein großer Schweiger und ein Eisblock. Margrit behandelte er mit einer gemessenen Ritterlichkeit. Aber ich hatte die beiden einmal allein im Mondlicht gesehen, und da war Brasson geschmolzenes Eis, schon mehr heißes Wasser. Margrits Lippen verhießen Seligkeit und süße Sünde.

Heute abend dann, also vor rund fünf Stunden, trafen wir wieder mit Borstel am vereinbarten Uferplatz zusammen, und jetzt hatten wir Matta Ratta dicht vor uns. –

Brassons halbe Frage, die nur durch die Sorge um Margrit geboren, beantwortete ich stark zerstreut mit einem gleichgültigen: »Morgen schwimmen wir auf hoher See, Major, – und Borstel wird sehr bald zu uns stoßen, da er lediglich noch einige Reste seiner Habe veräußern will.«

Er hörte meinem Tone wohl an, daß ich seine Bedenken für übertrieben hielt, und wandte sich Margrit wieder zu.

In meinem Schoße lag Peter-Maugli, bedeckt mit einem Wolltuch, und schlief. Maugli war, nun wußte ich es, Brassons Eigentum, und wenn irgend etwas ein günstiges Licht auf den Marmormajor werfen konnte, war es seine Liebe zu dem kleinen Kapuziner, der ihm in den Madjang-Bergen ausgekniffen war, als er dort auf Margrits Raketensignal harrte.

Armer kleiner Maugli! Er mußte jetzt das Herz seines Herrn mit einem Weibe teilen, und unwillkürlich hatte er sich daher wieder ganz an mich angeschlossen.

Wir saßen hier auf dem engen Vorderdeck des Kutters. Die Reling war durch Eisenplatten erhöht worden. Vor uns kauerten drei Polizeibeamte an einem Maschinengewehr. Chi saß rechts von mir neben der offenen Vorderluke, in der das Stativ eines Scheinwerfers stand. Der Scheinwerfer blinkte über uns mit seinem runden Riesenauge und konnte jeden Moment eingeschaltet werden.

Das kurze Gespräch mit Brasson war dem vorsichtigen Borstel schon zu viel gewesen. Er lehnte uns gegenüber an der Eisenreling mit einem Nachtglase und musterte die felsigen, wenig bewaldeten Uferpartien.

Selbst mit dem bloßen Auge konnte ich trotz der Dunkelheit vor uns einige helle Pünktchen erkennen: Öllampen in den fensterlosen Malaienhütten.

Borstel beugte sich zu uns. »Sie haben sicherlich Posten aufgestellt, die Schufte … Vermeiden wir jedes Wort.«

Auch die Leute mit den Rudern stellten ihre Arbeit ein, und lediglich die Strömung trieb uns vorwärts. Hin und wieder tauchte einer der Beamten sein Ruder behutsam ein, damit wir nicht quer mit der Strömung trieben.

Es lag nicht nur in der Luft elektrische Hochspannung. Auch meine Nerven vibrierten leicht. Leuchtete ein ferner Blitz auf, suchte ich die Finsternis zu durchdringen. Ich erkannte am Ufer einige Reisfelder, einige Ziegenhürden und armselige Vorratsschuppen.

Der Fluß machte eine Biegung, die Lichter entschwanden, und natürlich gab es hinter der Krümmung wieder eine der verdammten Sandbänke. Wir liefen auf. Mit Bootshaken stießen wir den Kutter wieder in offenes Wasser. Ich half, Chi hatte Peterle zu sich genommen, ich konnte nicht länger still sitzen, ich witterte irgend etwas Bedrohliches, und mein Instinkt täuschte mich nie. Außerdem störte mich das Brautpaar und Margrits verschwommenes Gesicht. Ich bildete mir ein, sie schaue mich häufiger als nötig an, und als sie vorhin Maugli gestreichelt hatte, waren unsere Finger für Sekunden in schmerzhaftem Druck ineinander verflochten.

Ich stand nun, den Bootshaken noch in den Händen, mitschiffs neben dem Kajütenaufbau. Einer der braunen Beamten, ein Unteroffizier, rauchte eine kurze Pfeife dicht neben mir und vertrieb so die Mückenschwärme, die stellenweise in ganzen Wolken über dem Wasser schwebten. Der Mann war ein Araber mit schwarzem Spitzbart und sicherlich ein fanatischer Moslim. Er hatte ein fanatisch-finsteres Gesicht, und er überragte selbst mich um Haupteslänge. Eine unerklärliche Abneigung hatte ich sofort gerade gegen diesen Menschen gespürt, der offenbar auch James Borstel nicht recht sympathisch war.

Unter den rund zwei Millionen Einwohnern Borneos gibt es nur wenige reinblütige Araber, desto mehr Chinesen, noch mehr von Sumatra her eingewanderte Malaien (die Unterwerfung der Dajak durch diese begann etwa im fünfzehnten Jahrhundert, und es entstanden damals zahllose kleine Fürstentümer, die jetzt wieder durch die Kolonien Englands und Hollands aufgesogen sind), und rund zweitausend Europäer. Die meisten Araber sind Kaufleute und sehr reich. Dieser Mudir Sarfa bildete eine Ausnahme.

Ein neuer Blitz erlaubte mir, seine Züge abermals zu mustern. Ich sah seine dunklen herrischen Augen, in denen das heimliche Feuer des Europäerhasses glühte, auf mich gerichtet und fühlte abermals heftigen Widerwillen gegen den Mann. Er blickte rasch zur Seite – zu rasch, wie ertappt.

Hier stimmte irgend etwas nicht.

Mudir Sarfa war nebst Borstel der einzige Vorgesetzte der Besatzung der drei Kutter, die nicht aus Lubok Antu, sondern aus einem Orte weiter oben am Flusse stammten und auf Borstels Befehl durch Mudir für die Strafexpedition vorbereitet worden waren. Mudir war Leiter dieser entlegenen Station und wußte hier mit den Verhältnissen an der Küste am besten Bescheid.

Ich wunderte mich, daß der Araber überhaupt rauchte. Borstel hatte es verboten. Eine Pfeife gibt freilich kein glühendes Pünktchen.

Das Gewitter hing noch in den südlichen Bergtälern, schien jetzt aber näherzukommen. Ein neuer Blitz, und abermals begegnete ich Mudirs haßerfüllten Augen. – Ein unheimlicher Kerl, dazu ein Riese mit hochmütigem, edlem Gesicht.

Meine Hand tastete im Dunkeln nach der Pistole. Ich wußte nicht recht, was in mir vorging, ich hatte jedoch das bestimmte Gefühl unmittelbarer Gefahr.

Mudir schaute zum Ostufer hinüber und wandte mir halb den Rücken zu. Ich sah drüben hart am Flusse auf einer Stelle hellen Sandes ein großes Vorratshaus. Meine Augen sind in den Pampas und auf See gewetzt worden. Auf dem Dache des Schuppens blinkte irgend etwas ganz matt. Man mußte schon sehr genau hinsehen, um diesen blanken Fleck zu bemerken. Es konnte ein Stück Glas sein, das da auf dem Reisstrohdache lag, es konnte aber auch eine Laterne mit matter Scheibe sein. –

Wenn man wie ich das Abenteuer nie gesucht und trotzdem so viel erlebt, erfahren, gelernt hat, was kein Buch uns vermitteln kann, bekommt man die Sinne eines Wilden. Meine Schule hatte am Gallegos bei Coy begonnen, und Coy hatte den Grundstein zu dem gelegt, was dem Kulturmenschen längst abhanden gekommen ist: Den Instinkt für vieles, was den Sinnen verborgen bleibt.

Mudir Sarfa schaute auch nach dem hellen Fleck aus.

Hier stimmte ganz gewiß irgend etwas nicht. Meine Pistole ruhte kühl und beruhigend in meiner Hand, und der Daumen schob die Sicherung zurück.

Der Araber spähte plötzlich nach vorn, Borstel hatte sich gebückt und flüsterte mit den Leuten am Maschinengewehr.

Da nahm Mudir die Holzpfeife aus dem Munde und reckte den Arm zur Relingstange …

Der Pfeifenkopf drehte sich mit der Öffnung nach unten. Mudir wollte die Pfeife an der Eisenstange ausklopfen, und das hätte einen wunderbaren Sprühregen von Fünkchen gegeben.

Ich griff mit der Linken blitzschnell zu und umkrallte den warmen Pfeifenkopf.

»Laß das!« sagte ich. »Es wäre unvorsichtig …«

Schade, – es war zu dunkel, die Wirkung auf Mudir blieb mir verborgen. Er hatte sich in der Gewalt, er ruckte nur hoch und seine Hand fuhr zum Gurt.

»Du hast recht, Tuwan …« meinte er entschuldigend …

Ich legte die Pfeife auf das Zinkdach der Kajüte. Das Dach war weiß gestrichen, jetzt aber durch eine braune Wolldecke geschützt, abgeblendet.

Wie ich so die Linke hoch emporschob, schnellte des Arabers geöffnete Hand mir nach der Kehle. Ich war auf Ähnliches vorbereitet, duckte mich, überrannte ihn, und er flog über die Reling in den Fluß, ausgerechnet an einer Stelle, wo zwischen mächtigen Steinen, schon mehr kleinen Felsinseln gierige Strudel schäumten.

Der Vorfall hatte sich so lautlos und so blitzschnell abgespielt, daß Borstel, wütend herbeieilend, mich fragte, was ich denn ins Wasser geworfen hätte.

»&… Abelsen, du weißt, jedes Geräusch kann die Bande warnen …« – es war ein entschuldigender Nachsatz seiner Grobheit wegen.

»Mudir«, sagte ich leise. Nichts weiter.

Borstel stutzte.

»Weshalb denn?«

»Weil er mir an die Kehle wollte, nachdem ich ihm die Pfeife weggenommen hatte, mit der er wahrscheinlich nach drüben zu signalisieren gedachte. – Da – siehst du den hellen Fleck auf dem Dache?«

Er hob das Nachtglas. Wir waren an dem Schuppen bereits vorüber, aber das matte Blinken war noch zu erkennen.

»Eine Laterne mit Mattscheibe«, flüsterte Borstel zwischen den halb zusammengebissenen Zähnen. »Ich habe diesem Araberschuft nie recht getraut … Er bemühte sich auffällig um die Versetzung nach der Station droben am Flusse … – Die Krokodile werden ihn fressen, er kann nicht schwimmen. Wohin schlugst du?«

»Herz …«

»Dann ist er bestimmt erledigt. – Ob der Kerl mit den Piraten Geschäfte machte?! Ob er uns verpfiffen hat und wir erwartet werden?! Verdammt, Abelsen, die Sache wird ungemütlich …!«

Johann Borstel irrte sich genau wie ich. Es wurde ganz anders.

Zunächst einmal war Mudir nicht erledigt. Er tobte im Wasser herum. Und wenn er auch nicht schwimmen konnte, so erreichte er mit diesem Toben doch, daß er vorerst einmal über Wasser blieb und auch, daß die Haie, die in großer Anzahl hier herumschwammen, sich vor ihm fürchteten und ihn nicht angriffen.

Borstel und ich standen an der Reling und sahen diesem verzweifelten Kampf zu.

»Wir können ihn hier doch nicht vor unseren Augen verrecken lassen, Borstel«, sagte ich. »Ich gebe zwar zu, daß dein Verdacht berechtigt ist, genau so wie ich selbst glaube, daß er nicht ganz echt ist, aber beweisen können wir ihm doch nichts. Vielleicht war das alles nur ein Irrtum. Vielleicht habe ich mich auch getäuscht. Wer hat denn in einer solchen Situation seine Nerven fest in der Hand.«

Mudir tobte noch immer im Wasser. Ab und zu stieß er schrille Schreie aus. Anscheinend schrie er uns um Hilfe an.

»Wenn du meinst, fisch ihn wieder raus«, meinte Borstel.

Schnell war ich zu Chi gesprungen, der am Ruder stand und bedeutete ihm, daß er auf den Wasserwirbel, in dessen Mitte Mudir immer noch verzweifelt kämpfte, zuhalten sollte.

Chis Augen blitzten auf. Er sagte kein Wort, drehte stillschweigend das Ruder, bis unser Bug genau auf die Stelle zuhielt.

Wir kamen hierdurch wieder weiter ins offene Meer hinaus, aber was machte das, wenn man dadurch ein Menschenleben retten konnte.

Wenn es auch nur das Leben eines Eingeborenen ist.

Ich stand mit einer langen Leine bewaffnet an der Reling. Kurz darauf glitten wir einige Meter an Mudir vorbei, schnell warf ich ihm die Leine zu, die er ergriff und ebenso schnell wurde er unter Borstels Mithilfe an Bord geholt.

Es war höchste Zeit gewesen, denn einige Rückenflossen der Haie hatten sich bedenklich dem Platz genähert, an dem Mudir im Wasser tobte. Neugierig umschwammen sie die Stelle und gerade als Mudir triefend naß an der Bordwand hing, versuchte einer der Haie zum Angriff überzugehen. Nur ein letzter verzweifelter Ruck von uns rettete ihn vor den Zähnen.

Bleich und zitternd stand Mudir vor uns an Deck. Sein Atem ging erregt. Ab und zu spuckte er große Wassermassen aus.

Langsam kam er wieder zu sich.

Borstel packte ihn an den Schultern, schüttelte ihn hin und her und schrie ihn an.

»Warum wolltest du Mr. Abelsen an die Kehle?«

Zitternd stand Mudir vor ihm.

»Ich nichts wollen Kehle von Mr. Abelsen. Ich wollen Pfeife wegschmeißen. Mr. Abelsen neben mir. Dann ich kriegen Stoß von hinten, fallen an Mr. Abelsen, greifen zu, ich weiß nicht ob Hals, ich weiß nicht ob Arm, dann kriegen Schlag von Mr. Abelsen, dann fallen über Bord, dann fast tot. Viele Haie. Ich Mr. Abelsen danken für Rettung, ich nichts bös mehr.«

Das war alles, was aus ihm herauszukriegen war.

Es konnte wahr sein, aber ebenso gut konnte es auch eine große Lüge sein. Wer vermochte zu sagen, was hier recht war.

Borstel knurrte mich an:

»Ich glaube, du hättest besser daran getan, diesen Kerl versaufen zu lassen.«

Nachdenklich sah ich Mudir an. So wie er vor mir stand, machte er einen erbarmungswürdigen Eindruck. Er sah mir bestimmt nicht danach aus, als hätte er mit den Piraten gemeinsame Geschäfte gemacht. Er hatte meine Hand ergriffen und versuchte sie unter Stammeln von Dankesworten zu küssen. Ich beruhigte ihn. Zu Borstel sagte ich:

»Laß ihm sein Leben, er ist bestimmt harmlos.«

Daß ich mich hierbei geirrt hatte, sollte ich in kurzer Zeit an meinem eigenen Körper erfahren.

Bis dahin war alles gut gegangen. Die Überraschung kam erst jetzt.

Chi war es, der auf ein in der breiten Flußmündung fahrendes helles Fahrzeug deutete.

»Borstel, das ist eine Privatyacht …!«

Ein ganzes Bündel Blitze flammte herab, tobender Donner folgte … Die Yacht hält genau auf uns zu.

Es ist keine Luxusyacht. Derartig schlanke, schlichte, flinke Schiffe pflegen die höheren Kolonialbeamten in der Südsee zu benutzen. Die Entfernung beträgt etwa 500 Meter, aber sie verringert sich zusehends, obwohl Chi umsichtig genug gewesen ist, sofort zu wenden um zu flüchten.

Ich eile in die Kajüte zurück. Das Maschinengewehr hat eine Sockellafette. Ich brauche nur das Schloß einzusetzen. Der Riese Borstel hinter mir her, er schleppt die Patronenkästen und die Lafette nach achtern. Ich montiere schnell das Maschinengewehr, ich führe den Gurt ein, die ersten Probeschüsse knallen …

Ins Leere …

Chi am Steuerrad schreit schrill und lang.

Die Antwort kommt von drüben. Ein Hagelschauer von Kugeln. Unser Kutter ist aus Holz und die Reling ist hoch und dick. Chi wischt sich das Blut von der Nasenspitze, das Stück Haut schmerzt ihn nicht, aber die frische Zigarre ist mit zerblättert.

Außer Chi hat noch einer meiner Freunde eine Schramme abbekommen.

Was tuts?

Wenn die dort auf der Yacht nur Gewehre haben, werden sie sehr bald mit üblen Wischern abziehen. Ich schicke Mudir, der sein Wächteramt eigenmächtig verlassen hat, zu Margrit und Brasson, sie sollen sich niederlegen. Der Aufbau schützt sie nicht, nur die Bordwand.

Sie dürfen nicht aufrecht stehen. Ich bin in Sorge Margrits wegen. Auch die Kabine hat Kugeln geschmeckt. Mudir ist gleich wieder da und beruhigt mich. Brasson ist bei Margrit. Sie liegen ganz flach in Bordstühlen.

Mein Feuerspeier mit dem gespickten Gürtel schweigt noch. Ich kann warten. Irgend etwas hält mich davon ab, die Yacht mit Geschossen zu überschütten. Drüben beim Gegner spart man auch mit Munition. Die Entfernung der beiden Schiffe hat sich auf dreihundert Meter verringert.

Chis Nase tropft, die roten Perlen klatschten auf den Kompaß. Er blickt nur geradeaus, und Borstel hat ihm eine neue Zigarre geben müssen. Umsonst rede ich ihm zu, daß er sich ducken soll. Er bietet seinen Rücken voll dem Gegner. Seine Hände spielen mit dem Rad, dessen Messingbeschläge sanft im Mondschein leuchten. Wenn eine der surrenden Bleiwespen von drüben an seinem Kopf vorüber pfeift, schreit er jedesmal einen wilden Jagdruf.

Die drüben rücken immer mehr auf. Sie fahren ohne Lichter, aber helle Gestalten gleiten über das Deck …

Vielleicht sind es zehn, vielleicht zwanzig!

Ich kniee neben dem Heckanker, der meinen rechten Ellenbogen stützt. Meine Hand liegt am Abzug. Nervöse Hitze brennt mir die Wangen. Zwischen uns und der Yacht schießen Haie hin und her, wie matt strahlende Streifen. Riesige Leuchtquallen täuschen wandernde Spiegelbilder des Mondes vor und mitunter entquillt ein Schwärm fliegender Fische auf der Flucht vor einem armseligen Katzenhai der Tiefe und schwirrt über die Wogen wie seltsame Schwalben, – – – fällt zurück in das feuchte Element ihres Daseinskampfes.

Die Luft ist mild und angenehm wie in einer warmen Augustnacht in meiner Vaterstadt Göteborg. Alles ringsherum scheint zum Frieden zu mahnen, aber die zischenden bleiernen Wespen zerstören den Traum der Tropennacht.

Urplötzlich von der Yacht her ein wildes Geknalle …

Das Mündungsfeuer der Gewehre flackert dort überall am Bug auf …

Sie knien wie wir hinter der Reling, aber die Kugelsaat meines Bleispuckers muß sie auf diese zweihundert Meter im Nu dezimieren.

Ich zaudere. Wir haben keine Verluste. Ich schiele nach Chi hin. Er raucht und blickt geradeaus.

Trotzdem war's Zeit …

Ich stelle das Visier …

Drücke ab …

Ziele zunächst auf die Reling und die Gallionsfigur der Yacht. Anscheinend ein nacktes Weib …

Die Kugeln spritzten, – der erste Gurt ist leer …

Borstel reicht mir den zweiten, schiebt den Kasten näher.

Beim Einziehen des neuen Gurtes zerreiße ich mir den Finger. Was macht's, daß mein Blut die ganze Visiereinrichtung verschmiert.

Der Gurt ist eingezogen …

Meine Kugelspritze faucht tackend, – – drüben am Deck völlige Leere.

Plötzlich schwenkt die Yacht herum, zeigt die Breitseite, wendet im kurzen Bogen …

Borstel ruft grimmig: »Sie flüchten«.

In der trüben fernen Dämmerung im Süden verschwindet die Yacht. Selbst mit dem Glase ist sie nicht mehr zu finden.

Das war kein Sieg, das war nicht einmal ein Kampf, das war nur das Vorspiel …

Um mich herum ist es still geworden. Borstel ist nach vorne zu Margrit und Brasson gegangen. Ab und zu sehe ich das Aufleuchten ihrer glimmenden Zigaretten.

Chi hat das Steuer an Mudir übergeben. Er muß seine Nase pflegen, die Blutstropfen, die aus seiner Nasenspitze quellen, stören ihn beim Rauchen.

Vom Bug aus dem Dunkel der Nacht höre ich Margrits Stimme. Brasson antwortet. Seine Worte klingen so warm und weich, daß ich ohne es zu sehen weiß, daß er jetzt Margrits Hand leicht streichelt …

Ein erbärmliches Gefühl steigt in mir auf. O, ich hasse ihn, diesen grobschlächtigen Kerl, der das Benehmen eines Eisblockes zur Schau trägt.

In diesem Augenblick glaube ich auch Margrit zu hassen. Sie und Brasson haben mir meine Ruhe genommen, die ich an der Seite Chis im Urwald genoß.

Warum mußte sie gerade in unserer Nähe mit ihrem Flugzeug landen und mir meine Ruhe nehmen.

Wie hatte mein Herz geklopft, als sie sich in unserer bescheidenen Hütte zum Schlafen niederlegte …

Sei ehrlich, Olaf, in diesem Augenblick waren deine Gedanken den Tatsachen weit voraus.

Hatte das Auftauchen dieser Frau nicht Gedanken in dir wachgerufen an längst begraben geglaubte Zeiten?

Hattest du dir nicht vorgenommen, diese Frau zu verwöhnen, ihr Diener wolltest du sein. Ihr Vertrauen wolltest du erringen und später auch ihre Liebe. Dein Leben abseits vom Alltagswege sollte schöner werden durch diese Frau, die das Schicksal auch zur Außenseiterin der Gesellschaft gestempelt hatte.

Du wolltest sie beschützen, dafür Sorge tragen, daß dein Glück von niemanden gestört würde. Hast du nicht schon in Gedanken ihren Körper gestreichelt, hast du nicht schon davon geträumt, in naher Zukunft nun Tag und Nacht an ihrer Seite sein zu dürfen …

Zugegeben, das waren voreilige Gedanken, aber ist es verwunderlich, wenn man als Mann, der nun schon monatelang im tiefsten Urwald lebt, solche Gedanken in sich trägt? Man kann seine natürlichen Gefühle in sich vergraben, wenn man an der Seite eines der alten blatternarbigen Chinesen leben muß und im Umkreis von zirka fünf Kilometern nur einige Dajak-Stämme hausen. Bei diesen Stämmen waren zwar Frauen, aber die waren weiß Gott nicht so gebaut, daß sie die Gefühle eines gebildeten Weißen in Erregung bringen konnten. Und wenn schon, die Dajak-Männer waren so verflucht eifersüchtig, daß sie ein Eindringen in ihren Kreis kurzerhand mit einem vergifteten Speer beantwortet hätten.

Margrit war dir wie ein Geschenk des Himmels vorgekommen …

War …

In einigen Stunden später schon war dieser Traum zerronnen in Nichts. Die Hütte war leer wie zuvor und ein fremder Weißer war aufgetaucht und hatte dein Glück gestohlen …

Gestohlen? …

Er hatte sich nur das wiedergeholt, was ihm schon lange gehörte. Margrit liebte Brasson. Das war klar. Oder jedenfalls hatten sie sich geliebt, bevor Margrit nach Gellajore verbannt worden war, in die Hölle von Borneo.

Margrit und Brasson waren Verlobte.

Aber trotzdem, Gott verfluche diesen Brasson, der ein aufkeimendes Glück im Urwald zerstörte.

Quatsch! Was sollen diese dummen Gedanken. Warum verfluche ich einen Menschen, der mir nichts getan hat. Geb dich zufrieden, Olaf, das Schicksal hat es so gewollt, wer weiß, wozu es gut ist …

Borstel und Chi tauchen wie zwei Schemen aus dem Dunkel neben mir auf:

»Die Yacht, Abelsen.«

Erschreckt erwache ich aus meinen Gedanken. Brasson reicht mir sein Glas. Schnell hab' ich es vor meinen Augen und suche den Horizont ab.

Aus der Dämmerung tauchen die Umrisse eines Schiffes auf. Nur langsam werden die Umrisse deutlicher. Was ist denn da los. Mir scheint, als würde das Schiff ziellos von den Strömungen hin und her getrieben. Da stimmt doch was nicht.

Erregt fasse ich das Glas mit beiden Händen und versuche, es besser einzustellen. Jetzt hab' ich's ganz deutlich, es stimmt, die Yacht fährt keinen gesteuerten Kurs.

Sie treibt führerlos auf uns zu.

Da! Am Bug der Yacht hält sich ein Mann an der Reling fest. In der Linken hält er ein Stück weißes Tuch, eine Tischdecke wahrscheinlich, oder ist es ein Hemd? Er winkt.

Die Yacht ist irgendwie unklar geworden.

Ich nehme das Glas ab, gebe es an Borstel weiter:

»Was sagst du dazu?«

Borstel dreht mit seinen Fingern das Glas auf die richtige Sehstärke ein.

»Hol mich der Teufel. Die sind unklar.«

Die Yacht lag auf gleicher Höhe in Rufweite von uns. Der Mann am Bug hatte zu winken aufgehört. Er mußte seine Hände als Schalltrichter benutzt haben, als er uns anrief.

»Hallo, Kutter, kommt längsseits!«

Borstel, Chi und ich sahen uns verwundert an.

Was sollte das bedeuten?

Das vorherige Benehmen von seiten der Yacht, die Schüsse auf uns, bewiesen doch eindeutig, daß diese was von uns wollten und zwar nichts Gutes. Überfällt man sonst so ohne weiteres einen friedlich dahinfahrenden Kutter?

Borstel kratzte mit seinen klobigen Fingern in seinen kurzen Haaren herum.

»Jetzt möchte ich ein Hellseher sein«, sagte er nachdenklich.

Chi strich über seine verpflasterte Nasenspitze und sagte im leicht näselnden Ton:

»Es könnte nicht schaden, Erhabener, wenn du jetzt deinen Geist über uns leuchten lassen könntest.«

Er stieß dichte Dampfwolken aus seiner Zigarre und sah Borstel von unten herauf leicht spöttisch an.

Die Strömung hatte uns unterdessen näher an die Yacht herangetrieben.

Am Bug stand noch immer der Mann und winkte mit dem weißen Tuch.

Die Yacht kränkte schwer.

»Hallo, Kutter, hört ihr uns?«

Wir waren jetzt so dicht beieinander, daß wir uns unbedingt hören mußten. An Deck der Yacht war außer dem Mann mit der weißen Fahne niemand zu sehen. Diese unheimliche Ruhe machte mich besonders mißtrauisch. Trotzdem rief ich jetzt zur Yacht hinüber:

»Wir haben euch gehört, was wollt ihr von uns?«

»Kommt längsseits, wir brauchen eure Hilfe«, kam Antwort von drüben zurück.

Ich sah Borstel an.

»Was sollen wir jetzt tun?«

Einerseits war die Situation ganz eindeutig klar. Die Yacht hatte uns verfolgt und angegriffen. Wenn auch Chis Nasenspitze der einzige Verlust war, den wir hatten, die Schüsse von drüben waren jedenfalls keine Friedenserklärung. Auf mein Maschinengewehrfeuer war die Yacht zwar sofort abgedreht und im Dunkel verschwunden.

Jetzt tauchte sie steuerlos und allem Anschein nach auch führerlos wieder aus dem Dunkel auf und rief uns um Hilfe an.

Was sollte das bedeuten?

Wirr rasten die Gedanken durch meinen Kopf.

»Mensch, Borstel, wenn das alles nur eine Verwechslung gewesen ist, wenn die uns für Flußpiraten gehalten haben und uns sozusagen aus Notwehr angegriffen haben.«

Borstel war noch immer mit den Fingern auf seinem Kopf beschäftigt.

»Tja«, meinte er dann, »wenn das nun die Yacht des Regierungskommissars ist oder irgendeines anderen hohen Bonzen, die du mit deiner Kugelspritze leichtsinnigerweise unters Feuer genommen hast. Mensch Meier, das ist ja gar nicht auszudenken, was du angerichtet hast. Und wenn es dir in deiner Blödheit auch noch gelungen sein sollte, einige der Besatzung in ein besseres Jenseits zu befördern oder sogar den Herrn Regierungskommissar persönlich anzukratzen, dann sehe ich schwarz.«

Chi, der bis dahin geschwiegen hatte, meinte ganz freundlich:

»Na ja, – dann wird eben der Steckbrief gegen Olaf in Zukunft nicht nur auf Mord, sondern auf Massenmord ausgestellt sein. Was macht das?«

Eine Wut stieg in mir auf. Das hatte ich also davon.

Aus purer Menschenfreundlichkeit hatte ich mich in diese ganze Geschichte eingelassen und jetzt?

Ruckartig sprang ich hoch. Stürzte an Chi und Borstel, die mich beide entsetzt anstarrten, vorbei aufs Ruder zu.

Mudir, der anscheinend ahnungslos das Ruder in der Hand gehalten hatte, bekam einen Tritt von mir versetzt, der ihn bis an die Reling taumeln ließ. Wie ein Rasender ergriff ich das Ruder, schmiß es ruckartig herum, daß unser Kutter fast kenterte und schwer Wasser nahm. Als er sich wieder aufrichtete, wies die Spitze unseres Bugs genau auf die Yacht.

»Was machst du, Olaf«, Borstel hatte die Hand auf meine Schulter gelegt, »es war doch nicht so gemeint, überleg' was du tust«.

»Überlegen«, schrie ich ihn an. »Mich laß zufrieden mit deinen Überlegungen, ich will jetzt wissen, was an Bord los ist. Und wenn ich es weiß, dann ist für mich hier bei euch Feierabend. Dann lasse ich mich sofort an Land setzen und gehe wieder meine eigenen Wege. Ich habe die Nase voll. Ich will mit euch nichts mehr zu tun haben.«

Borstel hatte die Hand nicht von meiner Schulter genommen. Still stand er hinter mir und sah genau so gespannt wie ich der jetzt dicht vor uns liegenden Yacht entgegen.

Jetzt lagen wir längsseits der Yacht.

Mudir hatte eine Leine herübergeschmissen, die der Mann mit der weißen Fahne an der Reling vertäute. Dann lief er zum Heck, schmiß dort selbst eine Leine herunter. Mudir und Chi zogen nun den Kutter ganz an die Yacht heran und befestigten die Leine der Yacht an unserer Reling.

Unsere beiden Boote lagen nun so eng beieinander, daß wir ohne Schwierigkeiten von Bord zu Bord springen konnten.

Der Mann mit der weißen Fahne war ein Weißer. An seiner Sprache konnte man erkennen, daß er ein Engländer sein mußte.

Er ging jetzt mitschiffs, blieb aber an Bord der Yacht.

Jetzt stand er uns gegenüber.

»Ihr habt unsere Steuerketten zerschossen. Unseren Steuermann habt ihr auch angekratzt und einige andere Männer unserer Besatzung sind ebenfalls verletzt.«

Borstel sah mich an. Dann ging er einen Schritt auf die Reling zu. Langsam zog er seinen Revolver aus der Tasche, lud durch und hielt die Mündung dann genau auf die Brust des Mannes, der seine weiße Fahne noch immer in der Hand hielt.

Hart klang seine Stimme:

»Mein Name ist Borstel. Ich bin der Polizeichef von Sarawak. Sie haben das Feuer auf uns eröffnet und deshalb die Folgen hierfür selbst zu tragen. Ich werde Sie abschleppen und Sie an Land noch vor ein ordentliches Gericht stellen lassen. Auf jeden Fall …«

»Gut, Mr. Borstel«, die Stimme des Engländers klang fast gleichgültig.

»Hierüber wollen wir uns noch unterhalten. Der Eigner der Yacht wird sich Ihnen zur Verfügung stellen müssen. Ich selbst als Kapitän werde mich auch nicht der Verantwortung entziehen. Vorerst möchte ich Sie aber bitten, unseren Verletzten Hilfe zu leisten. Wir selbst haben keinen Arzt an Bord. Von der Besatzung weiß auch niemand mit Verletzten umzugehen, es besteht die Gefahr, daß einige verbluten. Wollen Sie uns helfen?«

Nach diesen Worten trat er von der Reling zurück, so, als wolle er uns Platz machen zum Übersteigen.

Borstel zog sich als Erster an der Reling der Yacht hoch, übersprang diese mit einem eleganten Hechtsprung und stand so wenige Augenblicke später an Bord der Yacht.

Chi und ich folgten auf demselben Wege.

Borstel hatte seinen Revolver wieder auf den Mann der Yacht gerichtet. Ich selbst hatte meinen Revolver auch aus der Tasche geholt und hielt ihn schußbereit in der Hand.

Chi verließ sich lieber auf sein Messer. Dieses hatte er stoßbereit in der Hand und ich muß sagen, er sah in diesem Augenblick gar nicht vertrauenerweckend aus.

Der Mann von der Yacht beachtete unsere Waffen gar nicht, seelenruhig ging er an uns vorbei, drehte sich um, winkte mit der Hand:

»Darf ich Sie bitten, mir zu folgen?«

Ohne darauf zu achten, ob wir ihm folgten oder nicht, ging er dann weiter.

Erst zögernd folgten wir ihm.

Sein Weg ging quer übers Deck am Ruderhaus vorbei.

Trotzdem wir ziemlich schnell gingen, hatte ich meine Augen überall. Aber kein Mann war zu sehen. Das Deck war leer und aufgeräumt. Soweit ich erkennen konnte, herrschte hier an Bord Ordnung.

Vor dem Niedergang blieben wir stehen.

»Wir haben die Verletzten unter Deck gebracht, wollen Sie mir bitte nach unten folgen.«

Ohne auf unsere Antwort zu warten, ging er voraus, ins Finstere.

Seine klobigen Stiefel stampften die Treppen hinunter.

Borstel und Chi folgten ihm sofort.

Mein Herz schlug bis zum Hals, laut und unregelmäßig. Eine Unruhe ergriff mich plötzlich, Verdacht stieg in mir auf. Schnell drehte ich mich um. Ich wollte zum Ruderhaus. Ich wußte plötzlich ganz genau, daß hier etwas nicht stimmte.

Leise war ich die wenigen Schritte zum Ruderhaus zurückgegangen. Ich hob die linke Hand, um die Tür zu öffnen.

Plötzlich wurde ich von hinten angesprungen. Zwei Hände umklammerten wie einen Schraubstock meinen Hals. Die Sinne drohten zu schwinden.

Unter der Wucht des Aufpralls war ich nach vorne gestolpert, mit dem Kopf gegen die Wand des Ruderhauses geprallt. Mein Kopf brummte wie ein Bienenschwarm. Ich bekam keine Luft mehr.

Mit einer unheimlichen Kraft preßten die Hände meine Luftröhre zusammen, immer stärker krampften sie sich fest.

Ich nahm meine ganze Kraft zusammen, versuchte fieberhaft zu denken und handelte wohl instinktiv richtig, als ich mich plötzlich ruckartig nach hinten fallen ließ.

Hierauf war mein Angreifer nicht vorbereitet.

Unter dem Gewicht meines Körpers stolperte auch er. Seine Hände hatten meinen Hals losgelassen, weil er einen Halt suchen wollte.

Blitzschnell drehte ich mich um und schon landete ich einen Kinnhaken genau auf der Kinnspitze. Der Kieferknochen knackte wie eine Eierschale. Die Wucht meines Schlages hatte den Mann emporgehoben und jetzt krachte er in seiner ganzen Länge zu Boden.

Schon war ich über ihm.

Wie irrsinnig schlug ich in das verschwommene Gesicht vor mir.

Ich wollte ihn töten.

Ja, ich glaube, ich hätte diesen Mann kaltblütig totgeschlagen, als plötzlich unter mir im Schiff ein Krach los ging, der mich wieder an meine Kameraden erinnerte.

Ein letzter Schlag noch in diese Visage vor mir.

Dann sprang ich auf.

Mit wenigen Sätzen war ich an der Treppe zum Niedergang.

Hier war der Krach deutlicher zu hören.

Meine Freunde mußten in arger Not sein.

Mit einem Sprung war ich die Treppen hinunter. Was machte es, daß ich mir meinen Kopf anschlug und unten der Länge nach hinschlug.

Sofort war ich wieder auf. Wenn es bloß nicht so finster gewesen wäre. Sehen konnte ich nicht die Hand vor den Augen. So konnte ich mich nur nach dem Krach richten, der aus irgendeiner der Kabinen kam.

Schnell hatte ich die richtige Tür gefunden.

Hier erst merkte ich, daß ich meinen Revolver nicht mehr bei mir hatte.

Sollte ich zurücklaufen und ihn an Bord suchen?

Ach was, es konnte zu spät sein bis ich zurückkam.

Ich werde da drin schon etwas finden, womit ich in den Kampf eingreifen kann.

Also, rein ins Vergnügen.

Die Tür war verschlossen. Was nun?

Ratlos stand ich davor.

Dann warf ich mich mit aller Gewalt gegen die Türfüllung. Es half nichts. Meine Schulterknochen schmerzten, als seien sie gebrochen. Die Tür blieb ganz. In der Kabine kämpften meine Freunde sehr wahrscheinlich um ihr Leben.

Ich mußte einfach rein.

Immer wieder warf ich mich gegen die Tür. Zuletzt nahm ich einen Anlauf und sprang mit einem wahren Hechtsprung gegen die Füllung.

Krachend gab sie nach.

Auf den Resten der Füllung liegend, flog ich in die Kabine.

Unter mir hatte ich jemanden begraben, der sich aber nicht mehr bewegte.

Schnell stand ich wieder auf meinen Füßen.

Ein grauenhaftes Bild bot sich meinen Augen, im Schein der trüben Funzel, die von der Kabinendecke herunterhing.

In der mir gegenüber liegenden Ecke der Kabine stand Borstel.

In seiner Hand einen länglichen Gegenstand, sehr wahrscheinlich ein Tischbein oder etwas Ähnliches.

Vor ihm, soviel ich sehen konnte, fünf bis sechs Gestalten, die auf ihn eindrangen. Doch keiner konnte ihn richtig zu fassen kriegen, da er jeden, der ihm zu nahe kam, sofort einen Schlag versetzte.

Um mich herum auf dem Boden lagen schon einige leblose Gestalten.

Die richtigen Gangsterfiguren.

Plötzlich entdeckte ich unter ihnen auch Chi. Aus seinem Mund floß Blut. Sein Gesicht war fast nicht mehr zu erkennen.

Mein Freund Chi!

Tot!

Der Gefährte vieler einsamer Wochen.

Tot!

Und diese Schufte hatten ihn umgebracht.

In einem Wutgeheul stürzte ich mich auf die Kämpfenden.

»Halt aus, Borstel, ich komme!«

Schon hatte ich einen der vor mir Stehenden an den Hüften gepackt. Ich hob ihn hoch und warf ihn gegen seine Kumpane.

Schon hatte ich wieder einen zu fassen.

Ich sah rot.

Es ist sonst bestimmt nicht meine Art, wahllos und tierisch auf Menschen einzuschlagen, aber jetzt konnte mich nichts mehr halten. Wie ein Irrsinniger schlug und trat ich um mich.

Entsetzt waren die Angreifer zur Seite gesprungen.

Schon stand ich neben Borstel, der schwer atmend an der Wand gelehnt stand.

Und wie hatten ihn die Burschen zugerichtet.

Quer über seine Kopfhaut lief ein Riß, aus dem von allen Seiten das Blut floß. Sein rechtes Auge war ganz geschlossen. Sein Gesicht war von Blut verschmiert.

Das linke Auge war noch intakt und als er mir jetzt kurz sein Gesicht zuwandte, blinkerte er mir zu, als wenn er sagen wollte:

»Jetzt kann uns nichts mehr passieren.«

Unsere Angreifer standen anscheinend ratlos vor uns. Sie hatten auch eine kleine Schnaufpause nötig.

Schnell bückte ich mich und bewaffnete mich ebenfalls mit einem Tischbein.

Borstel und ich sahen uns kurz an, nickten uns zu.

Dann gingen wir langsam, die Tischbeine in der Hand, wie Keulen, auf unsere Gegner zu, die ebenso langsam vor uns zurückwichen.

Ungefähr in der Mitte der Kabine blieben wir stehen.

Unsere Angreifer versperrten die Tür.

»Macht die Tür frei.« Borstels Stimme klang hart und rostig.

»Macht die Tür frei, sag ich euch, sonst schlagen wir euch zusammen.«

Stumm wie eine Mauer standen die Angreifer vor uns.

Blanker Hohn war in ihren Augen zu lesen.

»Reg' dich nicht auf, Mann. Legt eure Knüppel weg, sonst kommt ihr hier lebendig nicht mehr raus.«

Der Mann, der uns mit seiner weißen Fahne längsseits gelockt hatte und anscheinend der Anführer dieser Bande war, sprach diese Worte.

Als Antwort hatten wir unsere Tischbeine zum Schlag erhoben und wollten uns erneut auf unsere Angreifer stürzen.

Plötzlich verlor ich den Boden unter den Füßen. Ich schlug mit dem Kopf irgendwo an und spürte noch, daß ich fiel. Und schon spürte ich den Schmerz des Aufpralls in meinen Knochen.

Dann fiel noch etwas hinterher. Im Dunkeln tasteten meine Finger über dieses Etwas. An den kurzen Haaren stellte ich fest:

Borstel!

Auch er.

Neben mir lag noch einer. Das mußte irgendeiner von den Gangstern sein.

Mühsam richtete ich mich auf. Schob Borstel an die Seite und legte ihn neben mich.

Er bewegte sich nicht. Gerade wollte ich ihn untersuchen, ob noch Leben in ihm sei, als er zu stöhnen anfing.

Er stöhnte wie ein Irrer.

Dann bemerkte er, daß jemand in seiner Nähe war.

»Bist du es Abelsen«, fragte er leise, fast flüsternd.

Ich bejahte.

Es war wieder still zwischen uns geworden. Außer einem gelegentlichen Stöhnen war nichts mehr zu hören.

Nachdem ich einige Zeit gelegen hatte, fing ich an, auf allen vieren in unserem Verließ herumzukrabbeln. Ich wollte wissen, wie der Raum aussah, in dem man uns auf diese gemeine Weise gelockt hatte.

Ich war noch nicht weit gekommen, als Borstel wieder anfing, sich zu rühren. Schnell war ich wieder an seiner Seite.

»Helf mir mal, ich selbst kann mich so schlecht bewegen.«

Mühsam drehte ich ihn herum, dann krabbelten wir gemeinsam ins Dunkle. Solange bis unsere Köpfe gegen ein Hindernis stießen. Es war die Seitenwand unseres Verließes.

Hier setzten wir uns zur Ruhe. Wir tasteten unsere Körper ab und stellten zu unserer Befriedigung fest, daß unsere Knochen zwar sehr stark schmerzten, aber anscheinend noch ganz waren.

Wir waren also noch mit einem blauen Auge davongekommen. Die blauen Flecken würden wieder vergehen ebenso wie die Schmerzen.

»Hast du Chi gesehen?« fragte Borstel mich plötzlich.

»Ja, er lag oben auf dem Fußboden der Kabine. Ich glaube, er ist tot. Jedenfalls sah er ganz so aus.«

Borstel schwieg.

Nach einer Weile dann ganz plötzlich, aber mit merkwürdig ruhiger Stimme:

»Ich möchte bloß wissen, was hier so stinkt. Riechst du nichts?«

Soweit wie es mir möglich war, versuchte ich tief durch die Nase einzuatmen.

Jetzt merkte ich es auch, daß ein furchtbarer Gestank in unserem Verließ herrschte.

»Eine Affenherde könnte nicht besser stinken«, meinte Borstel.

Aus seinen Worten war schon wieder ein leichter Humor zu hören.

»Nach Affen stinkt es nicht«, sagte ich. »Ich vermute eher …«

»Was vermutest du?«

»Leichen.«

Ich erinnerte mich jetzt ganz genau, wo ich einen so ähnlichen Gestank schon einmal gerochen hatte. Damals war Coy Kala noch bei mir gewesen. Auch er ist nun schon lange tot. Coy war mein großer Lehrmeister gewesen. Mit ihm zusammen war ich durch Feuerland geritten und hatte die Höhle mit den halbverwesten Leichen der Russen gefunden.

Genau so stank es hier. Widerlich süß. Nur der Teergeruch dämpfte diesen Gestank etwas ab.

»Komm Borstel, laß uns mal suchen. Irgendwie müssen hier noch ein paar Halbverweste den Raum mit uns teilen.«

Heute, da ich diese Zeilen schreibe, wünsche ich mir, nie diesen Vorschlag gemacht zu haben. Noch sitzt das Grauen in mir, wenn ich an unseren gräßlichen Fund denke.

Langsam waren Borstel und ich an der Wand entlang gekrochen.

Zuerst stießen wir auf den mit uns herabgestürzten Gauner. Er war tot. Er hatte sich beim Sturz das Genick gebrochen.

Wir untersuchten seine Taschen.

Fanden aber außer ein paar Streichhölzern und einem Beutel mit Tabak nichts Wesentliches.

Die Streichhölzer konnten wir gebrauchen.

Wir schoben die Leiche in die Ecke und machten uns wieder auf den Weg.

In der Mitte des Raumes riß Borstel ein Streichholz an.

Ach, hätte er es nie getan.

Im flackernden Licht des Zündholzes sahen wir ein grauenhaftes Bild.

An der uns gegenüberliegenden Wand saßen fünf Figuren. Menschen konnte man schon nicht mehr sagen.

Das Streichholz verlosch und wie ein Schemen war dieses grauenhafte Bild wieder in der Dunkelheit verschwunden.

Ich wollte Borstel darum bitten, kein Streichholz mehr anzuzünden. Eine Gänsehaut hatte meinen Körper überzogen, vor Grauen.

Doch ehe ich dazu kam, ein Wort zu sagen, war Borstel schon weiter vorgerückt. Anscheinend war er jetzt wieder ganz munter.

Er mußte sich jetzt dicht vor den Leichen befinden. Trotz meines Grauens kroch ich langsam hinter ihm her.

Wieder flammte ein Streichholz auf. Ich hatte mir fest vorgenommen, die Augen nicht zu öffnen und doch tat ich es.

Hätte ich es nie getan.

Meinen Lesern ist bekannt, daß ich bestimmt keine schwachen Nerven habe, aber was ich hier im Licht des Zündholzes zu sehen bekam, ging an die Grenze meiner Kräfte.

Von irgendwoher hatte Borstel ein großes Stück Papier bekommen und angezündet.

Vor uns saßen mit dem Rücken an die Bordwand gelehnt die Leichen. Vielmehr das, was noch von diesen übergeblieben war.

Aus hohlen Augenlöchern stierten uns die Totenköpfe an.

Die abgefressenen Lippen gaben die gelben und schwarzen Zahnstümpfe frei. Es sah aus, als grinsten die Toten uns schadenfroh an.

Wie versteinert starrten wir auf dieses grauenhafte Bild.

Borstel hielt seine Fackel noch näher an diese Halbverwesten heran. Anscheinend wollte er irgend etwas an ihnen erkennen.

Plötzlich bewegten sich die Kleider an den Gerippen. Ich wollte vor Entsetzen zu schreien anfangen, doch der Ton blieb mir in der Kehle stecken.

Nur ein Röcheln brachte ich heraus.

Dann fing es plötzlich an zu pfeifen, hohl und unheimlich und mit einem riesigen Satz sprangen drei große Ratten an uns vorbei.

Vor Entsetzen hatte Borstel die Fackel fallen lassen.

Sie erlosch am Boden.

Aufatmend lehnten wir uns aneinander. Und ich gestehe, daß ich mich nicht schäme zuzugeben, daß ich damals am ganzen Leibe gezittert habe.

Borstel ging es nicht anders.

Entsetzt, zitternd und ganz langsam zogen wir uns wieder in unsere Ecke zurück.

Als Borstel sich eine Zigarette anzündete und auch mir eine anbot, habe ich, solange das Streichholz brannte, meine Augen zugemacht.

Erst als ich die ersten Züge der Zigarette gierig durch meinen schmerzenden Hals gezogen hatte, öffnete ich meine Augen.

»Was war das, Borstel?« fragte ich zitternd.

»Das kannst du nicht wissen«, meinte er, »aber einen davon glaube ich zu kennen. Die Goldzähne fielen mir auf. So ein goldenes Gebiß hatte in ganz Sarawak nur Mr. Saymoore. Er ist seit ungefähr fünf Wochen verschwunden. Wir haben ihn wochenlang gesucht, haben jedoch nur noch einen seiner Diener gefunden, der zwar immer wieder behauptete, daß er mit dem Verschwinden seines Herrn nichts zu tun habe, von einigen Engländern aber wurde unter Eid behauptet, daß man ihn zuletzt mit Saymoore zusammen gesehen habe. Deswegen wurde er schuldig gesprochen. Noch unterm Galgen beteuerte er beim Andenken all seiner Ahnen seine Unschuld. Es half ihm aber nichts. Er wurde gehängt.«

»Kennst du die Engländer?« fragte ich.

»Ich kenne sie und wenn ich je hier wieder herauskomme, werde ich sie zur Verantwortung ziehen.«

»Wer sind sie?«

Er antwortete erst viel später und es war so, als ob er lange über diese Antwort nachdenken müßte. »Später werde ich es dir einmal sagen, Olaf.«

Dann kein Wort mehr …

An Deck oben war es still geworden. Nur ab und zu waren über uns Schritte zu hören.

Anscheinend schleppten die Gangster ihre Verwundeten weg.

Dann öffnete sich die Luke, durch die auch wir heruntergefallen waren. Ein längliches Bündel flog herunter und prallte dumpf auf den Boden.

»Damit ihr wieder beisammen seid«, rief eine höhnische Stimme herunter.

Dann knallte die Luke wieder zu.

Wie war das gemeint?

Sollte das Chi gewesen sein?

Aber, der war doch tot.

Langsam krochen Borstel und ich auf das Menschenbündel zu.

Borstel ließ wieder ein Streichholz aufflammen.

Vor uns lag Chi!

Er blutete aus mehreren Wunden. Von seinem blatternarbigen Gesicht war fast nichts mehr zu erkennen.

Schnell versuchte ich seinen Puls zu erfassen.

Ich mußte lange suchen, meine Finger wurden blutig, aber dann spürte ich ihn.

Ganz schwach.

Aber Chi lebte. Sein Puls schlug noch.

»Er lebt«, sagte ich zu Borstel.

»Dann weg mit ihm, komm, faß an.«

Gemeinsam zogen wir Chi in unsere Ecke und legten ihn, so gut es möglich war, einigermaßen bequem hin.

Jetzt waren wir also wieder zu dritt.

Sauber waren wir hereingefallen. Aber hatten wir nicht selbst schuld?

Wie ein paar Blinde waren wir in diese Falle gegangen.

Coy, mein Lehrmeister, würde bestimmt besorgt seinen Kopf schütteln, wenn er uns hier so liegen gesehen hätte. Wenn er bei uns gewesen wäre, wären wir nie in diese Lage gekommen.

Was hilft das Nachdenken und was helfen Vorwürfe, wenn es zu spät ist.

Wir waren jetzt drin in dieser Lage und mußten sehen, wie es weiter ging.

Ich hatte jetzt nur einen Wunsch: Zurück in meinen Urwald.

Wie sehnte ich mich nach den hohen Bäumen und der Ruhe, die ich dort gehabt hatte.

Wie harmlos waren doch die wilden Tiere im Vergleich zu diesen Bestien, denen wir jetzt in die Hände gefallen waren. Wie harmlos waren die Dajaks, die wir Weiße so von oben herab als Wilde bezeichneten. Ich nahm mir vor, daß ich, wenn ich je wieder in den Urwald zurückkommen sollte, diese Wilden noch besser behandeln würde als bisher.

Jetzt war ich also unter meinesgleichen. Unter kultivierten Weißen, die so verächtlich auf diese Wilden herabsehen konnten, die einen Wilden, der doch tausendmal besser war als sie, wie Dreck behandelten. Gleichzeitig aber auch ihre weißen Brüder umbrachten, wie sie es gerade brauchten.

Fürwahr, auf unsere Kultur und auf unsere Bildung konnten wir Weiße stolz sein!

Im Umbringen waren wir sogar Meister. In dieser Beziehung waren die Wilden uns gegenüber zahm …

Jetzt war es ganz still geworden.

Was mochte aus unserem Kutter geworden sein?

Wo war Margrit?

Wo blieb Brasson?

Hatten die noch nicht gemerkt, daß irgend etwas hier an Bord nicht stimmte?

Warum kam Brasson uns nicht mit den Leuten unserer Besatzung zu Hilfe?

Der, dem wir dies alles zu verdanken hatten, ließ uns also sauber im Stich.

Das war auch so eine Wesensart von uns, auf die wir stolz sein konnten. Wenn's um die Haut ging, dann wurde die Freundschaft leicht vergessen.

Sicher saß Brasson jetzt irgendwo mit Margrit im Trockenen.

Das war natürlich bildlich gesprochen. Ich meinte damit, daß der saubere Brasson schon lange mit Margrit das Beiboot klargemacht hatte und auf und davon war.

Man möge mir diese Gedanken verzeihen. In einer solchen Situation kann man leicht einmal ungerecht sein.

Ich konnte ja nicht ahnen, was sich in der Zwischenzeit an Bord unseres Kutters abgespielt hatte.

Gar nichts ahnte ich und vielleicht war es gut so …

Eintönig klatschten die Wellen an die Außenwand der Yacht. Ab und zu wurde dieses Klatschen unterbrochen durch das dumpfe Aneinanderstoßen der Bordwände.

Unser Kutter war also noch da.

Meine beiden Freunde waren eingeschlafen.

Auch mir fielen mit Gewalt die Augen zu. Ich konnte einfach nicht mehr wach bleiben.

Ich wollte nicht einschlafen.

Ich fürchtete mich.

Jawohl, ich fürchtete mich und ich möchte denjenigen sehen, der sich in dieser Lage nicht gefürchtet hätte.

Früher einmal, während meiner Schulzeit, habe ich viele Romane von irgendwelchen Helden gelesen. Die überstanden die grausamsten Abenteuer ohne jede Furcht. Auch in der gefährlichsten Situation blieben sie Sieger. Mutwillig stürzten sie sich laufend in neue Abenteuer und verdienten damit eine unheimliche Menge Geld.

Nun war mir schon lange klar, daß solche Helden nur in Romanen existieren können.

Erlebte Abenteuer sind anders. Da gibt es keine Helden.

Ich habe gewiß schon viel erlebt, aber mutwillig habe ich die Gefahr wohl nie gesucht.

Berühmt werden wollte ich mit meinen Abenteuern auch nicht.

Ich bin es auch nicht geworden.

Reich geworden wie die Helden in den Romanen bin ich bis jetzt auch noch nicht.

Ich bin ein armer Hund.

Früher hatte ich wenigstens noch eine Heimat, hatte einen Beruf und auch eine Frau, an die ich glaubte.

Aber das ist schon so lange her.

So lange, daß ich glaube, diese Zeit nur geträumt zu haben …

*

Erschreckt riß ich die Augen auf.

Ein greller Schrei ertönte neben mir.

Auch Borstel war wach geworden. Wir beide beugten uns über Chi.

Nur er konnte geschrien haben.

Er jammerte noch jetzt.

»Da hat mich eben jemand ins Bein gebissen«, stöhnte er.

Sollten die Ratten?

Die Bestätigung dieses Gedankens folgte sofort.

Etwas Dunkles sprang mich an.

Etwas Klebriges zog durch mein Gesicht, huschte darüber weg.

Spitze Krallen bohrten sich in meinen Schultern fest.

Entsetzt sprang ich auf. Zu hoch. Mein Kopf stieß gegen die Decke und schon saß ich wieder.

Mein Kopf hatte eine Beule mehr, aber die Ratte, die sich auf meinen Schultern festgesetzt hatte, war weg.

Ein kaltes Grauen kroch in mir hoch.

Ich hörte, wie Borstel nach seinen Streichhölzern suchte. Endlich flammte eines auf.

Im Aufleuchten der kleinen Flamme starrte uns Chis Gesicht wie eine verzerrte Maske entgegen. Seine Lippen bewegten sich. Mehr stöhnend wie sprechend sagte er:

»Ihr seid auch hier? Ich habe geglaubt, die hätten euch umgebracht.«

Das war Chi.

Auch in der größten Not dachte er noch an seine Freunde.

Langsam und mit vielen Anstrengungen richtete er seinen Oberkörper auf und stützte sich auf die Ellenbogen. Wir lehnten seinen Rücken gegen die Wand. Chi tastete seine schmerzenden Glieder ab, befühlte die Wunden in seinem Gesicht und die Beulen an seinem Kopf. Aufstöhnend stellte er fest:

»Ich bin ganz. Aber die Burschen haben mich furchtbar zugerichtet. Erhabener Borstel, sei so gnädig und berichte mir, wo wir uns hier befinden.«

Nun war der Kerl gerade drei Minuten wieder von den Toten auferstanden und schon fing er wieder das Spötteln an. Diesen Gleichmut hätte auch ich besitzen mögen.

Schnell klärten wir ihn auf.

Erbittert erzählte ich ihm, daß Brasson uns sicher feige im Stich gelassen hätte, denn es wäre doch seine Pflicht gewesen, uns zu retten. Aber dieser gottverdammte Engländer denke ja gar nicht daran.

»Sei ruhig, Olaf«, unterbrach er meinen Redeschwall, »Brasson hat uns nicht verraten. Er kann nicht kommen, glaub es mir ruhig. Wir sind alle in eine …«

Seine Rede wurde durch erregtes Trampeln an Deck unterbrochen.

Rufe wurden laut und dann gellte ein Schrei durchs Dunkel.

»Olaf!«

Das war Margrits Stimme. Sie rief mich.

Wie gern wäre ich diesem Rufe gefolgt, aber es ging nicht.

Eine ohnmächtige Wut hatte ich in diesem Augenblick im Bauch. Aber helfen konnte ich nicht.

In diesem Moment starb etwas in mir. Ich nahm mir vor, mit diesen Gaunern da oben, die sich jetzt allem Anschein nach sogar an einem wehrlosen Weib vergriffen hatten, abzurechnen. Und wenn ich dabei draufgehen sollte.

Margrits Rufen war verklungen. Nur die Schritte an Deck waren noch zu hören. Sie kamen näher. Sie stampften die Stufen des Niedergangs herab, waren dann direkt über uns zu hören, kamen über eine Treppe noch näher an uns heran und waren dann direkt bei uns.

Über uns ging plötzlich die Luke wieder auf. Der Strahl einer riesigen Taschenlampe leuchtete uns an. Eine Stimme, die aus dem Nichts zu kommen schien, rief:

»Ihr bleibt jetzt da sitzen, wo ihr seid. Wer sich bewegt, wird sofort erschossen.«

Wie zur Bekräftigung dieser Worte krachten einige Schüsse los. Die Geschosse bohrten sich dicht über uns in die Wand.

An der Innenwand unseres Kerkers rasselte es. Riegel wurden zurückgeschoben. Dann öffnete sich unter lautem Knarren eine Tür.

Zuerst schmissen die Lumpen Brasson mit Schwung durch die Öffnung, dann folgte die sich mit Händen und Füßen sträubende Margrit. Der Strahl der Taschenlampe fiel genau in ihr Gesicht, geblendet schloß sie die Augen.

Dann wurden noch einige kleinere Bündel hinterher geschmissen, sogar ein Talglicht schmissen sie auf den Haufen, der am Boden lag, dann schloß sich die Tür knarrend wieder. Die Riegel wurden wieder vorgeschoben. Langsam entfernten sich die Schritte wieder nach oben.

Von oben ertönte noch einmal die Stimme:

»Macht es euch einstweilen bequem da unten. Lange braucht ihr nicht auszuhalten. Seid vernünftig, dann habt ihr vorerst nichts zu befürchten.«

Das Licht verlosch, die Luke klappte wieder zu und wir waren wieder ganz unter uns.

Brasson zündete ein Streichholz an, Margrit schrie erschreckt auf, als sie uns sah, wankte auf uns zu, kniete neben mir nieder, legte den Kopf an meine Brust und weinte.

Borstel hatte inzwischen das Talglicht angezündet, beugte sich über Brasson, der gerade wieder zu sich kam. Er half ihm, als dieser sich aufrichten wollte, und zog ihn mit in unsere Ecke. Brassons Hände waren gefesselt. Borstel zog einen langen Gegenstand aus dem Schaft seines Stiefels. Dieser sah so ähnlich aus wie ein kleiner Spazierstock.

Es war aber eine Waffe Borstels, die ich hier zum erstenmal bestaunen konnte.

Eine blanke Klinge wurde durch einen Mechanismus ausgelöst.

Brassons Fesseln wurden damit zerschnitten. Die Klinge verschwand wieder. Seelenruhig steckte Borstel diesen Patentspazierstock wieder weg.

Nachdem wir es uns nun gemeinsam in unserer Ecke bequem gemacht hatten, sofern man überhaupt von Bequemlichkeit reden konnte, entwarfen wir einen Schlachtplan. Für uns war es selbstverständlich, daß wir uns nicht einfach einsperren lassen wollten. Daß unsere Gegner keine zarten Nerven hatten, wußten wir aus eigener Erfahrung. Unsere stummen halbaufgefressenen Mitbewohner auf der anderen Seite des Raumes bewiesen uns, daß unsere Gegner uns notfalls hier unten einfach verrecken lassen würden.

Trotz großem Palaver konnten wir zu keiner Einigung kommen. Die Wände unseres Verlieses waren aus festem Holz, teilweise sogar aus Eisen. Wir besaßen auch keinerlei Waffen und konnten uns, falls es uns gelingen sollte, das Verlies zu verlassen, draußen nicht verteidigen. Zudem waren wir ja auch alle mehr oder weniger zusammengeschlagen.

Wir beschlossen also, uns vorerst einmal still zu verhalten und unser unangenehmes Gefängnis vorerst weiter zu bewohnen.

Margrit saß noch immer neben mir, sie hatte sich langsam wieder beruhigt. Nur ab und zu schluchzte sie noch wild auf.

»Warum seid ihr uns eigentlich nicht zu Hilfe gekommen?« fragte ich ins Dunkle hinein.

Brasson antwortete:

»Weil es uns nicht möglich war. Nachdem ihr einige Minuten erst von uns fort ward, stand plötzlich Mudir vor uns. In der Hand hielt er ein langes Messer und er forderte uns auf, mitzukommen. So ruhig als möglich standen wir auf. Mudir befahl uns, voranzugehen. Während wir über Deck gingen, schien plötzlich auf der Yacht der Teufel los zu sein. Ich versuchte Mudir abzulenken und in ein Gespräch zu ziehen.

›Was hast du mit uns vor?‹

›Du schon sehen‹, erwidert er, ›jetzt gehen, sonst ich dich kalt machen.‹

Hierbei stieß er mich mit seiner freien linken Hand an, er wollte mich zum Weitergehen bewegen. Auf diesen Augenblick hatte ich gewartet. Schnell hatte ich seine Hand ergriffen und ebenso schnell trat ich mit aller Gewalt unter seinen rechten Arm. Er schrie auf vor Schmerz, ließ das Messer fallen. In diesem Augenblick hatte er verloren. Sofort versetzte ich ihm mit meiner rechten Hand einen Schwinger, der ihn zu Boden sacken ließ. Ich ließ ihn liegen, faßte Margrit an der Hand und wollte mit ihr nach achtern ins Beiboot des Kutters. Ich wollte Margrit in Sicherheit bringen, mich dann wieder bewaffnen und euch zu Hilfe kommen.

Gerade war ich dabei, Margrit über die Bordwand zu helfen, als ich wieder von hinten angesprungen wurde. Mudir war wieder wach geworden und versuchte jetzt, mir den Hals zuzudrücken. Verzweifelt setzte ich mich zur Wehr. Ich mußte Margrit loslassen, denn ich brauchte meine Hände jetzt, um mich zu verteidigen. Es gelang mir, endlich Mudirs Hände zu fassen zu kriegen. Mit meiner ganzen Kraft zog ich ihn an mich heran, beugte mich dann ruckartig über die Reling und zog Mudir mit einem gewaltigen Schwung über mich weg. Im hohen Bogen ist er ein paar Meter vom Kutter entfernt ins Meer gefallen. Er mußte sich verletzt haben, denn nur langsam begann er zu schwimmen. Nach einigen Metern rauschte das Wasser neben ihm auf. Mudir fing plötzlich an zu schreien. Ich sah den Hauch eines weißen Schattens kurz auftauchen, dann schnellte ein gewaltiges Haifischmaul aus dem Wasser, schnappte nach Mudir. Dieser war plötzlich verschwunden. Der Hai hat ihn gefressen. Ich bedauere es nicht.

Eben wollte ich mich wieder Margrit zuwenden, die noch immer erstarrt auf der Reling saß, als ich hinter mir den dumpfen Aufprall mehrerer Sprünge hörte. Gerade, daß ich mich noch umdrehen konnte, das war alles. Zu einer Verteidigung kam ich nicht mehr. Vier der Gauner von der Yacht hatten mich umzingelt. Sie stürzten sich auf mich. Ich bekam einen Schlag über den Kopf und verlor die Besinnung.

Als ich wieder zu mir kam, war ich bei euch.«

Margrit erzählte uns dann noch, daß die eingeborene Besatzung unseres Kutters, die von Mudir in der Kajüte eingesperrt worden war, einzeln von den Männern der Yachtbesatzung erstochen und über Bord geschmissen wurde. Entsetzt hatte sie zusehen müssen, wie einer nach dem anderen der treuen Kerle den Haien zum Fraß vorgeworfen wurde. Als sie sich für die Männer einsetzen wollte, trat einer der Gauner auf sie zu, hielt ihr seine große Hand unter die Nase und sagte:

»Mäuschen, ich rate dir, halte deinen Mund, es könnte sonst sein, daß wir dich auch gleich mit über Bord werfen. Auf einen mehr oder weniger kommt es hier nicht an.«

Nachdem unsere Besatzung restlos getötet war, hatten zwei von den Gaunern Margrits Hände genommen und sie gewaltsam an Bord der Yacht gezerrt. Zwei andere hatten Brasson auf die Schulter genommen und trugen ihn ebenfalls auf die Yacht. Mit allen ihr zur Verfügung stehenden Kräften hatte sich Margrit verzweifelt gewehrt. Gegen zwei dieser Riesen konnte sie naturgemäß nichts ausrichten und so war sie dann auch hier bei uns wieder gelandet …

An Bord wurde es plötzlich wieder laut. Etwas wurde über die Deckplanken geschleift und fiel mit dumpfen Krach in unseren Kutter.

Dann waren einige Axtschläge zu hören.

»Sie kappen die Taue«, meinte Borstel.

Daß er hiermit recht hatte, konnte man hören, denn gleich darauf scharrte es an der Bordwand. Nach wenigen Minuten war nichts mehr zu hören.

Dann wurde der Motor der Yacht angeworfen, puckernd setzte er sich in Bewegung. Ein Zittern lief durch die ganze Yacht. Das Puckern wurde gleichmäßiger, die Yacht hatte ihre Fahrt aufgenommen.

Einem uns unbekannten Ziel entgegen.

Nach einigen Minuten hörten wir aus einer Entfernung einen dumpfen Krach. Die Yacht wurde leicht hochgeworfen.

»Und jetzt haben sie uns unseren Kutter gesprengt«, sagte Chi.

Dann wurde es still bei uns. Keiner hatte mehr Lust, irgendein Wort zu reden. Jeder war mit seinen Gedanken beschäftigt und wollte wissen, was die nächste Zukunft uns an Überraschungen bescheren würde.

Das Puckern des Motors wirkte einschläfernd auf uns und wenn wir nicht alle so angespannt nachgedacht hätten, wären wir bestimmt eingeschlafen.

Ungefähr nach vierzig Minuten setzte das Puckern des Motors aus. Die Yacht trieb aber noch langsam vorwärts. An der Bordwand kratzte es leise. Es mußten Zweige sein. Sehr wahrscheinlich würde man jetzt mit uns irgendwo an Land gehen.

Die Bordwand stieß plötzlich irgendwo an, laufende Schritte ertönten an Deck. Einige Worte wurden gewechselt, die wir aber nicht verstehen konnten. Dann lag die Yacht still.

Dann war wieder Ruhe an Deck.

Eine ganze Zeitlang blieb es still.

Plötzlich wieder das Trampeln mehrerer Füße. Sie kamen über Deck und stampften die Stufen herunter. Dann standen sie vor unserer Tür.

Kreischend wurden die Riegel zurückgeschlagen. Knarrend öffnete sich die Tür.

Eine Taschenlampe flammte auf und eine harte Stimme forderte uns auf, an Deck zu kommen.

Langsam erhoben wir uns und humpelten der Tür entgegen. Hier sahen wir dann, daß sich mindestens acht Mann vor der Tür versammelt hatten.

Jeder von uns mußte seine Hände nach vorne halten. Schnell wurde ein geteerter Faden drumgeschlungen. Auf diese Art gefesselt wurden wir nach oben getrieben. An Deck versammelten wir uns wieder.

Der Mond war aufgegangen und beleuchtete unsere Umgebung.

Da war ein Landungssteg, liederlich aus Baumstämmen hergestellt. Da waren einige Dorfhütten auf Pfählen gebaut, teilweise bald eingefallen. –

Um uns herum lagen einige große Praus, jene Küstensegler malaiischer Erfindung, die in allen Schauergeschichten über ostindische Seeräuber vorkommen und der chinesischen Piratendschunke Konkurrenz machten …

Da lagen Sampans, Boote, schmale Kähne mit Auslegern und unter dem Gebell zahlloser Hunde wurden wir an Land getrieben.

Verwegen blickende Eingeborene kreisten uns ein.

Langsam gingen wir eskortiert von allen Seiten über den brüchigen Landungssteg an Land. Borstel, Chi und ich bildeten die Spitze.

Wir näherten uns einer guterhaltenen Eingeborenenhütte, die am Rand eines Dickichts stand. Sie war besonders gut zu sehen, weil sie im hellen Mondlicht vor uns lag.

Hinter uns schrie Margrit Jossy grell auf:

»Lord Rosselleer …!«

Aus der Hütte war eine gebückte hagere Männergestalt im weißen Tropenanzug ins Freie getreten …

»Es freut mich, Major Brasson …« sagte der Lord eisig. »Auf Sie beide habe ich gerade gewartet …«

Wir saßen fest. Die Falle klappte zu. Die ganze Malaienbande war von Rosselleer bestochen und half mit.

»Eine Funkanlage an Bord rentiert sich …« meinte der klapperige Engländer ebenso ironisch. »Sollten Sie sich wehren, knallen wir Sie nieder. Sie haben ja Ihre Leute alle weggeschickt, Mr. Borstel …«

Wir waren hier nur unser fünf.

Borstel lachte hart. »Mylord, Sie befinden sich auf dem Boden des Sultanats Sarawak, und ich mache Sie darauf aufmerksam, daß …«

Es war zwecklos.

Minuten später lag ich neben Chi in einer stinkenden, flohreichen Malaienhütte. Der dritte Gefesselte war Johann Borstel.

Wer die Malaien persönlich kennen gelernt hat, wer ihre liederlichen Bauten, ihren Mangel an Reinlichkeit, ihre Lügenhaftigkeit, ihre kriecherische Verschlagenheit je mit eigenen Augen und Ohren richtig einzuschätzen die zweifelhafte Ehre hatte, dem ist es geradezu unbegreiflich, daß diese Fremdlinge auf borneanischem Boden einst die tapferen Dajakvölker unterwerfen, knechten und schamlos aussaugen konnten. Wenigen tausend Malaien, die mit ihren Praus von Sumatra herüberkamen und nur an den Küsten sich festsetzten, gelang die Unterjochung von Hunderttausenden fleißigen, meist friedlichen und in patriarchalischen Gebräuchen lebenden Ureinwohnern: Ein förmliches Wunder, ähnlich dem Geschick der Indianer Nordamerikas, nur daß in Borneo der Farbige den Farbigen verdrängte und der Europäer schließlich als Befreier auftrat.

Die Malaien der großen Küstenstädte muß man hier natürlich als Ausnahme behandeln, jene reichen Handelsherren, die sich überraschend schnell der westlichen Zivilisation angepaßt haben. Der arme Dorfmalaie ist noch heute der wahre Vertreter seines Volkes: Hinterlistig grausam, lügnerisch, diebisch, faul und nur dann von wilder Todesverachtung, wenn der Blutrausch ihn packt. –

Der Raum des Pfahlbaus, in den man uns drei bei strömendem Regen gefesselt hineingetragen und roh auf den Boden geworfen hatte, stank nach allem Möglichen. Wozu er sonst benutzt wurde, ließ sich bei dem trüben Licht einer blakenden Petroleumlaterne, die auf einer Kiste stand, nicht recht erkennen. Daheim in Schweden hätte ich auf ein ländliches WC ohne Wasserspülung geraten.

Drei Malaien hockten als Wächter in einer Ecke, junge Kerle mit frechen Augen und sehr stolz auf ihre alten Armeerevolver, mit denen sie uns Angst einzujagen suchten.

Die Dielen hier waren gespaltene Bambusstäbe, die Wölbungen nach oben. Die Ritzen schienen mit Harz verschmiert, und das übrige war … glitschiger Schmutz.

Borstel lag abseits im Dunkeln. Was er trieb und dachte, war mir schleierhaft, denn zunächst pfiff er eine ganze Weile den alten Gassenhauer von der Holzauktion im Grunewald und bemühte sich dann, das Jodeln der Gibbons nachzuahmen.

»Findest du das schön?!« fragte der liebenswürdige Chi und hob etwas den Kopf. – Ich hatte mich soeben aufrecht gesetzt und den Rücken an die Balkenwand gelehnt.

Borstel jodelte weiter. Es mußte eine halbe Meile weit zu hören sein.

Die Malaien grinsten und zeigten ihre tadellosen Zähne.

Plötzlich gab es einen Krach, Borstel sauste durch den Fußboden abwärts und durch eine große Klappe, die er irgendwie geöffnet hatte, drang frische Luft herein. Gleichzeitig erfolgte ein Donnerschlag, daß die ganze Bude zu wanken schien.

Nachdem das Nachrollen des Donners verstummt, erholten sich auch die drei Wächter von der Überraschung der jähen Höllenfahrt Freund Borstels, der nun unten irgendwo grimmig fluchte und dann ebenso unvermittelt verstummte. Einer der Malaien stieß die elende Brettertür auf und wollte davonrennen, um Freund James wieder nach oben zu schaffen. Der Kerl blieb wie angewurzelt stehen. Draußen knallten Schüsse, ein Wolkenbruch rauschte auf das Reisdach herab, und eine Faust fuhr aus dem finsteren Korridor dieses Palais dem Malaien gegen das Kinn.

Es war Borstels erster Hieb, den ich bestaunen durfte. Da er seinen Spazierstock selbst mit den gefesselten Händen krampfhaft festgehalten hatte, lernte ich jetzt auch dessen metallisches Geheimnis kennen. Eine blanke Klinge sauste aus dem Bambusrohr blitzartig über die schmierigen Pfoten der beiden anderen Helden, zwei Revolver fielen zu Boden und drei Malaien kauerten blutend und angstschlotternd neben der Kiste.

Borstel band uns los, – ohne ein Wort gab er uns die verrosteten Knallbüchsen und winkte mir. Chi blieb als Wächter zurück.

Draußen goß es, man sah nicht die Hand vor Augen. Wir tappten zum Bootssteg, fanden die Kutter unbesetzt, und machten den einen fertig.

Die Yacht, die uns hierher gebracht hatte, war nicht mehr zu sehen. Anscheinend gehörte sie nicht zum festen Bestand des Engländers.

Ich habe erstens als wir einfuhren weit draußen die Yacht von Lord Rosselleer liegen sehen. Die müssen wir erreichen.

Der Scheinwerfer unseres Kutters funkte in die Finsternis und mit voller Kraft gings zur Yacht hinaus, die in der schwachen Dünung des Deltas träge vor Anker tanzte.

Das war alles so recht nach meinem Geschmack. Borstels Plan erschien durchaus den Verhältnissen angemessen. Auf der Yacht konnten nur ein paar Mann zurückgeblieben sein, und mit denen würden wir wohl einig werden, so oder so. Hatten wir die Yacht, so war Seine Lordschaft John Rosselleer in der Tinte.

Als wir das niedergelassene Fallreep gefunden und festgemacht hatten, rief von droben ein Matrose herab, wer wir seien.

»Wirst es bald merken, min Jung«, knurrte Borstel und stieg empor. An der Relingpforte brannten zwei Laternen. Wir sahen vier Leute vor uns. Borstel deutete auf seinen Tropenhelm.

»Polizei, – die Sache drüben ist schief gegangen, Boys, und wenn ihr nicht wegen Piraterei baumeln wollt, kriecht in die Koje und laßt den lieben Gott für das weitere sorgen.«

Es waren vier Engländer, ältere Leute, und nach einigem Hin und Her verdufteten sie wirklich. Sie waren durch Borstels energisches Auftreten völlig eingeschüchtert worden.

Wir hatten die Yacht. Und die Hauptsache: Recht und Gesetz waren auf unserer Seite! – Ich habe nie von der paragraphierten Moral viel gehalten, aber meine Verachtung jener von Menschen konstruierten Strafgesetzmaschine hat tiefere Gründe. Ich habe am eigenen Leibe die Unzulänglichkeit dessen erkannt, was man Rechtsprechung nennt. – In der Welt leben die größten Schurken in Palästen und fahren im Achtzylinder und haben Abwehrmauern von Gold um sich aufgehäuft. Millionen hungern und darben, Tausende prassen und fressen. Seit die Erde Bewohner hat, sogenannte Menschen, hat sie auch das Unrecht und als dessen lahmes Anhängsel das verkümmerte Recht.

Hier in Matta Ratta war etwas geschehen, nur denkbar infolge der ungeheuren Anmaßung und Selbstherrlichkeit des seebeherrschenden Volkes der Erde und seiner Vertreter: Ein Lord verliert sein Weib durch eine Kugel, durch die Waffe einer nervös überreizten Frau, – diese Frau bringt man auf sein Betreiben (das wußte ich durch Chi) nach einer Verbrecherinsel, sperrt sie als einzige Weiße mit farbigen Dirnen und ähnlichem Gelichter, dessen Schuldkonto meterlang, in eine Baracke …: Eine gebildete Frau, ein reiches junges Mädchen mit ernsthaften Sportneigungen und makelloser Vergangenheit: Margrit Jossy! – Sie entflieht, ihr Verlobter, mehr aus Augenblickslaune in einen Flirt mit der anderen geraten, verhilft ihr zur Flucht, sie finden sich, der Lord läßt sie belauern und wagt einen frechen Handstreich, bei dem sein Hohn und Spott jegliche Sympathie für dieses ausgemergelte Gestell ersticken muß. Zu offenkundig sind sein heimlicher Haß gegen Margrit und Major Brasson gewesen. Ihm blieben andere Wege, die beiden festnehmen zu lassen, und sein ganzes Vorgehen hier ließ nur die eine Erklärung zu: Er hatte nie die Absicht gehabt, uns alle etwa nach Singapore vor das Gericht zu bringen, nein, – wahrscheinlich wollte er uns irgendwo, irgendwie für immer »erledigen« … auch James Borstel, Chi, die Beamten Borstels und mich! – Den Eindruck hatte ich von der Sache.

Nun hatten wir ihm einen Strich durch die feine Rechnung gemacht.

Borstel sagte kurz auflachend:

»Sehen wir zu, was die Yacht noch enthält. Ich bleibe hier oben. Schau dir schnell die Kajüten an, Abelsen … John Rosselleer soll nicht umsonst mit seinen vierzig Jahren so gänzlich abgewirtschaftet sein. Man erzählt allerlei … Seine Frau brauchte es weiß Gott mit der Treue nicht genau zu nehmen. Ich werde die Anker hochwinden und die Yacht anderswo festlegen. Keine Sorge, ich werde schon damit fertig. Ich war auch drei Jahre Matrose, Abelsen … Und Kräfte habe ich für vier.«

Das stimmte.

Das Gewitter tobte noch immer, noch immer regnete es, und das helle Deck der eleganten Yacht glänzte vor Nässe.

Als ich die Achtertreppe zu den Luxusräumen hinabstieg, kam mir eine junge Inderin entgegen in etwas phantastischem Aufzug, sonst zum Anbeißen, und John hatte wohl auch angebissen.

Sie erschrak. In stolperndem Englisch fragte sie, was ich wünsche, sie sei die Zofe Miß Pulters, der Schwester der toten Lady.

Von einer Miß Pulter hatte ich mein Lebtag nichts vernommen.

»Miß jetzt schlafen«, zwitscherte das ranke braune Mädel, und ihr Stimmchen erinnerte mich jäh an meinen Peter, oder besser an Brassons Maugli: Was war aus dem Tierchen geworden?! Zuletzt hatte Chi es unter der Jacke gehabt, als wir eingekreist waren und dann der Wolkenbruch einsetzte und die Malaien uns packten und jede Gegenwehr zwecklos gewesen wäre.

Armer Peter! Der Gedanke, daß dein zärtliches Körperchen etwa in einem schmierigen Malaienkochtopf schmorte, war entsetzlich.

Zerstreut blickte ich die Zofe an. »Sind noch mehr Frauen an Bord?!«

Sie mochte den Ausdruck meiner Augen unrichtig deuten, denn sie wich ängstlich zurück und schüttelte heftig den Kopf …

»Nein, Sir, … nein!«

Später erinnerte ich mich an diese geringfügige Verstörtheit des Mädchens. Jetzt übersah ich sie.

»Wecke deine Herrin«, befahl ich. Ich sprach, wie man zu so jungen Dingern mit blanken Glutaugen spricht, mehr väterlich …

Sie lächelte plötzlich, und dieses kokette Lächeln hätte mich warnen sollen.

»Sehr wohl, Sir …«

Ich folgte ihr auf dem Fuße. Ich wollte nichts versäumen, was unsere Sicherheit betraf.

Mochte die Yacht auch bei flüchtiger Betrachtung, viel hatte ich überhaupt noch nicht gesehen, einen neuen, eleganten Eindruck machen: Mein kundiges Auge gewahrte jetzt verblichene, billig aufgewichste Pracht eines alten Dampfkahnes, in den man eine moderne Maschine eingebaut hatte.

Im Korridor zwischen den Kabinen glänzten lächerliche Vergoldungen und veraltete Zeichen eines Geschmackes, der das Bunte, in die Augen Fallende, bevorzugt hatte.

Das Mädchen pochte gegen eine Tür, und überraschend schnell erschien in hellseidenem Pyjama und Goldpantöffelchen und goldenem Haarnetz Miß Gwenda Pulter, strohblond, üppig, leicht gähnend, leicht gereizt …

»Was gibt es?!«

Schade, daß diese Stimme so herrisch klang.

»Guda, was gibt es?!« und ich war Luft für sie, ihr Blick hatte mich nur flüchtig gestreift.

Olaf Karl Abelsen war mehr Strolch als Gentleman. Mein Urwaldkostüm konnte höchstens einem Dajak gefallen. Mir selbst gefiel es in diesem Augenblick durchaus nicht.

Ich antwortete für Guda und faßte leicht an den pelzförmigen Rotanghut – mexikanisch-borneanisches Format:

»Ich komme im Auftrage der Polizei von Sarawak, Miß … Ihr Schwager Lord Rosselleer ist bei seinem Unternehmen etwas abgerutscht.« Es war kein Salonton, aber er paßte zu meinem Habit. »Ich muß Sie und die Zofe vorläufig einschließen und verbiete Ihnen, die Kabine zu verlassen.«

Gwenda Pulter hatte große Sphinxaugen von unbestimmter Farbe. Sie schaute mich groß an. Es war verwirrend.

Johns Unternehmungen sind mir gleichgültig, Mr. … – Ihr Name?«

»Elsen …«

»&… Mr. Elsen … ganz und gar gleichgültig … Worum handelt es sich?«

Das verwirrende Lächeln blieb, und der Duft, der aus der Kabine drang, war der sinnbetörende Boudoirgeruch der Dame von Welt.

Meine Nerven reagierten. Man lebt nicht ungestraft monatelang allein mit Chi im Urwald, – zumal wenn nur Dajakmädchen in Frage gekommen wären und als Quittung ein Giftpfeil aus einem Blasrohr.

Ich blickte hin … Ich sah das zerwühlte Lager mit seidener Wäsche. Das Moskitonetz war hochgeschlagen. Auf dem Nachttischchen stand eine Batterie silberner Flacons und Büchsen.

Ich schämte mich.

»Sie hörten es schon«, erklärte ich grob. »Ihr Schwager spielt hier Buschklepper … – Ich schließe Sie beide ein … Bitte!!«

Sie lächelte stärker.

»Versuchen Sie es, Mr. Elsen … Aber … stoßen Sie sich nicht …«

Hinter mir, wo diese Katze Guda stand, vernahm ich das feine Zischen eines Zerstäubers. Gudas bunte Fetzen waren weit genug gewesen, ihn zu verbergen.

Etwas Eiskaltes sprühte mir von der Seite ins Gesicht, meine Augen brannten wie höllisches Feuer, tränten … Ich sah nichts … Ich roch etwas Scharfes, Widerliches … Ich griff zu … Aber ich packte ins Leere und fiel mit schwindenden Sinnen vornüber.

Gwenda Pulters helles Lachen und der Krach, mit dem mein Kopf gegen die Türfüllung prallte, gaben schlechten Akkord.

»&… Stoßen Sie sich nicht …«

Ich stieß mich doch.

Zwei Weiber und ich …

Und eine Kabine mit Weiberduft …

Ich Narr!

&… Der stumme Gowin hat draußen das Holzhacken eingestellt und stampft herein und wirft den Arm Kleinholz vor den plumpen glühenden Ofen. Er nimmt nie Rücksicht auf meine Nerven. Er hat keine. Er hat nur Muskeln und ein verschlossenes Verbrechergesicht und eine halbe Zunge. Die andere Hälfte fraßen die Hunde in der Mandschurei – irgendwo.

Gowin hat die Tür offen gelassen, Kälte dringt herein und Gestank von faulenden Fischen und Seetang und Gekreisch der immerfort zankenden Möwen, die auf dem Großbaum meines Schoners sitzen und die Persenning kalken. Die Flecke sind ziemlich waschecht.

Es wird Abend, das Meer glüht rosig, die Sonne muß drüben hinter dem Vorgebirge als roter Feuerball versinken. Die Sonnenuntergänge sind hier auf Sachalin wundervoll.

Gowin hockt vor dem Ofen und schiebt einen armlangen Lachs am Eisenspieß über die Glut und dreht den Spieß immerfort und stiert vor sich hin. Ich wollte, er spräche einmal … Aber er lallt nur mit seiner halben Zunge, und das ist gräßlich. Unsere Zeichensprache genügt. Trotzdem interessiert Gowin mich. Er muß vieles auf dem Kerbholz haben.

Wozu rede ich hier von ihm, wo soeben noch die Erinnerung mir lebenswahr den Duft vortäuschte, der aus Gwendas Kabine auf der Yacht Sussex kam …

Ich nehme den Gänsekiel und rühre in der sogenannten Tinte … Eigenes Fabrikat, Ofenruß, Wasser, Salz, etwas Essig.

Es war eine böse Blamage für mich, daß ich mich derart durch die beiden Weiber hineinlegen ließ, und es war nur ein geringer Trost, daß inzwischen auch Freund John Borstel bei all seiner Schläue ein ähnliches Schicksal erfahren hat, nur in gröberer Art, denn die anscheinend so zahmen vier Matrosen hatten ihn am Heckanker eins über den Tropenhelm gefegt, und daß der Helm platzte, war immer noch besser, als wenn Borstels Hirnschale einen Riß bekommen hätte. – Das erfuhr ich später. Auch anderes noch … –

Vormittags gegen elf ließ Lord Rosselleer seine Gefangenen im Salon antreten. Borstel und ich waren wieder etwas in Form, und die Leidensgefährten sahen sogar recht frisch aus.

John Rosselleer bei Tageslicht war noch mehr Wrack. Auch die Bräune seines Gesichts konnte den Eindruck nicht verwischen, daß er etwas sehr schnell gelebt hatte. Sein Monokel wirkte albern, seine zitternden Hände bemitleidenswert, und seine hohle krächzende Stimme abstoßend. Der glanzlose Blick der Augen gemahnte an die Bilder jener venezianischen Dogen, die die Bleikammern erfanden und die Ledersäcke, mit Steinen und einem Menschen gefüllt. Wenn die Lido-Gäste wüßten, wieviel Skelette dort im Meere ruhen, würden sie nur schwarze Badeanzüge tragen.

Seine Lordschaft hatte die Güte gehabt, für uns Weiße Stühle zurechtstellen zu lassen, nur Chi mußte stehen. Seine Lordschaft hielt nur Europäer für Menschen, Farbige für bessere Tiere.

Wir saßen so:

Rechter Flügel: Major Brasson, neben ihm Margrit Jossi, dann ich, linker Flügel: Mr. James Borstel mit blauroter Beule in den braunroten Borsten, hinter mir stehend der pockennarbige Radscha a. D. von Tapulat, Chi Api.

Was aus Borstels Beamten geworden, ist allzeit dunkel geblieben. Am Lido modern ihre Gebeine nicht, vielleicht irgendwo bei Matta Ratta.

Margrit, genau wie wir Herren durch Hanfarmbänder geschmückt, war bleich, hatte aber sehr kecke Augen. Ich fürchtete sofort, Lord John würde einiges einstecken müssen.

Vorläufig beschränkte er sich auf ein fades Grinsen. Er war überhaupt sehr beschränkt. Wenn Chi seinen beißenden Witz spielen ließ, glotzte er ihn stets verständnislos an. –

Die Yacht Sussex steuerte, so weit ich es nach der Zeit und nach der durch die hochgeklappten Oberlichtfenster scheinenden Sonne beurteilen konnte, nordöstlichen Kurs, also ins Chinesische Meer hinein. Die See war ruhig, die Hitze erträglich, und die Motoren der Yacht liefen geräuschlos. An Deck sangen die Matrosen, einer ließ vorn einen Plattenkratzer dudeln, und holder Friede lag mithin trügerisch über der Szenerie.

Lord John räusperte sich und legte ein Bein über das andere und zog sorgsam die Bügelfalten glatt.

»Hm ja …« – der Anfang veranlaßte von seiten Borstels ein klares deutsches »Oller Trottel!«

»Wie meinten Sie?« fragte Mylord unsicher.

»Übersetze es ihm, Olaf«, bat Johann Borstel zärtlich. »Er würde sich freuen.«

Ich verzichtete, und Mylord schien die Injurie zu ahnen und lächelte hochmütig. Er hatte eine sehr kurze Oberlippe und vorn drei Goldzähne und starken Haarwuchs in den Nasenlöchern. Nur dort. Sein Schädel war blank wie ein Kürbis, aber ein Kürbis ist wertvoller – pardon, über Tote soll man nur Gutes reden, und Rosselleers morphiumverseuchter Leib ist längst einem Hai schlecht bekommen.

»Hm ja, Miß Jossi …«

Das waren schon zwei Worte mehr, also allerhand!

Miß Jossi betrachtete die Seegemälde an den Wänden.

Chi Api sagte bescheiden:

»Mylord, auf diese Weise werden wir bis übermorgen nicht fertig …«

Rosselleer kniff die Augen zu und streichelte seine Stirn, die bis zum Genick reichte.

»Schweig, gelber Halunke!« krähte er dann …

Der Radscha a. D. erwiderte freundlich:

»Es ist in der Tat bequemer sich zu duzen, John, weißer Hund … – Beschleunige das Tempo. Ich rieche von der Kombüse her allerlei Gutes, und ich diniere gern Punkt drei.«

Seine Lordschaft beugte sich vor, klappte die Augen zu und verdaute den Happen nur mit Mühe.

»Frechheit!!« Ihm schoß das Blut ins Gesicht, und das Monokel fiel herab und baumelte an der Seidenschnur hin und her.

Er war reichlich außer Atem, und Chi begütigte ihn:

»Rege dich nicht auf, John … Erledigen wir alles in Ruhe. Du gestattest, daß ich dir beispringe … Was hast du mit uns vor?«

Major Brasson zitterte etwas. Er zitterte, weil er sich das Lachen verbiß. Aber Borstel tat dies nicht, und sein »Bravo, alter Chi!!« war von Lachexplosionen begleitet.

Rosselleer sagte noch heiserer und warf Chi einen Giftblick zu:

»Schweigen Sie, … Sie …«

»Mr. Chi Api ist mein Name, und der Name hat einen guten Klang in Borneo …«

Der Lord lenkte noch mehr ein:

»Es handelt sich im Grunde nur um eine einfache Klärung einer einzigen Frage«, sagte er mit gezierter Gleichgültigkeit. »Sie haben ganz recht, Mr. Chi Api, daß wir die Dinge in aller Ruhe erörtern können …«

»Das Ding«, warf Chi ein und zog einen Sessel für sich herbei und rollte ihn vor das eine Fenster. »Das Ding, Mylord, denn Sie sprachen von einer einzigen Frage. Von Ihrer Seite bliebe es vielleicht bei dieser Frage. Wir, verzeihen Sie, wir als Gegenpartei hätten wohl mehrere Fragen zu klären. Darf ich später noch darauf zurückkommen. Also – bitte …«

Die Sprungfedern klirrten, als Chi Platz nahm, und er gestattete sich, etwa dieselbe Haltung einzunehmen wie Seine Lordschaft. Die Bügelfalten fehlten ihm freilich.

Rosselleer hüstelte. Er sah sich in eine Abwehrstellung gedrängt, und das paßte ihm ganz und gar nicht. Sein Gesichtsausdruck ward bösartig, und mit flatternden Händen zündete er sich zunächst eine Zigarette an, deren süßlicher Duft manches verriet.

»Opium!« brummte Borstel und schnupperte hörbar.

»&… Eine einzige Frage, meine Herren«, hub Mylord von neuem an. »Die … die junge Dame dort hat vor Gericht gleich nach Verkündung des Urteils die … die linke Hand wie zum Schwur erhoben und … hm … und etwa Folgendes gerufen – um nicht geschrien zu sagen: »So wahr ein Gott im Himmel lebt, – ich werde dieses Spiel aufdecken!« – Sie, Major Brasson, waren ja Zeuge dieser Szene … Ich glaube, ich habe die Worte richtig wiederholt.«

Brasson schwieg. Er blickte an Rosselleer vorbei, als ob der Sessel leer wäre.

»Hm, – Ihre … Taktik ist nicht ganz richtig«, – der Lord fieberte vor Wut. »Sie befinden sich in meiner Gewalt, und … und …«

»Na – – was denn?!« fragte Borstel voller Hohn. »Abelsen, der alte Kakadu hat das Krähen verlernt …!«

Vielleicht hätte er noch weitere Liebenswürdigkeiten dieser Art gespendet, wenn Margrit nicht mit tiefster Verachtung in der Stimme erklärt hätte:

»Mein Ausruf lautete allerdings so … Und wenn dieser Schwur mit der Linken geleistet wurde, Mylord, so tat ich es deswegen, weil ich an dieser Hand Austin Brassons Verlobungsring und Brautgeschenk, die Armbanduhr, trug … Heute ist diese Hand leer … Heute trage ich nur Ihre Stricke, Mylord. Hüten Sie sich, daß es nicht ein Strick für Sie wird!«

Ich blickte sie fast scheu von der Seite an, denn die Wirkung ihrer Worte war mehr als überraschend. Rosselleer sank in seinem Sessel wie ein leerer Sack zusammen, und sein Einglas rutschte klirrend an den Knöpfen seiner Jacke entlang und blieb vor dem Bauche liegen und glitzerte dort im Sonnenschein wie ein höhnisches Auge. Seine Stirn, seine Wangen perlten vor Schweiß, die Zigarette brannte auf dem Teppich weiter, und dieser Unglückswurm von englischem Pair bot ein Bild kläglichsten Zusammenbruchs dar.

Wodurch?!

Ich wandte den Kopf. Chi lächelte sanft und nickte mir zu. Er hatte mir trotz meiner Bitten bisher keinen Aufschluß darüber gegeben, was er über den Prozeß Jossi insgeheim erfahren hatte.

Es dauerte geraume Zeit, bis Rosselleer die Kraft fand, sich ein wenig aufzuraffen. Mit dünnem Grinsen, hinter dem die Angst lauerte, stotterte er, indem er sich bückte und die Zigarette aufhob:

»Sie belieben zu scherzen, Miß Jossi … Wie … wie meinten Sie das mit dem … dem Strick?«

Margrits Antlitz schien erstarrt. Hart und klar erwiderte sie:

»Strick und Spiel, besser Spiel und Strick gehören zusammen! Das wissen Sie am besten!«

Der Lord hob affektiert die Schultern. »Rätsel – – Rätsel!! Sie schießen meine Frau nieder, und …

»Das habe ich nie geleugnet!«

»Nun also, – und Sie deuten hier allerlei an, woraus kein Mensch klug wird …«

»Oh – Sie bestimmt!! Aber – – die Beweise fehlten uns, Mylord, das war es! Hätte mein Verteidiger vor oder in der Verhandlung dieses Thema angeschnitten und die Anklagebehörde …«

Brasson hatte Margrit scharf angeschaut.

»Das war sehr unklug von dir, Darling«, sagte er nur.

»Allerdings!!« Rosselleer sog pfeifend die Luft ein. »Allerdings sehr unklug, denn jetzt, Margrit Jossi, werde ich keinem von Ihnen je die Gelegenheit geben, meinen Namen in den Schmutz zu ziehen …!«

»Armer Schmutz«, – und Johann Borstel tat als Nachsatz etwas, das nicht ganz vornehm war: Er spie dem Lord vor die Füße.

Der war aufgestanden. Seine gebeugte Gestalt suchte sich aufzurichten.

»Dann – – wären wir also fertig …!« Seine Hand griff nach dem Klingelkontakt, der in Form eines Elefanten von der Deckenlampe herabhing.

»Halt!!«

Chi Api war mit drei Schritten neben ihm. »Mylord, für Sie ist die eine Frage abgetan … Nun sind wir an der Reihe. Haben Sie sich klar gemacht, welch ungeheuerliches Verbrechen Sie begehen, indem Sie uns als Gefangene irgendwohin entführen, ganz abgesehen davon, daß schon unsere Gefangennahme an sich …«

Rosselleer läutete. Draußen im Gang hatten fünf Matrosen vor der Salontür gewartet.

Mit grenzenlosem Hohn und Hochmut befahl er: »Bringt Sie wieder in den Kielraum …! – Sie, Warton, sind mir für alles verantwortlich, – – Sie verstehen!«

Einzeln wurden wir weggeschafft, wie wir gekommen waren. Ich sollte Brasson, Margrit und Chi volle vierzehn Tage nicht wiedersehen.

Was ich bisher von der Besatzung der Sussex kennengelernt hatte, waren alles üble Kerle. Mylord schien seine Yacht mit dem fragwürdigsten Londoner Gelichter bemannt zu haben. Ehrliche Teerjacken hätten sich auch nie auf so finstere, anrüchige Geschichten eingelassen.

Borstels und meine Zelle im Kielraum war aus rohen Brettern provisorisch zusammengeschlagen und durch Ballastsäcke ringsum abgestützt. Wo unsere Leidensgefährten steckten, wußten wir nicht. Wir waren im Dunkeln nach oben geleitet worden und kehrten nun wieder in dieselbe Dunkelheit zurück. Erst als die Tür der Kammer zufiel, flammte die elektrische Birne auf, die an einer Schnur hing und mit der Lichtleitung irgendwie verbunden war.

Jeder von uns hatte zwei Wolldecken, ein Kopfpolster und einen Eßnapf und einen Trinkbecher. – Es genügte. – Die Handfesseln hatte Warton uns in der Zelle abgenommen. Daß draußen Wachen lauerten, wußten wir, und Warton hatte sehr eindeutig erklärt, was ein Ausbruchsversuch zur Folge haben würde. Wir beabsichtigten daher keineswegs Zielscheiben für Pistolenkugeln zu werden.

Johann Borstel war ein lieber Kamerad. – Ich könnte beim besten Willen nicht mehr angeben, was wir nach der Szene im Salon hier unter uns über Jossis Schwur flüsterten. Alles Raten war zwecklos, und Borstel war lediglich darauf bedacht, uns Zerstreuung zu schaffen.

Jene vierzehn Tage Haft sind in meinem Gedächtnis wie zu einem einzigen Tage zusammengeballt. Zwei Stunden Rundgang an Deck, die Mahlzeiten, unsere Gespräche, ein provisorisches Schachspiel, – – unwesentlichere Eindrücke.

Nur dreierlei überragt die Eintönigkeit jener Zeit, die uns matt und schlaff machte. Erstens: Es mochte am vierten Mittag gewesen sein, als wir bei dem Rundgang nach der Hauptmahlzeit auf dem Achterdeck unter dem Sonnensegel einen Käfig neben Gwenda Pulters Liegestuhl stehen sahen.

Der Insasse war mein Peter.

Da wir nur bis zur Mitte des Schiffes den Rundgang um die Reling ausdehnen durften, da wir bisher nur Matrosen an Deck gesehen hatten und rundum das leere weite Meer, da wir nun gleichzeitig Gwenda und Peterle erblickten, blieben wir auch wie auf Kommando stehen …

Riefen wie auf Kommando:

»Peterle!!«

Peter-Maugli hatte traurig auf der obersten Käfigstange gesessen.

Er – – rührte sich nicht. Er wandte nicht einmal den Kopf, kaute an einer großen Banane …

Ich rief nochmals:

»Peterle!!«

Und da erkannte er meine Stimme. Er flog hoch, flog ans Gitter, streckte die Ärmchen hindurch, und sein sehnsüchtiges Zwitschern klang schrill und überlaut und ließ auch Gwenda Pulter zu uns hinüberlugen.

Kein Verbot, kein Wächter bannte mich an meinen Platz. Peter rief, ich kam … ich rannte zu ihm, ich drückte den Kopf an die Stäbe, fühlte die kalten schwarzen Händchen, sah die treuen traurigen Augen, das altkluge, nur zu menschenähnliche Kindergesichtchen …

Alles vergaß ich. Die Augen wurden mir feucht.

Warton, der rohe Patron, brüllte mich wütend an …

»Zurück nach vorn!! Sie, – sind Sie übergeschnappt, Sie …!!«

Gwenda schaute zu.

Ich sah sie nun bei Tage – zum erstenmal. Sie war schön, dieses Mädchen, und – seltsam – in ihren Augen las ich Mitleid und leichte Rührung.

»Gehen Sie, Warton …!« befahl sie kurz. »Bleiben Sie in der Nähe …«

Peters Freude über unser Wiedersehen wurde immer stürmischer.

Gwenda sagte da, und sie flüsterte vorsichtig: »Möchten Sie den kleinen Kerl zuweilen unten bei sich haben, Mr. Abelsen? Vielleicht kann ich es ermöglichen …«

Aber mein Interesse für Peterle war nur mehr geteilt. Neben dem Korbstuhl Gwenda's stand ein zweiter, zwischen beiden ein Tischchen, und auf dem Aschbecher dort lag eine halb aufgerauchte Zigarre.

Die Zigarrensorte kannte ich. Es waren Major Brassons lange dünne Sumatra, die er sich durch Borstel in Lubok Antu noch hatte besorgen lassen.

Sollte etwa …?!

Ich mochte den Gedanken nicht zu Ende führen, es kam dabei allzu Niederträchtiges heraus. Brasson war ein gemessener, kalter, steifleinener Kerl, aber ein Gentleman, und die Gemeinheit, hier etwa einen Flirt mit Gwenda aufgenommen zu haben, traute ich ihm nicht zu.

Aber – – die Zigarre …!!

Und jetzt, als mein Blick diese Zigarre förmlich zerfaserte, errötete Gwenda tief und sagte schnell:

»Nehmen Sie den Affen mit, – es ist gut!« –

Warton führte einen glücklichen kleinen Kapuziner, einen sehr vergnügten Borstel und einen sehr nachdenklichen Abelsen in die Zelle zurück. – –

Das war der eine Tag.

Der zweite, in meinem Gedächtnis rot angestrichene:

Es waren wieder mehrere Tage vergangen, und in unserer Zelle duftete es jetzt stark nach Peterle. Das ist nun einmal nicht anders, Affen riechen – und Affen in solch einem Bretterverschlag …

Borstel sagte: »Es stinkt!«

Er hatte recht.

In diesen Tagen, die uns Peterle mit allerlei Zerstreuungen kürzte, waren an Deck bei den Rundgängen nur wieder die Matrosen, der blaunasige Steuermann und der dicke Kapitän zu sehen. Kein Bordstuhl, keine Gwenda, keine Argwohn erregende Zigarre, – nur das weite, leere Meer. – Die Yacht fuhr offenbar außerhalb jeder Schiffsroute nördlichen Kurs.

Es war gegen Abend, und Borstel und ich hatten Schach gespielt, und Peter turnte oben unter der Decke umher, wo wir ihm eine Stange angebracht hatten. Mit einem Male war er verschwunden, nachdem es droben verdächtig geknarrt hatte.

»Er hat ein Loch gefunden«, meinte Borstel und fügte brummig hinzu: »Er könnte getrost eine Weile verduften, Abelsen …!«

Sein Wunsch ward erfüllt. Stunden vergingen, längst hatte Warton uns das Abendessen gebracht. Peter erschien nicht wieder.

Unser Verhältnis zu Warton war leidlich. Der Mann gewann bei längerer Bekanntschaft. Zuerst hatte er sich ganz streng an Lord Rosselleers Verbot gehalten, kein Wort mit uns zu sprechen. Auf die Dauer ließ sich das nicht durchführen. Wir waren bequeme Gefangene, wir dachten nicht an Flucht (wie auch?!), wir hielten uns mit unseren Sonderwünschen in bescheidenen Grenzen, wir gaben es sogar von selbst auf, nach unseren Gefährten zu fragen, denn in diesem Punkte war unser Oberwärter stumm wie ein Fisch.

Als er das Geschirr holte und jeden heimlich etwas Rauchtabak zusteckte, fragte ich nach Peter.

Borstel, der seinen schlechten Tag hatte, meinte gereizt, Peter könnte mal getrost oben sich auslüften – wir lebten hier in einem Affenkäfig, und er deutete auf die Schale mit Sand in der Ecke, die Peter leider nicht immer besuchte, wenn er es nötig hatte.

Warton antwortete mir, der Affe sei drüben bei Miß Jossi. Und dann ging er und schloß die Tür ab.

Drüben war ein weiter Begriff im Freien, hier im Kielraum war er eng begrenzt. Also Margrit lebte in unserer Nähe.

Und Major Brasson?!

Ich hatte mit Borstel über den zweiten Bordstuhl und die Zigarre gesprochen, und Freund Johann, der von dem etwas allzu wortkargen Austin wenig hielt, hatte gegrinst und erklärt: »In Singapore flirtete er mit der Schwester, der Lady Fanny, – warum hier nicht mit der Zwillingsschwester Gwenda, Abelsen?! Ich täte es auch, denn man soll nehmen, was man kriegen kann, das Leben ist kurz, und Gott mag wissen, wo und wie wir enden.«

Jetzt holte er wie stets das Schachbrett vor und die aus Brotkrumen modellierten Figuren, die inzwischen steinhart geworden waren. Wir hatten sie mit Kirschsaft und Asche gefärbt. Es war etwas schwierig, sie zu unterscheiden, denn Borstels Bildhauerkünste waren nicht gerade prima, und ich blieb gänzlicher Laie auf dem Gebiet.

Wir rauchten unsere Kalkpfeifen und spielten mit größter Versunkenheit. Die Yacht schlingerte leider, und es kam vor, daß unsere Partie ein wenig verrutschte. Als wir uns gerade wieder einmal stritten, ob eine Figur ein König oder ein Bauer sei, knarrte über uns das lose Brett und Peters Köpfchen tauchte auf. Er zwängte sich durch die Öffnung und war mit einem Satz an meinem Halse, zwitscherte selig und fegte mit dem langen Greifschwanz die ganze interessante Partie durcheinander.

Johann fluchte. Mitten in einer solchen Gemütsentladung, die nicht für Damenohren geeignet, stoppte er und packte Peter beim Genick und drehte ihn um.

An der Unterseite des Halses unseres kleinen Kapuziners hing an einem dünnen Faden ein zusammengerollter Zettel.

Mit gierigen Händen glättete ich ihn und sah eine feine zierliche Bleistiftschrift. Margrits Botschaft – Peter war also bei ihr gewesen – lautete:

 

»Vielleicht gelangt der Zettel in Ihren Besitz, Mr. Olaf. Warton sagte uns, daß Gwenda Pulter Ihnen den Affen gnädigst überlassen hat. – Trauen Sie Gwenda auf keinen Fall, was auch geschehen möge. Sie ist gefährlich. – Wir haben hier am Heck drei Zellen nebeneinander, und Chi ist mein Nachbar, die letzte Zelle bewohnte Austin. Chi und ich und Chi und Austin konnten uns durch Klopfzeilen verständigen. Seit Tagen ist Austins Kammer jedoch leer, und ich bin in größter Sorge. – Wir werden stets einzeln an Deck gebracht, ich nur abends für zwei Stunden, ich habe weder Gwenda noch den Lord je zu Gesicht bekommen. Ich möchte Ihnen gern noch mehr mitteilen, aber ich fürchte, der Zettel könnte in unrechte Hände geraten.«

 

Dann folgten in griechischen Buchstaben die Sätze:

 

»Vielleicht kennen Sie wie ich das griechische Alphabet. Der Lord und Gwenda kennen es bestimmt nicht. Geben Sie mir Nachricht. Peter wird sicherlich wieder zu mir kommen.«

 

Borstel sagte, Peter als Telegraphenbote sei besser wie als Zellengenosse. »Kannst du griechisch, Olaf?«

»Allerdings, – sonst hätte ich die Nachschrift nicht lesen können.«

»Danke!! Sehr geistreich. Ich meine, ob du die griechische Sprache von der Schule her noch beherrschst. Dann schreibe ihr griechisch Antwort.«

Das war nicht gut möglich. Wenn ich auch noch den Anfang von Homers Odyssee hersagen konnte, – zu weiterem reichte es nicht.

Vor dem Schlafengehen schrieb ich mit einem spitzen Hölzchen, das in einen fragwürdigen Tintenersatz getaucht wurde, auf der Rückseite des halbierten Zettels:

 

»Bitte griechisch. – Borstel und ich in einer Zelle. Der Major scheinbar oben untergebracht. Sorge überflüssig. Wissen Sie, wohin die Reise geht?«

 

Dann wurde Peter samt Schnur und Zettel durch das lose Brett geschoben, bekam einen leichten Klaps auf die Achterseite und verduftete.

Ich hatte mit griechischen Buchstaben geschrieben, und ich lag noch lange wach und grübelte über all diese Erlebnisse nach und hoffte, nun bald restlos Aufschluß über die Unmenge ungeklärter Fragen zu erhalten.

Borstel schnarchte. Er war ein guter Kerl, aber sein Schnarchen war allzu kräftig für die Enge unserer Zelle.

Was mir immer wieder durch den Kopf ging, das war Margrits Schwur und Rosselleers kläglicher Zusammenbruch, als Margrit die dunklen Andeutungen gemacht hatte. Johann und ich hatten diese Fragen von allen Seiten beleuchtet, es war jedoch nichts dabei herausgekommen. Nur das eine: Margrit wußte irgend etwas über den Lord, das diesem gefährlich werden konnte. Dieses Etwas mußte mit Margrits Eifersuchtstat zusammenhängen. Der Lord fürchtete sie, und deshalb setzte er so viel aufs Spiel und hatte uns alle in Matta Ratta geschnappt. – – Das war der zweite »rote« Tag aus meinem Gedächtnis.

Der dritte folgte auf den zweiten unmittelbar.

Ich hatte schlecht geschlafen. – Die Yacht mußte in ein Sturmgebiet geraten sein, und das Stampfen und Rollen des Schiffes hatte meine bereits etwas angegriffenen Nerven noch rebellischer gemacht. Wir waren nun zwölf Tage unterwegs, und da der nördliche Kurs scheinbar beständig beibehalten worden war, mußten wir bei einer ungefähren Durchschnittsgeschwindigkeit von zwölf bis sechzehn Knoten (meine eigene Schätzung) etwa auf einer Höhe mit der Südspitze der Halbinsel Kamtschatka uns befinden – etwa … – Was der Lord ausgerechnet im hohen Norden zwischen den Kontinenten Asien und Amerika wolle, blieb genau so dunkel wie vieles andere.

Ich hatte schlecht geschlafen und wurde sehr früh munter. Meine Uhr hatte man mir belassen. Es war halb sieben. Erst um sieben wurde unser Licht eingeschaltet.

Um mich her war Finsternis, dumpfe, verbrauchte Luft und die wenig lieblichen Töne der Schnarchsäge Johanns.

Ich setzte mich aufrecht. Ich war noch etwas schlaftrunken … In meinem Schoße bewegte sich etwas, und eine kühle, klebrige Hand, ein Affenhändchen streichelte meine Wange.

Peter-Maugli.

Dann hing er auch schon an meinem Halse und erzählte mir leise zirpend Geschichten, die ich leider nicht verstand. Vielleicht sprach er über Margrit, denn an seinem Halse hing ein neuer Zettel, ein weit größerer, und vielleicht berichtete er mir, wie reichlich der schönen aschblonden Herrin Tränen geflossen seien … –

Die Menschen, die dort fern in den Häusermeeren leben – nein – vegetieren und dem Gelde nachjagen und dieses armselige Leben »Kampf ums Dasein« nennen, – all jene Millionen, die geduldig wie Lastkamele durch den tiefen Sand des Alltags mit seinen kleinen Sorgen waten, die ahnen nichts, nichts von dem, was in der Brust dessen vorgeht, der dieser Welt den Rücken gekehrt hat und ganze und halbe Lose in der bunten Lotterie des Abenteuers spielt und immer wieder … gewinnt. Millionen mögen mit dem Kameldasein zufrieden sein. Hunderttausende sicherlich sind es nicht. Das sind die Lasttiere, die zuweilen auskeilen oder im Galopp davonrennen. Aber die Schlinge der Zivilisation hält sie fest und bändigt sie. – Und Tausende nur mag es geben, die auch diese Schlinge abstreifen, das sind die unruhigen Geister, die dunkel ahnen, daß das Leben anderes, besseres zu bieten hat als eine Wohnung mit Zentralheizung und Jazz und Theater und Film und … den Zoologischen Garten, um den Orient durch die Tierwelt in Käfigen kennenzulernen. Und dieses Ahnen wird zur Sehnsucht, zum Entschluß. So fand ein Kolumbus Amerika, so umsegelt ein Vasco de Gama die halbe Welt, so wurden fremde Erdteile erforscht, Länder erobert …

Ich habe nichts erobert als das Gefühl, innerlich frei zu sein. Ich habe jedoch Stunden und Tage gekostet, dessen verwirrend süßer Geschmack mich noch in der Erinnerung beherrscht, – ich durfte auf blankem Pferderücken die lichten Weiten der Pampas durcheilen, ich durfte hart um das eigene Leben kämpfen gegen Mensch, Tier, Naturgewalten: Höhepunkte des Daseins, wahrhaft berauschend!

Auch eine Zelle kann Pfad abseits vom Alltagswege sein.

Auch ein kleines Kapuzineräffchen kann dem, der Sinn dafür hat, Erlebnis werden.

Peters Zärtlichkeit ist morgens besonders stürmisch. Sein Zwitschern durchläuft dann alle Oktaven. Heute zwitschert er sanft und träumerisch, und mir war es, als hafte ihm noch der Geruch eines warmen Frauenleibes an und der Duft von Frauenhaar. Vielleicht hatte er die Nacht an Margrits Brust geruht und Margrits Mund schmeichelnd geküßt.

Peter küßte. Es ist Tatsache. Wer je ein Kapuzineräffchen besaß, wird es mir bestätigen.

Glücklicher Peter! Er hatte sicherlich Margrits streichelnde Hand gespürt, und in Margrits Augen mochte jener feuchte weiche Schimmer aufgeglommen sein, den ich auf dem Urwaldpfade bemerkt, bevor Margrit das Tierchen von sich stieß. – Margrit – Peterle …

Peterles Hand war längst heil. Der Schnitt damals, – zweifellos hatte Peter sich irgendwie an Brassons Messer verletzt, zweifellos war es in der Bambushütte zwischen den Liebenden zu harten Auseinandersetzungen und dann erst zu einer Versöhnung gekommen.

Vieles ging mir durch den Kopf, während Peter so leise zwitscherte und die Dunkelheit, uns umhüllte und die Phantasie anregte und ferne verblichene Bilder heraufzauberte.

Dann flammte die Lampe auf.

Die Yacht rollte noch immer, noch immer vernahm ich das Klatschen der Wogen und das besondere Geräusch, wenn die Schrauben beim Auftürmen des Hecks leer liefen.

Ich löste den Zettel von dem Bändchen, und Peter hielt ganz still. Peter war sehr klug und hatte wohl schnell begriffen, daß er dieses Papier nicht zerfetzen dürfe.

Ich las – griechische Buchstaben:

 

»Zwischen Brasson und mir ist alles aus. Er betrügt mich. In Singapore war es Tändelei, war es mehr höfliches Eingehen auf Fanny Rosselleers raffinierte Koketterie. – Ihre Andeutung, Mr. A., genügt mir. Er ist »oben«, – ich weiß, was das bedeutet. Niemals hätte ich ihm diese zweite Entgleisung zugetraut. Aber, glauben Sie mir, – ich werde mich rächen. Ich rede nicht viel, ich handle … – Chi läßt grüßen.«

 

Als ich dies Freund »Borstig« vorlas, sagte er nur: »Hol es der Teufel, Olaf … Die Dajakmädels machten einem nicht so viel Scherereien … Ich schätze, in der Umgegend von Lubok Antu laufen so etliche zwanzig kleine Borstels umher …«

Er hatte seine eigene Sunda-Moral, und ihn als berühmten Manang waren die Giftpfeile als Quittung für Verführung erspart geblieben. –

Was beabsichtigte Margrit? Was wußte sie von Rosselleer?!

Mir war das Herz schwer und bedrückt, und als Warton den Tee und das Frühstück brachte und bedenklich flüsterte, der Orkan wachse beständig an Stärke, ging selbst dies eindruckslos an mir vorüber.

Ich dachte nur an sie. Ich hatte Monate im Urwald gehaust, und die aschblonde Schönheit war mir gefährlich geworden.

&… Gowin hat seinen Lachs fertig gebraten und schiebt mir die Hälfte auf einen Aluminiumteller hin. Ich schiebe das schäbige Papier beiseite, und wir soupieren. Gowin hockt vor dem Ofen, ich habe über den Schreibtisch eine recht weiße Decke gebreitet, und während ich esse und trinke, möchte ich gern dem stummen Gowin vorlesen, was ich heute niederschrieb. Gowin verzichtet. Ich habe es nur einmal versucht. Er schlief ein. Fremde Schicksale sind ihm gleichgültig, und im Grunde hat er ja recht: Erntet man je Dank für Teilnahme?!

Einst schrieb ich: »Alles, was das Leben mir schenkte, waren Seifenblasen …«

Heute könnte ich den Satz wiederholen. Ich bin wieder allein, nicht einmal Peterle ist mir geblieben, und Gowin rechnet nicht als Mensch, er ist stummer Automat. –

Ich bin inzwischen draußen am Strande gewesen und habe mir Bewegung gemacht. Die geheimnisvolle Helle der Nächte am Polarkreis verschleiert das Landschaftsbild und bietet der Phantasie weiten Spielraum. Dort am Vorgebirge war einst eines Liebespaares Lieblingsplatz … Die Wogen leckten schäumend empor zu dem Felsvorsprung, und Margrits Küsse mögen salzig geschmeckt haben vom Salzhauch des Meeres.

Vorbei … Es war.

Ich sitze wieder am plumpen Schreibtisch im steinernen warmen Hause, und mein Gänsekiel taucht hinab in die schwarze Tunke, – Tinte wäre Renommage.

&… Wartons Spitzbubengesicht sehe ich, von Angst zerwühlt, als der fürchterliche Stoß die Yacht erschütterte und das Schiff auseinanderzufallen schien.

Wir waren wild und wirr übereinander gekugelt, Peter hatte angstvoll gekreischt, und das Licht erlosch und flammte zum Glück gleich wieder auf.

»Ein Eisberg …!« stotterte der käsige Warton …

»Scheint so«, meinte Borstel und betrachtete das etwas zusammengeworfene Frühstück. »Also dann …« fügte er hinzu, »– also dann … ersaufen! Ich hätte mir ein besseres Ende gewünscht, Wasser war mir nie lieb, Whisky hat mehr Gehalt, und ein guter Kümmel ist noch besser.«

Die Yacht hatte schwere Schlagseite nach Steuerbord. Als Warton dann hinausstürzte, drang bereits das Wasser in unsere Zelle.

Ich nahm Peter unter die Jacke, knöpfte sie zu, und wir wateten über die Ballastsäcke hinüber zu den anderen drei Kabinen. Die Wächter waren auf und davon. Kein Wunder. An Backbord war ein Riß in den Eisenplanken von gut zwei Meter Länge, und die eindringende See mußte das Schiff in kurzem wegsacken lassen.

Borstel zertrümmerte Margrits und Chis verschlossene Türen mit einem Sandsack, und – dies war unser Wiedersehen mit den Gefährten: Angesichts eines baldigen Endes!

Miß Jossi und Chi waren beide genau so gefaßt wie wir.

Chi sagte, indem er den Riesenquell betrachtete: »Zehn Minuten, Olaf …«

Wir stiegen nach oben, wir waren naß bis zu den Schenkeln, und droben empfing uns der Orkan mit drohendem Halbdunkel, wildem Heulen und Wogenbergen, die bereits den Kombüsenaufbau weggerissen hatten.

Droben trafen wir nur verstörte Gesichter, einen besoffenen Kapitän und am Heck eine Gruppe von vier Personen, die sich an das oberste Ende der Achtertreppe klammerten.

Wir mußten uns überall festhalten, so toll rollte das Schiff. Bei diesem Schlingern war jeder Schritt ohne Handgriff ein Wagnis.

Margrit stand vor Brasson …

Er blickte sie seltsam an, als sie nur ein Wort ihm in das kühl-vornehme Gesicht spie:

»Schuft!«

Ein daherfegender Brecher hüllte uns alle wie eine Fontäne ein.

Chi Api drängte sich zwischen die beiden. Sein freundliches Lächeln sollte besänftigend wirken.

»Der Major wird alles erklären, Miß …«

Ein neuer Brecher, und das eine Rettungsboot hing nur noch an einem Davit und schlug gegen die Schiffswand und ging zu Bruch.

Margrit rief, und ihre Stimme überschlug sich:

»Lord Rosselleer, Gott hält Gericht, Sie Betrüger!! Chi weiß es auch: Ihre Frau lebt, – dort ist sie: Gwenda Pulter, jetzt, – Gwenda mußte sterben in Singapore, denn Fannys Leben war mit fünfzigtausend Pfund versichert, und Sie … sind ruiniert Sie Spieler, Wüstling und Mörder!!«

Ein dritter Spritzer sauste über uns hin, und die kalte Flut brachte mein entsetztes Hirn wieder zu logischer Klarheit.

Mir graute vor diesem Unerhörten. Des Lords kalkige schlaffe Visage war Bestätigung genug.

Zwillingsschwestern Fanny und Gwenda … und Fanny heiratet den Lord, gibt sich her zu undenkbarer Schurkerei, der die andere Schwester zum Opfer fällt!!

– Es war nicht Zeit und Gelegenheit, diesen unglaublichen Dingen tiefer nachzuspüren …

Die Yacht sank immer schneller, und die Räuberbande von Besatzung hatte völlig den Kopf verloren.

Ich riß Margrit mit mir … Borstel und Chi bemühten sich schon um das kleinere Boot, das noch unversehrt war, – Kapitän und Matrosen machten das dritte, größte, klar.

Am Himmel hingen die grauschwarzen Tücher des Unwetters und ballten sich enger zusammen. Die Dunkelheit erschwerte die Arbeit … Die Wogen spülten über uns hin, aber – – wir siegten doch – mit zerschundenen Händen, blutigen Gesichtern, naß bis auf die Haut.

Margrit wurde an die Mittelbank gebunden, Borstel hatte noch rasch, aber wahllos aus der Kombüse zwei Kisten Konserven und eine Blechkanne Trinkwasser geholt, Chi schleppte anderes herbei, – und dann, als die Wogen schon dauernd den Bug überfluteten, stießen wir von der Yacht ab, fast zugleich mit dem Großboot, das auf Backbord klar gemacht worden.

In diesem wahnwitzigen Kampf um das bißchen Leben hatte keiner sich um den anderen gekümmert. Brasson blieb unsichtbar … Nur des Lords quäkende Stimme hatte ich noch einige Male gehört, ebenso das blöde Schreien der armen indischen Zofe, der ich ihre Hinterlist längst verziehen hatte.

Wir stießen ab.

In dieser Nußschale wären wir augenblicklich weggesackt, wenn das Zinkboot nicht Luftkästen gehabt hätte. Es schlug im Nu voll Wasser, war ein Floß mit vier an den Rudersitzen festgegurteten halb besinnungslosen Menschlein und einem vor Kälte zitternden Peterle.

So trieben wir hinweg ins Ungewisse, mehr unter als über dem Wasser, Spielball des Orkans, überlassen der Gnade des Schicksals, – vier Menschlein, ein Nichts für den Riesenrachen des wütenden Ozeans.

Kam einmal eine Atempause, konnten wir uns dann die brennenden Augen reiben, sahen wir das sinkende Schiff, das Großboot und … einen hellen, blanken Fleck: Eis! –

Es geschieht selten, daß Eisberge durch die enge, inselreiche Beringstraße zwischen Asien und Alaska weit südlich gelangen. Aber es kommt vor, und einer dieser weißen, blankgesichtigen Wanderer aus Nordland hatte die Yacht gerammt, – ein zweiter war es, der dort in dem schäumenden Wogenbraus schaukelte und sich immer wieder mit seiner zackigen Spitze höhnisch verneigte.

Atempause …

Margrit hatte sich aufgerichtet, so weit dies die Stricke erlaubten. Margrits Antlitz, erstarrt in Seelenqual wandte sich dorthin, wo die Yacht nur noch die Aufbauten sehen ließ.

Und auf dem Oberlichtfenster des Hecks stand ein barhäuptiger Mann … Nicht mehr Major Austin Brasson, wie wir ihn zuletzt an der Treppe gesehen hatten … Nicht mehr im triefenden dünnen Anzug …

Wo er das Polarkostüm hervorgeholt hatte, sollte erst später geklärt werden.

Jedenfalls: In Pelze gehüllt stand er da, in hohen Stiefeln, im linken Arm vier Rettungsringe und einen kleinen Sack, in der Rechten eine Pelzkappe.

Er winkte.

&… Winkte zu uns hinüber, ernst, gemessen, – aufrecht die Haltung, stolz den blonden Kopf zurückgeworfen.

Er winkte …

Letzten Gruß …

Und Margrit Jossy schrie auf …:

»Abelsen, rettet ihn!!«

Diese Minute tilgte alles in ihrer Seele, alles … Sie weinte …

»Rettet ihn!!«

Der Orkan pflückte ihr den Schrei von den verzerrten Lippen, und … Major Brasson sprang in die See hinab, nachdem er die Rettungsringe um die Brust geschoben hatte, – sprang, – eine Welle riß ihn fort aus dem Strudel des wegsackenden Schiffes, – – – eine mitleidige Welle spülte ihn dem weißen Fleck entgegen.

Dann setzte der Regen ein …

Regen?!

Ströme schossen herab …

Und das letzte, was wir von Austin Brasson erblickten, war seine straffe Gestalt auf einer Klippe des weißen Wanderers und sein gemessener Gruß mit der Hand … mit den Händen, den emporgereckten Armen …

Regen … Tränen des Himmels über menschliches Irren: Brassons allerletzte Geste war wie ein flehendes Winken gewesen.

Der Abend kam. Der Sturm war verrauscht, der Wind hatte gedreht, und die See beruhigte sich immer mehr. Wir hatten die Nußschale ausgeschöpft, und wir hatten sogar für Margrit ganz vorn aus den Segeln einen winzigen Verschlag hergestellt. Unsere Kleider flatterten im Winde zum Trocknen, und für Frauenaugen war unsere Unterwäsche zu wenig elegant.

Es war kühl, aber nicht kalt. Der kleine Mast mit dem Treiber führte uns gen Südost. Wir suchten den Eisberg und Brasson. Chi steuerte, Borstel kümmerte sich um die Abendmahlzeit, ich hatte ein Fernglas soeben geputzt und wieder zusammengeschraubt und spähte nach einem hellen zackigen Eisinselchen aus, auf dem wir den Mann zu finden hofften, der Margrit betrogen haben sollte.

Borstel arbeitete mit dem Taschenmesser an einer Büchse, zerbrach die Klinge, fluchte, fragte, ob wir vielleicht zufällig einen Büchsenöffner bei uns hätten.

»Im nächsten Eisenladen«, sagte Chi vom Steuer her und deutete nach Westen, wo mit bloßem Auge Land zu erkennen war. »Es muß die Insel Sachalin sein«, fügte der Alleswisser trocken hinzu. »Allerdings – ein Eisenladen, – ich bezweifele das, Borstel, und ich rate dir zum Bootshaken, den hättest du gleich benutzen sollen.«

Borstel beäugte traurig seinen Messerklingenstumpf, hinter dem Segelzelt kam ein tröstendes frauliches »Ich schenke Ihnen ein neues, lieber Borstel« hervor, und Chi sagte zu mir, ich solle doch einmal drüben den Küstenstrich mustern, ob ich vielleicht eine besondere Landmarke zu erkennen vermöchte …

»Lord Rosselleer besaß nämlich auf Sachalin ein Bergwerk an der Ostküste, habe ich ausgekundschaftet, und wahrscheinlich wollte er mit der Yacht dorthin. Es soll nicht viel wert sein und seit Jahren außer Betrieb gewesen sein, meldete mir mein Gewährsmann.«

Chi rückte mit seinen Kenntnissen, fand ich, sehr tropfenweise heraus.

Ich drehte mich um und stellte das Glas ein, erkannte zwei Berge und einen dritten weit niedrigeren und teilte dies Freund Chi mit.

»Das wäre ungefähr die Gegend«, meinte er. »Nun suche nur wieder nach dem weißen Fleck.«

Ich wußte von vornherein, und wir alle wußten es, daß diese Mühe umsonst sein würde. Wir hatten keine Ahnung, wie weit und wohin der Orkan unsere Nußschale gejagt hatte, und das Meer ist nun einmal kein Binnensee von wenigen Meilen, seine Strömungen und Winde haben Weiberlaunen, und unser Boot kroch wie eine Schnecke vor dem kleinen Treiber. Zum Rudern waren wir zu erschöpft.

Aber Margrit hatte gebeten, und unser eigenes Gefühl sagte uns, wir dürften nichts ungetan lassen, den Einsamen von dem Eisberg zu retten. Unsere jetzige Fahrt ins Blaue war selbstverständliche Nächstenpflicht.

Die Dunkelheit kam, aber sie blieb barmherzig. Es war Juli, und in diesen Breiten gab es jetzt keine wahre Dunkelheit. – Wir hatten gegessen, getrunken, – alle anderen schliefen, ich war daran, Steuer und Treiber zu bedienen, und in meinem Schoße lag Peterle warm bedeckt und träumte und zwitscherte im Schlafe und öffnete und schloß die Hände – wie ein träumender Hund mit den Pfoten läuft. Die Sterne waren über mir, und ihr freundliches Glitzern erleuchtete meine Seele und gab mir den inneren Frieden tiefsten Dankgefühles.

Ein Tag lag hinter mir, – nicht der schlimmste meines Lebens, aber vielleicht der lehrreichste bei all der Buntheit wilden Geschehens. Margrit Jossi hatte Austin Brasson Schuft genannt, und Brassons eigentümlicher Blick war mir noch gegenwärtig, nicht minder seine stolz-ablehnende Haltung, die eines Mannes, dessen Ehrgefühl man vorschnell verwundet.

Vorschnell. – Margrit hatte zu viel Temperament. Margrit hatte schon in Singapore bewiesen, wie rasch Entschluß und Tat sich bei ihr einten. Aus allem, was ich nun wußte, ging klar hervor, daß es sich von Seiten des moralisch angefaulten Ehepaares Rosselleer um einen raffiniert vorbereiteten und zielbewußt durchgeführten Versicherungsbetrug gehandelt hatte. Der Lord war verschuldet, die Versicherungssumme von fünfzigtausend Pfund Sterling, und das ist eine Million in Markwährung und etwa Dreiviertel Million in schwedischen Kronen, sollte ihm wieder auf die Beine helfen, Lady Fanny kokettiert mit Brasson, schätzt Margrits Unbeherrschtheit richtig ein, – und das Unheil ist da. Die Rosselleers und die Schwägerin Gwenda wohnen in demselben Hotel, Gwenda stirbt für die Zwillingsschwester … Die Einzelheiten waren ja so unwesentlich. Wichtig nur eins: Margrits Temperament war schamlos ausgenutzt worden, und Major Brasson hatte an Bord der Yacht doch unbedingt gemerkt, daß er Fanny und nicht Gwenda vor sich hatte. Weshalb also hatte er sich dazu hergegeben, ihr Gesellschaft zu leisten?!

Wir hatten ihn genau so vorschnell verurteilt wie Margrit, wir drei Männer, denen doch der Wechselwind des Lebens längst den Verstand geklärt und gekühlt haben sollte. Wir hatten ihn, wir Pharisäer des Augenblicks, kaltherzig seinem Schicksal überlassen und waren ohne ihn Spielball des Orkans gewesen.

Ein bunter lehrreicher Tag, – und jetzt der Abend der Einkehr und die Nacht der Reue.

Ich mußte Brasson finden.

Immer wieder erhob ich mich, immer wieder spähte ich mit dem Glase umher. Peterle war dies nicht genehm, er wünschte Ruhe zu haben, und so verkroch er sich denn unter Borstels Decke – – für Minuten. Johanns Schnarchen hätte einen Orang Utan vertrieben. Da schlich Peter zu Chi und kuschelte sich an dessen Brust.

Aber das Meer zeigte nur seine weißen schwachen Wogenkämme und seine Milliarden von Leuchttierchen. Zuweilen schwamm das Boot wie in Phosphorfeuer. Die Natur schafft herrliche Wunder, und man braucht nicht den neuesten Fernseher anzustaunen, um Ergriffenheit vortäuschen zu können. Die wahre tief innerliche feierliche Erregung und Bewegtheit vermittelt nur Mutter Natur mit der Fülle ihrer phantastischen Schöpfungen. –

Es war Mitternacht, als ich den Schoner sichtete, einen kleinen Schoner mit zwei Masten, der gegen den Wind kreuzte in ganz langen Schlägen.

Ich kannte diese Bauart mit den geneigten Masten. Das waren Erzeugnisse Friskoer Werften, eigens für den Robbenfang konstruiert, schnelle Segler, schnittig und wendig, jedem Sturm trotzend.

Ich berechnete den Kurs, und nach einer halben Stunde war ich dicht vor ihm. Er lief in den Wind, und ich kam längsseits. Über die Reling beugte sich ein bärtiges Gesicht mit flacher Nase, kein vertrauenerweckendes Gesicht.

So lernte ich den stummen Gowin kennen.

Gowin mit der halben Zunge und der Fähigkeit, seinen Namen wie ein Kind in lateinischen Buchstaben malen zu können – ungeschickt, schwerhändig, – nur das eine Wort:

Gowin.

– In New York gibt es im Marinedepartement eine Unterabteilung, in der die herrenlos auf den Meeren treibenden Schiffe registriert werden, so weit man von diesen irrenden leeren Fahrzeugen Kunde erhält. Ich weiß zufällig, daß diese Statistik für das Jahr 1927 die Zahl dieser Meeresvagabunden mit 1382 angibt.

1382!!

Als ich es in dem Fetzen einer amerikanischen Zeitung las, kamen mir zuerst Zweifel. Es folgten jedoch genauere Einzelheiten, und ich lernte glauben so unwirklich es auch erscheint: 1382 unbemannte Schiffe durchkreuzen, von Wind und Strömungen geführt, die Weltenmeere! Nicht etwa Wracke! Nein, Fahrzeuge, die vielleicht mit ihrer Ladung Millionen wert sind, die verlassen wurden, weil die Besatzung vor einer Gefahr den Kopf verlor, das Schiff verloren gab.

Sie irren umher abseits der Weltrouten, und wenn ein Dampfer sie zufällig sichtet, kümmert er sich nicht um die taumelnden, steuerlosen Gesellen: Zeit ist Geld!

Wie sie schließlich sterben, diese Vaganten?

Ein Orkan genügt, eine Klippe, ein einsamer Strand.

Wenige nur werden in einen Hafen geschleppt, falls der Bergegeldlohn die Mühe bezahlt.

Solch ein Vagant war der »Sakramento«, Heimathafen San Franzisko. –

Gowin warf mir ein Tau herab, ich machte das Boot fest und kletterte an Bord. Meine Gefährten schliefen weiter. Nur Peter war wach geworden und folgte mir und hockte auf meiner Schulter, als ich die ersten Versuche machte, mich mit Gowin zu verständigen.

Seine Zeichensprache lernte ich erst später verstehen.

Nach fruchtlosen gegenseitigen Bemühungen, die Lage zu klären, führte der breitschulterige Mischling mich in die Kajüte des Kapitäns, wo eine Petroleumlampe brannte und das Schiffstagebuch aufgeschlagen auf einem Bücherregal lag.

Die letzte Eintragung von der Hand Kapitän Maags stammte vom 2. Januar 1928 und besagte nur, daß der Schoner 12 Uhr mittags den 40. und 150. Grad mit Nordwestkurs gekreuzt habe.

An diesem 2. Januar nachmittags war also das Schiff in aller Hast von der Besatzung verlassen worden.

Weshalb, – das ist meines Wissens nie aufgeklärt worden.

Ich suchte dann nach der Liste der Besatzung. Obenan stand Kapitän Edward Maags, – ein Gowin war nicht verzeichnet.

Wann und wie war Gowin an Bord gelangt?! – Das war eine Frage, die erst nach Monaten auf eigentümliche Art beantwortet werden sollte.

Da ich aus Gowin nichts herausholen konnte – er hatte mir schon dreimal seinen gräßlichen Zungenstummel mit weit aufgerissenem Munde gezeigt –, betrat ich wieder das Deck und betrachtete mir mit einigem Mißtrauen die jetzt flatternden aber tadellos gesetzten Segel.

Undenkbar, daß ein einzelner Mann einen Schoner manövrierfähig halten konnte! – Gowins Kopfschütteln auf meine Fragen nach weiteren Leuten mußte Schwindel sein.

Da Chi von der Yacht auch Waffen mitgenommen hatte, trug ich wieder eine Pistole am Leibgurt. Es schien mir durchaus notwendig, sie bereitzuhalten. Hier war nicht alles ganz sauber.

Gowin beobachtete mich mit absoluter Wurstigkeit. Die Waffe in meiner Hand entlockte ihm nur ein Grunzen, das ich mir nach Belieben deuten konnte.

Ich ging zur Reling und wollte Chi und Borstel heraufrufen.

»Abelsen!«

Ich fuhr herum … Hinter dem Heckaufbau stand Major Austin Brasson.

Er kam rasch herbei, streckte mir die Hand hin.

»Sie haben nach mir gesucht?«

»Ja!« – und der Händedruck wischte den Irrtum des Tages endgültig weg.

In Brassons klaren, scharfen Zügen arbeitete es vor Rührung.

»Ich danke Ihnen, Abelsen.« – Das war alles. So war der Mann. Ein Engländer, wie man sie häufig trifft: Gentleman!

Gowin hielt sich im Hintergrunde.

»Wie geht es Margrit?«

»Gut, Major …«

»Und – war sie einverstanden, daß Sie mich suchten?«

»Sie bat darum.«

Er – wandte rasch den Kopf zur Seite, seine Schultern zuckten.

»&… Sie bat darum, und es war überflüssig, denn wir hätten Sie niemals Ihrem Schicksal überlassen. – Wie kamen Sie hier an Bord?«

Er blickte mich wieder an. »Der Eisberg streifte den Schoner fast … Gowin zog mich empor, und wir brachten das Schiff glücklich aus dem Orkan heraus. Es ist ein seltsamer Mensch, dieser Halbwilde, Abelsen. Ich bin nun acht Stunden mit ihm zusammen, aber ich werde mir nicht klar über ihn.«

Ich wurde in Monaten nicht klar aus ihm.

Brasson fuhr fort: »Sie suchten mich, und ich suchte Sie – – oder Margrit, was dasselbe ist. Diese Stunden, in denen ich nun die See mit dem Glase durchforscht habe, daß mir die Augen schmerzten, waren eine Qual ohne Ende. Jeder Wogenkamm täuschte mir ein Segel vor …«

Er lehnte sich erschöpft an den Rand des Kajütdaches.

»&… Vielleicht, Abelsen, sind diese Stunden eine gute Schule gewesen …« Seine Stimme klang brüchig »Eine Schule für einen Menschen, der zu selbstherrlich war. Als Margrit mich in Singapore besuchte, als sie, die Sportfliegerin, von Tausenden jubelnd begrüßt worden war, kam ich mir neben ihr klein und unbedeutend vor, und aus einem häßlichen kleinlichen Empfinden heraus ging ich auf Lady Fannys raffinierten Flirt ein. Es war bei mir lediglich das Gefühl gewissen Neides, ehrlich gesagt, – Neid gegenüber dem Mädchen, das mich liebte, und … so verlor ich mich selbst, Abelsen.«

Ich spürte seine tiefe Erregung, und ich mochte nicht fragen, weshalb er auf der Yacht abermals … entgleist war.

»Dann …«, sprach er fast bedrückt weiter, »wollte ich retten, was noch zu retten war … Ich habe Margrit von Gellajore befreit, ich habe sie in den Madjang-Bergen in Ihrer Hütte wiedergefunden Gut, daß kein Zeuge dabei war, Abelsen, – nur mein kleiner Maugli. Sie kennen Margrit nicht … Sie könnte Spanierin sein mit ihrem blitzschnell aufwallenden Blut. Sie verzieh mir schließlich, aber es hätte nicht viel gefehlt, und sie wäre nicht mehr am Leben … Sie wollte sterben. Der Gedanke, daß nun auch ich mich für sie hatte bloßstellen müssen, daß ich straffällig geworden wegen Gefangenenbefreiung – – genug davon, Abelsen: Irrungen, Wirrungen, – der arme Maugli mit seiner zerschnittenen Hand rettete nur die Geliebte … Der Messerstoß, den Margrit sich zugedacht hatte, war der Moment der Entscheidung, und Maugli wendete alles zum Guten …«

Wo war Maugli-Peter?

Vorhin in der Kajüte war er mir von der Schulter geturnt. Hatten wir ihn versehentlich dort eingesperrt?

Ich blickte hin …

An dem kleinen schwacherleuchteten Fenster ein kleiner Schatten …

Major Brasson sagte schnell:

»Mag er vorläufig dort bleiben … Margrits Nerven würden ein Wiedersehen mit mir nicht vertragen. Ich werde mich im Vorschiff verborgen halten …«

Was wir noch sprachen, war ohne Bedeutung.

Als ich Chi weckte, denn Borstel war nicht munter zu bekommen, meldete sich auch Margrit hinter ihrem Zelte. Ich merkte, daß sie soeben erst erwacht war, und sie war sofort bereit, in die Kajüte des Schoners überzusiedeln, die wir ihr überlassen wollten. Diese enge Gemeinschaft auf der Nußschale hatte doch ihre großen Peinlichkeiten für uns alle gehabt.

Allmählich wurde dann auch der Schnarchkünstler Johann völlig wach, – wir hißten das Boot an Deck, und der »Sakramento« nahm Kurs auf Sachalin. Morgens sichteten wir drei Berge, Chi war damit sehr zufrieden, mir kam es vor, als ob er auch von diesen Bergen mehr wüßte, wie er zugeben wollte.

*

Wir liefen in eine tiefe Bucht ein, die im Norden durch eine bogenförmige felsige Halbinsel wie durch eine Mole gegen Nordweststürme geschützt war. Im Hintergrunde der grünen, hohen Wiesen, die freundlich den Platz umrahmten, stiegen die drei Berge an, am Fuße dicht bewaldet, die Gipfel kahl und im Nebel gehüllt.

Wir sahen Rentiere, – und wir sahen inmitten der Wiesen unweit des hellen Strandes ein geräumiges einzelnes Steingebäude mit dickem Balkendach und hellen Querhölzern, die die verwitterte Auflage von Stroh festhielten.

Chi hatte beständig ein Glas vor den Augen und suchte scheinbar irgend etwas, das hinter dem Hause zu sehen sein mußte.

Margrit stand neben uns an der Reling und hatte trübe Augen und hatte kein Wort mehr über Brasson erwähnt. Sie gab ihn verloren. Der Ausdruck ihres Gesichts erschütterte mich.

Borstel schnupperte …

»Hm, – das riecht wie Petroleum …« meinte er erstaunt.

Chi erwiderte sanft und schuldbewußt:

»Ich habe mir eine kleine Unwahrheit erlaubt. Lord Rosselleer besitzt hier nicht ein Bergwerk, sondern Petroleumquellen, die jetzt von der Sowjetregierung beschlagnahmt sein sollen. Seine Weltreise galt diesen Quellen und dem Versicherungsbetruge. Ich kann jedoch nichts von Bohrtürmen entdecken, und mein Gewährsmann hatte mir berichtet, es seien im ganzen fünf vorhanden …«

Vielleicht hätte der zurückhaltende Chi noch mehr von seinem Gewährsmann ausgekramt, aber die Schüsse aus den Fenstern des Steinhauses zwangen auch ihn, sich schleunigst niederzuwerfen.

Borstel riß das Ruder herum, und der Schoner glitt weiter vom Lande ab.

Die Knallerei verstummte.

Chi sagte sichtlich stolz: »Lord Rosselleer ist hier … Ich hatte damit gerechnet. Das Großboot ist hinter das Haus geschleift worden, man erkennt die Spur im Sande und im Rasen. Mylord hätte klüger getan, auf dem Grunde des Ozeans zu landen, denn sein Schuldkonto genügt für den Strang, – ich denke, in England hängt man Mörder auf. In China köpft man sie. Es geht schneller.«

– So sah ich denn zum ersten Male das Küstengebiet der riesigen, langgereckten Insel Sachalin, und vieles erinnerte mich an verflossene Tage.

Die Bucht hatte entschieden Ähnlichkeit mit der Gallegos-Bucht, und der schneidende Wind und die jagenden Nebelfetzen weckten schmerzliche Gedanken an den einen, den Einzigen: Coy!

Borstel hatte derweil den Heckanker fallen lassen. Der Buganker folgte. Der Schoner lag dem Hause gegenüber in etwa fünfhundert Meter Entfernung.

Es war jetzt elf Uhr vormittags. Die Sonne schien bleich durch dünne Nebelschleier und glich einer runden Mattscheibe mit verschwommenen Rändern.

Als der Holländer Gerrit de Vries im Jahre 1643 als erster den Boden von Sachalin betrat – seine Berichte liegen noch in den Haager Archiven –, glaubte er einen Küstenstrich Sibiriens vor sich zu haben. Die Kälte, die dicken Nebel, endlose Stürme und die damals noch sehr zahlreichen Bären und Tiger vertrieben ihn sehr schnell wieder von diesem unwirtlichen Gestade. Sogar anderthalb Jahrhunderte später konnte der Franzose Lagerouse nicht mit Sicherheit feststellen, ob Sachalin eine Insel oder nur eine Halbinsel sei.

Dieses nördliche Anhängsel der japanischen Inseln war nicht einmal den Japanern genügend bekannt, und über »Karafuto«, so nannten es die Japs, hörte er in Tokio die merkwürdigsten Geschichten. Um das Jahr 1800 begannen die Russen sich für Sachalin zu interessieren, – die ersten Verbrecherkolonien entstanden, und die Deportierten gründeten die Stadt Korsakowa an der wärmeren, der Amurmündung gegenüberliegenden Westküste.

&… Ich blättere soeben in de Windts »Wegweiser auf der großen Sibirischen Eisenbahn«, eines der wenigen Bücher, das ich hier vorgefunden habe. Es enthält manch interessante Einzelheiten über Sachalin. Das Interessanteste aber verdanke ich meinem nächsten Nachbar nach dem Innern zu, einem Giljaken namens Topi, der Renntierzüchter im großen ist und den Nordteil der Insel wie seine Tasche kennt. – Topi ist mein Freund, aber die Freundschaft ist etwas umständlich, da wir durch zwei Tagereisen getrennt sind.

Möglich, daß ich, sobald mich wieder einmal die Schreibwut befällt, mehr von Topi berichte. Auch über Sachalin, seine ungeheuren Tannen- und Fichtenwälder, über die Giljaken, die man wie die Ainos im Süden als Ureinwohner anzusprechen hat.

&… Ich blättere in dem arg abgegriffenen Buche und rauche und lausche dem Toben der Brandung. Es sind viele Tage her, seit ich meine Erinnerungen bis zu Kapitel 2 niedergeschrieben hatte.

Gowin hatte einen Bär aufgespürt, und das Fell hängt nun ausgespannt draußen an der Hauswand, eingerieben mit Gowins Patentgerbmittel.

Der Orkan könnte getrost bescheidener sein. Unser Ofen hat seine Tücken, und die Stube stinkt nach Qualm. In dieser Stube waren vor Monaten alle die versammelt, die ich lieb gewann. Wenn ich die Augen schließe und mir die Abschiedsszene vergegenwärtige, glaube ich noch den Duft zu spüren, der Margrit Jossi wie eine Welle heißer Zärtlichkeit stets umgab …

Margrit …! – Ob sie wirklich für mich die gegebene Lebensgefährtin gewesen wäre?! Ob nicht das, was ich für sie empfand, auch nur Strohfeuer flüchtiger Sehnsucht war?! –

Bisher hatte ich sie als kühnes, tapferes Weib kaum recht kennengelernt. Es hatte die Gelegenheit dazu gefehlt. Anders jetzt, wo wir mit dem Schoner wie ein Blockadeschiff vor einer kleinen Festung lagen.

Die drüben melden sich ja immer wieder. Chi sagte wegwerfend: »Angstschüsse, Olaf!« und der sachkundige Borstel meinte, die feine Bande hätte nur Pistolen wie wir, das hörte man ja am Knall, und wie viele von der Yachtbesatzung noch übrig, bliebe auch dahingestellt. Das Großboot sei überfüllt gewesen, und es gäbe eine schlichte Methode, überflüssigen Ballast loszuwerden, wovor ein Kerl wie Rosselleer sicherlich nicht zurückgeschreckt sei.

Diese Bemerkungen fielen beim Mittagessen in der Staatskabine, und das war die Kapitänskajüte, jetzt Margrits Salon und Boudoir.

»Ich … habe es geahnt …« – Margrit hatte sich jäh erhoben »Ich spürte seine Nähe … Entschuldigen Sie mich …«

Sie verließ die Kajüte. Aufrecht schritt sie zum Bug, obwohl Borstel ihr warnend zurief, sich zu bücken. Sie wandte nur flüchtig den Kopf und machte eine unbestimmte Handbewegung nach dem Lande zu.

Ich blickte durch das Fenster: Die Küste war verschwunden, eine dicke Nebelbank hatte sich zwischen uns und die da drüben geschoben.

Chi seufzte. »Sie hat zu viel Mut für eine Frau … Ich beneide Brasson nicht. Es wird hart hergehen im Mannschaftslogis, aber Brasson wird gewinnen, denn das Recht ist auf seiner Seite.«

»Na nu?« Borstel starrte Chi erstaunt an. »Du hast eigentümliche Begriffe von Recht und Unrecht …! Ein Verlobter, der …«

»Warte ab!« – Chis Stimme konnte scharf wie ein Messer sein. »Ich lese in den Augen der Menschen bis zur Seele hinab, und Brasson ist kein leichtfertiger Verräter.«

Indem wurde auch schon die Tür wieder aufgerissen. Margrit trat hastig ein.

»Austin ist nicht im Vorschiff, und von der Ankerwinde hängt ein Tau über die Reling ins Wasser hinab …«

Chi sagte mild: »Er ist an Land geschwommen. Er scheut die Worte, Miß. Taten sprechen eindringlicher. Daß er auf der Yacht der trügerischen Lady Fanny Gesellschaft leistete und es daher besser hatte als wir, konnte wohl nur den einen Zweck haben, uns irgendwie zu befreien und die Yacht in die Hand zu bekommen. – Haben Sie an diese Möglichkeit nie gedacht, Miß Jossi? – Es ist keine bloße Annahme von mir, bemerke ich, – ich weiß, daß dem so war. Der Major hatte zum Beispiel Warton bereits für sich gewonnen, denn Warton gewährte uns erst heimlich allerlei Erleichterungen, nachdem die Zelle neben mir zwei Tage leer war, und als ich Warton dies auf den Kopf zusagte, ging er schnell hinaus, – draußen standen ja die anderen Wachen, und er mußte vorsichtig sein.«

Margrit lehnte mit schlaff herabhängenden Armen an der Wand neben der Tür.

»Mein Gott …« flüsterte sie nur, und das Weitere waren bittere Tränen.

&… Tränen, die sie draußen weinte, im grauen, kalten Nebel, der nun auch den Schoner erreicht hatte.

Borstel fauchte Chi wütend an. »Das hättest du auch getrost früher sagen können, du … du feiner Diplomat!«

»Wann?« fragte Chi kopfschüttelnd. »Etwa an der Achtertreppe der Yacht angesichts des Lords und der anderen?! Wußte ich, ob Rosselleer uns das kleine Boot überlassen würde? Sollte ich ihn unnötig reizen?!«

Borstel brummte etwas vor sich hin. Es konnte eine Entschuldigung sein … Und dann platzte er heraus: »Ich schwimme auch hinüber …! Ich nehme zwei Pistolen mit … Hol's der Henker, ich bin doch nicht umsonst jahrelang Polizeichef in Lubok Antu gewesen …!!«

»Nein, nicht umsonst, du bezogst sogar ein sehr großes Gehalt« – und Chi lächelte humorvoll. »Die Tapferkeit, Freund Borstel, soll stets mit Klugheit gepaart sein … Der Schoner ist jetzt dem Lord wertvoller als alles andere. Wir werden das Schiff scharf bewachen müssen. – Gehen wir …«

Eine dunkle Ahnung trieb mich nach dem Vorschiff. Es war eisig kalt geworden. Peterle konnte froh sein, daß Margrit ihn vorhin in die Decken ihres Bettes eingehüllt hatte. Sachalin war nicht Borneo, und wenn der kleine Kapuziner sich hier eine Lungenentzündung geholt hätte, wäre es nicht weiter wunderbar gewesen.

Ich begegnete Gowin, der gerade aus der Kombüse kam und Spülwasser über Bord gießen wollte. Er hatte unten in der Küche bereits die Lampe angezündet, seine Gestalt wuchs im Nebel zum geisterhaften Phantom an, und seine Kopfbewegung auf meine Frage nach Margrit hatte die verfängliche Richtung nach der Ankerwinde.

Sollte das tolle Mädel es wirklich gewagt haben …?!

Ich tappte vorwärts …

Ich fühlte das Tau, ich bückte mich. Am Boden lag Margrits Jacke, – eigentlich war es eine blaue Bordjacke aus dem Schranke des Kapitäns des Schoners.

Sie hatte es gewagt. Sie war Brasson gefolgt, und für diesen Leichtsinn gab es keine Entschuldigungsgründe.

Ich lief an der Reling entlang, – zu sehen war nichts mehr, – ich stieß auf Chi, der mit Borstel, jeder entgegengesetzter Richtung, die Runde machte.

»Margrit ist fort …!« keuchte ich. »Hilf mir das kleine Boot ausschwingen … Rasch!«

Chi Api nahm bedächtig die Zigarre aus dem Munde.

»Das war doch selbstverständlich, Abelsen … Sie mußte ihm nach, denn sie beleidigte ihn. Brasson wird über den ›Schuft‹ nur schwer hinwegkommen. – Ich helfe dir …«

Als wir gerade das Boot ausschwangen, fand sich auch Borstel ein. Er schimpfte auf den Nebel und rieb sich die Hände. »Sei vorsichtig, Abelsen … Sollte mich wundern, wenn Seine Lordschaft uns nicht irgendwie hintenrum zu packen sucht … Wenn nur die verdammten Möwen derart skandalieren wollten! Auch das Brandungsgeräusch übertönt die Ruderschläge, falls die Bande etwa mit ihrem Großboot uns entern will …«

Ich rutschte an einem Tau in die Tiefe, kam glücklich auf die Ruderbank und stieß ab. Das kleine Boot trieb in das graue Gebräu hinein, und mit leicht schleifenden Riemen saß ich eine Weile ganz still und genoß das Gefühl der Abgeschlossenheit von aller Welt in vollen Zügen. Der Nebel hing in der Tat wie dicke graue schalldämpfende Decken um mich her.

Abgeschlossenheit von der Welt …! – Ja, ich sehnte mich bereits wieder nach dem nervenberuhigenden, nervenstählenden Alleinsein. Ich erkannte klarer denn je, daß ich für den Umgang mit Menschen nicht mehr taugte. Chi Api stand mir nahe, gewiß. Aber auch er war nicht so, wie ich mir einen einzelnen Gefährten wünschte. Borstel, – zweifellos ein ganzer Kerl, hatte auch seine Mängel. Brasson kannte ich zu wenig, Gowin erst recht nicht, und Margrit war Weib und ein Wesen vom anderen Ufer. Diesen Männern fehlte die große Linie. Ich war durch Coy und andere verwöhnt worden. Coy war nie, in keiner Situation Alltagsmensch.

Ich ließ die Riemen schleifen und horchte erst einmal. Ich kannte diese Nebel von Kap Horn her, von den Kanälen an der Magelhaensstraße, ich wußte, wie irreführend sie den Schall leiteten. Aber ich hörte nur Geräusche, die unverdächtig waren.

Ich tauchte die Riemen ein und zog sie mit kurzen vorsichtigen Schlägen durch. Meine Muskeln, erschlafft durch die stinkende Zelle im Kielraum, besannen sich auf ihre Pflicht, und das Hochgefühl erwachsender Kraft feuerte mir den Geist an.

Ich war glücklich in dieser Einsamkeit, und ich war wieder jener Abelsen, der einst mit Coy über die Pampas gerast war.

Das Boot schoß vorwärts, das Bugwasser schäumte leise, und das geringe Quietschen der Dollen konnte mich kaum verraten. Dazu lärmten die Möwen allzu arg. Ich hielt schräg auf die Küste zu. Als das Boot auflief, stieg ich ins Wasser und zog es bis zum Grasstreifen empor. Wir hatten jetzt Ebbe, aber die Flut mußte sehr bald einsetzen.

Wo war nun das Haus?!

Sehen?! – Nebel – nur Nebel …

Ich schritt nach Süden zu am Strande dahin. Meiner Schätzung nach war ich nördlich vom Hause gelandet.

Ich blieb wiederholt stehen, ich hörte nur das feine Zischen der auslaufenden Wellen … Die eigentliche Brandung rumorte fünfzig Meter seewärts.

Die Sache begann ungemütlich zu werden. Meine Hilfsexpedition drohte zu scheitern.

Der Durchschnittssterbliche ahnt nichts von der düsteren Niedertracht dicken Seenebels. Die Londoner kennen ihn, aber das ist nicht Nebel, sondern zur Hälfte Qualm und Aschenteilchen, die von der schweren Luft niedergedrückt werden. Nebel ist Blindsein. Nebel ist akustische Täuschung. Zuweilen glaubte ich Stimmen zu hören. Nichts reizt die Phantasie so sehr zu Trugschlüssen wie diese Milliarden feinster Wasserperlen.

Ich wagte mich mehr landeinwärts. Irgendwo in der Nähe mußte das Haus doch liegen.

Ich alter Weltentramp, – Verkehrteres hätte ich kaum tun können. Jetzt war ich vollends verraten und verkauft, – ich hörte nicht einmal mehr die Brandung und irrte blindlings umher. Ich nahm an, mich wieder der Küste zugewandt zu haben, und plötzlich schlugen mir feuchte Zweige ins Gesicht.

Eine ungeheure Wut packte mich – gegen mich selbst. Unsinnig war mein Tun, zwecklos und für mich selbst bedrohlich. Wenn es dem Winde gefiel, trieb er die Nebelbank auseinander, und dann konnte ich hier von Lord Rosselleers Bande in aller Bequemlichkeit vielleicht abgeschossen werden.

Aber dieses kurze Aufflackern überflüssigen Temperaments hatte ein Gutes: Ich blieb vor den Büschen, die nur einen dunklen Fleck bildeten, stehen und horchte von neuem. Ich wollte etwas hören. Ich spannte alle meine Sinne an …

Und … hörte …

Stimmen …

Verworren, leise – – irgendwoher.

Es waren Stimmen. Und sie näherten sich.

Im Nu lag ich flach auf dem Boden, entsicherte die Pistole und lockerte das Messer. Es war leider nicht mehr mein Jagdmesser von den Madjang-Bergen her mit der schönen Scheide aus Krokodilleder und dem bunten Griff aus gefärbtem Horn. Es war nur ein Matrosenknief vom Schoner – immerhin scharf mit langer Klinge und Parierstange.

Aus dem Düster wuchsen rechts von mir Gespenster hoch …

Rosselleers Quäken redete von geglückter Flucht.

Acht Gespenster, sieben davon mit Packen beladen, zogen vorüber. Hinterdrein ein neuntes und zehntes: Weiber – Fanny und die Inderin.

Ich schmunzelte zufrieden. Ich hatte also doch Glück gehabt. Dieses Abenteuer war nach meinem Geschmack. Armer Rosselleer, – noch ist deine Flucht ins Innere nicht geglückt!!

Dem stillen Zuge schloß sich nun ein elftes lautloses Gespenst an, und ich war der Lady und Guda, der Zofe, so nahe, daß ich ihre leisen Worte zum Teil verstand.

Sie sprachen über den Schoner, über Brasson und Margrit.

Brasson wähnten sie tot. Fanny machte sich über ihn lustig. Ihr Spott zeigte die Fäulnis ihrer Seele. Sie verhöhnte ihn, weil er es vorgezogen hatte, sich auf den Eisberg zu retten.

Guda schien von gleicher Art. Ihre Herrin hatte wohl die Hauptschuld an ihrer plumpen Frechheit, mit der sie Brasson und uns alle als dumme Narren abtat.

Eine Stunde ging es so vorwärts, – im Nebel, ohne Hast. Rosselleer führte und fühlte sich ganz sicher. Er mußte hier sehr gut Bescheid wissen.

Mein Plan war längst fertig. Wenn die Gesellschaft lagerte, würde sich schon eine Gelegenheit finden, ihnen die Waffen heimlich wegzunehmen. Sie würden ja auch nicht immer beisammen bleiben, und vielleicht konnte ich einige einzeln abfangen.

Der Zug hatte die Waldgrenze erreicht. Die Kiefern und Tannen, durchsetzt von Gestrüpp, vermehrten noch die Dunkelheit. Jetzt mußte ich weiter zurückbleiben. Hier lagen trockene Zweige umher, die verräterisch unter der Last des Stiefels knackten.

Das Gelände stieg an. Ich wunderte mich, daß Rosselleer so zuversichtlich voranschritt. Es gab weder Weg noch Steg, nur die schlanken Stämme, Gebüsch, Felsbrocken und überraschend hohe Grasbüschel.

Der Nervenkitzel dieser Verfolgung ließ mein Gesicht brennen. Hätte ich hier Coy neben mir gehabt, hätte ich hier die Seehundsstiefel mit den elastischen Sohlen getragen …!

Ich mußte sehr behutsam sein. Einmal hatte Fanny sich schon mißtrauisch umgeschaut, als ein Zweig knisternd brach.

Wieder mochte eine halbe Stunde verflossen sein. Wir hatten den Wald hinter uns, und in einem steinigen Tale ging es bergan.

Eins fiel mir auf: Der Petroleumgeruch wurde immer intensiver. Ich hätte die Naphthaquellen irgendwo im Flachlande vermutet, niemals auf einer Bergterrasse, und dies hier war eine Terrasse mit plattem Steinboden und schroffer Rückwand, neben der Lord Rosselleer nun langsamer vorwärtsstrebte. Er schien unsicher geworden zu sein, er machte wiederholt halt, ich erkannte Wartons Stimme, er sprach mit ihm ganz laut, und Warton erklärte, es müsse der richtige Weg sein. – Warton war also ebenfalls schon hier gewesen.

Über das Ziel dieser Flucht vor uns hörte ich leider nichts. Es war doch ausgeschlossen, daß der Lord beabsichtigte, zu Fuß die Westküste zu erreichen, wo er allerdings auf Ansiedlungen stoßen mußte. Was beabsichtigte er?!

Zehn Minuten darauf hatte die Felswand ein Ende und das Terrain fiel steil ab. Der Petroleumgeruch war schwächer geworden.

Seine Lordschaft zankte sich krähend mit Warton herum. Das Ergebnis war die beiderseitige Überzeugung, daß man sich verirrt habe.

»Sie hätten auch besser acht geben können«, fuhr Mylord den recht maulfaulen Warton erbost an. »Wir brauchen die Karabiner und die Munition, mit unseren Pistolen richten wir gegen die Kerle nichts aus …!«

Also das war es!

Sicherlich hatte Rosselleer in der Nähe der einstigen Bohrtürme ein geheimes Waffenlager.

Ich feixte schadenfroh. Die Herrschaften würden uns nicht entgehen, und eine Abrechnung mit Ihnen war eherne Pflicht. Der Mörder Rosselleer sollte uns kennen lernen.

Warton schlug vor, in das Tal hinabzusteigen. Er würde dann allein umkehren und den richtigen Weg suchen.

»Den riecht man!« fauchte der Lord gereizt.

»Der Naphthageruch muß immer kräftiger werden!«

»Der Nebel trügt«, wendet Warton ein, und sein Vorschlag wird angenommen.

Der Abstieg zwang mich abermals zu größter Vorsicht. Es war eine ziemlich schroffe Geröllhalde, und die sich lösenden Steine polterten in emsiger Eile in unbekannte Tiefen.

Warton blieb nur so lange bei dem Zuge, bis dieser zwischen hohen bewachsenen Felsblöcken ein vorläufiges Lager bezog.

»Ich gehe nun, Mylord …« – und Rosselleer antwortete nur mit einem Fluche.

Ich ließ Warton an mir vorüber. Droben auf der Terrasse blieb er stehen und zündete sich eine Zigarre an. – Ringsum Nebel – Nebel … wie bisher. Eine besondere Romantik ist es, in solchen dicken Schwaden dahinzuschleichen.

Warton hatte keine Eile. Er rauchte drei Züge und holte dann eine Flasche hervor und trank. Seinen Packen hatte er nicht abgelegt.

Mit einem Male tauchte wie aus dem Erdboden vor ihm eine verschwommene Gestalt auf, und eine helle scharfe Stimme sagte unmißverständlich:

»Wenn Sie auch nur die Zigarre aus dem Munde fallen lassen, Warton, brauchen Sie nie mehr Zigarren einkaufen! Ich drücke bestimmt ab!«

Margrit Jossi …

Und ihre Pistole war so dicht vor Wartons Stirn, daß er sie unbedingt selbst bei dieser Beleuchtung sehen mußte.

»Legen Sie die Arme auf den Rücken«, lautete der zweite Befehl. »Mr. Abelsen, binden Sie ihn, Sie sind ja hinter ihm und haben es bequem.«

Ein Teufelsmädel, – wie sie es fertig gebracht hatte, mir so lautlos zu folgen, – – eine anerkennenswerte Leistung! Zweifellos war sie schon von den Büschen an hinter mir gewesen und es mochte ihrerseits von besonderem Ehrgeiz gewesen sein, daß sie sich nicht gemeldet, vielmehr eine Gelegenheit abgewartet hatte, energisch handelnd eingreifen zu können.

Warton stand wie ein Lamm. Die Zigarre in seinem Mundwinkel hing schief, und er murmelte etwas undeutlich, aber nichtsdestoweniger erquickend humorvoll:

»Diese Begegnung kommt mir sehr gelegen … Ich habe die Geschichte längst satt. Das haben Sie wohl schon auf der Yacht gemerkt, Miß Jossi … Ich wünschte, Major Brasson lebte noch … Vielleicht hat er Glück gehabt. Begegnen wir ihm, und die Welt ist so klein, Miß Jossi, so kann er Ihnen bestätigen, daß der Eisberg, der uns rammte, unser Abkommen leider über den Haufen warf. Ich war mit dem Baron bereits einig geworden …«

Margrit ließ die Waffe sinken.

»Er … lebt«, sagte sie etwas scheu.

Jetzt fiel Warton vor freudigem Schreck die Zigarre doch zu Boden.

»Wirklich?! – Oh – ich gratuliere, Miß! Wie gesagt: Ich habe die Sache bis hier …!« Und er fuhr sich mit dem Finger über den Hals. »Ich bin kein so hartgesottener Lump wie es scheinen mag … Gold lockt, und uns alle hatte Rosselleer durch das verdammte Gold geködert … alle! Arme Teufel, – die meisten liegen nun auf dem Meeresgrund oder die Haie verdauen sie … Das Großboot schlug um, und, … aber man schweigt besser darüber … Das Boot war überlastet, ich wollte wenigstens einige noch herausfischen, nachdem wir den Kahn wieder aufgerichtet hatten … Er wollte es nicht, der … der … Satan, der verrückte! Und sie ist noch schlimmer …« Er spie wütend aus … »Wenn Sie beide uns verfolgt haben, werden Sie vielleicht ahnen, daß ich den Lord ruhig die falsche Richtung einschlagen ließ. Ich war hier drei Jahre Maschinenmeister, Miß Jossi, bevor England sich mit Rußland verstänkerte und die Sowjetregierung die Konzession für die Naphthaquellen hier widerrief … Der Lord wollte die Karabiner holen, und das wollte ich nicht dulden, er hätte den Schoner sonst in seine Gewalt gebracht, und leider sind die Kerle, die er jetzt noch bei sich hat, von einer anderen Art wie ich, Hafengesindel mit Vorstrafenregister ellenlang …«

Wir hatten keinen Grund, ihm nicht zu trauen, und Margrit war dann durchaus einverstanden, daß wir drei zunächst die Karabiner und Patronen holten. Warton meinte, wir könnten die Stelle in einer halben Stunde erreichen.

Der Marsch begann. Wir kamen flott vorwärts. Nach Überwindung eines bewaldeten Bergrückens gelangten wir in ein sandiges Tal. Der Petroleumgeruch war jetzt geradezu lästig.

»Hier standen die Bohrtürme«, erklärte Warton mit einer zwecklosen Handbewegung, denn wir sahen nur Nebel … Nebel. »Sie sind gesprengt worden, das Öl fließt jetzt drüben in eine ausgedehnte Schlucht, und meiner Schätzung nach muß diese längst zum Überlaufen voll sein. Die Russen haben sich nachher um nichts mehr gekümmert, sie haben übergenug Ölquellen an der Westküste.«

Vor uns tauchten undeutlich Trümmerhaufen von Balken auf.

»Links stehen die Baracken – falls sie noch da sind«, meinte Warton gleichmütig. »Hier ist die zerstörte Rohrleitung, die einst bis zur Küste reichte, und hier etwa ah, da ist eine Wohnbaracke, Mr. Abelsen. – Was bedeutet das?«

Er hatte die Stimme gedämpft.

Auch Margrit und ich sahen vor uns die dunklen hohen Umrisse eines langen Gebäudes und mitten darin einen trüben hellen Fleck; eine Laterne, die hinter einem verstaubten Fenster brannte.

Warton flüsterte: »Sollte sich hier doch jemand eingenistet haben?!« – er schlich näher, aber Margrit hielt ihn plötzlich zurück. Ihre Stimme bebte leicht … »Bleiben Sie …!!«

Ich sah durch die verschmutzten Scheiben und den Nebel den Kopf eines Mannes – ein unverkennbar scharfes Profil …

Major Brasson!!

Margrit glitt davon, verschwand wie ein Spuk in den grauen Schleiern. Dann knarrte irgendwo eine Tür …

Brasson stand schnell auf … der Lichtschein drehte sich, und vor Brasson erschien eine zweite Gestalt.

Ich hörte einen kurzen Aufschrei – einen Namen …

Die Gestalten verschmolzen. – Ich wandte mich weg.

»Warton, wo ist das Waffenlager?«

Warton ahnte kaum, welch nagender kurzer Schmerz mich peinigte …

Er führte mich ohne Zögern in gerader Richtung nach meinem armseligen Gebüsch … Wie sollten hier in diesem Naphthagestank auch Pflanzen gedeihen?! Der ganze Boden mußte mit Öl getränkt sein.

Inmitten der Büsche wühlte er den Boden mit den Händen auf und brachte zwei Spaten zum Vorschein. Wir gruben eine lange Holzkiste heraus, die in Ölleinwand mehrfach eingeschlagen war.

»Es sind acht Karabiner und zwei Winchesterbüchsen«, erklärte Warton sachlich, als wir die Kiste heraushoben. »Außerdem pro Waffe hundert Patronen …«

Die Kiste war schwer. Wir stellten sie abseits. Ich war mit meinen Gedanken anderswo … Warton mußte zweimal fragen, ob wir die Kiste öffnen und nur einen Teil der Waffen zunächst mitnehmen wollten.

»Fünf Karabiner genügen …« – und ich sah im Geiste Margrit den schlanken vornehmen Engländer küssen und begrub einen kurzen Traum, der diesmal nicht viel zu bedeuten gehabt hatte.

Drei Karabiner und die beiden Winchester nebst Patronen verschnürten wir zu einem Paket. Die wieder geschlossene Kiste verbargen wir unter den Trümmern des nächsten Bohrturmes.

Ich hatte einen Schlußstrich unter das Lebenskapitel »Margrit« gezogen. Ich konnte mich wieder auf das konzentrieren, was hier noch zu klären blieb.

»Warton, weshalb wollte Rosselleer hier nach Sachalin?«

Er kaute an seinem Zigarrenstummel. »Wenn ich das wüßte, Mr. Abelsen! Ich denke, er hat hier noch irgend etwas versteckt, das von hohem Wert sein muß … Ihm saß das Messer ja an der Kehle, seine Gläubiger wollten sogar die Yacht beschlagnahmen, und Schloß Rosselleer steht schon unter Zwangsverwaltung.«

Ich überlegte. »Chi meinte, er wollte sich mit dem Sowjetkommissar von Nord Sachalin über die Quellen einigen, Warton …«

»Nein, das stimmt nicht … Aus seinen Andeutungen kann ich nur entnehmen, daß …«

Brassons scharfe Kommandostimme kam durch den Nebel.

»Hallo, Abelsen, – wo stecken Sie denn?«

Wir eilten zu ihm.

In dem öden Barackenraum vor dem großen Holztisch, auf dem die Lampe brannte, stand Margrit und hielt in den halb erhobenen Händen eine metergroße plumpe Buddhastatue …

Margrits Hände zitterten, denn die Statue war schwer, und Brasson nahm sie mit einem zärtlichen »Überanstrenge dich nicht, Darling« ihr wieder ab und stellte sie auf den Tisch.

»Es ist der Buddha von Nikko«, sagte Margrit ganz atemlos. »Denken Sie, Mr. Abelsen, Rosselleer war vor sechs Jahren Botschaftssekretär in Tokio und hat …«

»Verzeih, Darling, ich möchte diese Dinge nicht so kurz abtun«, fiel ihr Brasson höflich ins Wort.

Was mich betrifft: Der Anblick der Buddhafigur (ich ahnte schon, daß sie zumindest sehr stark vergoldet sei) hatte mich arg enttäuscht. Ich war auf ein weniger – sagen wir weniger abgedroschenes Geheimnis eingestellt gewesen.

Trotzdem: Was der Major nun berichtete, hatte doch einige interessante Einzelheiten. – Ich kenne Japan nur ganz flüchtig, ich war nie in dem heiligen Tempelhainen von Nikko, ich hatte den blauen Buddha-Tempel dort nie gesehen.

Brasson zog eine Bank herbei. »Nehmen wir Platz … wir haben Zeit … – Vor sechs Jahren war ich als Hauptmann zur Botschaft in Tokio kommandiert, eine Auszeichnung, die ich wohl zu würdigen wußte. Gleichzeitig mit mir war Lord John Rosselleer, dessen Vater damals noch lebte, als Botschaftssekretär in der japanischen Hauptstadt. Ich schätzte ihn nicht sehr, er führte ein wüstes Leben, spielte und machte sich überall höchst unbeliebt. Sein Vater, für einen englischen Lord nur mäßig begütert, bezahlte wiederholt seine Schulden und ließ ihn noch häufiger durch den Botschafter den Kopf zurechtsetzen. – Eines Tages unternahm ich einen Ausflug nach den Tempelhainen von Nikko. Als ich die zehn Meilen lange Allee, die dorthin führt, mit meiner Rikscha entlang fuhr, überholte mich eine andere, in der Lord John und ein fremder Europäer saßen. Rosselleer übersah mich, und ich hatte das Gefühl, als ob er nicht angesprochen oder erkannt werden wollte. – Nikko »Der Perle Glanz«, gilt als der schönste Erdenfleck in ganz Japan. Die Tempel erheben sich inmitten uralter Prachtgärten, und auf uns Europäer wirkt diese Anhäufung phantastischer Bauten, Statuen, Springbrunnen, Säulengänge geradezu verwirrend. Der Blaue Buddhatempel, aus hellblauen Glasurziegeln erbaut, ist der älteste und reichste. Seine Dachvergoldungen sollen unschätzbar sein, seine Altäre bestehen nur aus Gold, Elfenbein und edlen Steinen. – Ich besuchte an jenem Tage den Blauen Tempel, und ein höflicher Priester öffnete mir sogar ausnahmsweise das Allerheiligste und zeigte mir den berühmten Nikko-Buddha, der angeblich von Buddha selbst aus einem Riesenklumpen Gold selbst geformt sein soll.

Im Vorhofe glaubte ich beim Verlassen des Tempels unter der Menge Touristen und Pilger abermals Rosselleer zu erkennen. Jedenfalls sah ich bestimmt den Fremden, der vorhin in seiner Begleitung gewesen. Das Gesicht dieses Mannes fiel mir auf. Ich schätzte auf einen Italiener oder Spanier, und ich erinnerte mich dann dunkel, diesen Menschen auch in einem Teehaus der eleganten Welt bemerkt zu haben. – Am anderen Tage war ganz Tokio in hellster Aufregung: Der Nikko-Buddha war gestohlen worden, und die Diebe hatten zwei Priester niedergeschlagen und schwer verletzt. – Auf eigentümliche Art lenkte sich der Verdacht der Mittäterschaft auf Lord John. Er hatte vor drei Tagen einen längeren Urlaub genommen, um mit seiner Segelyacht einen weiteren Ausflug zu unternehmen, die kleine Yacht hatte jedoch erst am Mittag desselben Tages, als der Diebstahl bekannt wurde, den Hafen Yokohama verlassen. Ein blinder Masseur – in Japan bedienen sich die vornehmen Damen zumeist nur blinder Masseure – war nun auch bei einer sehr hübschen Geisha tätig, die zu Lord John engste Beziehungen unterhielt. Dieser Blinde wollte gehört haben, daß Lord John und ein anderer Europäer sich bei der Geisha über den Nikko-Buddha in auffälliger Weise unterhalten hätten. Die Polizei verhaftete die Geisha, aber das Mädchen öffnete sich die Adern, verblutete und hatte nichts verraten. Weitere Nachforschungen ergaben, daß der Fremde, den ich genau beschreiben konnte, ein internationaler Hoteldieb gewesen war, der zahllose Namen führte. Auch er konnte nicht vernommen werden. Er war spurlos verschwunden. Als Lord John nach zehn Tagen in Yokohama wieder landete, ward er durch den Botschafter streng verhört, denn die Polizei konnte ihn als einem Mitglied einer fremden Gesandtschaft nichts anhaben. Er leugnete natürlich, – er habe keine Ahnung gehabt, daß der Fremde ein Verbrecher gewesen, er habe mit der Yacht auf offener See gekreuzt – und so weiter. – Ihm war nicht beizukommen, und da inzwischen auch sein Vater verstorben war, gab er die diplomatische Karriere auf. Er wäre ohnedies abberufen worden. – Dies, Mr. Abelsen, war das Vorspiel. Daß John Rosselleer mich bitter haßte, weil ich mit auf ihn den Verdacht gelenkt hatte, daß ein Mensch von fragwürdigem Charakter versuchen würde sich irgendwie zu rächen, war ihm selbstverständlich. In unseren Kreisen war er unmöglich geworden, – er heiratete ein Jahr später Fanny Pulter, die zusammen mit ihrer Zwillingsschwester Gwenda auf Varietebühnen aufgetreten war und einiges Vermögen besaß. Das Unglück wollte es, daß ich dem Ehepaar Rosselleer vor einem Jahre etwa in Singapore begegnete. Lady Fanny kam mir als Mann in unzweideutigster Weise entgegen, und ihre frivole Leichtfertigkeit hätte mich zweifellos veranlaßt, mich völlig von ihr zurückzuziehen und das Paar samt der malariakranken Schwägerin zu schneiden, wenn mir nicht die Nikko-Statue immer wieder durch den Kopf gegangen wäre. Sie war bisher nicht wieder aufgefunden worden, und ich wurde nun einmal den Gedanken nicht los, daß Rosselleer sie damals mit seiner Segelyacht irgendwohin verschleppt hätte und jetzt vielleicht die Absicht habe, sie heimlich zu holen …«

Eine kurze Atempause benutzte er dazu, Margrits Hand zu nehmen und zu streicheln und ihr etwas zuzuflüstern, das vielleicht eine Entschuldigung wegen der nun folgenden Sätze war.

»&… Unter diesen Umständen kam mir das Eintreffen meiner kleinen Sportlady ein wenig ungelegen. Ich bin ganz ehrlich. Ich erachtete es als meine Pflicht, sozusagen auf eigene Faust Detektiv zu spielen, und meine Gefühle als Verlobter gerieten auf diese Weise in Kollision mit meinem ernsthaften Bemühen, entweder einen Verbrecher zu überführen oder aber Japan zu beweisen, daß John Rosselleer unschuldig sei. Was bei diesem Widerstreit der Interessen herauskam, ist Ihnen bekannt, Mr. Abelsen. Meine Margrit deutete meine Beziehungen zu Lady Fanny zu meinen Ungunsten, und die Schüsse im Speisesaal waren das traurige vorläufige Ende. – Lady Fanny war mit einem Schrei umgesunken, der Lord trug sie sofort in seine Gemächer, und als ein Arzt kam, lag die Lady entkleidet und tot im Bett – anscheinend Lady Fanny, in Wahrheit, wie nun feststeht, Gwenda Pulter, die eine verblüffende Ähnlichkeit mit ihrer Schwester hatte und die seit Tagen mit hohem Fieber darnieder gelegen hatte. – Der infame Streich war geglückt, ein Streich, bei dem das raffinierte Pärchen jede Kleinigkeit vorher schlau berechnet hatte, hauptsächlich Margrits überschäumendes Temperament, das sich schon wiederholt etwas unliebsam geäußert hatte. Fanny hatte mit vollem Vorbedacht in dem Augenblick, als Margrit unserem Tisch sich näherte, meine Hand gedrückt und mich in einer Weise angelächelt, die bei Margrit zur Katastrophe führen mußte. – Monate vergingen. Mein armer Liebling saß als Gefangene auf Gellajore, die Rosselleers waren noch immer in Singapore, das heißt: Für die Allgemeinheit war es Lord John mit seiner kranken »Schwägerin«, die nicht einmal vernehmungsfähig gewesen war und nie ihr Zimmer verließ und von Lord John und der Inderin Guda allein gepflegt wurde. Natürlich mußte sie auf ihrem Zimmer bleiben, denn eine Kugel Margrits hat doch getroffen … Wenn auch nur die linke Schulter und ganz leicht. Ich wieder, von meinem Vorgesetzten bis auf weiteres beurlaubt, betrieb in aller Stille Margrits Befreiung.«

Der Major blickte mich schärfer an. »Hat Chi Ihnen mitgeteilt, Mr. Abelsen, daß er es war, der mir den kleinen Dampfer beschaffte, mit dem das Flugzeug nach der Küste von Gellajore geschafft wurde?«

Brassons Erzählung hatte mich so gepackt, daß ich mich erst wieder in die Gegenwart und in meine eigenen Erinnerungen zurückfinden mußte.

»Chi?! – Nein …« erklärte ich, scharf nachdenkend. »Er machte zwar Andeutungen, aber daß er Sie bereits kannte, nein, das ahnte ich nicht.«

Der Major sagte mit leichter Ergriffenheit:

»Ein seltsamer Mann, dieser Chinese … Er schickte mir einen Boten und einen Brief … Sein Schreiben öffnete mir erst die Augen, es enthielt die klare Behauptung, Fanny lebe und Gwenda sei von Rosselleer ermordet und für Fanny ausgegeben worden … und da erst überschaute auch ich die Dinge in ihrem wahren Zusammenhang, mußte jedoch auch wiederum Chi beipflichten, der mich davor warnte, nun etwa der Polizei meine Verdachtsgründe zu unterbreiten. Chi betonte in dem Brief, daß es bei der Ähnlichkeit der Schwestern unmöglich sei, den Schurkenstreich ohne weiteres aufzudecken. Ich sollte mich getrost gedulden. – Ich befolgte den Rat, und ich bin jetzt nach den neuesten Vorgängen überzeugt, daß Chi auch das Eingreifen Rosselleers in Matta Ratta vorausberechnet oder gar irgendwie mit veranlaßt hat …«

Mir wurde etwas wirr im Kopfe. »Gönnen Sie mir eine Weile Ruhe, Herr Major«, bat ich schwach lächelnd. »Sie sind im diplomatischen Dienst gewesen, und das ist, denke ich, halbe Detektivarbeit …«

»Doppelte«, verbesserte Brasson in seiner frischen Art, die jetzt bei ihm überwog.

»Nun gut, Major … Ich bin nur ein harmloser Weltenbummler, und mein Hirn ist für einen so komplizierten Fragenwust nicht recht geschult.«

»Rauchen Sie!« sagte Warton da und reichte mir eine Zigarre. Sein merkwürdiges Gesicht wetterleuchtete. »Ich rauche immer, wenn die Sache kitzlig wird … und kitzlige Sachen sind mein Beruf.« Er hielt mir ein Zündholz hin. »Rauchen Sie – – so, und nun halten Sie sich an der Bank fest, Mr. Abelsen …«

Ich starrte ihn an, und auch Margrit und Austin machten große Augen.

»Sie gestatten …« fügte er würdevoll hinzu, »mein Name ist Robb Robberlley, Oberinspektor der Abteilung 3 der politischen Polizei in London. Ich habe ein wenig geschwindelt, als ich Ihnen erklärte, ich sei drei Jahre hier auf Sachalin gewesen. Es war nur ein Jahr, und zwar das Jahr unmittelbar nach dem Diebstahl des Nikko-Buddha. Ich hatte mich im Auftrage meiner Behörde an Lord Rosselleer herangemacht, sein Vertrauen erworben und hier die Ölquellen bewacht, – tatsächlich suchte ich nach der goldenen Buddhastatue, denn uns in London war es ziemlich gewiß, daß Rosselleer sie damals mit seiner Segelyacht hierher gebracht und seinen Helfershelfer und einzigen Begleiter, den er als Japaner verkleidet hatte, beseitigt haben müsse. Der Segler lief ja in Yokohama nur mit Rosselleer an Bord ein, und der Lord behauptete, sein Bootsmann sei unterwegs ertrunken.«

Robberlley biß einer Zigarre die Spitze ab … »Ja, Sie wundern sich …« nickte er. »Es gehört Geduld zu meinem Handwerk, und die habe ich. Jahrelang spiele ich nun Warton. Ich erlebte die Tragödie in Singapore mit, aber offen gestanden, die Schurkerei habe ich nicht vermutet. – Wie fanden Sie den Buddha, Major?«

Brasson hatte den linken Arm leicht um Margrits Schulter gelegt und zog sie sanft an sich.

An Bord der Yacht Sussex wollte Rosselleer, der durch meines Lieblings Andeutungen bei der widerwärtigen Szene im Salon stark beunruhigt worden war, unbedingt herausbekommen, was Margrit wußte und inwieweit ich mit eingeweiht war. Das verbrecherische Paar ließ mich durch Warton in einer der Kabinen unterbringen – pardon, durch Oberinspektor Robberlley, und Lady Fanny spielte vor mir mit großem Geschick Gwenda Pulter und suchte mich auszuhorchen. Ich durfte mich völlig frei bewegen, wie Ihnen ja bekannt ist, Oberinspektor Robberlley, und ich hätte nicht halber Diplomat sein müssen, wenn ich diese Freiheit nicht gehörig ausgenutzt hätte. Schade, daß Sie sich mir nicht früher offenbarten, Robberlley. Auch Chi hätte nicht so geheimnisvoll tun sollen, – – nun, jedenfalls schämte ich mich nicht, John Rosselleers Kabine gelegentlich zu inspizieren, aber ich fand nichts. – Wonach ich suchte? Ich dachte mir, Rosselleer habe doch sicherlich eine Skizze von der Lage des Verstecks der Statue angefertigt. Die wollte ich mir eben ansehen …«

Er lachte kurz auf. »Ich hatte an falscher Stelle gesucht … John und Fanny dürfen nicht mit landläufigem Maß gemessen werden. Eine Skizze war vorhanden, aber …« – er schwieg und streichelte wieder Margrits Hand – »eine Skizze von Menschenhaut …«

Robberlley sagte kühl: »Dann meinen Sie die Tätowierung auf Fannys rechtem Oberarm, Major …«

»Ja. – Sie flirtete mit mir bis an die Grenze, die etwa Varietédamen sich ziehen … Einmal mußte ich ihre vollendet schönen Arme bewundern. Ich bemerkte die schwach rötliche Tätowierung, die sich leicht überpudern läßt. Scherzend betrachtete ich sie genauer, fragte, was das Bild darstelle … – Die Frage war überflüssig, denn ich hatte bereits erkannt, daß es nur scheinbar eine japanische Phantasielandschaft war … – Fanny, in diesem Punkte mich für ganz unbefangen haltend, erklärte, ihr »Schwager« habe ihr vor Antritt der Weltreise dieses Bild in die Haut tätowiert. – Ich wußte nun: Rosselleer hatte eine Skizze besessen, sie aber vernichtet, nachdem die Tätowierung, die ihm sicherer schien, fertig war. – Um die Skizze auf der Haut genau ansehen zu können, tat ich etwas, das mir noch jetzt die Schamröte ins Gesicht treibt: Ich küßte Fannys Oberarm! – Es mußte sein! Denn nur so konnte ich die Zahlen erkennen, die in Form von Phantasievögeln das Häuschen der Tätowierung umflatterten. – – Machen wir Schluß mit alledem, – verzeih, Darling, ich peinige dich … Ich füge nur noch wenige Sätze hinzu … – Als ich vorhin vom Schoner an Land schwamm, suchte ich die Baracken der Ölquellen, fand sie auch. Die südlichste Baracke war die richtige, und sechs Meter nach Norden zu von der Südostecke und dann vier Meter nach Westen zu war die Nikko-Statue verborgen. Mit einer rostigen Eisenstange grub ich sie heraus und hatte sie dann kaum in die Baracke getragen, als du zu mir kamst, Margrit, – und da … war alles wieder gut, mein Liebling, – nein, besser denn je, wir sind ja durch eine harte Schule gegangen, wir haben vieles zugelernt … Das Leben ist der beste Schleifstein kantiger Seelen.«

»Das Abenteuer!« warf ich ein. »Das Abenteuer abseits vom Alltag, Major …! Das Leben kann auch ein stumpfes Dasein sein, – das Abenteuer feuert an, läutert, berauscht, beglückt …«

»Und … die Liebe …« flüsterte Margrit und hob die linke Hand, die Schwurhand der Jossi … »Die Liebe steht doch über allem …

&… Gowin hat seinen schlechten Tag. Wenn die Sonne so recht klar scheint und ausnahmsweise hier kein Lüftchen sich regt, ist er ungenießbar. Ich möchte so gern die Geschichte Margrits zu Ende schreiben, aber Gowin hat wie gesagt seinen schlechten Tag und hält Großreinemachen im Hause ab.

Eine Stunde habe ich auf der Halbinsel auf Margrits Lieblingsplätzchen gesessen und über das Meer geblickt. Meine Seele war in weiter Ferne bei denen, die ich lieb hatte, die hier sich tummelten und dann davonfuhren – auf Nimmerwiedersehen.

Ich hatte mir das sogenannte Manuskript mitgenommen und die letzten zehn Seiten gelesen und mit Bleistift manches verbessert, was ungenau war.

Mein Manuskript ist mein Tagebuch, nur – ich schreibe in weiten Zwischenräumen, manchmal vergeht eine Woche, und die Patenttinte trocknet ein.

Nun ist Gowin nebenan und schrubbt und fegt und grunzt vor Eifer.

Ich kann also getrost wieder kehrt machen und mich noch eine Stunde im Freien aufhalten.

Nachts hatten wir dicken Nebel, nun ist es kalt und klar, und man riecht förmlich die Schneeluft. Der Winter stellt sich hier auf Sachalin sehr früh ein, die Nachtfröste beginnen schon im August, und jetzt haben wir Ende Oktober. Eigentlich ist es ein Wunder, daß der Winter so lange zögert. – Mag er nur kommen, wir haben reichlich Holz gesammelt, und Gowin fällt eine Kiefer von Mannesstärke in ein paar Minuten. Seine Axthiebe sind wie die Schläge eines Riesen … Wenn aber solch ein stolzer Baum krachend umsinkt, glaube ich immer das Stöhnen eines Sterbenden zu vernehmen.

Ich nehme die Büchse und das Fernglas, stecke noch drei Patronenrahmen in die Tasche und will versuchen, ob ich nicht den Meister Petz erwische, der uns in letzter Zeit die Rentiere aus der Nähe vertrieben hat und immer frecher wird.

Es muß ein ganz geriebener alter Bursche sein. Seine Fährten zeigen Löcher mächtiger Krallen, – auch Gowin hat ihn schon wiederholt aufgelauert, der Bär ist schlauer.

So wandere ich denn landeinwärts, das Gras ist bereits dürr und fahl und knistert winterlich.

Ich erreiche den schmalen Waldstrich, und plötzlich stutze ich …

Vor mir zieht sich eine sandige, kahle Fläche hin, ganz feiner Treibsand, aber noch feucht vom Nachttau.

Und in diesem hellen Streifen erkenne ich eine verschwommene Fährte von Männerstiefeln …

Weder Gowin noch ich tragen unter den Absätzen Hufeisen, unsere Spuren sind auch breiter und länger.

Merkwürdig … Ein Fremder hier?!

Ich bücke mich, ich untersuche den Boden ringsum, aber es ist nur noch diese eine Spur eines Stiefels vorhanden.

Der Mann muß in langem Sprunge die Sandfläche überquert haben – aus Vorsicht. Er mag damit gerechnet haben, daß dieser einzelne Eindruck im Sande nicht bemerkt werden würde.

Daß ich ihn fand, ist ja auch nur ein Zufall.

Die ganze Sache ist höchst verdächtig.

Wer mag dieser Fremde sein?! Weshalb zeigt er sich nicht?! – Was wird wohl Gowin dazu äußern …?!

Ich suche nochmals den Platz in großem Umkreise ab.

Ich fühle mich unbehaglich.

Sollte etwa doch einer von denen, die wir tot wähnen, noch am Leben sein?!

Ich krieche am Boden hin, ich schiebe Gräser beiseite, ich merke bald, daß der Mann von Grasbüschel zu Grasbüschel gesprungen ist …

Sehr schlau! –

Ich habe meine Büchse entsichert … Man kann nie wissen …

Bisher sind wir hier ganz unbelästigt geblieben. Nicht einmal die Giljaken im Norden, diese halben Eskimos, sind je bis zu uns gekommen, und ebensowenig Leute von den nordwestlichen fernen Ölfeldern, die von den Russen ausgebeutet werden, obwohl dort eine Menge chinesischer Kulis tätig ist, dazu Ingenieure und Maschinisten.

Wir beide sind nur ein einziges Mal dort in der Nähe gewesen, ahne uns sehen zu lassen. Es ist eine Tagesreise bis dorthin, Urwald schiebt sich trennend dazwischen – zum Glück! –

Sollte es einer von den Ölfeldern gewesen sein, von deren Existenz wir auch erst unlängst uns überzeugten?!

&… Ich setze meinen Weg fort …

Ich hätte zu gern festgestellt, wo der Mann geblieben ist, welche Richtung er eingeschlagen hatte. Ich werde die Gedanken an ihn nicht los, und mein Mißtrauen ist derart gesteigert, daß ich wie ein Fallensteller oder Westläufer aus verblichenen Indianergeschichten all und jedes beargwöhne.

So gelange ich jenseits der Berge in ein Tal.

Und stutzte abermals, werfe mich lang hin …

Das Tal entlang kommt ein … Giljake, ein kleiner stämmiger Kerl mit grauem Zopf.

Hinter ihm her traben sechs zottige Hunde, die einen langen Sommerschlitten in Bootsform ziehen.

Das pausbackige Mongolengesicht dieses Giljaken – ich habe das Fernglas an den Augen – erinnert ein wenig an Gowins Züge.

Auf dem Rücken trägt dieser Vertreter der Ureinwohner Sachalins eine verrostete doppelläufige Flinte, im Gürtel zwei Messer und ein kleines Handbeil.

Er schreitet flott aus, hat den Kopf gesenkt und folgt den Spuren, die Gowin und ich gestern hier bei der Suche nach dem Meister Petz zurückgelassen haben.

Als er sich mir nähert, rufe ich ihn an.

Er dreht gemächlich den Kopf, mustert mich und sagt in leidlichem Englisch:

»Tabak, Mister, – bitte Tabak für armen Giljaken …«

Ich gehe zu ihm, die Büchse im Arm, und in seinen kleinen Augen scheint nur gutmütige Pfiffigkeit zu blinzeln. Er wiederholt seine Bitte und erzählt mir von seinen Jagdergebnissen, von seiner fernen Hütte …

Chedee nennt er sich.

Chedee?!

Das ist ja nur eine andere Bezeichnung für Giljaken!

Aber er bleibt dabei: Er heißt Chedee, und als ich ihm vier Zigarren spende, strahlt er vor Freude und erklärt umständlich, wie er diesen echten Tabak mit trockenen, gegorenen Blättern der Buchen strecken wird …

Nachher fragt er so allerlei, und das behagt mir weniger.

Ich bedeute ihm, daß auch ich Pelzjäger sei und daß mein Revier bis zum kleinen Fluß reiche …

Er nickt.

Ich gebe ihm noch zwei Zigarren, er kehrt um, er will mein Revier respektieren, er ist sehr höflich, und doch …

Ich weiß nicht, irgend etwas in seinem Benehmen gefällt mir nicht. Für einen Giljaken ist er mir fast zu gebildet. Aber er ist Giljake, er sitzt nun in seinem Fellschlitten und saust davon.

Chedee …!

Wenn ich damals schon geahnt hätte, was ich über Chedee erst nach langen Wintermonaten erfuhr, würde ich ihm gefolgt sein und hätte früher … das Andere kennengelernt. –

Von dem Meister Petz ist heute nichts zu spüren.

Ich komme heim, Gowin ist mit dem Großreinemachen fertig, und mein Bericht über der Spur und Chedee läßt ihn durchaus gleichgültig.

Ich sitze wieder an dem klobigen Schreibtisch.

Ich will die Geschichte der Margrit Jossi beenden.

Ich habe nicht mehr viel zu berichten. Gewiß, ich könnte hier Einzelheiten bringen, Stimmungsmalereien, skizzenhafte Zwischenspiele …

– »Wir wollen nun Lord Rosselleer festnehmen«, sagte der Oberinspektor sehr bestimmt. »Der Nebel scheint sich zu lichten, und ich lege keinen Wert darauf, es zu einer Schießerei kommen zu lassen. Wir sind unser vier, und das genügt bei der doppelten Anzahl Karabiner.«

Wir brachen auf. Der Buddha wurde anderswo versteckt, und Robberlley schritt voran. Er wählte einen kürzeren, wenn auch schwierigen Weg durch die Berge.

Der Wind war kräftiger geworden. Zuweilen fegte er die Nebelwand auseinander, und wir sahen die Sonne über uns, spürten ihre Wärme und waren doch im Nu wieder in dem kalten feuchten Gebräu eingeschlossen. Aber es war nicht mehr so dicht wie bisher, und für diese Kletterpartie kam uns das sehr zustatten.

Auf einer kleinen Hochebene blieb der Oberinspektor stehen.

»Ist Ihnen bekannt, Herrschaften, daß dieser Nordostteil von Sachalin zahlreiche ehemalige Natrongeiser enthält?«

Wir hatten keine Ahnung davon.

»Wissen Sie, daß im Yellowstone-Park in Nordamerika, dem jetzigen Nationalpark, ebenfalls solch tote Geiser vorhanden sind? – Ich war mal dort. Abseits von dem eigentlichen Geiserterrain, das die Touristenscharen mit ihrer Neugier entweihen und durch fade Scherze geradezu entheiligen, – zum Beispiel durch das Hineinwerfen von Taschentüchern in die Geiserlöcher, aus denen die Tücher dann nach Minuten mit dem heißen Wasser blütenweiß emporsteigen, – eigentlich müßte man da noch eine Dampfwäscherei einrichten, fertig bekommen das die Dollarjäger, – – also abseits zwischen Felsen und Riesenfichten liegt da die sogenannte Büffelkapelle … Es hat mit der eine besondere Bewandtnis. Sie war eine tote Quelle, oben mit einer Salzkruste und Sand und Laub bedeckt, aber die Wärme des in der Tiefe noch kochenden Geisers hielt die Salzdecke warm, und im Winter lagerten dort die Büffel und wärmten sich – Tatsache. Dann müssen es einmal allzu viele Büffel gewesen sein, die Salzkruste brach und die armen Tiere stürzten in das kochende Wasser. Teile ihrer Skelette schwimmen noch heute in der brodelnden Tiefe umher, und wenn man sich vorsichtig bis zum Rande der Einbruchstelle vorwärtsschiebt, kann man die Schädel und Schenkelknochen deutlich erkennen …« – Er stampfte dann fest mit dem Fuße auf …

»Hören Sie den hohlen Ton … Wir stehen hier ebenfalls auf der vom Sande überwehten Salzdecke so eines toten Geisers …«

»Etwas ungemütlich«, sagte Brasson, bückte sich und kratzte den Sand beiseite. »Wirklich – Salz …!! Und ganz warm!«

»Allerdings, Major … Es gibt hier Stellen, die sogar heiß sind, und da man nie wissen kann, ob ein solcher Geiser nicht plötzlich wieder zu springen beginnt, meidet man die Plätze besser … – Weiter also …«

Robberlley und ich schritten voraus und schleppten die Waffen und Patronen Brasson sollte die Arme frei haben. Margrit hatte ein Recht, umarmt und geküßt zu werden.

»Oberinspektor, eine Frage …« begann ich unsere gedämpfte Unterhaltung von neuem …

»Bitte …«

»Wie erklären Sie es sich, daß Freund Chi es duldete, daß der Major auf der sinkenden Yacht allein zurückblieb und dann auf dem Eisberg Zuflucht suchen mußte?«

»Hm – erklären, Mr. Abelsen?! – Ich schätze, die Sache ist sehr einfach …«

»So?! Für mich nicht!« Ich blickte ihn von der Seite an. Er lächelte.

»&… Sehr einfach … Meinen Sie, daß dieser Teufelskerl von Chi Api, der nur immer ein Viertel erzählt, etwa der Yacht Sussex kein Ehrengeleit gegeben hat …?!«

»Wie, – – ein Schiff?!«

»Natürlich, – einen Dampfer, – ich weiß es längst. Der kleine flinke Steamer war stets hinter uns …«

»Unglaublich!!«

»Ja, Chi muß sehr reich sein … Seine Verbindungen müssen noch weitreichender sein …«

Ich schwieg dazu. Über Chi als ehemaligen Rascha von Tapulat wollte ich nicht sprechen. Aber Robberlley hatte schon recht.

»&… Sehen Sie, Mr. Abelsen, wenn der Major nicht den Schoner erwischt hätte, hätte der Dampfer ihn geborgen … Ich möchte beinahe wetten, daß dieser Dampfer jetzt bereits neben dem Schoner ankert. Wir werden ja sehen. Mir wäre das sehr lieb. Ich muß die Herrschaften Rosselleer sicher unterbringen, und der Schoner ist etwas klein und eng für uns alle. – Warten Sie mal, ich möchte mich orientieren … Ja, nach rechts zu … Dort lagert die Bande. Wir müssen uns jetzt fertig machen … Das Ende naht. Verteilen wir die Waffen.«

Das Ende war bereits da.

Als wir uns der Stelle lautlos näherten, trieb der Wind die Nebelfetzen wieder einmal auseinander.

Die Sonne bestrahlte Felsen, Tannen, – – und einen flachen, weiten Platz, in dessen Mitte sich ein Loch mit zackigen Rändern befand, sechs Meter Durchmesser etwa. Die Ränder schimmerten weiß, es war eine Salzdecke von etwa Schenkeldicke, aus dem großen Loche stiegen dünne Dampfwolken hoch.

Wir vier standen wie vom Donner gerührt. Selbst ich wurde bleich, und Margrit barg das Gesicht an Brassons Brust und stöhnte.

Robberlley legte die Büchse weg, faltete die Hände und meinte:

»Die Vorsehung hat mir vorgegriffen … Nicht einer von ihnen ist entkommen. Da – die Spuren im Sande beweisen es … Alle sind hinabgestürzt. Gott sei ihnen gnädig.«

Brasson führte Margrit schnell hinweg.

Ich ließ mich von Robberlley festhalten und kroch bis zum Rande des Loches.

»Sehen Sie etwas, Abelsen?«

Ich kroch schnell zurück.

»Geben Sie mir einen Schluck Whisky, Oberinspektor … Ich habe noch nie gekochte Tote gesehen …«

Mir stand der kalte Schweiß auf der Stirn. Der Whisky half.

&… Es sind Tage steter Selbstverleugnung gewesen, so lange die Freunde noch bei uns weilten. Margrit und Brasson ahnten nicht, daß ich ihre Zärtlichkeiten als Qual empfand. Für die beiden gab es nichts anderes als ihre Liebe, und Peter-Maugli schloß sich daher immer enger an mich an.

Es war nur ein Kapuzineräffchen, – es war dennoch ein Wesen von unendlicher Anhänglichkeit und Dankbarkeit für jeden Beweis von … Liebe.

Ich wich dem Brautpaar nach Möglichkeit aus. Ich nahm Peter auf die Schulter, und wir durchstreiften das einsame Land kreuz und quer, und Peter zwitscherte mir sanft in seiner Sprache vielleicht allerlei Trostworte ins Ohr.

Auf diesen einsamen Wanderungen reifte in mir allmählich ein Entschluß, der noch dadurch gefördert wurde, daß Gowin mir eines Tages heimlich in seiner Zeichensprache anvertraute, er würde den Winter über hier im Steinhause bleiben und Bären und Füchse schießen und Wolfsgruben anlegen und viel Geld verdienen.

Es gab hier überall überreich besonders jene kleinen Räuber, deren Felle so hoch bezahlt werden: Zobel!

Gowin machte mich nun auch in anderen Dingen zu seinem Vertrauten. Freilich dauerte es zuweilen Stunden, bevor ich wußte, was er mir mitteilen wollte.

Er schien guten Grund zu haben, kultivierte Gegenden zu meiden. Seine Vergangenheit mochte nicht nur einige dunkle Punkte aufweisen, – hoffentlich keine blutigen … –

Nachdem ich dann abermals deutlich gespürt hatte, daß ich Austin Brasson zuweilen geradezu haßte, wenn Margrit ihn mit so heißen, verlangenden, glücklichen Augen anschaute, – nachdem ich mit mir dieserhalb streng ins Gericht gegangen war und meinem Liebling Peter meine Sorgen und Pläne mitgeteilt hatte, denn er war ja verschwiegen und streichelte mich zärtlich und schien mich trösten zu wollen, sagte ich auch Borstel das wenige, was ich sagen wollte.

»Borstel, ich werde euch nicht begleiten …!«

Er starrte mich verständnislos an.

»Nicht begleiten?! Willst du hinterher schwimmen, Olaf?!« Und er lachte dröhnend.

»Nein, nicht hinterher, nur wieder meine eigene Bahn. Ich bleibe mit Gowin hier. Hier gefällt es mir … Wir werden Pelzjäger spielen, wir werden Unmengen von Fellen sammeln, und das Leben wird mir wieder Neues bescheren … Ich bin nicht mehr brauchbar für die große Welt da draußen, – so viele Menschen um mich her rauben mir den inneren Frieden. Ich bin Egoist, daher will ich allein sein – mit Gowin.«

Peter hockte wieder auf meiner Schulter … Sein feines Zwitschern klang todestraurig. Vielleicht ahnte er den nahen Abschied. Wissen wir, was Tiere alles ahnen und verstehen, und Affen sind nun einmal keine Tiere … Für mich nicht.

»&… Du bist verdreht, Olaf!« grobste der brave Borstig mich an. »Mensch, wie kam dir nur die Kateridee?! Du willst mit Gowin hier bleiben?! Das ist doch der helle Blödsinn!«

Wir saßen vor dem Steinhause in der Sonne. Es war ein prächtiger Tag, und Margrit und Brasson waren morgens mit Robberlley auf Bärenjagd ausgezogen.

In der Bucht ankerten der Schoner und der kleine Dampfer, die Leute dort sangen und pinselten und gaben den Schiffen ein frisches Gewand.

Chi nahm die Zigarette aus dem Munde und meinte sanft:

»Willst du ihn etwa mit nach Berlin nehmen, lieber Borstig?! Ein Tiger gehört in den Dschungel, ein Adler in den freien Äther, ein Fuchs in den freien Wald … – Ich trenne mich gewiß nur schwer von unserem Freunde. Uns verbinden Erinnerungen, die ich nicht missen möchte, ich habe ihn lieb. Aber ich kenne seine Natur, und ich würde es ihm nie zumuten, mich nach San Franzisko zu begleiten, wo ich mich fernerhin niederzulassen gedenke und wo ein Freund meine Handelsgeschäfte bisher besorgte.«

Borstel schwieg und seufzte nur. – –

Eine Woche darauf entschwand der Dampfer am Horizont …

Ich hatte auch den Abschied überstanden, und ich hatte mich gefreut, als Brasson mich wortlos umarmte und an sich preßte und nasse Augen hatte und mir dann Margrit hinschob …

»Küsse ihn, Darling … Er hat es verdient.«

Chi hatte mir nur die Hand gedrückt und mir zugenickt. Aber seine Augen sagten alles …

– Monate sind dahin. Der November ist da, und wir heizen kräftig, Gowin und ich.

Heute früh ist etwas Schnee gefallen. Er bleibt nie lange liegen, schwindet wieder dahin.

Gowin hat mich heute früh aus dem Bett geholt und mir drüben an der Halbinsel die Fährten gezeigt, klare Fährten eines Mannes im Schnee …

Wir eilen hin, und diesmal sehe ich die Spuren beider Stiefel des Fremden. Es ist der Fremde wieder …!

Wir hatten hier also doch irgendeinen geheimnisvollen Nachbar, der sich vor uns verbirgt. Wir werden ihn schon aufstöbern … – Aber wir täuschen uns. Der Mann macht sich nicht wieder bemerkbar, bis …

– Gut, daß Peter-Maugli nun in wärmeren Gegenden weilt, denn hier ist es kalt, eisig kalt … Stürme umbrausen das Haus, Schneeschanzen türmen sich auf, die Bucht wimmelt von Robben und … wir beide suchen den Fremden …

Möglich, daß wir ihn doch noch finden … Möglich, daß er uns führt zu fremden Gestaden, wo weiße Kalksteinfelsen in der Tropenhitze glühen und ein Glöckchen läutet und fromme Patres zum Gebet ruft …


 << zurück