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Men Huleb schläft – die drei schlafen – ganz Malmotta schläft … Nur ich nicht.
Ich habe leise die Jacht verlassen, die in der Lagune ankert – ganz leise ruderte ich bis zum hellen Korallenstrand und schritt im Silberglanz des Mondes zum Berge und betrat die Grotte.
Nun schreibe ich.
… Wie man so schreibt, wenn die Seele wachgerüttelt ist und das Empfinden des Menschseins sich wieder meldet.
Men Huleb konnte mich nicht herausreißen aus den Abgründen des Schmerzes, in denen wir wie blind umhertappen und uns das Herz nur noch blutiger stoßen an den finsteren Zacken, die sich »Hadern mit dem Geschick« nennen.
Men Huleb ist nur ein Affe, und er ist mir noch fremd. Er konnte mir nichts sein, nichts geben – ich habe ihn gepflegt und behütet, und meine Gedanken waren doch immer nur bei dem einen Grabe dort an der Nordbucht: bei Jane und Fennek!
Es mußten erst Menschen erscheinen hier auf meiner Insel, und Menschen wie die drei in dem kleinen Boot, also keine Durchschnittsgeschöpfe, sondern Leute, denen der Wind des Schicksals das Hirn zerfetzt hatte – so ganz allmählich, wie es eben Schicksalswind wohl fertigbringt … allmählich – gleich den Sandkörnchen in der Arabischen Wüste, die die Felsen benagen und aus Felsen pilzartige Gebilde schaffen, bis dieser närrische Steinmetz sie völlig zermürbt … so etwa …
Die drei, die heute hier auf der Insel landeten, halbtot, halb verrückt vor Durst, von der Sonne verbrannt, ausgedörrt – ja die drei weckten mich auf. Besonders der eine.
Larsen heißt er. Norweger.
Peter Larsen …
Hört man fremdes Leid, hört man über verdorrte Lippen Worte stolpern, die grauenhafte Visionen aufflackern lassen – vergleicht man dann das Leid mit dem eigenen: dann besinnt man sich auf sich selbst und erkennt, daß jedes Übermaß an Trauer nur Schwäche ist.
Ich schreibe …
Unten an der Ostküste braust die Brandung.
Musik des Stillen Ozeans …
Die ich liebe …
Ich höre aus dem Gemisch der Töne brechender Wogenkämme, die zu Gischt zerflattern und dann zurücksinken in den Schoß der Urmutter »Ozean« und von neuem geboren werden – – ich höre Janes weiche tröstende Stimme und Fenneks eigenartiges Bellen …
Bisher rannte ich in solchen Augenblicken, wo die Toten mit mir sprachen, in dem unbeherrschten Überschwang meines Schmerzes hin zum Grabe und warf mich über die Steinplatte und …
Doch nein!!
Das war!! Das darf nicht nochmals geschehen. Trauer und Sehnsucht und wütendes Hadern mit den unerforschlichen Machtsprüchen dessen, der dort über den Sternen wohnt und mit kluger Hand uns Menschlein auf dem Schachbrett des Lebens hin und her schiebt – – auch das muß Maß und Ziel und Hindernisse haben, damit all das nicht ausarte zu kränklicher Hysterie …
Das war.
Peter Larsens Geschichte machte mich gesund.
Man denke – Taifun – Nacht – Blitze – Peter Larsen als Kapitän auf der Brücke, in den überschwemmten Kajüten wimmernde, heulende, von Todesangst gefolterte Weiber, Kinder …
Sein Weib dabei … Zwei Kinder, blond wie er …
Sein Weib …
Ein Wasserberg naht … – Der Dampfer kentert …
Kentert.
Wißt ihr, was das heißt: Kentert?!
Wißt ihr, was denen geschieht, die da in den Kabinen stecken?!
Sie ertrinken …
Langsam …
Alle …
Langsam …
Der Dampfer treibt, Boden nach oben, Schornstein, Masten nach unten …
So treibt er, torkelt über die Wogen und saugt Wasser …
Langsam …
Langsam füllen sich die Kabinen …
Menschlein ertrinken …
Langsam …
Und oben auf dem Kiel reiten drei Männer, die der Ozean wieder ausspie, und zwei halten den einen fest, der hinab will … sterben …
Aber sie halten ihn, und zum Hohn zieht der Taifun vorüber, Sonne scheint, und … sie leben, die drei – als einzige von hundertachtzig Menschen.
Der, den sie hielten, war Larsen.
Larsen verlor Weib, zwei Kinder, Schiff – – alles … alles …
Und besann sich auf seine Pflicht. Er war ja nicht allein, und wenn seine Gefährten auch nur ein schmieriger Niggerheizer mit grauem Wollkopf und schnapsvertierten Zügen und der dritte nur ein lahmer, noch schnapsgierigerer Kanake von einer Südseeplantage war: es waren zwei von seinem Schiff, und er war Kapitän und mußte diese Elenden retten: Pflicht!! Kalte Pflicht, heißes Pflichtgefühl, geboren, gewachsen, verankert in der Seele eines Mannes – wie Peter Larsen!
Er drückte mir gegenüber das alles noch schlichter aus. In dieser Schlichtheit lag seine Größe. Ein Mann eben. Und da … schämte ich mich.
Er erzählte weiter: »Ich sah das kleine Rettungsboot an langer Leine hinter dem Wrack herbaumeln, voll von Wasser, getragen von den Luftkästen … Ich sah im Morgenlicht hier diese Insel wie einen dunklen Fleck am südlichen Horizont, und ich rutschte hinab bis zu der stillen, toten Schraube aus Bronze am Heck und zog das Boot näher und entleerte es und gab einem frechen Hai einen Nasenstüber mit dem Absatz … Vier Jahre fahre ich in der Südsee – noch zehn Jahre, und ich wäre als reicher Mann heimgekehrt in meine Vaterstadt Bergen, die Heringsstadt. Nun besitze ich nichts mehr, denn mein Schiff war nicht versichert – ich hatte es ›Hardanger‹ getauft, und ich traute meinem Glück.«
Als er mir dies um die Mittagsstunde, nachdem er sich ein wenig erholt hatte, mit heiserer Stimme berichtete, lag er auf dem Wanddiwan der großen Kajüte der Jacht, und wir waren allein. – Men Huleb war zwar mit dabei, aber der rechnet nicht als Persönlichkeit. Vorläufig nicht. Ich werde sehen, wie er sich entwickelt. Mantelpaviane sind schwer zu zähmen. Und Men Huleb ist jetzt schon ein muskelstrotzender Kerl. Aber über ihn werde ich nachher reden.
Peter Larsen ist ein blonder Hüne von jenem schweren Körperbau der reinblütigen Nordländer, die immer seltener werden. Sein stoppelbärtiges Gesicht, von dem die durch Salzwasser und Sonne vernichtete Haut in Fetzen herabhängt, besitzt als Schönstes die klaren, lichtblauen großen Augen mit stillem, sinnendem Ausdruck – Augen jener Wikinger, die einst mit ihren Schiffen die Hafenstädte brandschatzten und das Trinkhorn schwangen und den Kampf als Spiel ansahen und an den Schwertgott Tyr und an Odin glaubten.
Peter Larsen gefällt mir. Er mag dreißig, fünfunddreißig alt sein.
»… Das Glück war mir viele Jahre treu geblieben – erst besaß ich nur einen Schoner, dann eine Brigg, dann kaufte ich den Dampfer, 2800 Tonnen … Ich nahm Weib und Kinder und Schwester mit, und ich klapperte die Südseeinseln ab und verdiente.«
»… Wie Käpten Bolk«, warf ich hin, und mein Herz klopfte schneller, denn Bolks Name ist unzertrennlich von dem meines toten Weibes Jane oder Johanna, geborene Petersen.
Larsens blaue Sterne begegneten den meinen.
»Den kenne ich, Landsmann, den Bolk … Ein Mann mit … mit einem leichten Knacks, sonst ein tüchtiger Bursche. – Was ist das hier übrigens für eine Insel?«
»Malmotta.«
Er sann nach. »Habe irgendwo davon gehört.«
Mein Herz schlug noch rascher. »Malmotta kommt und geht, Larsen … Zur Zeit hat sie Sehnsucht nach der Sonne … Nicht lange. Ein paar Jahre, dann verschwindet sie wieder.«
Er nickte nur. »Ich hörte die Insulaner der Gilbert-Gruppe davon orakeln, Abelsen. Also eine der wenigen Inseln, die auftauchen und verschwinden … wieder auftauchen, wieder verschwinden. – Lassen Sie mich weitererzählen … Daß mir's sehr schwer wurde, mich von dem Wrack zu trennen, in dem die Leichen meiner Lieben steckten – daß ich in der törichten Hoffnung, irgendwelche Klopftöne könnten noch aus dem Eisenrumpf Hilfe heischen, noch Stunden ausgeharrt hätte – – wohl selbstverständlich! Aber Moses, der Schwarze, und Krikatawu, der Mann von den Cook-Inseln, verlangten die Abfahrt. Nun treibt das gekenterte Wrack als Leichensarg mit der Strömung gen Osten. – Wir ruderten auf den Fleck Land zu, doch es war uns nicht beschieden, ihn so bald zu erreichen. Es brach ein neuer Sturm herein.«
»… Vor acht Tagen …«
»Mag sein … Wir haben die Tage nicht gezählt, wir kämpften um das bißchen Leben und hungerten und dürsteten, und als der Himmel sich klärte, war um uns her nichts als Meer und Himmel. – Ich brauche Ihnen wohl kaum Einzelheiten zu schildern, Landsmann. Mir scheint, Sie wissen Bescheid, was das bedeutet, ohne Proviant und ohne Trinkwasser in einer Nußschale den Pazifik zu durchqueren. – Wir ruderten … Die Sonne zerfraß uns Haut und Hirn, und als Moses Jamestown mit dem Bootshaken einen Hai erwischte, fraßen wir das rohe Fleisch und soffen das Blut … Leider stank der Hai schon nach zwei Stunden derart, daß wir ihn über Bord schmissen. – Es mag am Haiblut gelegen haben, Abelsen – denn ich schoß noch eine Bestie, und in unser Blut kam etwas Fremdes, Grausiges … Ich konnte keinen mehr schießen, die Patronen waren verbraucht, der Bootshaken gebrochen. Nach Tagen – wir lagen meist untätig da und erwarteten das Ende, den Sonnenstich, den Sprung ins Meer – ja, nach vielen Tagen sprach Moses davon, daß einer sich opfern müsse … Wir sollten darum losen, wer dran glauben müßte … – So vertiert waren wir … Fremdes Blut in den Adern tut nie gut, Abelsen … Und die Fidschi-Leute behaupten, schon Haifischfleisch verlocke nach Menschenfleisch … So vertiert waren wir …«
»Die Sonne …« sagte ich mitleidig.
»Mag sein – wir waren halb verrückt … Wir losten. Wir schnitten drei Holzspäne ab … Wer den kürzesten aus der Mütze zog, der sollte sterben … Damit die andern noch leben könnten – vielleicht noch einen Tag … Wir waren verrückt …«
»Die Sonne«, tröstete ich.
Er lachte schrill. »Abelsen, ich griff als erster in die mit einem Taschentuch bedeckte Mütze … Und zog den längsten Holzsplitter. Da fielen die beiden Farbigen über mich her und wir kämpften wie die Tollhäusler, aber meine Faust schuf Frieden, und wir gelobten einander, dieses Spiel nicht wieder zu versuchen. Da fing ich mit dem Ruder und einem Stück Segel ein Dutzend Palolo-Würmer … Kennen Sie die?«
»Ja, sehr gut« – und ich dachte an die Nacht, als ich Men Huleb fand.
»… Wenn Sie sie kennen, werden Sie begreifen, wie weit wir zu Bestien, zu Schweinen geworden … Kein Schwein auf den Gilbert-Inseln frißt diese Schlangen. Wir fraßen sie … Und dann wurden wir krank, beschmutzten das Boot, wanden uns in Krämpfen und erwachten hier bei Ihnen, Abelsen. Sie hatten unser Boot erspäht und holten es in die Lagune. Jetzt leben wir wieder. – Das ist alles. Abelsen.«
»Es ist genug«, sagte ich und gab ihm Brandy zu trinken.
Nun schläft er. Alle schlafen. Ich schreibe.
Hier in dieser Grotte habe ich mit Jane so glückliche Stunden verlebt, und Fennek-Mukki hat uns Gesellschaft geleistet und auf Janes Schoß gelegen, und dann kam die Jacht mit den Meuterern, und … drüben das Grab enthält mein Alles – genau wie das gekenterte Schiff »Hardanger« Larsens Herz einschließt: seine Lieben!
Ich will nicht mehr daran denken und nicht mehr in dem Schmerz wühlen und die Wunden nicht immer wieder aufreißen.
Ich will nicht.
Aber – es ist schwer, und gerade hier in dieser Steinhöhle mit dem Tisch aus Brettern und der Lagerstatt aus Brettern und all dem sonstigen, das an Jane und Fennek erinnert, fühle ich mehr denn je in dieser stillen Nacht die Größe dessen, was ein paar Kugeln mir raubten.
Menschen sind da. Gewiß. Drei Menschen.
Übermaß an Schmerz ist Schwäche. Gewiß. Aber – ich bin verwöhnt gewesen, ich habe Fennek gehabt, bevor Jane mich liebte, und Fennek liebte mich, wie nur ein Tier lieben kann … selbstlos, hündisch-treu.
Und hündisch-treu ist die Treue der uneigennützigen Kreatur.
… Das Gefühl der Einsamkeit überfällt mich jäh wie ein schwarzes Gespenst und zeigt mir sein Angesicht – und das ist die Leere in meiner Seele.
Ich beiße die Zähne in die Unterlippe …
Schreien möchte ich – brüllen …
Jane …
Fennek …
Einsamkeit …
… Und da huscht etwas neben mich, eine spitze Hundsnase schiebt sich in den Bereich des Lichtkreises der Karbidlampe, und … Men Huleb klettert mir auf den Schoß, legt seinen langen Affenarm um meinen Hals und grunzt leise.
Ich sitze ganz still – des Mantelpavians große braune Augen blicken mich an, und wieder grunzt er und schmiegt sich an mich und … schnattert irgend etwas … irgend etwas. Seine linke Hand kraut die dichte Mähne, und plötzlich hält er zwischen den schwarzen Fingern eine Hülse, die an einem Faden, aus dunklen Haaren gedreht, befestigt ist und die ich bisher nie bemerkte.
Aber die Hülse ist mir gleichgültig.
Men Huleb hat mir sein Herz gezeigt, und ich spüre seine dankbare Zärtlichkeit wie etwas ungeahnt Köstliches, das ich nie mehr erhoffte.
Men Huleb ist mein Freund geworden.
… König Missili von Atauo und all die anderen Freunde waren davongefahren. Ich wollte allein sein auf Malmotta, der Wunderinsel, wo die Palmen bereits frische Triebe ansetzten und die Sonne das Wunder der Wiedergeburt der Natur hervorrief.
Sie ließen mir die Jacht zurück, sie war Janes Eigentum gewesen, auf ihren Deckplanken erhielten Jane und Fennek die tödlichen Schüsse.
Die Meuterer fraßen die Haie – alle!
Die Jacht war leer … Und ich lebte allein in der Grotte, zwei Wochen fast.
Ich wurde wieder zum Wilden, zum Insulaner, ich begnügte mich mit einem Schurz, ich saß an Janes Grab und lebte wie ein Träumer, wie ein Nachtwandler.
Dann kamen die Palolo … Auch nachts – genau wie es in dem Buche in der Bibliothek der Jacht verzeichnet steht.
Ehlers, Über Palolo
(Göttingen 1898)
… Seltsame Geschöpfe, die Riesenwürmer. Bis zu dreißig, vierzig Zentimeter lang, voller Borsten, die Männchen weiß-gelb, die Weibchen indigoblau oder grün.
Scheußliche Tiere …
Mit Stirnfühlern, Beißzangen, manche dick wie ein Handgelenk, mit Glotzaugen – in den Tiefen der Korallenbänke der Südsee leben sie, nahe Verwandte einer noch größeren Abart, die man als Riesenwürmer mit Recht bezeichnet. Aber auch die Palolo treiben es toll genug.
An bestimmten Novembertagen zur Zeit des letzten Mondviertels – nur dann – verlassen sie zu Millionen ihre Schlupfwinkel, vereinigen sich zu ungeheuren Heeren und tauchen an den Küsten der Gilbert-Inseln, der Fidschi-Gruppe, der Tonga-Inseln auf – wohl lediglich zum Zwecke der Befruchtung, stoßen die Hinterleibsteile mit Samen und Eiern ab und verschwinden bei Sonnenaufgang, geführt, getrieben von einem Instinkt, der uns Menschen genau so unfaßbar bleiben wird wie die Wanderungen der Aale, der Heringe, der Zugvögel.
Und diese gefräßigen Ungeheuer, die zuweilen auch ihre nasse Heimat bei ihren Hochzeitsfahrten verlassen, an Land kriechen und dann weite Uferstrecken restlos um jedes Blatt, um jedes freundliche Grün berauben und Schweine, Ziegen, Hunde, Kinder anfallen und durch ihre Überzahl in die Flucht jagen – diese gräßlichen Borstenwürmer erschienen in jener Nacht auch auf Malmotta, drangen in die Grotte ein – zu Tausenden –, als ich erwachte, hatten sie mich bereits völlig umsponnen – zu Hunderten –, ich streifte sie von mir, ich rannte über ihre platzenden Leiber zur Lagune – ich ward gehetzt von diesem Ungeziefer – ich fand das Boot am Strande voll von ihnen – ich ruderte zur Jacht – seit zwei Wochen zum ersten Male, denn ich fürchtete die Jacht –, sie barg zu viele Erinnerungen an zwei Tote, ich hatte sie gemieden, ich betrat zum ersten Male wieder Janes Räume, und mir schlug der Duft entgegen, den kein Mann vergißt, der Duft des Weibes, das er liebte!
So kam ich auf die Jacht …
Da war der Divan – da war der Sessel – da lag noch Janes blutige Wäsche … Da lagen noch gelbliche Haare von Fenneks seidigem Fell, dem wir die Schußwunden verbunden hatten.
Und ich schloß die Augen und fiel über den Diwan und preßte die Fäuste in die Augen …
… Und horchte …
Horchte …
Was war das?!
Was wimmerte dort irgendwo – winselte – – stöhnte …?
Ein Kind?!
Ich lauschte …
Und wieder das jämmerliche Klagen und Wimmern …
Unten aus dem Schiffe drang es empor …
Unten, wo die anderen Kabinen lagen …
Ein Kind – – wirklich?!
Ein Spuk – eine Gehörtäuschung?!
Ich nahm die brennende Laterne und tappte abwärts …
Vierzehn Tage …
Und – noch ein lebendes Wesen hier an Bord?!
Unmöglich!
Ich packte eine Pistole, die noch von den letzten blutigen Kämpfen hier herumlag … Ich dachte an Fremde, an Feinde, an eine Falle …
Feinde hier auf Malmotta?! – Nein – Malmotta war ein Geheimnis der Tiefen des Ozeans – niemand kannte Malmotta, und die es kannten, die schwiegen.
Ich stieß die Tür der Kabine Malcolm Rizzards auf, des Ersten Offiziers, des Schuftes, der die Meuterei angezettelt hatte …
Er erschoß Jane und Fennek – ich erwürgte ihn, und die Haie der Lagune fraßen ihn.
Ich stieß die Tür auf – – prallte zurück.
Ein Schrei klang mir entgegen …
Und … Gestank drang mir in die Nase: Affenkäfig!
So fand ich Men Huleb – in einem Kasten neben Rizzards Koje, über den eine Decke geworfen war …
Fand einen Mantelpavian, Männchen, halb erwachsen, mehr tot als lebendig, verhungert, verkommen im eigenen Unrat, stinkend, schlapp, aber – beißwütig wie all diese Hundsnasenaffen …
Auf den Deckel der Kiste war mit schwarzer Farbe gemalt:
Men Huleb
S. D. Triton
Bremen
Weiter nichts.
Ich habe bisher auch nicht feststellen können, wie dieser Pavian, der nun – wie einst Fennek – zusammengerollt auf meinem Schoße liegt und schläft und schnarcht, auf die Jacht geraten ist. Ich kann nur annehmen, daß der Lump Rizzard das Tier in Batimar am Roten Meer von einem Abessinier kaufte – – damals – – damals, als Jane noch lebte und als Mann verkleidet bei Patumengi, dem Zwergenkönig, als Gefangene weilte …
Vielleicht war es so.
Ich trug die Kiste nach oben in Janes Salon, und der Pavian lag in seinem Unrat, nur noch ein Affenskelett mit verschmutzten Haaren, stinkend, ekelhaft …
Aber ein lebendes Wesen.
Er schnappte nach mir, als ich ihn badete. So viel Kraft hatte er doch noch. Ich mußte ihm erst das Maul zubinden. Mantelpaviane haben ein furchtbares Gebiß – ich kannte sie von dem Berge der Affen her, wo sie einer Frau als Leibgarde dienten.
Ich wusch Men Huleb, trocknete ihn, holte Milch, kondensierte Milch, holte allerhand, was ihm auf die Beine half.
Am Morgen waren die Palolo spurlos verschwunden, und Men Huleb lag an einer dünnen Kette auf einem Lager von Decken.
Drei Tage drauf bekam er die ersten Prügel. Ein Mantelpavian ist kein Schoßhündchen.
Aber er wurde von Tag zu Tag zahmer. Jedes Tier spürt, wer's gut mit ihm meint. Ich habe Men Huleb nur dreimal geprügelt. – Nach einer Woche lief er frei umher und ließ sich streicheln.
Und heute?! Heute nacht – da hat ihn die Sehnsucht doch hinter mir hergetrieben, da ist er an dem dicken Tau, das die Jacht mit einer der Palmen der Lagune verbindet, an Land geklettert und mir gefolgt und hat mir bewiesen, daß er mir Mukki-Fennek ersetzen will.
Ich bin frohgestimmt. – Men Huleb wird mir vielleicht ein ebenso selbstloser treuer Freund werden wie das Wüstenfüchslein, der Fennek.
Und – da fällt mir die Hülse an seinem Halse ein …
Merkwürdig, daß er sie nicht abriß – noch merkwürdiger, daß ich sie nicht bemerkt habe – all die langen Tage nicht!
»Hallo, Men Huleb!!«
Ich schüttele ihn – er grunzt behaglich, er blinzelt mich träge an …
»Men Huleb, ich möchte die Hülse sehen …«
Er hat nichts dagegen, ich löse sie ihm vom Halse – in der dicken Mähne konnte ich das winzige Ding sehr leicht übersehen. Es ist kaum drei Zentimeter lang, hat eine Öse, in die Öse ist die Haarschnur eingebunden.
Silber – wahrscheinlich ein Behälter für einen Schraubbleistift – denke ich mir – und ziehe den Deckel der Hülse ab – es gibt einen ganz schwachen Knall, und ich sehe in dem Unterteil des Büchschens eine enge winzige Rolle jenes festen Seidenpapiers, das die Chinesen so prächtig herzustellen wissen.
Das Papier entrollt sich zwischen meinen Fingern, und ein einziger Blick auf die Zeichnung in schwarzer unverwaschbarer Tusche läßt sofort Malmotta erkennen.
Seltsam!!
Es ist genau dieselbe primitive Zeichnung, die ich selbst schon einmal für mich herstellte auf einem Blatt meines Tagebuches.
Seltsamer noch: dieser Zeichner hat die Korallenriffe vor der Nordbucht besonders sorgfältig mit verewigt. Weshalb wohl?!
… Ich beuge mich tiefer über das Seidenpapier, und was ich erblicke, ist … nur immer dasselbe …
Ich drehe das hauchdünne Papier empor und halte es gegen das Licht …
Am seltsamsten: das Bild verändert sich in der Wärmeausstrahlung der Karbidlampe, dort, wo nur Riffe waren, erscheinen Worte, Striche.
Ich lese mühsam, denn die Schrift ist winzig:
Dreißig Meter
Zwanzig Meter
Neun Meter
Deckel
John Petersen
Der Name trifft mich wie ein Hieb:
Petersen!!
Das war Janes Vater – er starb durch Käpten Bolks Kugel fern in den Steppengebieten Südabessiniens …
Sollte etwa?!
Sollte …?!
Ich sinne, grüble … grüble …
Sollte Petersen, der ja mit Bolk diese Insel vor mehr denn zwanzig Jahren bewohnte, hier noch eine besondere Entdeckung gemacht haben, die er verheimlichte?!
Sollte Petersen, der doch in der Hafenstadt Batimar am Roten Meer als halber Strolch hauste und sich wohl auch als Tierfänger versuchte, Men Huleb an der nahen abessinischen Grenze im Holzkäfig gefangen haben?! – Ich entsinne mich dunkel, daß damals in Batimar eine Fangexpedition weilte, die den Tieren der Wildnis mit Schlingen und Kamera nachstellte. Schon möglich, daß Petersen für diese Amerikaner arbeitete … Schon möglich, daß Petersen das junge Tier behielt und daß Malcolm Rizzard es nachher stahl – der Hülse wegen!
Ich weiß, ich werde die volle Wahrheit nie erfahren, ich werde mich mit Vermutungen zufrieden geben müssen …
Meine Hand und der Zettel werden immer wärmer. Es ist so einfach: Petersen hat die Worte und Striche mit einer Geheimtinte eingetragen, und – – für wen das?! Für sich selbst?! Wollte er die Maße nicht vergessen? Dreißig, zwanzig, neun Meter?! Was soll das?! Und was bedeutet »Deckel«?!
Deckel?!
… Mir schmerzen die Augen schon …
Die Schrift ist so winzig …
Und … dann begreife ich! Die Riffe draußen, in den Korallenfelsen steckt das Geheimnis!
»Hallo, Men Huleb – mitkommen! Wir nehmen das Boot … Wir rudern im Flimmerglanz der Sterne hinaus zur Lagune!«
Der Pavian trottet hinter mir her. In seinem Gang liegt verhaltene Kraft. Er geht – wie ein Boxer … oder wie ein Elefant – denn ein Elefant geht federnd, und wer das »plump« nennt, irrt sehr!
Wir werden John Petersens, meines toten Schwiegervaters, allerletztes Geheimnis enthüllen! Ich glaubte immer, Malmotta hätte außer den beiden Schiffswracken und den drei Gräbern nichts mehr, was mich locken könnte …
Ein Irrtum!
Die Nacht ist lau … Der Nordostmonsun, stetiger Wind der Südsee, treibt die Wogen gegen jene Riffe … Aber es ist Zeit der Ebbe, und die Riffe liegen hoch und frei wie grauweiße Mörtelruinen von mittelalterlichen Burgen …
Peter Larsen, Moses Jamestown und Krikatawu schlafen. Morgen werden sie das Haifischblut in ihren Adern und die Palolomahlzeit überstanden haben und wieder normale Menschen sein, denke ich …
Krikatawu gefällt mir am wenigsten. Dieser lahme Cook-Insulaner, ein betagter Bursche, hat etwas Lauerndes im Blick …
Menschenfresser waren die Cook-Leute mal. Morgen frißt er Büchsenfleisch.
So ist die Zeichnung:
<bild>
Malmotta besteht aus zwei Teilen, die ineinander übergehen. Die Südhälfte ist eine richtige Laguneninsel, ein Atoll aus Korallen, mit Palmen und Büschen bedeckt, die Lagune hat sehr verschiedene Tiefe, dort, wo (7) die Jacht ankert, ist die Lagune zwanzig Meter tief, nach Osten zu wird sie immer flacher. – Die Nordhälfte ist dunkles, verwittertes Gestein, nicht Korallen – 1, 2, 3 sind die drei Gräber, 2 das meiner Jane und meines Fennek – 4 ist das verrostete Wrack des Dampfers Malmotta, der Käpten Bolk gehörte, 5 das uralte Wrack aus den Zeiten der spanischen Raubzüge in Südamerika, 6 die beiden Hälften des Schoners »Astarte«, den Jane und ich auf Malmotta wiederfanden … – Das + in der Reihe der mittleren Rifflinie ist der Platz, den ich in jener Nacht fand, ist – – der Deckel.
Es sind über alledem wieder Tage dahingegangen, und wieder sitze ich in der Grotte an der Westseite des Berges und schreibe … schreibe Erinnerungen …
Keine schönen …
Men Huleb hat es sich angewöhnt, links neben der Lampe, auch auf dem Tische, zu schlafen – er liegt da wie ein schlafendes Bübchen mit riesigem Pelzkragen, den Kopf auf dem linken Oberarm, die Hinterbeine an den Leib gezogen, und wenn ich einmal mit der Zigarre unvorsichtig umgehe, niest er laut und grunzt ärgerlich und schläft weiter.
Es hat sich sehr vieles auf der Insel verändert.
Links liegt Men Huleb, rechts liegen zwei Pistolen, daneben lehnt die Winchesterbüchse, und der Eingang zur Grotte ist verrammelt und draußen lauern die Feinde.
Doch Feinde!
Auf meiner Insel – – Feinde, und ich ein Belagerter! Seit Tagen …
Sie lauern …
Sie schießen zuweilen. Ich auch. Nur mit dem Unterschied, daß ich treffe und daß dort draußen einige Hinkende lange an mich denken werden. Ich habe diesem Menschenfresser Krikatawu nie recht getraut, und das Geschehene bestätigte meine Vorahnung, daß der braune tätowierte Kerl ein Schuft sei.
Wie's wohl Peter Larsen ergehen mag?! Wenn dieses schnapsbenebelte Pack ihm auch nur ein Härchen gekrümmt hat, werde ich einen Meter höher zielen, und dann wird es Kopflöcher geben.
Warten wir ab. In dieser Nacht, wo es draußen regnet und von Südwest stürmt, will ich versuchen, ihn zu befreien, ihn und …
Aber eins nach dem andern.
Zunächst John Petersens »Deckel«.
… Damals ruderten wir, ich und Men Huleb, gemütlich aus der Lagune hinaus und waren nach zwanzig Minuten bei den Außenriffen vor der Nordbucht.
Die Striche in Johns Skizze besagten, daß der »Deckel« dreißig Meter nördlich der Nordwestecke der Bucht und zwanzig Meter westlich der Mittellinie der westlichen Riffe zu suchen sei. – Was die »neun Meter« sollten, verstand ich zunächst nicht.
Jedenfalls war das »Riff« ein ungewöhnlich umfangreicher Korallenfelsen, mindestens zehn Meter hoch bei Ebbe, doppelt so lang und breit, eine winzige Insel fast, sogar mit ein paar Büschen und einem Palmenstumpf.
Ich befestigte das Boot an der Südseite – die Brandung tobte vor mir an der Außenreihe –, hier war stilles Wasser, und da ein Korallenriff unglaublich viel Zacken besitzt, erklomm ich unschwer den Kalkfelsen. Men Huleb war längst oben.
Die Oberseite zeigte tiefe Spalten, nur nach Norden zu gab es eine flache, wagerechte Fläche, und dort hatten sich die Büsche eingenistet.
Was sollten die »neun Meter«?! – Neun?! Ich besah mir das Riff genauer und vergegenwärtigte mir die Striche …
Ich begriff! – Neun Meter vom südlichsten Punkte – ja, es stimmte schon –, ich befühlte den Boden … er … wackelte.
Das war … der Deckel – ein genau eingepaßtes Stück Korallenkalk, eine Falltür, die ich dann leicht emporhob.
Ich leuchtete in das Loch hinein …
Eine eiserne Leiter stand da in einem Schacht, der sich nach unten verbreiterte.
Die Leiter hatte eine dicke Rostschicht – kein Wunder, Malmotta hatte ja zwanzig Jahre in den Tiefen des Ozeans geschlummert, bis ein Erdbeben sie wieder emporsteigen ließ – kein Erdbeben, ein Seebeben, eine Veränderung der Bodengestaltung des Ozeans – nichts Außergewöhnliches, wenn man davon absieht, daß Malmotta zwanzig Jahre als Dornröschen unter dem Pazifik schlummert und dann wieder emporsteigt – um nach einigen Jahren abermals zu versinken.
Ich prüfte die Leiter … Sie hielt. Ich stieg hinab … Men Huleb grunzte warnend.
»Feigling!«
Er kam bedächtig hinterdrein, sehr bedächtig.
Als die Leiter zu Ende, stand ich auf einem Kalkboden, und vor mir liefen grob ausgehauene Stufen in die Finsternis hinab.
Seltsam! – Eine Höhle?! Sie mußte doch voller Wasser sein!
Sie war trocken.
Vorsichtig stieg ich weiter abwärts. Ich traute dem Frieden nicht recht … Malmotta und auch die Riffe hatten zwei Jahrzehnte im Verborgenen geschlummert. Die Wogen waren über die Stelle hinweggerollt, wo die Insel unter der Meeresoberfläche ausruhte von ihrem kurzen Gastspiel an der Sonne. Alles auf Malmotta hatte den Druck ungeheurer Wassermengen gespürt – Palmen, Büsche, Sträucher, Gräser wurden dort unten von Tiefseefischen angestaunt – als Jane und ich und Fennek die Insel emporsteigen sahen, als wir als erste wieder ihren nassen Boden betraten, krabbelte Getier der Tiefe verzweifelt über Steine und Geröll … und starb im grellen Sonnenglanz des heißen Tages.
Alles war überflutet gewesen, also auch diese Höhle hier, in die von Menschenhand die rohe Treppe eingemeißelt worden war – – wann, wann?!
Und wo waren die Wasser geblieben, die die Höhle bis an den Deckel gefüllt haben mußten, der doch niemals wasserdicht schloß?!
Abgelaufen die Wasser?!
Wohin?! Wie?! – Zur Zeit der Flut ragte dieses Riff kaum vier Meter empor, und die Eisenleiter allein war sechs Meter lang – ich stand hier bereits unter der Flutgrenze!!
Das war eine Frage, die mich, den früheren Ingenieur, besonders interessierte.
Verdunstet etwa?! Konnten derartige Wassermassen in kaum vier Wochen sich vollkommen verflüchtigen?! – Es war eine rein physikalische Frage, und es mußte eine Lösung dafür geben …!
Ich stieg Stufe um Stufe abwärts.
Die rauhen Kalkwände trocken – keine Spur von Wasser –, aber an den Wänden überall die unverkennbaren Anzeichen einer jahrelangen Überschwemmung durch die Salzwasser des Ozeans: winzige Muscheln, Tiefseepflänzchen, getrockneter Schlick – auf den Stufen winzige verschrumpelte Fischlein …
Doch Wasser – aber – – verschwunden! Wohin?!
Wasser fließt nicht ab aus einem Höhlenbehälter, der selbst im Wasser ruht!
Ich schaltete diese bedeutsame Frage zunächst aus und wollte sehen, prüfen.
Men Huleb war zurückgeblieben … Ich wandte mich um, der Laternenschein traf sein Hundsgesicht – er grunzte entschieden mißbilligend. Man sollte sich auf den Instinkt der Tiere verlassen. Hier war nicht alles so, wie es sein sollte. Hier lauerte irgendeine Gefahr. Trotzdem mußte ich dieses seltsame Geheimnis, das John Petersen niemandem anvertraut hatte, ergründen.
Ich fühlte eins: je tiefer ich stieg, desto heißer schlug mir eine stickige Luft entgegen, die ganz wenig nach Schwefel roch. Ich betastete die Wände: sie waren warm, wärmer als meine Hand.
Dreißig Stufen – dann bog die Höhle nach links, nach Westen ab. Es war eine natürliche Grotte, zweifellos – die Korallentierchen hatten hier in ihrer emsigen Arbeit aus unbekannten Gründen ein fast senkrechtes Loch von drei, vier Meter Durchmesser freigelassen.
Vierzig Stufen … Ich zählte. Das waren etwa achtzehn Meter unter dem tiefsten Wasserstand bei Ebbe! Achtzehn Meter!!
Die Wände noch wärmer, fast heiß, und die Luft verdorben, gesättigt mit warnenden Dünsten der unterirdischen nie erlöschenden ewigen Feuer.
Mir rann der Schweiß über den ganzen Leib, und ich schwitze so leicht nicht, ich bin an die Äquatorsonne gewöhnt, und Malmotta liegt ganz nahe am Äquator, nördlich der einsamen Baker-Insel, vielleicht auf dem vierten Grad nördlicher Breite.
Ich zaudere.
Wenn ich hier ohnmächtig werde, wird niemand mich finden – – niemand!
Gedankenvoll beleuchte ich die Stufen, die finstere Tiefe – es geht noch immer weiter abwärts. – Umkehren?! Ich?! Hat denn das Leben noch Wert für mich?!
… Ein flüchtiger Gedanke an Jane …
Und ein Lächeln verzerrt den Mund …
Weiter … weiter also!
Plötzlich stockt der erhobene Fuß … Ich bücke mich …
Meine Fingerspitzen sammeln braune Krümchen.
Tabak … Pfeifentabak, Grobschnitt.
Merkwürdig – – Tabak?! Hier?!
Ich führe die Krümchen an die Nase … Und ich rieche den Tabak, er ist frisch, er hat nicht etwa das Versinken Malmottas vor zwanzig Jahren mitgemacht, er ist frisch, ein Mensch hat ihn hier verloren, der vor kurzem hier seine Pfeife stopfte.
Wer?!
Ist doch einer der Meuterer lebend entkommen und hat sich hier verborgen gehalten?!
Ich bücke mich nochmals, um nach Fußspuren zu suchen. Gerade hier sind die Stufen mit einer Schlickkruste bedeckt. Und daß ich mich bückte, rettete mir das Leben …
Unter mir ein Schuß – noch einer – noch einer … Ich sehe das Aufblitzen des Mündungsfeuers, ich werfe mich nieder, kauere mich hinter einen Vorsprung der Wand …
Da fliegt von oben ein Schatten an mir vorüber – wie ein kleiner Teufel saust der kreischende Men Huleb auf den unsichtbaren Feind zu …
Noch ein Schuß …
Ein Schrei aus menschlicher Kehle – ein dumpfer Krach … und ich stürme hinab, finde Men Huleb halb besinnungslos auf dem hier flachen Boden mit blutender Stirn … Meine Laterne zeigt mir drüben eine aufwärtsführende Treppe – doch ich halte mich hier nicht auf, ich nehme den Pavian in den Arm, eile denselben Weg zurück, denn hier … ist die Hölle … Die Wände glühen fast, aus Ritzen steigen feine Qualmfäden hoch.
Nur fort von hier in andere Luft! Nach oben – auf das Riff … Hier erstickt man …
Die physikalische Frage ist jedenfalls gelöst, das Wasser ist verdunstet!!
So lange ich am Fuße der Leiter an …
Freund Huleb hat sich bereits wieder erholt, strampelt in meinem Arm, ich setze ihn nieder, er klettert hurtig die Sprossen voran, grunzt wütend vor Schmerzen …
Wir sind im Freien – oben auf dem Riff, atmen tief, japsen, und meine Augen wandern dankbar zu den Sternen empor … wandern gen Norden, wo zwischen der dreifachen Riffreihe die breite Öffnung den Wogen des Ozeans und einer starken Strömung Zutritt gewährt.
Diese Augen weiten sich …
Ich erstarre vor Schreck – vor dem Unheimlichen, das da wie ein Riesenwal sich näherschiebt, nähertaumelt, keine vier Meter entfernt ist.
Ein gekentertes Wrack … Der Bug über dem Wasser, das Heck ganz tiefliegend … Und der Bug schrammt schon über die Korallenklippe hin.
Ich reiße Men Huleb in den Schacht hinab – wir stehen auf der Leiter – – wenn wir nicht zerquetscht werden wollten, war dies die einzige Rettung.
Knisternd, krachend schiebt sich das Wrack über das Riff – immer weiter – Stücke des Felsens brechen ab – dann liegt das gekenterte Schiff festgekeilt über mir – und meine Laterne beleuchtet gerade eine offene Ladeluke …
Über den Lukenrand hinaus ragt ein Kopf mit zottigem Haar, ein braunes Gesicht grinst mich an und verschwindet …
Ein zweites Gesicht erscheint, ein blasses Frauenantlitz …
»Wer sind Sie, mein Herr?«
»Ein … Robinson … Und Sie?«
»Helga Larsen, die Frau des Kapitäns Larsen, und …«
»Das Schiff?!« schrie ich heiser.
»Ist der Dampfer ›Hardanger‹ …«
– Ich schließe die Augen …
Ich fühle wieder einmal die Faust des Schicksals …: Das gekenterte Wrack hat den Weg zurückgefunden zu seinem Herrn und Besitzer!
In solchen Momenten, wo man das unfaßbare, unbegreifliche Walten der Vorsehung spürt, ist man vor sich selbst wie ein winziges, nichtiges Tröpflein des großen Ozeans – ein Nichts!
»Ihr Mann lebt!« rufe ich empor. »Er ist hier, auf Malmotta!«
Eine Hand erscheint – eine braune Kralle –, die Faust eines Mannes fährt der Frau ins Genick, zieht sie weg, und eine andere Hand hält ein dunkles Etwas …
Ein Blitz zuckt auf … Eine Kugel klatscht in das Korallengestein, und Men Huleb und ich eilen die Leiter hinab, verfolgt von Schüssen …
Von dem Augenblick an bin ich ein Belagerter.
Braune Teufel hausen auf Malmotta …
Aber ich will der Reihe nach das Weitere schildern.
… Ich bin Schwede von Geburt, aber ich hatte eine deutsche Mutter, und ich studierte vier Semester in Charlottenburg an der Technischen Hochschule: Tiefbau, nebenbei Chemie und Maschinenbaufach. – Da war ein alter Geheimrat und Professor, es ist lange her, und er starb durch einen Unfall – den nannten wir immer den Koralleneiferer.
Er las über Schiffbau, aber sein Steckenpferd waren die Korallen. In jeder Vorlesung kam er irgendwie dazu, dieses Steckenpferd zu reiten, und da ich häufig bei ihm als Hörer nassauerte, verdanke ich ihm eine ziemlich gründliche Kenntnis der Arbeiten, Arten und Lebensbedingungen dieser winzigen Tierchen, die imstande sind, ganze Inseln hervorzuzaubern.
Korallenpolypen, sagt man richtiger. Es sind schlauchförmige Tierchen mit nur einer Öffnung, die als Mund, After und Geschlechtsorgan dient – Millionen von ihnen sind untereinander fest verwachsen, bilden einen Einheitsstaat, in dem jedes Einzeltier mit zur Ernährung des Ganzen beiträgt. Die Tierchen haben entweder reine Kalkskelette oder solche aus einer hornigen, aber auch mit Kalk umgebenen Masse. Die absterbenden Geschlechter bilden durch ihre Skelette die vielgenannten Korallen, bilden phantastische Bäume, Felsen, Inseln – mithin sind Korallenfelsen nichts als Tierskelette, freilich in Billionen, Trillionen miteinander fest verklebt, verkittet: Kalkgestein!!
Ein Naturwunder, wohl wert, darüber nachzudenken und zu staunen und zu fühlen, daß die Schöpfungsgeschichte dieser Koralleninseln Ehrfurcht erweckt vor der Allgewalt so winziger, primitiver Lebewesen.
Es gibt nicht weniger als dreitausend verschiedene Arten von Korallen – alle leben nur in warmen Meeren, der Salzgehalt der Ozeane ist ihnen ebenso Lebensbedingung wie die Wärme des Wassers. Unter diesen unzähligen Arten gibt es wahrhaft künstlerische Gebilde. Man betrachte nur einmal die sogenannte »Seefeder«, die eine graziöse Feinheit der Konstruktion besitzt wie keine Flaumfeder eines jungen Vögleins – man findet Arten, die riesigen Kelchen gleichen oder stacheligen Igeln oder wunderhübschen Moosen und Farnen. Die Orgelkoralle wieder besteht aus glatten Röhren, aus denen zierliche Sternblümchen hervorquellen – und alle diese so grundverschiedenen Exemplare findet man im Roten Meer, im Persischen Golf und der Südsee besonders als noch lebende Riffkorallen bei Ebbe wie bunte Teppiche vor.
Es erscheint fast märchenhaft, daß die Korallentierchen imstande sind, ganze Inseln hervorzuzaubern. Der Vorgang ist einfacher, als man denkt. In größeren Tiefen als 90 Meter beginnt kein Korallenstaat seine Bauten. Sie bauen sehr schnell. In zwei Jahren wächst der »Staat« etwa um einen Meter. Darwin erwähnt ein im Persischen Meerbusen versunkenes Schiff, das bereits nach 20 Monaten mit einer Korallenkruste von 60 Zentimeter Dicke umgeben war. Diese einzelnen emporstrebenden Korallengefüge vereinen sich, wachsen weiter, die Zwischenräume werden durch Sand, Muscheln, Fischüberreste, Pflanzenteile ausgefüllt, die in sich wieder verkalken. So entstehen Mauern, Riesenmauern, und gerade diese zeigen die Eigentümlichkeit, Kreisform anzunehmen: aus dem Staatengebilde wird eine Ringinsel, ein Atoll, sobald die Billionen von Tierchen in der freien Luft über der Meeresoberfläche absterben. Verwitterung schafft fruchtbaren Boden, Vögel und Strömungen tragen Samenkeime herbei: die Koralleninsel grünt und blüht, Palmen ragen empor, und wer einmal solch eine Koralleninsel sieht, wird es kaum begreifen wollen, daß winzige Tierchen sie schufen. – Eins sei noch erwähnt. Die bekannte Torres-Straße zwischen Kap York (Nordaustralien) und Neuguinea befuhr der Spanier Torres 1606 zum ersten Male und legte ziemlich genaue Karten von ihr an, die noch vorhanden sind. Diese Karten zeigen, welch ungeheure Strecken Neuland seit 1606 von den Korallen geschaffen wurden: die Meeresstraße ist heute nur noch halb so breit!
Daß bei dieser Bauweise der Korallen sehr leicht unausgefüllte Hohlräume entstehen können, die gegen das Wasser dicht und dick abgeschlossen sind, ist mithin nicht weiter erstaunlich. Ich behaupte, daß jede Koralleninsel, jedes größere Korallenriff derartige Grotten enthalten müssen. Es liegt in der Natur der Sache.
Wunderbar war hier bei dieser Höhle lediglich das eine: ihre schlauchartige, zum Teil gewundene Form und ihre Ausdehnung.
Nach dieser Abschweifung will ich zu mir, Men Huleb und den frechen Schützen zurückkehren, die mich in die Flucht trieben, die mir durch diesen erneuten Hagel von Kugeln die letzten Spuren jener Schlaffheit aus Geist und Körper fegten, der ich in nachtwandlerischem Versinken in das Übermaß meines Leides in meiner Mannheit zum Opfer gefallen war.
Hätte ich jetzt eine Pistole bei mir gehabt, würden die Kerle dort im Laderaum des gekenterten Dampfers sich eine Verlustliste zulegen können. Meine Stimmung war ganz dazu angetan, ein längeres Duell bei Laternenschein durchzufechten. Mich hatten schon die bübischen Schüsse vorhin in den tieferen Teilen der Höhle unangenehm überrascht – aber dieser Empfang durch das braune Gesindel, das da in dem eisernen Walfisch steckte und das doch ihren Götzen danken sollte, der Katastrophe mit dem nackten Leben entronnen zu sein, stellte mich vor eine neue schwer lösbare Frage: Wie kamen die Insulaner, die auf dem »Hardanger« nach Aussage Peter Larsens unterwegs nach Honolulu gewesen, nur dazu, ausgerechnet einen Fremden auf einer fremden Insel sofort unter Feuer zu nehmen?!
Ich hatte die Laterne abgeblendet, und die Schüsse verstummten. Ich machte am Fuße der Leiter halt und überlegte. Ich mußte damit rechnen, daß mir diese Horde zusammengewürfelter Südseekulis folgen würde. Das durfte nicht sein. Ich mußte mir den Rücken decken, denn ich hatte auch vor mir einen Feind oder mehrere – wußte ich, wie viele es waren?!
In solchen Augenblicken gibt es kein langes Zaudern. Ich kletterte wieder im Dunkeln empor. Draußen war es Nacht, wenn auch nicht finster. Das ausgestirnte Firmament und die Mondsichel schufen jenes träumerische Zwielicht, in dem der unbeschreibliche Zauber solch tropischer Nächte unter Palmen und bei Brandungskonzert unauslöschliches Erlebnis wird. Ich sah über mir diese verschwommene Helle in breiten Streifen rechts und links von dem Bug des Wracks, das sich mit dem Deck bis zur ersten Ladeluke wie ein Dach über das große Riff geschoben hatte. Zwischen Oberfläche des Riffs und Schiffsdeck klaffte eine Spalte von vielleicht zwei Meter. Das war gerade genügend, vielleicht im steilen Sprung einen herabhängenden Arm zu erreichen – und hielt dieser Arm in der schmierigen Pfote eine Pistole, so hatte ich gewonnenes Spiel.
Ich schlich aufwärts, Stufe um Stufe – nein, Sprosse um Sprosse –, der Rostbelag des Eisens knirschte, zerblätterte, fiel herab, aber der brausende Gesang des Pazifik übertönte auch diese geringen Geräusche.
Wenn es den Schuften einfiel, einmal hinabzuleuchten in den Schlund, dann – ja dann würde ich wohl kaum irgendwelche Sorge um die Zukunft haben …
Auch damit rechnete ich. Ein Vabanquespiel eben – nicht das erste …
Sie leuchteten nicht hinab … Ich hörte jedoch das emsige Schnattern gutturaler Kehlen, und je höher ich kam, desto deutlicher wurde der Chor der Whiskybrüder. Sie schienen sich gründlich Mut angetrunken zu haben – das Stimmengewirr erinnerte mich nur zu sehr an König Missilis Leibgarde und an das schnapsfeuchte Fest hier auf Malmotta zu Ehren des guten Sonnengottes.
Schwarz und finster lag der Schatten des Wracks auf dem hellen Kalkfelsen, schwarz gähnte über mir die Ladeluke …
Es mußte ein seltsames Leben sein in solch einem Schiff, das gekentert durch die Wogen treibt und das nur schwimmt, weil die eisernen Schotten, die Zwischenwände, wasser- und luftdicht schließen. Alle Dinge verkehrt – was bis dahin oben, nunmehr unten, was bis dahin Deck, nunmehr Schiffsboden.
Und dann schnellte ich empor …
Es stimmte schon … Zwei Kerle hatten die Pfoten mit klobigen unmodernen Repetierpistolen über den Lukenrand gehalten, und ich bekam sie beide, fiel zurück, rutschte die Leiter abwärts, hörte Men Hulebs wütendes Grunzen, als ich ihn mit in die Tiefe riß – Schüsse bellten, Kugeln zischten, Kalk spritzte, aber droben plötzlich auch ein Heulen, Jammern – ein Menschenleib kollert herab, kracht neben mir zusammen – – und es wird still …
Jetzt weiß ich: die wagen vorläufig nichts, die werden ihre Schädel nicht mehr bloßstellen – und ich steige über die Kalktreppen in die Region der Hitze und Schwefeldünste und suche den Weg, den der Bursche nahm, der meinem Pavian den Pistolenkolben auf den Kopf hämmerte.
Die Höhle läuft wagerecht weiter. Hier stand der Kerl und feuerte, hier liegen Men Hulebs Blutstropfen – ich beeile mich, denn diese Luft hier treibt den Angstschweiß auf die Stirn.
Die Grotte steigt in jäher Krümmung nach Süden an – Stufen fehlen hier, die Steigung ist gering, ich sehe unter mir, um mich nichts als nacktes starres echtes Felsgestein, ich bin also bereits dort, wo einst vor vielleicht Jahrtausenden die ersten Korallentierchen sich an das Urgestein hefteten und mit ihrer Arbeit begannen, ich bin im Nordteil der Insel, und nach wenigen Minuten stehe ich etwas atemlos vor einer Steinplatte, die wie ein Brett an die Hinterwand des Grottenendes gelehnt ist. Zwischen ihr und der Wand ist gerade noch Platz genug zum Durchkriechen – – ich krieche, leuchte, und ich sehe mich zu meinem Erstaunen in einer breiten schrägen Spalte der Deckenwölbung der Wohngrotte auf der Westseite des Berges, ich sehe den Tisch mit der Lampe, das breite Lager, sehe all die Kleinigkeiten, die mir lieb und vertraut …
Und springe hinab … Men Huleb folgt – wir sind daheim – was wir so daheim nennen können.
Wir sind nicht in Sicherheit. Das weiß ich. Es besteht ein Zusammenhang zwischen dem ersten Schützen und den Kerlen im Wrack. Möglich, daß die braune Bande vorher ein paar Leute gelandet hatte – möglich …
Ich denke nicht weiter darüber nach. Ich muß zur Jacht, zur Lagune … Ich muß Larsen, den grauen Wollkopf Moses Jamestown und den Cook-Mann Krikatawu wecken und warnen …
Vor der Grotte springt eine Terrasse als Balkon weit vor, überdacht von Gestein – hier haben Jane und ich und Fennek an köstlichen Abenden gelegen und geträumt und Liebe und Glück genossen …
Kaum trete ich ins Freie, kaum trifft mich das Zwielicht der Tropennacht, als eine bleierne Wespe haarscharf an meinem Ohr vorübersummt …
Ich werfe mich lang hin …
Dort der Palmenstumpf drüben …
Ein Schatten gleitet herab, meine Pistole spuckt, aber die Pistole ist elender verrosteter Dreck, und der Schatten entkommt.
Also so steht's! – Nun gut – verbarrikadieren wir uns … Die Nacht ist nun mal keines Menschen Freund, und mein Leben leichtfertig in die Schanze zu schlagen – nein, dazu ist die Gesamtlage doch zu ungeklärt.
Steine, Felsstücke, Palmenstümpfe – – Men Huleb hilft in raschem Begreifen, und als eine Stunde dahin, sind wir von dieser Seite sicher. Und die andere, die Schlauchhöhle – da werden ein paar flache Steine ebenfalls genügen …
Als der Morgen jäh heraufzieht, bin ich ein Belagerter. Ich kann durch die Spalten der Barrikaden drüben zwischen den vielen keimenden Sträuchern und Felsbrocken die schleichenden nackten Burschen zuweilen sehen, ich sehe, daß sie Büchsen haben, daß sie feuern – Kugeln klatschen – – Patronenverschwendung!
Und als die Sonne emporgestiegen ist, erscheint zu meiner ungeheuren Überraschung der schwarze Halunke Moses Jamestown mit einer Art Parlamentärflagge, winkt mit dem Lappen, brüllt irgend etwas …
Da geht mir ein Licht auf.
»Komm näher, alter Lump!!«
Herr Moses Jamestown im neuen blauen Heizeranzug wagt sich heran und steht auf der Terrasse – zehn Schritt vor der Barrikade, aber in sicherer Deckung …
»Näher, Feigling! – Was habt ihr mit Larsen getan?«
Sein Wulstmaul verzieht sich.
»Er lebt …«
»Und du wirst sterben, wenn ihr ihn schlecht behandelt, merk dir das!«
Er grinst stärker.
»Mr. Abelsen, wir sind nun hier vierzig Leute – vierzig, Mr. Abelsen –, aber wir bekommen die Turbinen der Jacht nicht in Gang …«
»Zum Glück, Halunke!!« Ich bin bei Laune. »Zum Glück, sage ich … Verstehst du mich! Die Jacht bleibt, wo sie ist.«
Sein altes Niggergesicht wird ernst.
»Mr. Abelsen, wir haben Larsen, Frau Larsen, die Kinder, Larsens Schwester und die andere weiße Miß …«
Ich horche auf …
Larsen erwähnte nur Weib und Kinder und Schwester … Freilich, er war noch halb tot, halb wirr … Er mag die andere vergessen haben.
»… Und in der Lagune sind Haie, Mr. Abelsen, und wir geben Ihnen drei Stunden Bedenkzeit … Wir müssen die Jacht haben …!«
Der Kerl macht ein Mördergesicht und verschwindet …
Drei Stunden …
Waffenruhe …
In der Lagune sind Haie. Das stimmt. Man kann dort nur an der Ostseite im ganz flachen Wasser baden, wie wir es taten: Jane, Fennek und ich …
Nach drei Stunden erscheint Herr Jamestown abermals mit der weißen Friedensflagge – jetzt aber wie ein Pfau herausgeputzt mit eines Schiffsoffiziers Tressenjacke und feinem Korkhelm und braunen Stiefeln und Pistolengurt – und weißem Kragen und schwarzer Schleife.
… Noch frecher als vorher … Hinter sich her zieht er ein blondes Mädelchen, das bitterlich weint, ein Kind, Larsens Jüngste, die Inge …
Als Kugelschild schiebt er sie vor sich …
»Mr. Abelsen, die Zeit ist um …«
»Scher dich zum Teufel – komm morgen wieder …!«
Er sollte ahnen, der Schuft …
Er ahnt nichts …
Er grinst nur …
»Du wirst verhungern und verdursten«, meint er unverschämt. »Wir haben Zeit … Wir sind vierzig …«
Und da stoße ich den Palmenstumpf beiseite – ein Satz – – ein Hieb – das Kind ist mein, und ich bin wieder hinter der Barrikade.
Kugeln kommen, Blei zerspritzt – das weinende Mädelchen schmiegt sich an meine Brust und schluchzt jämmerlich.
Ich suche Inge zu beruhigen – aber erst Men Hulebs Auftauchen hemmt den Tränenstrom.
»Ein … Affe, Onkel?!«
Noch nie, noch nie hat ein Kind mich so genannt.
Onkel …
Oder doch?! – Ich schaue zurück auf die bunten Seiten des Buches meiner Erinnerungen. Sie sind bunt, sie sind angefüllt mit seltsamen Landschaftsbildern, mit seltsamen Menschen – sie sind Blätter, die abseits vom Alltag der Wind des Schicksals zusammenwehte.
Onkel!
Es klingt süß und lind von reinen Kinderlippen – es packt ans Herz, und es macht froh und selig.
Wie muß erst das Wort »Vater« klingen …
Das habe ich bestimmt nie gehört, nie … Ich hätte es hören können, wenn Jane am Leben geblieben wäre, wenn nicht jene Nacht gewesen wäre, in der Jane aus der sicheren Kajüte an Deck geeilt war, um mit ihrem Leib den meinen zu decken …
Es sollte nicht sein …
Und jetzt: Onkel!
… Des Kindes blaue Sterne, noch tränenfeucht, hängen an Men Hulebs gravitätisch schreitender Gestalt …
»Ein Affe!!« Und das Mädelchen lächelt.
»Da – er kratzt sich … Onkel – er hat Flöhe – unser Hündchen hatte auch Flöhe … Es ertrank damals, Onkel …«
Men Huleb kommt heran, reckt die schwarze Hand empor und zupft das Kind am Kleidchen …
Sie lacht …
»Beißt er, Onkel?!«
»Nein, er beißt nicht …« – Mir ist das Weinen nahe … Inge Larsen hat Janes blondes Goldhaar, und auch der Mund ist derselbe … ein Mund wie ein frisches pochendes rotes Herzchen …
So schlossen wir Freundschaft …
Und jetzt, wo ich dies schreibe, ruht dort rechts auf dem Bett die blonde Inge und schlummert. Sie weiß nicht, daß draußen der Weststurm wütet und die Wellenberge gegen die Insel wirft und daß der Regen die Finsternis noch verstärkt … Sie schläft den tiefen friedvollen Schlaf der reinen Seelen – sie liebt mich und Men Huleb, und wenn sie sich einmal im Traume bewegt, fährt meines Pavians Kopf sofort empor, und Men Huleb schaut nach ihr hin und schnuppert mißtrauisch.
Drei Tage werden wir belagert …
Drei Tage hat die Bande draußen immer wieder versucht, mich irgendwie mürbe zu machen.
Ich schaue auf meine Armbanduhr. Es wird Zeit … Ich muß diese Nacht benutzen – die Gelegenheit kehrt sobald nicht wieder … Ich weiß, sie lauern draußen in nächster Nähe … Sie haben sogar große Laternen in das Randgeröll der Terrasse gestellt, und ich lasse sie ruhig brennen, ich könnte sie durch Kugeln zerstören … Es wäre verkehrt. Mögen die Schufte nur glauben, daß ich es nicht wage, ihnen offen gegenüberzutreten … Ich wage es doch. Ich habe alles festgestellt, was mir von Nutzen – in dem Wrack des »Hardanger« haben sie jede Nacht nur drei Wachen, die den Höhlenausgang beobachten. – Was mich wundert: sie haben diesen Ausgang nicht durch Kalkfelsen verrammelt, und das wäre ihnen doch ein leichtes gewesen …
Überhaupt: Diese Höhle!! – Irgend etwas muß sie enthalten, das ich noch nicht kenne. Irgend etwas Dunkles schlummert noch in ihr …
Weshalb fertigte John Petersen die Zeichnung an?! Weshalb haben vor ihm irgendwelche Leute die Leiter dort angebracht und die Stufen in das Kalkgestein gehauen?!
Und noch mehr: ich bin jetzt so häufig dort unten gewesen, wo den Ritzen der feine Schwefeldunst entströmt, wo ich über den ewigen Feuern der Tiefe stehe, die eines Tages Malmotta wieder hinabziehen werden in die dunkelgrünen Schlünde des Ozeans … Ich habe die Wände abgeleuchtet, Zoll für Zoll, und was ich dort an eingemeißelten Inschriften entdeckte, muß aus früheren Jahrhunderten stammen, muß von den Händen spanischer Seeleute eingekerbt sein … Aber die Zeit und die Korallentierchen haben die Buchstaben verwischt – es gibt keine Möglichkeit, diese Inschriften zu entziffern, nur eins ist gewiß: zwischen dem uralten Schiffswrack, das da am Nordhang meines Berges wie ein vorsintflutliches Ungeheuer mit seinen Muschelkrusten und Tiefseepflanzenbärten ruht, und dieser Höhle existieren Zusammenhänge …
Käpten Bolk sprengte das Wrack, fand Edelsteine …
Es gäbe eine Lösung: Dieses uralte Schiff aus nie faulenden Balken spanischer Herkunft muß gerade diese Stelle passiert haben, als Malmotta sich wieder einmal unter rollendem Getöse der unterirdischen Gewalten langsam zur Sonne empordrängte … Und jene räuberischen Spanier, die einst die Inka-Völker mit Feuer rösteten, um ihnen das Geständnis der Verstecke ihrer Schätze zu erpressen, müssen hier auf Malmotta viele Jahre gehaust haben …
Hatte ihr Schiff nur Edelsteine geladen?! Waren die Diamanten der einzige Raub dieser habgierigen Menschenschinder gewesen?!
Niemals!
Die Inka-Völker in Peru besaßen Unmengen an Gold, goldenen Geräten und Tempelschätzen …
Ich vermute, und ich bin wahrlich nie ein Schatzsucher gewesen, daß dort in der Höhle vielleicht Reichtümer lagern …
Petersen wußte es.
Aber – ob dieser Niggergraukopf es auch weiß?!
Woher?!
Moses Jamestown ist der Anführer der Bande, und der hinkende Krikatawu mit seinen scheußlichen Tätowierungen in Hellblau und Rot ist sein Vertrauter.
… Men Huleb hebt den Kopf. Inge regt sich … gähnt …
»Onkel …« kommt ihr verschlafenes Stimmchen aus der Ecke …
»Ja, Kind …? Hast du Durst …?«
Das letzte Trinkwasser habe ich für Inge aufgespart.
»Nein, Onkel … Ich … habe … so schlecht geträumt …«
Men Huleb springt vom Tisch, hüpft auf Inges Bett und kauert sich neben ihrem Köpfchen zusammen …
Sie lacht leise … gähnt wieder. »Nun werde ich nicht mehr träumen, Onkel … Ich habe Men Huleb so gern …«
Und – sie schläft ein …
Ich habe einst einen Affen besessen, einen kleinen, überzärtlichen Kapuziner – – Men Huleb läßt sich mit Peter Maugli nicht vergleichen, das liegt schon in den Eigentümlichkeiten der einzelnen Affenarten. Ein Mantelpavian ist ein wilder Geselle, seine Stärke, sein Gebiß, der drohende, fast finstere Gesichtsausdruck – nein, ein sanftes Kapuzineräffchen ist vielleicht ein liebes Spielzeug, kann treuer Gefährte eines Einsamen sein – ein Helfer in Not, dazu vermochte sich Peter Maugli nie aufzuschwingen, das war ihm von der Natur nicht mitgegeben. – Men Huleb ist von anderem Schlage. Vielleicht sogar klüger, schlauer. Er hat sich unerwartet schnell mir und unseren Lebensbedingungen angepaßt, ich kann ihn als Wächter sehr gut benutzen. Wenn ich schlafe, ist auf ihn unbedingt Verlaß, kein verdächtiges Geräusch entgeht ihm – ich kann ihn sogar in die Höhle bis zur Eisenleiter schicken, und er wird dort ausharren, bis ich ihn zurückhole.
In dieser Nacht muß er die kleine Inge hüten. Ich habe ihm nur dreimal geduldig die Handhabung einer Pistole gezeigt, und er gewöhnte sich sofort an den lauten Knall, der hier in der Grotte doppelt und dreifach widerhallt. Er lernt begreifen, daß das Absplittern des Holzes des Palmenstumpfs in der Barrikade mit dem Knall zusammenhinge, er wußte nach acht Schüssen, die er unter meiner Aufsicht abgab, daß die schwarze Waffe, die den Blitz und Knall ausspie, mehr Wirkung hätte als ein geschleuderter Stein – und im Steinwerfen sind die Paviane Meister. Ich bin bei dieser Art Dressur ganz methodisch vorgegangen, und heute nachmittag, als die braunen Kerle mich schlafend glaubten, hat Men Huleb zum ersten Male mit seiner verhältnismäßig kleinen Hand ganz von selbst die Pistole sprechen lassen und wie toll unter die Angreifer gefeuert … Es mag dabei Tote gegeben haben – ich weiß es nicht, als ich erwachte und zur Barrikade stürmte, war die Terrasse leer, aber Men Huleb hockte vor der einen Schießscharte und ruckte noch immer mit dem Zeigefinger am Abzug und grunzte erbost, weil die Pistole nicht mehr knallte. – Das Magazin war leer.
Also Men Huleb bleibt bei Inge. Ich packe meine Schreiberei zusammen. Ich tue es mit dem unsicheren Gefühl, das jeden befällt, der vor großen Entscheidungen steht. Vielleicht werde ich nie wieder die mir so lieb gewordenen Blätter mit flüchtiger Hand berühren und die schwarzen Spuren der Tinte darauf zurücklassen … Diese schwarzen Spuren sind die Fährten, die ich auf den Wegen abseits des Alltages zurückließ … Vielleicht werde ich nie mehr diesen Fährten nachspüren und mir Geschehenes zurückrufen in farbigen Bildern … vielleicht …
Ich beuge mich über Inge …
Ein Kind – mein Schützling …
Ich winke Men Huleb und deute auf die eine Pistole auf dem Tische …
»Du bleibst hier, Men Huleb!!«
Seine braunen Augen starren mich fest an. Mit einem Satz ist er in meinem Arm, umschlingt mich …
Ich weiß nicht – – ob Affen Gedankenleser sind …
Und wieder sind Tage dahin …
Ich lebe noch.
Und alles, alles ist doch so anders geworden. Ich schreibe, aber ich bin nicht recht bei der Sache. Die Umgebung verwirrt mich, lenkt mich ab, und Isabell sitzt doch ganz still in dem tiefen Klubsessel und wendet so vorsichtig die Seiten ihres Buches um, damit sie mich ja nicht störe.
Isabell Garnier hat kastanienbraunes Haar und ein blasses, ganz schmales, fast überirdisches Gesicht mit brennendroten Lippen und noch brennenderen Augen, die man schwarz nennen könnte. Sie hat feine, zarte, lange Hände, und das Spiel dieser Hände ist wie das graziöse Flattern schöner Schmetterlinge um eine unsichtbare Blume.
Isabell Garnier lächelt nie. Ihr Antlitz ist erstarrt wie Eis, aber in ihren Augen glüht das Leid und … das Andere, das sie nie ausspricht.
Men Huleb liegt auf der Schreibtischecke – es ist ein Damenschreibtisch, aber groß und bequem. Diplomatenform, Janes Eigentum, steht in Janes kleiner Kajüte, die sie stets »Arbeitszimmer« nannte. – Men Huleb schläft nicht. Er hat die Augen halb geschlossen und beobachtet Isabell unausgesetzt. Zwischen den beiden herrscht … Feindschaft – nein, ich will ehrlich sein: Haß!! – Eigentlich vom ersten Moment ihrer Bekanntschaft an.
Tiere haben ihre unüberwindlichen Antipathien, und wenn ich mich hiernach richten wollte, müßte ich Isabell fürchten.
Nebenan im großen Salon sitzen die anderen: Peter Larsen, seine Frau, die Kinder und Larsens Schwester Grita, ein stilles, freundliches Mädchen – hier auf der Jacht so ein wenig das Aschenbrödel, das Mädchen für alles … Und oben an Deck tummeln sich die sechs Kanaken, die uns treu geblieben sind, die uns geholfen haben – einer steuert, zwei sind noch unten im Maschinenraum … also neun im ganzen … Neun Insulaner und wir: fünf erwachsene Europäer, zwei Kinder, ein Mantelpavian.
Mein linker Arm ruht in einer Schlinge. Er ist ein wenig lädiert. Jene Sturmnacht damals ging doch nicht ohne Blessur vorüber.
Unten stampfen, surren die Turbinen … Wir fahren nördlichen Kurs – gen Francislan, eine der Sporaden-Inseln, die winzigste … Isabells Vater gehört sie. Dort wollen wir Hilfe holen und dann Malmotta zurückerobern.
Hinter mir tickt eine Wanduhr … Vor mir steht Janes Bild … Es ist Nacht, und die See glatt und ruhig. Es ist eine jener Zaubernächte, in denen man dieses Meer lieben lernt. Die Fenster stehen offen, die Wellen plätschern, vom Deck her erschallen die sanften Gesänge der Insulaner …
Aber – Isabell, deren Sessel links neben mir steht … – Diese Isabell beunruhigt mich … Ich möchte einmal einen Blick hinter diese Stirn werfen können …
… Fort mit alledem! Ich will doch jene Sturmnacht zu Papier bringen, und ich muß meine Gedanken zusammenhalten, damit ich alles so wiedergebe, wie ich es später als lebendige Eindrücke einmal nachlesen möchte.
Von meiner Zigarre steigen dünne Rauchspiralen auf … Men Huleb schielt nach dem Aschbecher hin – nichts ist ihm verhaßter als Zigarrenrauch, vielleicht nur Isabell …
Vielleicht.
Die Rauchspiralen ballen sich zusammen, nehmen bestimmte Formen an, und ich sehe mich in jener Nacht durch die Höhle schleichen in meinem dunkelblauen Leinenanzug, in der Linken die halb abgeblendete Laterne, in der Rechten die Pistole, über dem Rücken die Winchesterbüchse …
Es war Mitternacht, als ich leise die Steinklötze in dem Leiterschacht entfernte, die durch ein Stück Palmenstamm abgestützt waren. Ich arbeitete mit äußerster Behutsamkeit, ich verursachte keinerlei Geräusch, ich arbeitete im Dunkeln … Ich verließ mich auf das Tastgefühl der Hände, ich kannte die Lage der Felsbrocken ganz genau, ich trug sie einzeln die Leiter hinab, bis der Weg nach oben frei war.
Mein Plan war einfach genug. In dem Wrack steckten drei Wachen … Sie hielten sich in der Nähe der offenen Luke auf – ich mußte sie stumm machen und dann zur Insel hinüberschwimmen.
Die finstere, vom Heulen des Orkans und vom Prasseln der Regengüsse erfüllte Nacht begünstigte mein Vorhaben. Ich verließ die Höhle – kaum hatte ich den Kopf über den Rand des Schachtes hinausgestreckt, als der Sturm mich anfauchte wie eine böse Katze …
Dann stand ich unter der Luke, sah in der Luke matten Lichtschein, hörte das Plappern der Wächter und das harte Aufschlagen eines Würfelbechers und das Rollen der Würfel auf eisernen Planken.
Die Kerle spielten um Geld …
Nach vier Minuten spielten sie nicht mehr. Ich hatte im Sprung den Lukenrand gepackt, ich lag mit dem Bauche in der Luke …
»Hände hoch!!«
Die braunen Burschen verstanden's …
Einer mußte die anderen binden – ihn selbst nahm ich mir dann vor.
»Wann werdet ihr abgelöst?«
Der arme Kerl war alles andere, nur kein Held. Wenigstens machte er zunächst diesen Eindruck auf mich. Er hielt mich zweifellos für so eine bessere Art Teufel. Er zitterte, und seine braune matte Haut hatte über den Wangen weißgraue Angstflecken. Seine Kameraden waren bedeutend frecher und verhehlten ihren versteckten Haß und ihre Wut durchaus nicht. Ihr unverschämtes Grinsen gefiel mir nicht. Flüchtig dachte ich daran, ob sich nicht etwa doch noch mehr Kanaken in dem Wrack befanden. Zur Sicherheit schob ich meine Laterne zur Seite und setzte mich halb hinter die zwei Kisten, die den famosen Wächtern als Schemel gedient hatten. Ich saß im Schatten, die drei waren hell beleuchtet.
»Wann werdet ihr abgelöst?« fragte ich nochmals.
Der bibbernde Bursche, im übrigen ein kräftiger, breitbrustiger Mann von vielleicht dreißig, fünfunddreißig Jahren, erwiderte in einem unglaublichen Kauderwelsch: »Nicht wissen, Herr … Ganz verschieden sein …«
Er log natürlich, und er log aus Furcht vor irgend etwas, das mir noch unbekannt.
Ich spähte in das Dunkel des weiten Laderaumes hinein. Die Laterne der drei Spieler hatte ich mit einem Sack bedeckt. Ich sah nichts Verdächtiges. Ich konnte mich auf die Winchesterbüchse verlassen, behielt den Finger am Abzug und beobachtete fortgesetzt die Umgebung. Es war eine ungemütliche Situation. Das scheußliche Gefühl, daß aus der Finsternis vor mir plötzlich ein Feuerstrahl aufspringen könnte und mit mir Schluß machen würde, wollte nicht weichen.
»Wie heißt du?« – Es war eine überflüssige Frage, aber ich mußte den Mann irgendwie für mich gewinnen.
»Nataupo, Herr … von den Gilbert-Inseln, Herr …«
Er blickte mich immer nur für Sekunden an und senkte dann wieder den Kopf und drehte ihn zur Seite, als ob er angestrengt horchte. – Auf das Gehör konnte man sich bei diesem Unwetter nicht verlassen. Wenn auch der Orkan nur die Nordwestseite der Insel mit voller Stärke traf und dort die wütendste Brandung tobte, hatte der Sturm dennoch auch hier zwischen den Riffen noch Kraft genug, seine gewaltigen Orgelpfeifen zu blasen. Der Wind stieß gegen den Korallenklotz, fuhr über den Gipfel hin und prallte in die Luke hinein mit unheimlichem Fauchen und Heulen. Das Wrack selbst scheuerte infolge des Winddrucks und infolge des unruhigen Wassers andauernd mit den Deckplanken auf dem Rande des Riffes, wo es fest auflag, noch eingekeilt zwischen benachbarten Korallenfelsen, und dieses ewige Knirschen und Scharren machte nervös.
Ich hatte Nataupo die Hände auf den Rücken gefesselt. Die beiden anderen lagen als wehrlose Bündel auf dem eisernen Deckunterbau. Der Dampfer ruhte ja gekentert auf dem Riff. Die hölzernen Deckplanken, die Oberschicht, berührten ja den Kalkfelsen.
Nataupos Gesichtszüge waren regelmäßig und angenehm. In seinem freilich etwas schmierigen Leinenanzug, mit der nackten Brust, den Muschelketten um den sehnigen Hals und den sanften dunklen Augen wirkte er recht sympathisch. Seine übergroße Angst, das erkannte ich sehr bald, galt nicht mir und meinen Schußwaffen.
Bevor ich ihn noch weiter ausfragen konnte, ereignete sich das, wofür ich erst weit später eine genügende Erklärung finden sollte.
Er wandte sich jäh herum, hatte die Beine blitzschnell angezogen und stieß mir ebenso blitzschnell mit den Füßen gegen die Brust, so daß ich für Sekunden zur Seite fiel – auch die Laterne kippte um – und dennoch feuerte ich fast gleichzeitig auf die dunkle flinke Gestalt, die hinter den Kisten und Säcken mit einemmale aufgetaucht war und ebenfalls mich mit Kugeln bedachte …
Ich vernahm einen leisen Aufschrei – dann hatte Nataupo sich vorwärtsgeschnellt, lag halb über mir und der Laterne – und ich sah einen Schatten wie ein Gespenst zur Luke hinausgleiten … auf das Riff springen – – mehr nicht.
Vielleicht hätte ein anderer, dem ein friedliches Leben hinter Schreibtisch oder Ladentisch oder sonstwo beschieden gewesen – ein Leben, das doch nur Vegetieren ist inmitten der Kleinlichkeiten eines abscheulichen Alltags, diese Angriffe Nataupos falsch eingeschätzt.
Es waren Angriffe auf mich – aber in der eindeutigen Absicht, mich vor den fremden Kugeln zu schützen. Sieben Schüsse hatte der flinke Schatten mir zugedacht, nicht eine Kugel traf – dann hatte der Schatten seine Munition verfeuert und floh.
Ich begriff Nataupos Taktik, ich war jedoch klug genug, das trügerische Spiel meinerseits fortzusetzen, behandelte ihn mit brutaler Roheit, fesselte ihn an eine Kiste, steckte ihm einen Lappen in den Mund und beehrte ihn mit Schmeicheleien und Drohungen, bei denen ein Strang mit einer Schlinge die Hauptrolle spielte.
Ich mußte mich beeilen. Es genügte, Nataupo zuzuflüstern, daß ich ihm später danken würde … Die beiden anderen sollten keinen Verdacht schöpfen.
Ich verrammelte dann den Zugang zur Höhle. Ich keilte Kalkfelsen und eine Kiste zwischen Eisenleiter und Wänden so fest, daß sie so leicht nicht zu entfernen waren – schleppte die beiden anderen Gefangenen in einen Bugverschlag und verriegelte die Tür.
»Nataupo, wie steht's auf der Jacht?« fragte ich leise und nahm ihm den Knebel ab.
Seine sanften Augen blitzten auf.
»Betrunken – jede Nacht, Herr … Eile, Herr!«
Nataupo und ich verstanden uns.
Draußen packte mich der Orkan – ich konnte zur Insel hinüberwaten, es war Ebbezeit – die Pistolen der drei hatte ich zu mir gesteckt …
Ich lief quer durch den Nordteil der Insel – dort, wo der Südteil an den felsigen Teil stößt, sah ich Zelte aus Segelleinen und gewahrte blassen Lichtschein, hörte das trunkene Geplärr der zuchtlosen Bande und rannte hinab zum Lagunenstrand.
Kein Boot …
Schwimmen?!
Und die Haie?!
Aber da war ja das Tau, das bis zu der riesigen Palme gespannt war …
Ich turnte hinüber … ich war mitten zwischen Jacht und Strand, hing drei Meter über der Lagune – – da gab die Trosse am Bug der Jacht nach, und ich stürzte ins Wasser …
Das war kein Zufall. Ich war beobachtet worden, jemand hatte die Trosse zerschnitten …
Es stimmte schon …
Neben mir, vor mir zischte es wie von glühenden Eisen, die man ins Wasser stieß …: Kugeln, Stahlmantelgeschosse …
Bei der Finsternis!!
Ich schwamm in langen Stößen weiter, ich biß die Zähne zusammen, ich spähte nur seitwärts, ob nicht die langen hellen Schatten der Haie auftauchen würden …
Die Lagune lag unter Wind. Der Weststrand von Malmotta ist gut acht Meter hoch, dort stehen auch die meisten Palmen. Ich kam schnell vorwärts. Die weiße Luxusjacht meiner toten Jane schimmerte wie ein weißer Fleck durch die Finsternis. Regen peitschte mir ins Gesicht – was tat's?! Ich mußte hinüber!!
Und gerade als ich die Linke zum noch herabgelassenen Fallreep hob und ein Stück Tau erwischte, wurde die Schiffstreppe hochgewunden … Undeutlich sah ich ein paar dunkle bewegliche Flecke an der hellen Reling … Mochte die Pistole naß sein – sie versagte nicht … Ich zielte, schoß …
Fünf Schüsse …
Gellende Schreie …
Ich die Treppe hinan …
Zwei Kerle vor mir: Moses Jamestown, ein Kanake … – vielleicht die letzten Gegner hier …
Jamestown fuhr meine Faust ins Gesicht – – der Kanake sank von selbst hintenüber – – niedergeschlagen von einem der Insulaner, die zu uns hielten …
Weiter dann?
… Alles ist verschwommen, verwischt in meiner Erinnerung …
Ich fand Larsen – gefesselt … Ich fand seine Frau, seine Schwester …
Von Land her belferte jetzt eine Unmenge Büchsen …
Wir hatten immer noch etliche dreißig gegen uns, eine rasch ernüchterte Garde von Teufeln, die wie toll um die Ringinsel zur südlichen Durchfahrt rannten, uns den Weg abzuschneiden.
Wir kamen in Fahrt … Die Ebbe segnete ich. Wäre es Flut gewesen, hätte der Ozean eine unheimliche gurgelnde Strömung in die Lagune geschickt …
Alles spielte sich ab wie rasende Bilder, die sich überdecken, unscharf werden …
Wir passierten den Kanal …
Die Schufte ließen mit ihren Kugeln kein Oberdeckfenster ganz … Larsen steuerte im Liegen.
Dann offenes Meer – Kurs gen Norden zu den Riffen, zum Wrack …
Zwei der Getreuen begleiteten mich … Wir holten das Kind, Men Huleb, die drei Gefangenen im Wrack …
Wir wurden erneut beschossen – die Kerle waren nicht dumm, sie hatten das Maschinengewehr der Jacht in Stellung gebracht und spuckten Kugelsaaten …
Bis uns die Finsternis verschluckte.
Da kamen wir zu Atem. Die Jacht lief gen Osten mit halber Kraft, wir wollten unter Wind der Insel bleiben, bei dem Orkan durften wir nicht ins weite Meer hinaus …
Gewitter tobten, Regenbäche rauschten – wir auf der Jacht waren wie die Tollhäusler – keine Sekunde Ruhe, überall mußten wir zupacken … und fanden schließlich auch im Vorschiff die arme Isabell Garnier …
Ich fand sie … Ich und Nataupo … Und Huleb … Eigentlich war es Huleb … Des Pavians feinere Sinne witterten das zarte Menschenfleisch in der engen verschlossenen Segelkammer … Er kratzte an der Tür … grunzte, kreischte …
Drinnen ein Stöhnen – ein Ruf:
»Hilfe …!!«
Nataupo zerschmetterte das Schloß, meiner Laterne grelle Lichtbahn traf die halbnackte, überschlanke Gestalt, die da brutal mit Stricken an die Bodenplanken gefesselt war …
Rasch warf ich meine Jacke über sie – Nataupo stand regungslos …
»Messer her!!« befahl ich …
Er zögerte …
Dann bückte er sich …
Isabell war frei – wir schlossen die Tür …
»Ich bringe Ihnen Kleider …«
Grita Larsen brachte ihr die Kleider, und ich sah Isabell Garnier mit versteinertem bleichem Gesicht in der großen Kajüte wieder – junge Dame, eisig-höflich, mit leeren Augen …
Was mochte in ihr vorgehen?! Ein Mädchen von neunzehn Jahren – und was mochten die Schurken ihr angetan haben?!
Sie zog sich sofort in eine Kabine zurück …
Larsen und ich standen bei Sonnenaufgang allein auf der Brücke. Die Sonne erschien, das Unwetter war vorüber, und Peter Larsen erzählte …
»Weshalb erwähnten Sie Grita und die beiden Garniers nicht schon früher?« hatte ich ihm vorgeworfen.
Zwei Garniers, zwei …: Hektor und Isabell, Kinder Pierre Garniers, des Idealisten, des Besitzers von Francislan im Sporaden-Archipel. – Hektor war auf Malmotta als Gefangener geblieben – vielleicht tot … Niemand wußte es …
»Weshalb?!« sagte Larsen achselzuckend. »Bedenken Sie, Abelsen, in welchem Zustand ich Ihnen die ersten Erklärungen abgab! Mein Bericht beschränkte sich auf das Nötigste … Ich schlief vor Erschöpfung ein … Sie begaben sich in die Grotte, und dann überfiel die Bande die Jacht, brachte mir aber Weib und Kinder und Schwester zurück … Es war für mich ein Geschenk des Himmels, Abelsen!«
Er preßte meine Hand … »Ich danke Ihnen, Abelsen … ich danke Ihnen!«
Ich begriff den Mann. Totgeglaubte waren ihm wiedergegeben – was machte ihm noch der Verlust des Dampfers aus!!
»… Ich hatte in Apemama, Gilbert-Insel, Kopra geladen. Dort kamen auch die beiden Garniers an Bord, Hektor und Isabell. Sie hatten ihren Schoner im Sturm verloren, und ich sollte sie und ihre Leute zurück nach Francislan bringen. Die Kulis für Honolulu benahmen sich durchaus manierlich, an Bord meines ›Hardanger‹ herrschte eitel Frieden – dann kam der Taifun – Sie wissen, der Dampfer kenterte – – wozu das Schreckliche nochmals aufleben lassen?! Natürlich hatten der Nigger und Krikatawu, meine Bootsgefährten, die Kanaken längst insgeheim aufgehetzt – möglich, daß die Bande den Dampfer ausplündern wollte, jedenfalls waren die beiden die Rädelsführer. Schade, daß Sie den Neger nicht gleich niederknallten … Er entwischte, und die Horde wird uns noch böse zusetzen, fürchte ich.«
Ich war müde zum Umsinken nach dieser Nacht, die meine Nerven gefoltert hatte. Es war zuviel des Guten gewesen. Müde, zerschlagen schaute ich über das weite Meer … Im Südwesten tauchte Malmottas Felsenhügel unter den Horizont … Die Sonne durchbrach vollends den Dunst, und zu meinen Füßen hockte Men Huleb und schlief. Ich dachte an Petersens Zeichnung und meine Vermutungen, an den schlanken Leib der armen, eisigen Isabell …
Meine Gedanken taumelten ziellos durcheinander.
»Larsen, ich muß schlafen … Ich bin am Rande meiner Widerstandskraft … Gute Nacht.«
In der Kabine neben der Isabells sank ich auf das Bett … Men Huleb war mit hineingeschlüpft. Als ich erwachte, war es Nacht …
Und dann begann das geregelte Leben auf der Jacht … Dann begannen aber auch die kleinen winzigen Seltsamkeiten, die mich störten und beunruhigten.
Ich lernte die Menschen näher kennen, die mir das Schicksal in den Weg getrieben hatte.
Helga Larsen, die Kinder …
Grita Larsen, die Unermüdliche …
Isabell, das Rätsel …
Nataupo, das andere Rätsel …
Die acht Insulaner, die Getreuen, die Leute der Garniers, Schiffbrüchige des Schoners …
Die enge Gemeinschaft auf der Jacht, das Bewußtsein gemeinsam überstandener Gefahren – wir waren wie eine Familie. Isabell schloß sich immer enger an mich an. Nie sprach sie von ihrem Leid … – Was mochten die braunen trunkenen Kerle ihr zugefügt haben?! Sie war wie erfroren, ihre Seele schien tot, aber in ihr glühte wohl die Rachsucht, der Wunsch nach Vergeltung.
»… Wenn sie meinen Bruder getötet haben, sterben sie alle!« sagte sie einmal ohne jede Erregung.
Nataupo ist unser Steward. Nataupo liebt Men Huleb, und Men Huleb faucht nur Isabell böse an …
In der zweiten Nacht nach der Rückeroberung der Jacht war's …
Ich hatte droben an Deck die Wache. Larsen und ich lösten uns nachts alle vier Stunden ab. Wir durften den Kanaken allein das weiße schnelle Schiff nicht überlassen, und die Frauen kamen für diesen Pflichtenbereich nicht in Frage. Sie hatten in der Kombüse genug zu tun. Isabell allerdings betrat niemals die blitzsaubere Jachtküche. – Es mochte kurz vor Mitternacht sein, das Barometer war kräftig gefallen, die Luft schwer und schwül. Im Westen zog sich ein schwarzer Strich über den Horizont, und dieses ferne Unwetter, das sich durch langpausiges Aufzucken von Blitzen meldete, fühlte ich deutlich in allen Nerven. – Ich war unzufrieden mit mir … Isabells beständige Nähe störte mein mühsam wiedererworbenes seelisches Gleichgewicht. Dieses Mädchen ließ sich nicht übersehen, ließ sich nicht beiseiteschieben, drängte sich in mein Leben wie ein Fremdkörper. Sie war ein Weib mit einem unklaren Hauch von … vielleicht von bewußt betonter Absonderlichkeit. Es gab für mich Stunden, in denen mir Janes Bild und Isabells überschlanke Gestalt seltsam ineinanderflossen, obwohl es kaum zwei Frauenfiguren geben dürfte, die innerlich und äußerlich so grundverschieden waren. Janes heitere Lebensbejahung, Janes Temperament und berauschende Fülle der Linien und Isabells eiskalte, grüblerische Verschlossenheit und müde Lässigkeit eines fast mageren, fast unweiblichen Körpers bildeten Gegensätze, die unvereinbar schienen. Dennoch spürte ich das mich betrübende Ineinanderverschmelzen dieser beiden Wesen immer stärker. Wenn Isabell – wie jetzt wieder, wo ich die Feder der schwarzen Fährten eilends hinmalen lasse – so dicht neben mir sitzt, scheinbar keine Notiz von mir nimmt und zu lesen vorgibt, fühle ich immer wieder ihren rätselvollen, unergründlichen Blick mein Profil streifen … Und dann glaube ich zuweilen, es müßte Jane sein, die dort sitzt und … wartet … wartet, bis ich die Arme öffne wie einst und sie an mich ziehe und in heißem Kuß Welt und alles für uns versinkt.
Ich bin sehr unzufrieden mit mir. Die Tote dort in dem Grabe auf Malmotta soll niemals eine Nachfolgerin finden. Auch Fennek-Mukki hätte niemals durch Men Huleb in meinem Herzen halb verdrängt werden dürfen. – Sind wir Männer wirklich so leicht bereit, Vergangenes zu vergessen und dem Neuen so schnell Raum zu gewähren?!
Und doch …! Men Huleb tue ich Unrecht. Der Pavian ist mir insofern mehr als das kleine Wüstenfüchslein, als ihm ganz andere Gaben zu Gebote stehen. Men Huleb ist mir ein Freund und Beschützer … Isabell braucht nur einmal etwas dichter an mich heranzutreten (es geschieht selten, sie hält immer Distanz, sie reicht mir nie die Hand – niemandem), dann fährt Men Huleb fast toll vor Wut hoch, fletscht die Hauer, duckt sich zum Sprunge zusammen, und … Isabell tritt rasch zurück, wirft dem Pavian einen unbeschreiblichen Blick zu und schweigt.
Ich gehe auf der Brücke auf und ab … Am Rade lehnt ein Kanake, über dem Kompaß leuchtet matt die Lampe, unten schnurren die Turbinen, vereinzelte Wogen klatschen gegen den Bug, vereinzelte Seevögel begleiten uns. Vorn steht der Mann der Wache neben der Ankerwinde und putzt die Messingteile, raucht und schlendert zur Kombüse, putzt die Messingstäbe der Oberlichtfenster und greift plötzlich zur stets bereitliegenden Haiangel.
Ich schaue ihm zu … Der Haken mit dem Köder fliegt über Bord, und die drei spitzen Rückenflossen der langgestreckten Spindelfische wenden sich dem Köder entgegen …
Ein Hai schnappt, der Mann ruft, und ich schicke den Kanaken vom Steuer ihm zu Hilfe und greife selbst in die Radspeichen.
Der Hai wehrt sich verzweifelt. Ich weiß, ein Bursche von vier Meter Länge wird erst nach einer Stunde matt …
»Schießt doch!« brülle ich den beiden zu, die dauernd an der Leine zerren und die Bestie trotz der Hebelkraft der schweren Angelstange doch nicht über das Wasser hinausziehen können. In solchen Fällen genügen ein paar Pistolenkugeln, wenn der Schädel der Bestie gerade außerhalb der Wellen sichtbar wird. Der eine Kanake greift in die Tasche – sein linker Arm scheint in die Leine geraten zu sein – festgeklemmt, er heult vor Schmerzen, er fuchtelt mit der Pistole umher – der Kerl ist verrückt, er knallt blindlings darauf los, mir fliegen Kugeln um die Ohren – eine Hand packt mich von hinten am Jackenzipfel, reißt mich in die Knie – und dort, wo ich noch soeben dicht am Rade gestanden habe, zersplittert eine der polierten Radspeichen – eine Stimme flüstert hastig:
»Nichts verraten, Herr …«
und Nataupo, unser Steward, schlüpft wieder kriechend in die winzige Funkerkabine hinter der Brücke …
Also so war's gemeint!!
Mir ist ein Licht aufgegangen …! Die letzten Kugeln kamen gar nicht aus der Pistole des heulenden Narren dort an der Reling, die kamen irgendwo aus dem Aufbau des Mannschaftslogis!
Wer feuerte da?! War diese ganze Haiangelei von vornherein nur Deckmantel für einen vorbereiteten Mordanschlag? Woher ahnte gerade Nataupo, daß zwei Pistolen hier blutige Arbeit zu verrichten suchten?!
Larsen kommt im Schlafanzug an Deck gestürzt, hinter ihm seine Schwester, das sanfte, betuliche Geschöpf – auch nur mäßig bekleidet …
Grita übernimmt das Steuer, Larsen und ich schauen uns die Haiangler einmal aus der Nähe an. Der Kerl, der sich in der Leine mit dem linken Arm verfangen hatte, zeigt wimmernd seinen zerfetzten Ärmel und die abgeschundene Haut … – Die Sache ist nicht schlimm, sogar sehr harmlos, der Bursche übertreibt, und auf meinen Wink hin spielt auch Larsen den mitleidigen Samariter, der Mann wird verbunden, und nach einer halben Stunde herrscht wieder Ruhe an Deck.
Der Hai ist natürlich samt der Angel über alle Berge …
»Aber«, sage ich zu Freund Larsen auf der Brücke, »wir haben hier noch andre zweibeinige Haie unter uns …«
Er nickt nur. – Wir zählen die Kugelspuren in der Bekleidung der Brücke und in der Wand des Funkerhäuschens.
Elf Schuß …!
Etwas viel …
Larsen, blonder Hüne mit kühlem offenem Gesicht, kneift die Augen klein. »Was hältst du von alledem, Olaf?«
»Weiß nicht … Fragen wir nachher Nataupo … Er wird sich wohl inzwischen wieder in seine Kammer neben der Kombüse hinabgeschlängelt haben.«
Die Lage an Bord ist urplötzlich sehr ungemütlich geworden. Die »treuen« acht Insulaner (der neunte, Nataupo ist unbedingt treu) haben sich als zweifelhafte Subjekte herausgestellt. Man möchte mich beseitigen, ebenso Larsen. Bisher hat wohl eine Gelegenheit dazu gefehlt. – Nun, wir sind gewarnt …
Ich fange die Sache recht schlau an, schicke die Wache vorn zu Nataupo hinab.
»Whisky soll er bringen – zwei Gläser auch!«
Ich glaubte die Sache recht schlau angefangen zu haben. Aber die Gegenpartei hat wohl Lunte gerochen …
Der Kerl kommt zurück. »Nataupo nicht da, Herr …«
Nataupo hat die Schlüssel zu den Vorratsräumen, die noch gut gefüllt sind, obwohl die Schufte auf Malmotta sich Tag für Tag voll Sprit gesogen haben.
»Wecke die Frauen!« rate ich Larsen. »Bringe die Büchsen mit …«
Unsere drei Damen sind nicht von jenem Schlag, der auf einen Stuhl springt, wenn jemand »Maus!!« ruft. Auch Isabell Garnier nicht. Die vielleicht am wenigsten. Sie hat ihr halbes Leben auf der Insel Francislan verbracht, und was ich bisher von diesem Reiche des alten Pierre Garnier hörte, klang nicht eben zahm.
Wir sind nun unserer sieben oben auf der Brücke – die Kinder im Funkerhäuschen, vom achten bewacht, das ist Men Huleb. Auf ihn ist Verlaß.
Wir beraten. – Isabell schiebt einen Patronenrahmen in ihre lange Coltpistole und meint sehr, sehr kühl: »Ich fürchte, ihr übertreibt …« Sie lehnt am Geländer in ihrem schwarzseidenen Schlafanzug und hat ein Netz über dem kastanienbraunen Haar. Ein ganz zarter Parfümduft geht von ihr aus, und derselbe Duft stört mich auch jetzt beim Schreiben.
(Wenn Isabell der schwedischen Sprache mächtig wäre, würde ich diese Blätter sorgsam wegschließen müssen – und wenn sie bittet, ihr einiges vorzulesen und gleich ins Englische zu übertragen, mogele ich und lese vor, was nicht geschrieben steht.)
»… Ihr übertreibt …! Wer sollte auf Sie mit Absicht feuern, Olaf?!«
Larsen, ich, Isabell besuchen vorn das Logis. Wir werden diese Waffen prüfen und feststellen, ob noch eine Pistole außer der des Haifängers benutzt wurde.
Grita, blonde, schlanke, füllige, sanfte Grita steht am Rad.
Larsen, ich, Isabell besuchen vorn das Logis. In den Kojen liegen vier Mann, auch der Angler. Schlafen … schnarchen …
Natürlich stellen wir nichts fest. Nur des Anglers Waffe riecht nach Pulverschleim.
Wir gehen in den Maschinenraum hinab, wo zwei weitere unsichere Kantonisten die Ölfeuerung der Kessel regulieren.
Auch nichts.
Wir suchen dann nach Nataupo. Der Mann ist verschwunden. – Larsen flucht, und er kann fluchen.
Das war die Nacht.
Seit der Nacht herrscht an Bord Unbehaglichkeit, gegenseitiges Mißtrauen.
Ich habe dann einige Stunden geschlafen, und mittags half ich Grita in der Kombüse. Sie ist scheu wie ein Wildvögelein, sie weicht mir aus, und daß sie Isabell nicht leiden mag, spüre ich ebenso deutlich wie Men Hulebs Abneigung gegen Pierre Garniers Tochter.
»Grita, wie denken Sie über Nataupos Verschwinden?«
Sie rührt gerade in dem großen Kessel … Es riecht nach Erbsensuppe, und auf dem Tische stehen sechs Büchsen – geöffnet – mit Würstchen: Vorgericht der heutigen Mahlzeit!
Larsens blonde Schwester erwidert nur:
»Ich weiß nicht recht …«
Sie ist so ungeheuer indifferent, so ohne jeden inneren Kraftantrieb, immer gleich freundlich, immer gleich kühl …
Mimose. Rühr mich nicht an!
Mich reizt das heute. »Können Sie denn so nicht aus sich herausgehen, Grita?! Ein Mädel wie Sie, so voller Saft und Kraft – reißen Sie sich doch mal hoch, zum Donner!«
Ein sehr erstaunter Blick aus ihren graublauen Augen trifft mich. Dann errötet sie, wendet sich wieder ab und sagt ebenso kühl: »Jeder muß so verbraucht werden, wie er ist, Abelsen … Viele vergeuden sich selbst. Ich halte vielleicht zu weise Maß in allem.«
»Das stimmt!« – und ich stampfe verärgert an Deck und sehe droben im Tauwerk Freund Men Huleb umherturnen …
Seine größte Freude, sein Zeitvertreib – und seine Sprünge von Tau zu Tau so kühn, daß mir zuweilen der Atem stockt.
Als er mich erblickt, gleitet er flink die Wanten hinab, steht vor mir, richtet sich empor, legt mir die Hände flach gegen die Brust und grunzt herzlich. Sein fleischfarbenes Hundegesicht mit den starken Stirnwülsten über den Augen zeigt stets einen nachdenklichen Ausdruck, wenn er mich derart begrüßt. In seinen braunen Augen leuchtet treue Zärtlichkeit, und die seltsamen Töne, die seine Sprache darstellen, sind vielgestaltig wie das Organ eines Menschen – man muß sie nur zu deuten wissen.
Sein »Mantel«, die bei älteren Tieren mähnenartige, helle Behaarung, ist erst schwach entwickelt, aber sein raubtierähnliches Gebiß mit gewaltigen Reißzähnen und seine Körperkräfte sind erschreckend. Wem Men Huleb einmal an die Kehle fährt und zubeißt, der ist verloren.
Hamadryas nennt man die Mantelpaviane auch, und gerade sie haben in der Religion Altägyptens eine absonderlich wichtige Rolle gespielt – sie waren die Tempelaffen der Pharaonen, sie genossen göttliche Verehrung, ihnen schrieb man sogar wichtige Erfindungen zu. In der Astronomie diente ihr Bild oft zur Bezeichnung des Mondes, und ihre Klugheit wurde gerühmt und angestaunt.
Möglich, daß die damaligen Geschlechter der Mantelpaviane weniger wild, bestialisch und frech waren als die heute besonders in den abessinischen Gebirgen lebenden. Ich habe dort Herden bis zu hundertfünfzig Stück beobachtet – ich habe aber auch halbzahme Tiere kennengelernt, die von einer seltsamen Frau mit als Schutzwache benutzt wurden: von der Herrin der Unterwelt!
Es ist noch nicht einmal so sehr lange her, daß ich in dem Zauberberg mit Affen und Zwergen zusammenhauste – und jetzt besitze ich selbst einen Hamadryas als Freund, ein prächtiges, gelehriges Tier mit grünbraunem Pelz und ganz schwach gelblicher Haarfarbe um die Brust herum. Gewiß – eine Schönheit wird Men Huleb nie werden, kein Hundsnasenaffe, kein Pavian kann es mit der menschenähnlichen Weichheit des Gesichts und der Augen etwa eines Kapuzineräffchens aufnehmen. – Men Hulebs brennendrote Gesäßschwielen rufen noch immer das Erstaunen der Kanaken hervor – wehe ihnen, wenn sie diesen Preisboxer und Preiswerfer Men Huleb zu hänseln wagen – – er fletscht die Zähne, im Nu wird er wilde Bestie, packt vielleicht eine leere Flasche und wirft und trifft oder trommelt nur mit den Fäusten oder kratzt. – Es stimmt schon, daß die Leoparden scheu jeder Mantelpavianherde aus dem Wege gehen. Man betrachte mal in einem Zoologischen Garten die Muskeln, die Zähne und das grimme Gesicht!!
Mein Men Huleb gehorcht mir aufs Wort, mein Men Huleb brachte mir das Büchschen mit der Zeichnung Petersens – – und Men Huleb stand vor mir und grunzte weich und schmeichelnd und betastete dann meine Taschen … Ich kam ja aus der Kombüse, und dort gibt es Zuckerstückchen …
Er fand, was er suchte, kaute und marschierte hinter mir drein, als ich zu Larsen auf die Brücke ging.
Der war gerade damit beschäftigt, unseren Standort festzustellen.
»Um Mitternacht werden wir Francislan erreichen, Olaf«, meinte er, an seiner Zigarre kauend und seinen Kindern zulächelnd, die am Heck unter dem Sonnensegel spielten. Die kleine Inge krähte vergnügt ihr gewohntes »Onkel Olaf – – mal herkommen!!« – die kleine Dame belegt mich zu gern mit Beschlag –, der kleine Sven baut ein Haus aus Klötzen, Frau Helga näht an einem Kinderhemdlein, und Isabell liegt abseits im Liegestuhl und täuscht Lesen vor, blickt nicht auf und … liest doch nicht.
So war es damals mittags vor Tisch.
Larsen fügt munter hinzu: »Der alte Pierre Garnier wird sich wundern, welch vornehmen Besuch er erhält – eine solche prächtige Jacht hat er vielleicht nie gesehen, der seltsame Kauz … Auch du wirst staunen, Olaf … Ich kenne die Insel ja, war vor einem Jahr zum letzten Male dort und lieferte dem Alten eine ganze Schiffsladung voll guter Dinge … Diese Sporadeninsel Francislan ist übrigens auch ein Korallenatoll mit einem einzigen Berg an der Nordküste, aber unheimlich viel Riffen. Einst hatte sie kaum sechzig Bewohner, Garniers Reich zählt jetzt an die vierhundert, darunter zwanzig Europäer – übles Pack, Olaf … Na, du wirst ja sehen – Nachts können wir in die Lagune nicht einlaufen, die Riffe würden uns schön den Bauch aufschlitzen – ohne Lotsen kommt niemand zu König Pierres Residenz … Der große Idealist wird dir gefallen trotz seiner Schrullen. Niemand hält es für möglich, daß ein einzelner Europäer wie er in zwanzig Jahren hier in der Südsee eine Art Miniaturstaatswesen schaffen könnte mit Parlament, Polizei, Heer, Flotte – eigener Flotte! – – Lache nicht!! Pierre Garnier ist ein Kulturpionier ohnegleichen. Seine Insel war anfänglich die Zielscheibe wohlfeilen Spottes aller in der Südsee hausierenden Schiffskapitäne. Seine kaufmännischen Fähigkeiten triumphierten sehr bald, sogar seine Löwenfarm gedieh, und heute nach zwölf Jahren Löwenzucht, die er mit einem Löwenpärchen begann, exportiert er regelmäßig jährlich drei bis vier prachtvolle Bestien …«
Ich war einfach starr. »Larsen, machst du Witze?! Eine Löwenfarm auf einem Atoll?!«
Peter Larsen nickte schmunzelnd. »Oh, der alte Herr hat noch ganz andere Dinge versucht und durchgeführt und damit Erfolg gehabt! – Natürlich liegt diese Löwenfarm nicht auf der Hauptinsel Francislan … Nein, im Norden der Insel gibt es ein sehr ausgedehntes, hohes Riff, man kann schon sagen ein kleines Eiland, wild zerklüftet, von der Brandung umtobt, und dort hat Pierre Garnier die Bestien untergebracht, ernährt sie mit Haifischfleisch, läßt sie in voller Freiheit umherklettern, sondert nur die Pärchen zu bestimmten Zeiten ab, hat hohe Gitter durch das Eiland gezogen, hat alles sehr weise eingerichtet … Man staunt in der Tat, Olaf! Als er mir seine Löwenfarm vor einem Jahr zeigte, hatte gerade wieder eine Löwin zwei Junge geworfen … Man kann ganz unbeschadet um das Inselchen herumwandern – am Rande sind sichere Eisengitter in den Fels eingelassen, man sieht die Tiere in munterer Bewegtheit – Platz genug haben sie, und das Klima ist ihnen nur zuträglich. Natürliche Höhlen bieten ihnen Schutz gegen die Hitze, zackige Felswände gestatten ihnen allerlei Kletterpartien … Und dann erhebt sich da noch in der Mitte des Eilandes eine Art Turm aus Holz, ein … – doch nein, ich will dir nicht alle Überraschungen rauben … – Francislan ist ein Miniaturfreistaat – man muß ihn sehen, den alten Pierre, ihn und seine Schöpfungen – schildern läßt sich das schwer.«
Ich nahm Larsen kopfschüttelnd die Seekarte aus der Hand und suchte jene Insel …
Die Sporaden im Pazifik darf man nicht verwechseln mit den griechischen Sporadeninseln im Ägäischen Meer.
Es sind nur wenige, ganz isoliert liegende Eilande, von denen die Weihnachtsinsel wohl die bekannteste ist. Als die Engländer sie einst in Besitz nahmen, fanden sie dort Unmengen von Guano – heute sind sie als Kolonialbesitz fast wertlos, weil zu abgelegen.
»… Also vor zwanzig Jahren kam Pierre Garnier nach Francislan?« fragte ich sinnend und dachte an Käpten Bolk, Petersen und die anderen, die vor zwanzig Jahren beim Hinabtauchen von Malmotta in den Schoß des Ozeans beinahe umgekommen wären …
»So – vor zwanzig Jahren, Larsen? Und kam er etwa als Schiffbrüchiger dorthin?«
»Darüber spricht er nicht«, meinte Larsen achselzuckend. »Glaubst du etwa, Garnier könnte einst mit auf Malmotta gewohnt haben – mit Käpten Bolk und den übrigen?«
»Bolk erwähnte ihn nie … – Übrigens war Isabells Bruder Hektor bereits fünfundzwanzig – oder ist es, falls er noch lebt … Nein, Pierre kann Malmotta nicht kennen – – wir werden ihn fragen, das ist am sichersten.«
Frau Larsen rief uns zu Tisch …
Wir fünf, nein, sieben Europäer, die Kinder eingeschlossen, aßen stets im großen Salon. Die Kanaken holten sich ihr Essen ins Vorschiff. Auf einen neuen Steward hatten wir nach Nataupos Verschwinden verzichtet. Grita sorgte für uns.
Wir stiegen die Treppe hinab – Isabells Liegestuhl war bereits leer, sie pflegte vor Tisch das Kleid zu wechseln, und daß diese Kleider aus meiner toten Jane übervollen Schränken stammten, hatte ich nur anfänglich als ungehörig empfunden.
Als wir um den runden Tisch Platz genommen hatten, trug die blonde Grita die große Suppenschüssel auf, und wie immer reichte man mir die Teller zum Füllen.
Men Huleb saß hinter meinem Stuhl.
Ich ergriff den Suppenlöffel – – in demselben Moment löste sich über uns eins der Oberlichtfenster und fiel krachend mitten auf den Tisch, zerschlug die Suppenschüssel und einiges Geschirr und ließ uns schleunigst flüchten.
Larsen lachte breit. »Wir sind mit einigen Erbsenspritzern davongekommen …!«
Er rieb sich mit dem Mundtuch die Jacke sauber.
Zufällig blickte ich zu Isabell hinüber. Sie war noch bleicher als sonst, ihr roter Mund zuckte, und ihre Augen hingen starr auf dem Oberlicht, wo nun der eine Fensterflügel fehlte.
»Das – war ein neuer Anschlag«, sagte sie mit ihrer herben, frostigen Stimme. »Der Fensterflügel muß losgeschraubt worden sein …«
Ihre Augen senkten sich und begegneten denen der blonden Grita.
Ich erschrak.
Kalter Haß lag in beider Blicken, und Grita Larsen erklärte ungewohnt scharf: »Allerdings – ein Anschlag, oder ein dummer Scherz, der … gut vorbereitet war … Schade um die Suppe und das Geschirr …«
Es lag eine drückende atemlose Spannung über uns allen. Larsen schaute seine Schwester erstaunt an, schwieg jedoch, hob das Fenster vom Tisch und besichtigte die Scharniere …
Ich hatte es bereits bemerkt: die Scharniere fehlten! Und an dem Stützriegel hing ein feiner langer Draht, der bis zum Oberlicht reichte.
»… Für Men Huleb genügt die Suppe noch …« meinte Isabell gelangweilt und setzte sich abseits und wartete, daß andere den Tisch und den Teppich säuberten und neu deckten.
Grita war schon bei der Arbeit. Wir halfen. Sie sagte, halb zu mir gewandt: »Es ist besser, Men Huleb meidet diese Suppe, es könnten Glassplitter darin sein, und außerdem …«
»… frißt er keine Erbsen«, suchte ich den Zwischenfall ins Scherzhafte zu ziehen, obwohl ich ahnte, daß hier nicht alles in Ordnung war, von dem losgeschraubten Fenster ganz abgesehen …
Larsen zog den dünnen Draht herab – der war etwa acht Meter lang, und nur durch ihn konnte jemand das Fenster zum Absturz gebracht haben.
Wer?! – Das bekamen wir nicht heraus.
Es wurde eine sehr ungemütliche Mittagsmahlzeit, es wurde ein häßlicher Tag, denn Isabell wich nicht von meiner Seite und störte mein inneres Gleichgewicht mehr denn je.
Es geschah nichts Besonderes mehr. Larsen war verstimmt – Men Huleb hatte Launen – und nun sitze ich in Janes Arbeitszimmer, an Janes Schreibtisch, und … Isabell … liest … liest nicht.
Nachts gegen ein Uhr soll Francislan in Sicht kommen. Ich bin sehr neugierig. Es ist Vollmond, und …
Soeben haben mir Inge und Sven Gute Nacht gesagt, Larsen tritt seinen Dienst auf der Brücke an, ich werde meine Schreiberei wegpacken und mich niederlegen.
Isabell blickt auf …
»Machen Sie bereits Schluß, Olaf?«
»Ja …« Ich deute ein Gähnen an …
Sie rührt sich nicht. Ihre unergründlichen Augen lassen mich nicht los.
Nebenan ist es still geworden. Frau Helga und Grita sind verschwunden – durch das Fenster dringt das träumerische Rauschen der unermüdlichen Wogen – und Isabell … lächelt mich an … wie nie bisher …
Dann beginnt sie zu flüstern, und in dieser Stimme ist ein berückender Wohllaut, wenn sie so gedämpft, so geheimnisvoll klingt – wie die Stimme einer Seherin, die die fernste Zukunft deutet …
»Olaf, hast du sie sehr geliebt – so geliebt, daß du sie nie vergessen kannst?!«
Ich traue meinen Ohren nicht …
»Olaf« – die Stimme streichelt mich förmlich, »es gibt für alles ein Vergessen … Wer sein Herz an Totes hängt, ist kein Mann, und du … bist Mann, du hast die harten Augen jener Eroberer, die neue Weltteile sich unterwarfen und die halb Abenteurer, halb Tyrannen waren … Ich biete dir ein Reich, Olaf – mag es klein sein, es bleibt ein eigenes Reich … Und – ich biete dir meine Liebe – alles … Ich habe dich vom ersten Augenblick an geliebt … Und wenn du mich in die Arme schließt und meine dürstende Seele trunken machst, bist du der erste, der mein war …«
Ich kann sie nur halb entsetzt anstarren …
In ihrem hageren feinen Gesicht brennen rote Flecken … Die Augen glühen, die schmalen Hände ruhen im Schoße, kerzengerade sitzt sie da, eine unheimliche Priesterin, die selbst die Hülle von sich gestreift hat und sich selbst offenbart …
Und diese Augen, die ich im Grunde immer gefürchtet habe, wie mir nun erst klar wird, halten mich im Bann und zaubern mir das Bild vor – damals in der Segelkammer vorn: Isabell halb nackt auf die Planken gefesselt …
Rötliche Sonnen beginnen vor meinen Augen zu kreisen – alles verschwimmt in feurigem Nebel.
Ich spüre glühende Lippen auf den meinen – wahnsinnige Gier liegt in diesem endlosen heißen Kuß …
Dann ein gellender Schrei …
Isabell … Men Huleb an ihrem Halse, festgekrallt an ihrer Schulter, das weiße Gebiß leuchtend …
Ich fliege auf – reiße den Pavian zurück … schleudere ihn abseits.
Leichenfahl steht Isabell da, und von ihrem Halse rinnt ein dünner Blutfaden die Brust hinab.
Ihr Blick frißt sich fest in meinem verstörten Gesicht …
»Es … sollte nicht sein …« sagt sie ganz leise … »Nun dann – dann wird es anders sein, Olaf … – Gute Nacht.«
Ich sinke in den Schreibsessel zurück, ich stiere Janes Bild an, taste nach dem Bilde, ziehe es näher …
Die Augen werden mir feucht … Und das namenlose Sehnen nach der Toten durchbricht die dünne Schale neuen Erlebens …
Vielleicht … habe ich damals geweint …
Den Kopf in die Hände vergraben …
Geweint …
Bis eine kühle kleine schwarze Hand über meine heißen, tränennassen Finger streicht und ein haariger Leib sich an meinen Kopf schmiegt.
Men Huleb …
Von dieser Minute an ist Men Huleb mir mehr, als es mir selbst Mukki-Fennek je war.
Denn Men Huleb verscheuchte die Priesterin der Sinnenlust und bewahrte mich vor bitterer Reue.
Von der Minute an ahnte ich auch, daß in Isabell Garniers Seele schlechtverdeckte Abgründe lauerten, in denen auch ein unersättlicher Haß verborgen war.
Ich bin hinauf zu Larsen auf die Brücke gegangen.
Er schaute mich seltsam an.
»Wer schrie da, Olaf?«
»Isabell …«
Larsen streichelt Men Huleb, der auf den Kompaß gehüpft ist.
»Ich verstehe, Olaf … Ich sah das kommen. Im übrigen fehlt aus der Schiffsapotheke das gesamte Morphium …«
Jetzt packe ich seinen Arm …
»Du, was heißt das?!«
»Ich denke, Olaf, Isabell ist … Morphinistin … Das ist's … Ganz normal kann sie nicht sein …«
Über uns flimmert das Firmament, leuchtet das Kreuz des Südens, zieht der Vollmond seine Silberbahn …
Müde Vogelschreie erschallen, ersterben …
Der ganze unnennbare Zauber der Tropennacht umgibt uns, die Jacht gleitet durch flüssiges Silber, die Wogen sind silberne zarte Glasgebilde – – alles ist wie ein Traum …
Morphinistin …!!
… Nun kenne ich auch Francislan …
Ich wünschte, ich hätte diesen Riffkranz, diese wundervollen Palmen, diesen grünen Berg und die tiefgrüne Lagune nie gesehen!
Es ist vielleicht eine unbegreifliche Bevorzugung, daß man mir in meine Zelle mein geringes Eigentum mitzunehmen gestattete. Ich kann mir nur denken, daß Isabell für mich ein gutes Wort eingelegt hat – gerade Isabell!!
Morphinistin?! – Lachen möchte ich!! Wir waren blind – auch ich, ich alter Erdenpilger, der doch längst gelernt haben sollte, dunkle Zusammenhänge aufzuspüren.
In der Erbsensuppe war das Morphium, und – wir … wir sollten schlafen … schlafen …
Isabell hatte halb nackt mit zerrissenen Kleidern da gelegen – und alles war Schwindel gewesen!!
Der Haifischangler war ein bestochener Lump wie die anderen »Getreuen« – vielleicht feuerte Isabell selbst damals die Kugeln gegen die Wand des Funkerhäuschens … – Und doch: Isabell rettete uns im letzten Augenblick!
Unerhörtes ist geschehen!!
Seit heute mittag sitze ich in diesem Loch aus Korallenkalk und bin Gefangener des größten Schurken, dem ich je begegnete:
Hektor Garnier!
Hektor!!
Nicht Pierre … nicht der alte König von Francislan – – der neue: Hektor! Kein König mehr, Präsident der freien Insel Francislan …!
Was rege ich mich auf?! Im Grunde war das ganze ja nur eine blutige Posse … – Tragödie?! – Ach nein – dazu waren die Gegenspieler zu jämmerlich, die Rollen zu schlecht besetzt.
Betrachten wir die Dinge mit möglichster Nüchternheit. Wir sind eben in eine Falle getappt, wir haben nichts Besseres verdient als nun hier im Staatsgefängnis von Francislan das Urteil des hohen Gerichtshofes, bestehend aus Lumpenpack, abzuwarten.
Dennoch: Arme norwegische Freunde, arme Kinder, armer Men Huleb!!
Er gerade – ihn haben sie bestimmt gemordet – ich hörte die Schüsse, sein wütendes Kreischen – und habe mir feige die Ohren zugehalten, um sein Sterbegewimmer nicht zu vernehmen.
Betrachten wir die Geschehnisse als kühler Historiker. – Zunächst meine Zelle … Nicht die erste, die mich festhielt …
Die erste fern drüben in der nordischen Heimat war ungleich komfortabler, denn es war eine Zuchthauszelle mit allem Zubehör … Hier fehlen der bewußte Stuhl und der Eimer und die Pritsche und die Eisenstangen vor dem Fenster und der Blechkasten draußen, der nur ein Stückchen Himmel sehen ließ. Aber Zuchthaus und Himmel haben miteinander wenig zu tun … – – Damals entfloh ich …
Hier?!
Das Fenster ist nur ein viereckiges Loch, durch das ich gerade den Kopf stecken könnte … Vor der Holztür geht ein frecher, herausgeputzter Lümmel von Polizist mit ekligen Pistolen auf und ab …
Er würde schießen.
Sie alle schießen hier sehr schnell und schlecht, diese Francislaner … Menschenleben sind ihnen nur ein Kaff …
Aber einen Stuhl, einen Tisch und einen Laubsack habe ich – und Tinte, Papier, Zigarren und einen Krug voll Palmenwein. Vorerst brauche ich nichts mehr.
Das Fensterchen geht nach der offenen See hinaus, allerdings liegen zwischen Strand und Meer noch fünf Reihen Riffe, die ich deutlich unterscheiden kann, da gerade Ebbe ist. Etwas mehr nach Osten zu ragen aus den Riffen zwei größere Korallenfelsen hervor, die offenbar die bewußte kleine Löweninsel bilden und miteinander in Verbindung stehen dürften. Genau läßt sich das vom Kerkerfenster aus nicht erkennen. Auf dem mittleren mächtigen Riff erhebt sich ein Leuchtturm mit Holzunterbau und einem Holzhäuschen hoch droben – eine Art Taubenschlag! Ich weiß jetzt ja, daß die Francislaner tatsächlich Leuchttürme haben. – Dieser Turm dort ist jedoch nicht mehr in Betrieb … So sagte mir's Isabell. Vor der verhängnisvollen Nacht sagte sie mir das, als ich die Löwenfarm erwähnte und sie plötzlich so entsetzte Augen machte. Sie wollte über die Löwenfarm nicht sprechen, sie suchte das Thema zu wechseln, sie war so seltsam erregt, und ihre Augen fanden nirgends Ruhe. – – Ich habe auch ein paar der prächtigen gelben Bestien vorhin zu Gesicht bekommen – – es sind Löwen da, man sollte es nicht für möglich halten.
Dieses »Staatsgefängnis« hier, um auch das sofort zu erledigen, ist ein Bau aus Korallenziegeln, hat zwei Stockwerke und gleicht einem Schafstall. Es steht am Fuße des grünen schönen Berges im Norden der Ringinsel. Wie viele Schafe es zur Zeit beherbergt, entzieht sich meiner Kenntnis. Räudige Schafe sperrt man auch auf Francislan ein, und als König Pierre noch lebte, soll sogar eine Guillotine vorhanden gewesen sein – zum Ziegenschlachten, Menschen hat Pierre nie geköpft, dazu war er wohl zu gutmütig.
Ich fühle, daß ich meine Laune leidlich zurückgewonnen habe und daß meine Nerven mir nicht mehr üble Streiche spielen – wie vor Stunden, als ich dem Präsidenten Hektor Garnier sehr überflüssigerweise die Vorderzähne lockerte. Ich mag ihm auch einige geradezu ausgeschlagen haben, ich weiß es nicht, denn er fiel wie ein Klotz um, und seine Polizei fiel dann über mich her, und der hiesige Medizinalrat wird noch etliche Rippenbrüche zu kurieren haben – falls ein Arzt mit zum Etat von Francislan gehört. Möglich ist hier alles. Der eine von dem weißen Lumpenpack sah mir ganz so aus wie ein Kurpfuscher mit Professorenmanieren.
Über die Luft in der Zelle kann ich mich nicht beklagen. Das Fensterloch läßt alle Blumendüfte des Berges herein, es riecht nach Vanille, Zimt, Muskat – eben würzig. Aber diese freieste Insel der Welt ist keine der berühmten Gewürzinseln – die liegen mehr nach Westen zu.
Was den Tisch und den Stuhl betrifft: die sind Fabrikware, sicherlich von Honolulu importiert, amerikanische Erzeugnisse, für die Tropen bestimmt – unten Eisen, oben Blech, also ameisensicher. Das ist wichtig. Die Ameisen auf einigen Atollen sind fingergliedlang und fressen Holz wie Zuckerstangen.
Kehren wir in die Vergangenheit zurück.
Das war gestern nacht. Da schrieb ich die letzte Seite, da warteten Larsen und ich auf die Insel, und mit einemmale, meine Uhr zeigte ein Uhr zwanzig, erblickten wir weit voraus vier blendend helle Lichter.
»… Die Leuchttürme von Francislan«, sagte Larsen und weidete sich an meiner Überraschung. »König Pierre hat sie erbauen lassen, Olaf … Er ist ein moderner Regent und sorgt für seine Untertanen in jeder Beziehung.«
Ich nahm das Fernglas und beäugte die strahlenden Lichtkegel.
»Karbidlampen, Karbidscheinwerfer«, erklärte der eingeweihte Larsen. »Als ich vor einem Jahr mit Pierre Garnier das große Geschäft machte, achtzig Prozent Verdienst und den Hausorden von Francislan, mein Lieber – – bitte …«
Er zog aus dem Hemd ein Goldkettchen und einen grobgeprägten flachen goldenen Stern, der ungeschickt in Blau emailliert war und im Mittelfeld unter einer strahlenden Sonne das Monogramm P. G. zeigte. – »Dies ist der Orden, Olaf, und es gibt davon drei Klassen. Die höchste, erste, kriegen nur die hohen Würdenträger, die zweite, diese hier, die Kommerzienräte, die dritte die schlichten Leute, die sich um das Staatswohl verdient gemacht haben. – Ich verulke dich wirklich nicht, Olaf … Francislan ist ein Miniaturstaat, von dem man freilich im alten Europa keine Ahnung hat.« Er steckte den Orden wieder ein – er trug ihn auf der Brust unter dem Hemd, und er beteuerte nochmals, daß König Pierre ein Kolonisator und Organisator ersten Ranges sei.
Ich bekam Respekt vor Francislan …!!
»… Wenn Pierre bei Laune ist, Olaf, schickt er uns einen Lotsenkutter … Seine Laune richtet sich nach seinem Aufenthaltsort. Die Insel hat einen Durchmesser von einer Meile – das heißt, die Lagune mitgerechnet, der Korallenring, der feste Boden ist nirgends breiter als dreihundert Meter. Ich war eine ganze Woche auf der Insel.«
Die vier Lichter rückten näher. Ich sah, daß sie nicht etwa in einer Reihe standen – zwei waren beträchtlich heller und größer, und diese flankierten die Einfahrt durch die Riffe, die beiden anderen standen weiter zurück.
»Weshalb nach seinem Aufenthaltsort?« fragte ich Larsen nach kurzer Pause.
»Dja, Olaf, die Verhältnisse auf Francislan liegen nicht so ganz einfach. Die wenigen Bewohner, die Pierre dort antraf, als er sein kleines Reich übernahm, waren richtige, unverdorbene Insulaner, denen die Früchte in den Mund wuchsen, die die Arbeit als Spiel betrachteten, die fast jeden Tag ihre Feste feierten, die ohne Bedürfnisse in ihrer paradiesischen Nacktheit waren. Pierre nutzte sie nicht aus, suchte nur allmählich ein gewisses Streben nach besseren Lebensbedingungen in ihnen zu wecken und all das zu beseitigen, was an diesen Naturkindern wahrhaft schlecht und verwerflich war, so den Mord betagter Leute und die Erdrosselung von zu viel Neugeborenen, die nach irriger Ansicht der Francislaner zu einer Übervölkerung der Insel und Nahrungsknappheit geführt hätten. Er lehrte sie den damals ganz flachen Korallenstrand, der bei heftigen Stürmen regelmäßig überflutet wurde, künstlich zu erhöhen und so die Kokospalmen zu schützen. Er lehrte sie saubere, luftige Häuser erbauen, er kämpfte mit milder Hand gegen lächerlichen Aberglauben und dessen zum Teil bestialische Auswüchse an. Diese Urbewohner des großen, von der Außenwelt geradezu abgeschnittenen Atolls dankten es ihm, waren ihm treu ergeben, stellten sich in wenigen Jahren völlig um, wurden ehrgeizig, betriebsam, waren stolz, als Pierre den ersten Schoner kaufte und die erste Ladung Kopra verschickt wurde. Der Wohlstand der Insel wuchs – von anderen Archipeln fanden sich Landflüchtige ein, die Bewohnerzahl stieg, und Pierre ging dazu über, fremde Plantagenarbeiter anzuwerben, um die Naturschätze besser ausbeuten zu können. Diese Fremden nun, die mit Kind und Kegel auf Francislan sich niederließen, waren anderen Schlages. Sie waren mit den Segnungen europäischer Kultur bereits enger in Berührung gekommen, sie hatten Leute unter sich, die lediglich im Trüben fischen wollten. Nur Pierres starker Einfluß schmolz die Urbevölkerung und diese Fremdlinge leidlich zu einer großen Interessengemeinschaft zusammen. Aber der innere Gegensatz blieb, und als ich vor einem Jahr König Pierres Gast war, deutete er mir vorsichtig seine Sorgen wegen des Bestandes seines Reiches an. Die ebenfalls zugewanderten Weißen, fast sämtlich dunkle Existenzen, denen er anfänglich in seinem grenzenlosen Optimismus allzusehr vertraut hatte, wühlten insgeheim gegen ihn und verschärften wieder die einigermaßen überbrückten Gegensätze zwischen den reinblütigen Francislanern und den Fremden nebst ihrem Anhang.«
Larsen sog nachdenklich an seiner Zigarre. »Jedenfalls … irgend etwas ist da auf Francislan nicht mehr recht in Ordnung, Freund Olaf. Ist dir gar nicht aufgefallen, daß Isabell erst gestern offen erwähnte, ihr Vater sei verstorben?! Bisher hatte sie dies verschwiegen. Mir behagt diese Geheimnistuerei nicht. Auch die acht Leute von Francislan, die wir nun an Bord haben, sind hinterhältig. Sie stammten ursprünglich von einem anderen Archipel – – na, zerbrechen wir uns über diese Dinge nicht den Kopf, wir werden ja sehen …«
Das war Peter Larsens ständige Redensart: Wir werden ja sehen …! – Sie paßte nicht recht zu ihm. Er war im übrigen ein ganzer Kerl, nur etwas schwerblütig, er ließ die Dinge auf sich zutreiben, anstatt den Dingen mit kluger Voraussicht zu begegnen.
Seine Schilderung der Entwicklung der Insel hatte auch mich recht nachdenklich gestimmt – nachdenklicher, als er selbst es war.
Vorsichtig kam ich auf die Ereignisse auf Malmotta nochmals zu sprechen. Ich hegte einen ungewissen Verdacht – Larsen kannte ihn …
»War die Hauptmenge deiner Kuli-Passagiere wirklich für Honolulu bestimmt?« fragte ich nochmals.
Er lachte gutmütig. »Du argwöhnst schon wieder, daß die ganze Gesellschaft unter einer Decke steckte und meinen Dampfer kapern wollte … Wir werden ja sehen, Olaf …«
Seine Gleichgültigkeit fiel mir auf die Nerven. »Höre mal, Larsen – ich argwöhne weit mehr … Du hast mir diesen Hektor Garnier als einen gleisnerischen Burschen geschildert, der dir nie recht gefiel. Ich kenne ihn nicht. Angeblich hat die Bande ihn vom gekenterten Wrack aus sofort auf die Insel geschafft und … vielleicht ermordet, behauptete immer nur Isabell, nur sie! Dabei sagtest du mir, daß dieser Hektor Garnier ausgerechnet immer mit Krikatawu und Moses Jamestown zusammensteckte. Ich beurteile die Sachlage jetzt ganz anders, offen gestanden. Die ganze Horde, die du da auf deinem ›Hardanger‹ hattest, wird es von vornherein auf deinen Dampfer abgesehen haben. Unbedingt vermuten Hektor Garnier und dieser graue Wollkopf und der schlaue Krikatawu auf Malmotta Riesenschätze. Um die ging es ihnen. Die wollten sie mit deinem Schiff holen. Der Orkan machte ihnen einen dicken Strich durch die Rechnung, der Dampfer kenterte, die Hälfte ersoff, die anderen und die Deinen retteten sich in das Vorschiff, das über Wasser lag, nachdem die Ladung verrutscht war und das Heck tiefer sank, was du nicht mehr mitmachtest, als ihr drei auf dem Schiffsboden rittet. Deine Frau hat uns die Ereignisse in dem gekenterten ›Hardanger‹ ja ganz genau geschildert. Wäre das Heck nicht tiefer gesackt, hätte das Schiff die Nase nicht so hoch hinausgestreckt, wären alle, alle erstickt. Aber es geschah eben ein Wunder, und durch die Schottentüren gelangten auch die Deinen nach vorn zu der braunen Bande, ebenso Isabell und ihr Bruder. Solch ein gekenterter Eisenkasten von Dampfer enthält genug Luft, ein paar Dutzend Menschen viele Stunden mit Sauerstoff zu versorgen. Erinnere dich: Hektor Garnier soll es gewesen sein, der Grita zwang, deine Klopfsignale nicht zu beantworten! Du hast in deinem Schmerz und in deiner Verzweiflung wie ein Verrückter mit den Stiefeln gegen den Schiffsboden getrommelt – Antwort blieb aus, weil Hektor Garnier es nicht wollte.«
Larsen winkte mit verzerrtem Gesicht energisch ab. »Laß das doch ruhen, Olaf …!« – Die Stunden will ich vergessen … Es war entsetzlich!«
Er trocknete sich den Schweiß von der Stirn.
Ich blieb hart. »Bedauere – die Sache muß erörtert werden. Wir nähern uns Francislan. Isabell war es, die uns den Gedanken einimpfte, von Francislan, von ihrem Vater Hilfe zu holen … Und ihr Vater ist tot. Sie hat sich immer sehr behutsam ausgedrückt, sie steckt bis an den Hals voller Lügen. Die Schüsse auf mich, die ganze Geschichte mit dieser Haiangelei gewinnt ein bedrohliches Aussehen. Hinzu kommt …« – ich zögerte – »daß Isabell unweigerlich mich vorhin für sich kapern wollte … – Politik im Bett! hat mal ein großer Staatsmann gesagt. Dasselbe Theater wollte sie mit mir spielen, vielleicht, weil sie mich für gefährlich hält, und damit hat sie nicht ganz unrecht. Ich habe einen Wahlspruch, der nicht lautet: Wir werden ja sehen …! – Im Gegenteil, er heißt: Der kluge Mann baut vor und … haut zu!! – dein Wahlspruch mag gut sein für faule Eunuchen – entschuldige schon! Wir werden uns aber nach dem meinen richten, und das erste, was wir jetzt tun: wir entwaffnen diese acht Francislaner!«
Larsen war ein einsichtsvoller Mensch. Er hatte mir diese ziemlich grobe Standpauke nicht verargt, er drückte mir die Hand und meinte nur: »Ich war blind … – Warte, ich hole Grita und die Büchsen …«
Grita kam, still, ruhig, besonnen wie immer. Sie hatte sich einen Ledergurt umgeschnallt, an dem zwei Pistolen hingen.
»Wo ist Larsen?« fragte ich.
»Bei Isabell in der Kabine …« – sie schaute an mir vorüber auf die fernen hellen Lichter. Ihr herber Mund war verkniffen. »Isabell hat Patronen, vier Pistolen und eine Büchse heimlich beiseite geschafft und in ihrem Bett verborgen …« fügte sie gelassen hinzu. »Ich mochte nicht die Angeberin spielen, da Sie nun aber endlich selbst Verdacht geschöpft haben, Abelsen, mag es gesagt sein – auch das Letzte: Isabell hat das Morphium in die Suppe getan!! Wir sollten schlafen – – wehrlos werden …«
Ich verfärbte mich …
»Und wer brachte das Fenster zum Absturz, Grita?!«
Jetzt blickte sie mich an. »Darauf antworte ich nicht … Fragen Sie nicht.«
Mit einem Schlage ward es da Licht in meinem Hirn. Ich verstand dieses blonde Nordlandmädchen. Ich war ihr nicht gleichgültig – Eifersucht schuf den Haß zwischen Isabell und ihr, aber aus innerer Vornehmheit hatte Grita bisher geschwiegen, obwohl sie diese überschlanke Teufelin längst durchschaut hatte.
Ich griff nach ihrer Hand, einer derben starken Hand …
»Mädchen – und das alles behielten Sie für sich?!«
Sie wurde flammend rot, sie riß ihre Hand zurück …
»Auch mein Bruder ließ sich täuschen …!! Ihr alle … Auch Helga … – Dieses Geschöpf mit den zarten Gliedern, dieses Weib, das gar nicht Garniers Tochter ist, sondern nur …«
»Was reden Sie da?! Nicht Garniers Tochter?! Aber Grita!«
Ihre Stimme klang kühler, beherrschter denn je. »Nicht seine leibliche Tochter, Abelsen … Auch Hektor ist nur sein Adoptivsohn … Es sind Geschwister, gewiß, aber nur angenommene Kinder des alten Pierre … Ich habe Isabell mit einem der acht Insulaner hier einmal belauscht. Ich schäme mich dessen. Es war der Haiangler, Abelsen … Trotzdem mag Isabell nicht … nicht ganz verdorben sein, obwohl …« – sie wandte sich zur Seite – »kein Weib zu solchen Mitteln greift, einen Mann zu reizen, wie sie es tat … Absichtlich ließ sie sich in der Segelkammer in dem Zustande festbinden … Wir waren Gefangene, wir Larsens – sie hatte heimlich volle Bewegungsfreiheit … Und – um Sie ging es ihr, Abelsen! Vor Ihnen fürchteten sie sich, diese Verschworenen, die da die Höhle im Riff ausplündern möchten, falls es dort etwas zu rauben gibt: Gold! – ich weiß es nicht!«
Larsen kam die Brückentreppe empor. Sein braunes Gesicht war finster und fast tückisch.
»Kanaille, die …!!« platzte er heraus. »Grita hat recht, die Waffen lagen im Bett, Olaf!! Aber jetzt liegt sie ihm Bett, und der Teufel hol's: ich habe sie gefesselt, daß sie kein Glied rührt, habe ihr das Heuchlermaul verstopft … Die Augen hättest du sehen sollen, Olaf!! Tigerin!!«
Er reichte mir meine Winchester.
»Ich habe auch Helga geweckt … Helga bewacht sie … Nun vorwärts – die acht ›Getreuen‹, die den armen Nataupo ins Meer beförderten, sollen es nicht besser haben als ihre Herrin!«
Sie hatten es schlechter, die acht … Verdammt schlechter!! Einzeln nahmen wir sie vor – zwei versuchten kümmerlichen Widerstand, dem einen flog Men Huleb an die Kehle, und die Leiche schwimmt irgendwo, damit der arme Nataupo Gesellschaft habe – so dachte ich.
Ich war gerade in der richtigen Stimmung für solche Gelichter. Den Herrn Haiangler knotete ich in eine Schlinge, da der Kerl nicht reden wollte, und warf ihn über Bord in die silberne Flut – – er brüllte, er sah die Haie … und wurde zahm und redselig.
Zitternd, triefend, die Augen herausgequollen stand er wieder vor uns.
Das Examen begann …
Und dann waren wir so ziemlich im Bilde … Nur Isabells Rolle bei alledem blieb etwas dunkel.
Der Kerl hieß Matamata. Ein sehr klangvoller Name.
»Nun, mein Sohn Matamata – wie war die Geschichte eigentlich … Ihr kamt mit einem Schoner nach den Hebriden und hattet vor Apemama Schiffbruch?«
Meine Pistolenmündung kitzelte sein Herz …
»Kein Schiffbruch, Herr … Wir landeten heimlich …«
»Aha … – Hektor, Isabell, ihr acht …«
»Nein, zwölf waren wir … Die anderen segelten heim nach Francislan …«
»Brav, mein Sohn – nur weiter … Ihr wußtet, daß in Apemama Larsens Dampfer ankerte?«
»Ja, Herr …«
Und so zapfte ich ihm die Wahrheit heraus … Aber über Isabell behauptete er Dinge, die gar nicht recht in das Gesamtbild paßten.
»… Sie hat Angst, Herr …«
»Vor wem?«
»Vor Hektor Garnier … große Angst … Er … ist ein Teufel … Alle fürchten ihn. Sie gehorchte nur … Sie wollte nicht …«
Matamata hielt hier in diesem Punkte offensichtlich mit etwas zurück.
»Und Malmotta?« fragte ich weiter. »Ihr wolltet dorthin … Ihr hattet die anderen für euch gewonnen. Was wolltet ihr auf Malmotta?«
Der Francislaner kämpfte mit sich, schnappte nach Luft, bewegte die Lippen und stieß dann hervor:
»Ich … sterbe, Herr! Man wird mich töten.«
Graue Flecke erschienen um seine breiten Nasenflügel. Der Kerl hatte entsetzliche Angst.
»Du willst also nicht antworten?! – Du weißt etwas … – Larsen, gib mal wieder die Leine her. Matamata wird sterben, die Haie sind hier in der Nähe der Insel ziemlich zahlreich, finde ich …«
Matamata knickte in die Knie, winselte stöhnend: »Herr, Krikatawu war einer von Käpten Bolks Leuten – vor vielen Jahren, und Krikatawu war Mr. Petersens Diener – – als Malmotta versank – – vor vielen Jahren, da rettete er sich … Er wußte, daß die Insel wiederkommen würde, wenn die Götter der Tiefe ihre Stimmen hören lassen … Es … soll Gold sein auf der Insel, viel Gold, Herr … das wollten wir holen …«
Also doch!! – Gold – Gold aus dem uralten spanischen Wrack …!
Ich lachte dem bibbernden Burschen ins Gesicht. »Und in der Höhle im Riff glaubtet ihr es finden zu können, ihr verdammten Schurken! Sucht dort nur! Ich kenne die Höhle … Keine Spur von Gold!!«
Dann schafften wir auch Matamata ins Vorschiff und banden ihn auf seinem Bett fest. Auch er bekam einen Knebel, er war fromm wie ein Lamm und schien sehr zufrieden, daß das Verhör so glimpflich abgelaufen war.
»Was nun, Larsen?« Wir schritten über das leere Deck … Droben auf der Brücke stand Grita am Rad, und der Wind preßte ihr die leichten Kleider gegen den straffen, fülligen Körper.
Der Norweger meinte bedächtig: »Umkehren, Olaf!! Deine Freunde sind bei König Missili auf Atauo, und Missili hat viele Krieger. Wir hätten sofort dorthin Kurs nehmen sollen. Das Frauenzimmer unten narrte uns …«
Ich hatte bereits denselben Gedanken gehabt. Anderseits lockte es mich, auch die Insel Francislan mir genauer anzusehen. Auf ein paar Stunden mehr oder weniger kam es schließlich nicht an.
Larsen hatte nichts dagegen. »Wenn wir diesseits der Riffe bleiben, kann uns nichts zustoßen … Vorläufig halten wir weiter auf die Leuchttürme zu … Sobald es hell ist, umrunden wir die Insel, booten die Gefangenen und das Frauenzimmer aus und brauchen dann nicht mehr auf sie achtzugeben.«
Als Grita von diesem Plan vernahm, erklärte sie sehr bestimmt: »Auf diese Weise laßt ihr den Francislanern Zeit, vor uns in Malmotta zu sein. Sie haben Schiffe, Bruder, du weißt es – zwei Motorschoner, einen kleinen Dampfer … Sollen Sie stehlen dürfen, was Abelsen gehört?! Malmotta ist seine Insel, und daß auf Malmotta Gold verborgen ist, glaube ich bestimmt.«
Dieser Einwand des stolzen Mädchens machte auf mich wenig Eindruck. »Und wenn dort Millionen und Abermillionen ruhten«, meinte ich achselzuckend, »– ich würde nichts davon anrühren! Ihr kennt mich noch zu wenig, Freunde …!«
Grita Larsen sagte schlicht: »Sie würden doch gewiß meinem Bruder gern den schweren Verlust ersetzen, Abelsen, den er durch das Kentern des Hardanger erlitten hat. Der Dampfer war nicht versichert, und wir Larsens sind nun fünf Jahre in der Südsee und haben gearbeitet und gespart und immer nur gearbeitet, damit wir einmal in die Heimat als reiche Leute zurückkehren könnten. Wir verachten das Gold, wie Sie es tun, Abelsen, aber mein Bruder hat Kinder, und Sven und Inge sollen nicht ewig auf dem Meere sich umhertreiben und aufwachsen wie die Wildlinge. Verstehen Sie mich?«
»Ob ich Sie verstehe, Mädchen!! Gut denn – ein besserer Plan … Welcher?! Schlagen Sie etwas vor!« Vielleicht klangen meine Worte trotz aller Herzlichkeit doch etwas, etwas ironisch, denn ich spürte den ruhigen, festen Blick ihrer Augen, ich spürte ihn nur, da ihr Gesicht dem Monde abgekehrt war und im Schatten lag.
»Ich hätte wohl einen Plan …« meinte sie mit ihrer abgeklärten Selbstsicherheit, die niemals den wahren Kern ihres Wesens, ein bescheidenes Beiseitestehen, aufdringlich überdeckte. »Vielleicht erwähne ich ihn, wenn es an der Zeit ist … vielleicht …«
Ihr Bruder, schlanke kernige Nordlandskiefer wie sie, klopfte mir halb belustigt auf die Schulter. »Freund Olaf – stille Wasser sind tief! Die Grita hat's in sich … glaube mir! Mach nicht den Versuch, ihr das Plänchen abzuschmeicheln – das wäre verlorne Liebesmüh! Ich könnte dir so manches Stücklein von ihr berichten – sie hat eine verdammt sichere Hand, und …«
Grita unterbrach ihn schroff: »Laß das!! – Ich denke, ihr habt Besseres zu reden als derlei Abwegiges. – Jedenfalls kommt wohl eine Fahrt zu König Missili nicht in Frage« – und sie ließ uns allein und verschwand im Achterschiff.
Larsen setzte seine Zigarre wieder in Brand, sehr umständlich, sehr sorgsam – alles, was er tat, geschah mit Bedacht, und es gehörte schon ein sehr starker Anlaß dazu, seine Nerven irgendwie ins Schwingen zu bringen.
»Machst du einen Vorschlag, Olaf?« fragte er und lehnte sich an das Rad. »Wir müssen mit der Sache ins reine kommen … Unten der Maschinenraum erfordert Aufsicht … Wir laufen nur noch halbe Fahrt …«
»Ich bin im reinen, Larsen … Ich gehe schon … Halte auf die Nordspitze von Francislan zu – ich suche unten das Nötige zusammen für meine kleine Expedition … Du hast mir die Insel genügend beschrieben, ich kenne mich schon aus auf dem Atoll, die Einfahrt in die Lagune liegt im Südosten, sagtest du, im Norden sei ein hoher Berg und die hohen Klippen der Löwenfarm … Die Francislaner werden Wochen brauchen, bis sie ihre Flotte wieder repariert haben …«
Larsen neigte sich vor …
»Wie, du … willst …«
»… ich will Verwendung für ein paar Pfund Blättchenpulver finden, allerdings … – Lösche unsere Positionslaternen, Larsen … Es ist besser, die Jacht bleibt unbemerkt …«
Dann saßen Men Huleb und ich unten im Maschinenraum … Der Pavian beobachtete mich unausgesetzt – der Lärm hier unten, der Feuerschein der Kessel, das Zischen des überhitzten Dampfes störten ihn nicht. Mit klugen Augen schaute er zu, wie ich mit der Kneifzange aus den reichlich vorhandenen Büchsenpatronen das Blättchenpulver entfernte, indem ich Kugel und Filzpfropfen herauszog – wie ich dann ebenso vorsichtig das gesammelte Pulver in sechs kleine Blechbüchsen verteilte, die Zünder anbrachte, die Büchsen mit Eisendraht umwickelte und schließlich diese provisorischen Sprengbomben in Öltuch wasserdicht einband.
Zwischen Men Huleb und mir gab es jetzt Zwiegespräche wie einst zwischen mir und Freund Fennek. Ich sprach mit ihm – mir genügten die Nähe eines lebenden Wesens und ein gelegentliches zustimmendes Grunzen meines stämmigen Freundes mit den vier Greifhänden. – Er war ganz dicht neben mich gerückt, wir saßen auf einer breiten Bank unweit des Kessels, über uns baumelte eine elektrische Lampe, und diese ganze Situation war mir deshalb lieb, weil sie mir neu war. So hatte ich noch nie in einem Maschinenraum gehockt, so … allein, so ganz hingegeben einer Arbeit, die auf Vernichtung abzielte, und meinen Gedanken, die in die Vergangenheit tasteten und dann wieder in die Gegenwart eilten und all die vielen dunklen Fragen zu lösen suchten, die sich mir hartnäckig aufdrängten.
Es roch hier nach Öl, heißem Metall, nach Brackwaser – es war das Parfüm aller Maschinenräume tief unten im Schiffsbauch, wo die Heizer und Maschinisten nichts von der Oberwelt sehen und nur einen Orkan an den stärkeren Schwankungen spüren und … kläglich ertrinken, wenn droben das Unheil irgendwie hereinbricht …
»Glaubst du, Freund Huleb, daß es auf Malmotta Gold zu finden gibt?! – – Mag sein … Wir werden sehen … – Gold ruht dort, das stimmt schon – zwei goldene Herzen in einem Grabe, Men Huleb … – Du hast Jane nicht gekannt, Men Huleb. Auch den kleinen Fennek nicht. Oder doch?! Sahst du sie vielleicht dort im Hafenort am Roten Meer in der Nähe deiner heimischen Berge, wo ihr eure Tanzplätze habt und wo ihr die Felder der Abessinier plündert und den Leopard mit Steinen bombardiert? – Ja, Gold ruht dort schon, aber nicht jenes trügerische gelbe Metall, das der Welt größter Satan ist. – – Nun wären wir also mit dieser Arbeit fertig, Men Huleb … Vielleicht nehme ich dich nachher mit, wenn wir über die Riffe zum fremden Strand waten. Deine Sinne sind schärfer, du witterst die Gefahr früher – wenn du nur schwimmen könntest, denn wir werden schwimmen müssen, und dich und diese sechs Kapseln hier kann ich nicht tragen, ich muß noch Waffen mitnehmen … Nun, wir werden ja sehen …«
Men Huleb kratzte sich irgendwo am Hinterschenkel. Ein Pavian ohne Flöhe ist undenkbar, und der gute Men hat von den Hüpfern im Übermaß. Niemand sammelt sie ihm ab, und in der Schiffskabine befindet sich kein wirksames Mittel gegen diese Blutsauger …
… So verstreicht eine Stunde …
Dann von oben her aus dem Riesentrichter des Sprachrohrs eine Stimme – – Larsen:
»Hallo … halbe Fahrt … stoppen!! – – Langsam rückwärts …«
Ich ziehe an Hebeln und drehe blanke Räder.
Men Huleb glotzt starr in den Trichter hinein, tut dann einen Riesensatz und untersucht das Ding aus der Nähe, faßt mit dem Arm hinein und grunzt enttäuscht und springt herab.
Ich höre, wie die Backbordwand irgendwo entlangschrammt – –
Die Jacht liegt still.
»Komm nach oben, Olaf!«
Wir turnen Eisenleitern empor – sind an Deck …
Die Jacht »Star of London« liegt zwischen hohen Kalkriffen. Larsen hat wirklich das Kunststück fertiggebracht, sie unbeschädigt durch ein gefährliches Fahrwasser bis hundert Meter an den Inselstrand zu lotsen.
Er steht mit Grita ganz vorn, und als ich mich nähere, dreht das Mädchen sich um und schaut mir still entgegen.
»Dasselbe wollte ich tun, Abelsen«, sagte sie leise. »Aber es ist besser Manneswerk … – Glück auf!«
Ein Händedruck – ihre kühlen Finger ruhen in den meinen, und dann spüre ich, wie die Wärme in diese Finger steigt, wie das Blut pulsiert, und ich errate all das Unausgesprochene zwischen uns.
Langsam schreitet sie davon.
Larsen und ich verabreden, was noch zu verabreden ist. Ich habe es eilig. Der Mond ist bereits verschwunden, feiner Dunst liegt über dem nahen großen Atoll mit seinen Palmen und Büschen und dem fast weißen Außenstrand, wo das gierige Meer Tag für Tag an dem Korallenbau nagt und scheuert und reibt und aus Korallensteinen feinen Sand mahlt.
Die Brandung steht an der Südseite, hier haben wir verhältnismäßig ruhiges Wasser – es ist Ebbe, und die bunten Korallenbauten liegen bis zum Strande frei, nur durchzogen von schmalen Kanälen. – Ich werde Men Huleb doch mitnehmen.
Larsen ist plötzlich etwas gerührt, beginnt mir abzuraten von dem gefährlichen Streich … »Olaf, es ist krasse Selbstsucht von mir, daß ich es dulde – daß du deine Haut zu Markte trägst …«
»Bitte, es handelt sich um Malmotta, und Malmotta ist mein! Käpten Bolk hat sie mir übereignet – – meine Insel, Larsen, also auch mein Gold, falls es dort etwas von diesem … elenden Zeug gibt! Dir gönne ich es, dir und den Deinen … Und Gefahr?!?! – Larsen, hinterm Ofen sitzen und Zeitung lesen – am Schreibtisch sitzen und Koupons schneiden – – all das, was so am Wege des Alltags an sogenannter Daseinsbetätigung als zahllose Butterblümlein gedeiht, das liegt mir nun mal nicht! Das Unkraut pflücken überlasse ich gerne andern – bekanntlich bekommt man von dem Saft der Butterblumenstengel klebrige schwarze Finger … – Leb wohl, Larsen … Sollte mir etwas zustoßen – vergiß die Gräber auf Malmotta nicht! Das eine Grab besonders! Beinahe hätte ich das Andenken dieses Grabes heute geschändet … Wir bleiben immer halbe Tiere, wir gesunden Männer … Der Trieb läßt sich nicht zähmen, im Grunde wäre es auch Unnatur …«
Ein Händedruck – das Fallreep liegt schon unten auf dem grobkörnigen Felsen auf – ein leiser Pfiff, Huleb trottet hinterdrein, und mit meinem Bündel, meinen beiden Pistolen und dem langen Jagdmesser wate ich landwärts …
Das Rauschen der Palmen kommt näher, ich sehe rechts den bewaldeten Berg liegen, ich ducke mich zusammen, springe, wate, gleite – schicke dann Men Huleb voraus – ich sehe seinen Schatten über den hellen Sand huschen – er tollt umher, er ist selig, einmal wieder festen Boden unter den Füßen zu haben – – dann hockt er still da, horcht, hüpft in die Büsche, erscheint wieder …
Ich darf ihm getrost folgen …
So betrete ich zum erstenmale die Insel Francislan, König Pierres kleines Reich – Pierres, der tot sein soll …
Blütenduft quillt mir entgegen … Helle frohe Sträucher, blütenbetupft, empfangen mich … Hohe Gräser wuchern im zermürbten Guano, Palmentriebe stehen wie Spargel, nistende Seevögel flattern empor, wenig scheu – ihre Nester stecken in tiefen Ritzen der Uferfelsen – – diese Insel ist eine begnadete Schöpfung, ihre Fauna und Flora scheint reichhaltiger als anderswo, ich erblicke riesige Fledermäuse, Nachtfalter, ich höre den schrillen Pfiff von Nachtschwalben – in den Büschen grunzen halbwilde Schweine – plötzlich tritt ein prächtiger gelbgrauer Ziegenbock mit mächtigem Gehörn ins Freie, starrt mich an … neigt den Kopf und … empfängt mich anders, möchte mich rammen …
Armer Ziegenbock!!
Wie ein Blitz fährt ihm Men Huleb in den Nacken, will zubeißen …
»Hierher, Huleb!!«
Der Bock flüchtet, und wir verschwinden in den Büschen, sind nach wenigen Minuten am Innenstrand, schleichen nach rechts, finden auch ein langes schmales Kanu, darin ein Blattruder …
Es geht die Lagune hinaus. Ganz fern im Süden dieses Binnensees bemerke ich ein paar Lichtpünktchen, dort liegt die Hauptstadt von Francislan, Francetown genannt … Dort müssen die Schiffe ankern …
Wenn ich Glück habe, werden die Schiffe in einer Stunde böse Löcher haben!
… Ich habe kein Glück gehabt. – Es wäre ja auch zu merkwürdig gewesen, wenn ich nach Janes Tod noch irgendwie, irgendwo vom Zufall begünstigt worden wäre! Wen das Schicksal trifft, den trifft es immer wieder …
Gewiß, die Lagune war wie leergefegt. Die Francislaner schliefen. So schien's.
Immer deutlicher wuchsen aus dem leichten Dunst die Konturen zweier Schoner und eines kleinen Dampfers hervor …
Immer klarer sah ich auch am nahen Südstrand Pierres Hauptstadt – zierliche Häuser, lustig auf Pfählen ruhend, große lange Wellblechschuppen, mehr im Grün dahinter drei imposante Bauten aus Korallenziegeln.
Der nächste Schoner sollte zuerst daran glauben. Lautlos schob sich das Kanu unter das Heck, lautlos vertäute ich das Kanu an dem plumpen Steuer – niemand störte mich …
Heraus mit zwei Bomben aus dem Beutel … Heraus mit Hammer, Nägeln …
Ein einzelner Schlag auf den Nagelkopf dröhnt – ich hänge die Bomben an … Mein Feuerzeug sprüht, die Lunten sind genau bemessen …
Da schrillt hinter mir Hulebs helles warnendes Keifen – kein Grunzen, fast ein Zischen …
Von oben fällt mir etwas über den Kopf – – mit barbarischem Ruck zieht sich die Schlinge zu … ich greife hoch, packe die Leine, die andere Hand fährt zum Gurt – ich schwebe schon – mein Messer rasiert den Strick, und ich falle zurück, habe im Nu die Pistole bereit, feuere … blindlings …
Löse das Tau, stoße ab …
Und – – das Blattruder gleitet klatschend ins Wasser – bevor ich es wieder auffische, schießen andere Kanus herbei – eine Stimme ruft von der Back des Schoners:
»Ergeben Sie sich, Mr. Abelsen – dort kommt die Jacht – sie ist unser!«
Ich blicke hin …
Langsam schiebt sich das weiße Luxusschiff durch die Einfahrt der Lagune …
Dieselbe Stimme, die nichts Drohendes an sich hat, warnt mich nochmals.
»Begehen Sie keine Torheiten!! Ihnen wird volle Gerechtigkeit werden – wir sind hier keine Banditen!«
Die Kanus mit braunen Kerlen in gelben Leinenanzügen und Tropenhelmen und Büchsen kreisen mich ein.
Francislaner Polizei!! Allerhand Achtung!! Das nenne ich Zivilisation!! Ein Kerl mit blondem Schnauzbart und Hornbrille reckt die Hand aus …
»Im Namen des Gesetzes dieser freien Insel – ich verhafte Sie!«
Respekt vor solchen Herren, Respekt!!
Die Skatpartie ist höchst ungleich … Ich habe mein Nullspiel verloren.
»Ihre Waffen – bitte …?!«
»Sofort …!«
Und denke … »Warte!!«
Noch flackert mein Feuerzeug am Boden des Kanus … zu meinen Füßen liegen die Bomben …
Ich hebe die eine empor …
Die Lunte sprüht …
»Bitte – ein Kilo Dynamit, mein Herr«, sage ich mit ausgesuchtester Höflichkeit zu dem Polizeichef. – Es ist zwar gelogen, aber weshalb soll ich den Leutchen nicht einen kleinen Schreck einjagen. Ich bin bei Laune. Es ist die Laune jener, die nichts mehr zu hoffen haben.
Dynamit zieht …
Die Kanus fliegen auseinander …
»Dynamit!« kreischt der Bebrillte.
Von der Back des Schoners fegt eine Kugel haarscharf an meiner Nase vorüber …
Noch habt ihr mich nicht!!
Die Bombe fliegt, die Lunte sprüht, und Seine Erhabenheit Hektor Garnier, der Schießer, sieht das Ding auf den Schoner zufliegen …
Die Kanus sind futsch …
Ich lache herzlich … Ich fische mein Blattruder heraus, und mein Kanu schäumt vorwärts, das Spiel meiner Muskeln macht mir Freude – – es geht der Jacht entgegen – hinter mir her keifen noch einzelne Schüsse, und ich, den Strick noch um den Hals, werde am Fallreep von Isabell begrüßt …
Hinter ihr mindestens zwanzig Francislaner, die Hälfte modern in Kluft, die Hälfte nur in Schwimmhosen …
Isabell beugte sich rasch zu mir herab …
Flüstert:
»Ergeben Sie sich, Olaf … Ich werde Sie retten …«
Und laut und herrisch, bestimmt für ihr Gefolge:
»Ihre Waffen!! Bitte!!«
Isabells Gesicht ist noch bleicher als sonst …
Das Wiedersehen mit Larsen war etwas tränenreich – Frau Helga hatte sich wenig in der Gewalt, auch die Kinder weinten – Larsen selbst reichte mir stumm die Hand, und Grita blickte mich nur traurig an. Und doch lag zu Tränen vorläufig kein Grund vor, wir wurden durchaus anständig behandelt, in ein Motorboot verladen und zu einem hellgestrichenen Landungssteg gebracht, eskortiert von dem Bebrillten und zwanzig farbigen Polizisten, deren straffe Gestalten mir sehr gefielen.
Plötzlich flammten über dem Landungssteg zwei elektrische Bogenlampen auf – und im selben Augenblick wurde auch die ganze Umgebung verschwenderisch von Laternen, Ampeln, Kandelabern beleuchtet – die Schuppen und Hafenanlagen zeigten mir all ihre erstaunlichen Einzelheiten – sogar eine Uferbahn bemerkte ich – am meisten aber imponierte uns die breite Hauptstraße von Francetown, eine Avenue mit Palmen, Fußsteigen, sauberem Muschelkies, Laternen, freundlichen Hausfronten, Reklameschildern von Kaffees und Kneipen, ein paar breite Schaufenster – dann ein weiter Schmuckplatz, flankiert von drei Regierungsgebäuden dieses Miniaturstaates, den ein genialer Kopf hier förmlich aus dem Erdboden gestampft hatte.
Dieser Pierre Garnier mußte in der Tat ein Mann besonderen Formats gewesen sein.
Hinter uns die Hupe eines Autos – wie ein Schatten rollt ein offener hellgelber Wagen sanft knatternd vorüber – hinten in hellbraunen Lederpolstern Isabell und ein Mann, den ich nie vergessen werde – ihr Bruder Hektor –, vorn neben dem Chauffeur ein Diener in Livree, die Arme über der Brust gekreuzt …
Spuk in der Südsee …
Wenn's noch auf einer der bekannten Inseln gewesen wäre!! Aber hier in diesem gottverlassenen Winkel des Pazifiks eine Stadt mit elektrischem Licht, Lichtreklamen, Autos, uniformierter Polizei …
Es sollte noch besser kommen!!
Hektor Garnier, Präsident von Francislan, empfing uns im Saal des Parlamentshauses, umgeben von seinen Würdenträgern – ein Prunksaal, die ganze Aufmachung stark operettenhaft, die hohen Herren weiß Gott im Frack, sehr würdig, aber infame Gaunerschnauzen über weißen Stehkragen …
Ja – Hektor Garnier …!
Ich muß erst Atem holen, bevor ich weiterschreibe …
Also – – er …!!
Auf einer Art Prunksessel, auf einem erhöhten Podium, über dem ein gelbseidener Baldachin schwebte …
Er saß ganz zwanglos da, dieser kleine, etwas aufgeschwemmte Mensch mit gedunsenen Schauspielerzügen …
Auch im Frack …
Sein Gesicht hatte sich ein sanftes Lächeln angewöhnt, die dunklen Augen blickten treu und brav – vielleicht hätte mancher erklärt: sehr harmlos, sehr sympathisch.
Aber …
Wer dieses Gesicht zergliederte, wer dieses Lächeln wegwischte und diese Augen und den Mund und das fliehende Kinn, die allzu großen Ohren, die geniale Haartolle, die dünnen Augenbrauen, das nervöse Zucken der Lider und das verräterische schräge Emporziehen der Mundwinkel richtig deuten konnte: eine lauernde Bestie, wahrscheinlich ein jämmerlicher Feigling, ein aufgeblasener Strohkopf, der jede Pose bis ins kleinste studiert hatte!
Und so war dieses Scheusal auch.
Er richtete sich langsam straffer auf, beugte sich etwas vor, musterte uns gelangweilt …
»Ich freue mich, Sie hier begrüßen zu können«, sagte er mit einem so kalten widerlichen Hohn, mit plötzlich so frech grinsender Visage, daß mir die Faust juckte. – Sein hohnsprühender Blick blieb auf mir ruhen.
»Abelsen, nicht wahr?!«
» Mr. Abelsen – für Sie!! Allerdings!«
Ich habe nie über eine schwache Stimme zu klagen gehabt …
Der Herr Präsident fuhr jedenfalls leicht zurück – dann schoß ihm das Blut in die fahlen Wangen.
»Morgen stehen Sie vor Gericht, Sie … Pirat!!« keifte er mich an … »Vor Gericht – Sie!! Wir sind hier ein Kulturstaat, und …« – er lächelte plötzlich wieder – – sehr, sehr liebenswürdig …
»… und mein seliger Vater schaffte sogar ein Fallbeil an …«
»Für Sie!« – und dieser Narr war verblüfft, daß ich so herzlich lachen konnte …
Aber Kanaillen wie dieser Bursche vertragen alles, nur das eine nicht: von anständigen Menschen nicht ernst genommen zu werden!
Er wurde erdgrau im Gesicht vor Haß und Wut …
Er riß den Mund auf …
Noch war in seinem Verbrecherhirn das Scheußliche nicht ausgereift – dann kreischte er:
»Das Mädel sofort in mein Schlafzimmer – – sofort!!«
Seine zitternde Hand deutete auf Grita Larsen.
»So … fort …!!«
Und die Leute in Gelb mit den protzigen Silberraupen und Fangschnüren packten auch zu …
Flogen zurück … Larsen schlug zu … Ich war mit zwei Sprüngen die zwei Stufen hinan. Der elende Wicht wollte sich ducken … Meine Faust fegte ihn und den Sessel in eine Ecke …
Jemand sprang mich von hinten an – – ein riesiger brauner Kerl – – Men Huleb war flinker …
Schüsse knallten …
Ungeheurer Lärm schwoll an …
Urplötzlich …
Urplötzlich erlosch das Licht, und aus der Finsternis irgendwoher erklang Isabells eisiges Organ hinein in die jähe Stille:
»Hektor – – zwinge mich nicht, unsere Untaten der englischen Regierung zu melden …! Du weißt, ich habe mir den Rückzug gesichert! Hüte dich!«
… Kaum schwieg diese Stimme, als ich Men Hulebs jämmerliches Kreischen auffing …
Da … flammten die Lichter wieder doppelt blendend auf – – man packte mich – ein Hieb über den Kopf raubte mir die Besinnung.
– – Jetzt sitze ich in der Zelle des Staatsgefängnisses von Francislan.
… Es ist alles, alles wieder so anders geworden.
Ich bin mit Isabell zwei Stunden am Außenstrand entlanggewandert, fast um die ganze Insel herum – bis zu einer kleinen grünen Landzunge, vor der im Bogen ein Riff sich hinzieht und so ein riesiges, sicheres Badebassin schafft, in das kein Hai hineingelangt.
Men Huleb war nicht bei uns. Er hat Stubenarrest, er hat zwei Schüsse abbekommen, aber er wird gesund werden.
Mein Zimmer hier im Palast des alten Königs Piere hat die Aussicht auf die Lagune und die Einfahrt. Keine schöne Aussicht trotz der prächtigen Palmen – denn da drüben zwischen einzelnen Stämmen leuchten helle Balken, an denen wie Marionetten reglose Gestalten baumeln und im Winde sanft hin und her pendeln.
Vierzehn sind's …
König Pierre hat Gericht gehalten, jedoch nicht über uns.
Ich schwelge hier in europäischen Bequemlichkeiten, die Zimmereinrichtung ist beinahe zu elegant, und sicherlich ist die Ecke des Brokatsofas dort zu schade für einen Mantelpavian, der dicke Mullbinden um den Leib trägt und nach Jodoform riecht.
Es ist nichts dagegen zu machen: Men Huleb liebt die Sofaecke!
Die Sonne ist noch nicht ganz untergetaucht … Blutrot schimmert sie durch die schlanken Palmen, als ob dort in der Ferne ein Riesenfeuer lodert.
Die Palmenkronen glühen, die Lagune zeigt rosige Streifen, die Möven erscheinen rosig gepudert – – eine Farbenorgie …
Aber …
Drüben baumeln die armen Schächer, Hektors Spießgesellen …
Wie immer ist der Haupthalunke entkommen. Hektor entfloh mit der Jacht, und …
Doch nein – eins nach dem andern.
… Meine Zelle also … Jetzt sitzt darin einer, der morgen an die Reihe kommt, der Herr Polizeichef Linggeser, Fritz Linggeser, ein ††† Deutscher. Er war Hektors gefügigstes, schlauestes Werkzeug – ein verlogener Chronist würde von ihm sagen: Er war ein einfacher Matrose, der sich der überlebten Disziplin an Bord eines Schiffes nicht fügen wollte, ein Mann von hervorragenden Gaben, die er dann in den Dienst der Allgemeinheit stellte.
Er war in Wirklichkeit ein gemeiner Dieb, ein schamloser Kriecher, ein noch schamloserer Nutznießer all des Guten, das Pierre Garnier hier hervorgezaubert hatte – er war der treuloseste, undankbarste Schuft, der je einen blinden Idealisten wie Pierre allmählich einzuwickeln verstand und eifrigst mithalf, seinen Wohltäter zu beseitigen!
Im Grunde waren sie alle vom gleichen Schlage, diese weißen Verräter, die Pierre einst im guten Glauben an die Besserungsfähigkeit solchen Gezüchts auf seiner Insel gastlich aufgenommen hatte.
Sie baumeln …
Morgen folgen die letzten, die schlimmsten, und auch Hektors Stunde wird noch schlagen!
… Meine Gedanken irren unwillkürlich ab – hin zum fernen Insellande Borneo, zum einstigen verborgenen Reiche meines Freundes Chi Api …
Auch das da war ein winziger Staat … Auch dort packte mich das Grauen mit eisiger Faust – aber dort gab es kein weißes Gelichter wie diese Herrschaften hier, die die goldenen Teller leerfressen wollten, die ein anderer erworben und gefüllt hatte.
Ekel steigt in mir hoch …
Doch ein Blick in die Farbenorgie da draußen – – und ich werde wieder kühler sachlicher Berichterstatter.
Ich hatte mich abends niedergelegt auf den raschelnden Laubsack in meiner Zelle – schlafen konnte ich nicht, ich hörte draußen die Wache hin und her gehen, ich hörte des Polizeichefs schleimiges Organ – Herr Linggeser nannte meinen Namen – – ich verstand deutlich »Erschießen …« – ich flog empor, packte den Stuhl … – So leicht würde ich es den Schuften denn doch nicht machen.
Ich war wach wie nie, ich fühlte meine Stahlmuskeln …
Ein Schlüssel fährt ins Schloß …
Die Tür fliegt auf … Wie ein Blitz bin ich draußen – der eiserne Stuhl kracht – ein Schuß fällt – Gestalten huschen herbei … voran ein bekanntes Gesicht: Nataupo, der Totgeglaubte, unser Steward!
Nackte, halbnackte Insulaner ringen den Herrn Chef zu Boden …
Nataupo sagt nur: »Herr, du wirst uns helfen. Begleite mich … Noch haben wir Zeit.«
Er führt mich nach unten in ein luftiges Zimmer – an einem langen Tisch sitzen acht der braunen Polizisten, und an den Wänden lehnen ein Dutzend Insulaner, bis an die Zähne bewaffnet.
Rechts steht ein kleiner Tisch, ein Rohrsofa, zwei Stühle …
Dort … sitzen Larsen. Er, sie, Grita, die Kinder … Und nicken mir zu, lächeln etwas verwirrt und verstört. Wir begrüßen uns stumm – bei solcher Gelegenheit ist es schwer, das richtige Wort zu finden. Händedrücke, Blicke genügen. Aber uns allen, die wir hier der schamlosen Willkür dieses gleisnerischen Schurken Hektor Garnier preisgegeben waren, fällt doch eine schwere Last von der Seele, unsere Mienen entspannen sich, und die Freude der Freiheit überstrahlt unsere Züge.
Nataupo, dieser Gilbertinsulaner mit den sanften Augen und ruhigen, geschmeidigen Bewegungen, hat auf jedes überflüssige Kleidungsstück verzichtet und trägt lediglich eine blaue Kniehose, um die Hüften einen Ledergurt mit Pistolen und Messer, über der ebenfalls nackten, samtartig tuffen braunen vorgewölbten Brust einen Patronengurt und … um den Hals einen Orden, den des Königs Pierre, aber »erste Klasse«. Das blanke Ding macht sich etwas komisch auf diesem ungeheuren Brustkorb, um den die Muskelgruppen wie die Stränge liegen. Die hellblauen zarten Tätowierungen auf Nataupos Stirn und Wangen scheinen heute greller zu leuchten als sonst. Das mag am Lampenlicht liegen. Auch hier strahlen elektrische Birnen – ein weltfernes Atoll mit elektrischem Kraftwerk bleibt eine große Seltenheit.
Der Insulaner, höher gewachsen als die hiesigen Francislaner, die kleiner und massiger wirken, betrachtet kühl die entwaffneten Polizisten am langen Tisch, die sich offenbar sehr unbehaglich fühlen. Dann wendet sich Nataupo uns zu und verneigt sich mit fast ungezwungener Höflichkeit, tritt näher und sagt leise:
»Hektor Garnier, der Verräter, war heimlich an Bord der Jacht … Er schoß auf dich, Herr.« Seine Augen begegnen den meinen … »Er tat das Gift in die Suppe, Herr, er zwang seine Schwester zu all dem Schlechten, das geschah – ob es seine Schwester ist, weiß niemand … Als er mich dann im Kielraum der Jacht niedergeschlagen hatte, gab ich alles verloren. Er versteckte mich in einer leeren Proviantkiste, er selbst benutzte eine zweite als Versteck.«
Nataupo spricht fließend englisch – auch seine Ausdrucksweise ist anders als bisher – in seinen Sätzen drückt sich eine Intelligenz aus, die uns überrascht. Nataupo hatte früher vor uns eine gut einstudierte Rolle gespielt.
Die ganze Umgebung hier, die ungewöhnlichen Umstände erhöhen noch die hervorstechende Eigenart dieser Persönlichkeit.
»… Ich war dem Tode verfallen, Hektor hatte mir einen Knebel so fest in den Mund gezwängt, daß ich dem Ersticken nahe war. Ich konnte kein Glied rühren, konnte mich nicht melden, als ihr die Jacht immer wieder durchsuchtet. Es vergingen viele Stunden, ich verlor das Bewußtsein, erwachte abermals, und dann – es war bereits zu der Zeit, Herr, als du mit Men Huleb die Jacht an den Nordriffen verlassen hattest und die im Vorschiff untergebrachten sieben Francislaner den Käpten Larsen und die Frauen in ihre Gewalt gebracht hatten, denn Hektor Garnier hatte die sieben befreit – dann, Herr, wurde der Deckel meiner Kiste plötzlich emporgerissen, Miß Isabells Messer zerschnitt meine Stricke, drückte mir das Messer und eine Pistole in die Hand und verschwand wieder. Ich schlüpfte an Deck, glitt am Bug an einem Tau ins Wasser und erreichte schwimmend das Dorf der Insel, das an der Westseite der Lagune schräg gegenüber der Stadt liegt und nur von ›echten‹ Francislanern bewohnt wird, die schon längst mit der Herrschaft der Zugewanderten unzufrieden waren …«
Nataupos knappe Schilderung der Ereignisse auf der Jacht löste so manche bisher unklare Frage. Überraschend für mich war Isabells Eintreten für Nataupo – wir hatten sie also doch zu hart beurteilt und verurteilt.
Nataupo fügte etwas lebhaft hinzu:
»Alles übrige kann euch Pierre Garnier mitteilen … – Er lebt … – Nun kommt – die Frauen mögen hier warten … Der Erfolg dieser Nacht hängt davon ab, ob wir ohne viel Lärm den Leuchtturm dort auf der Löwenfarm stürmen können.«
Mochten Larsen und ich auch noch so dürftige Aufklärung über Vergangenes und Gegenwärtiges durch den intelligenten Gilbertmann erhalten haben: wir konnten uns das, was den alten Pierre betraf, unschwer ergänzen.
Nataupo schritt voran …
Draußen zwischen Korallenfelsen und Büschen hockten im Mondschein in dieser wunderbar lauen Nacht an die hundert Francislaner, alle schwer bewaffnet – Greise, Männer, Jünglinge, sogar eine Anzahl Weiber.
Sie saßen stumm da – aller Blicke hingen auf Nataupo. Er nickte ihnen zu, deutete auf Larsen und mich und sprach halblaut ein paar Sätze in dem weichen, vokalreichen Dialekt der Sporadenleute.
Man gab uns Waffen, Patronen, Messer – fünf jüngere Leute schlossen sich uns an, und hinter Nataupo drein eilten wir einen Buschpfad entlang bis zum Außenstrand.
Etwa zweihundert Meter weiter ragten die drei hellen großen Riffe aus den gurgelnden, kurzen Wogen – es war die Zeit der einsetzenden Flut – der Pazifik schob seine enormen Wassermengen abermals in anderer Richtung – das Brausen der Brandung schwoll an – die bunten Felder der lebenden Korallenbänke kehrten in ihr Element zurück, versanken für Stunden und nährten sich weiter in dem tiefgrünen Riesenquell des Ozeans und wuchsen, und bauten neue Anhängsel ihrer gewaltigen seltsamen Staaten.
Auf einem der großen Riffe erhob sich der Leuchtturm, den ich bereits durch das Fenster meiner Zelle gesehen hatte.
»Dort!« sagte der Gilbertmann dumpf … »Dort – das ist Vater Pierres Löwenfarm, eine seiner vielen Schöpfungen. – Vater Pierre wollte er genannt sein von allen, aber die echten Francislaner, seine echten Kinder, titulierten ihn stolz König Pierre, weil das nun einmal hier in der Südsee so Brauch ist, wo jeder schnapsdurstige Häuptling eine große Rolle spielen möchte. – Vater Pierre ahnte nicht, daß er einmal inmitten seiner Löwen, die nur zu ihm so zahm wie Haushunde waren, von anderen Bestien gefangengehalten werden würde. Sie bewachen ihn voller Angst, daß einmal die Wahrheit an den Tag kommen könnte, sie wagten ihn nicht zu töten, als sie vor einem Jahr kurz nach deiner Abreise, Käpten Larsen, seine Getreuen ermordeten und die Gewalt an sich rissen.« – Nataupos Züge hatten nichts Sanftes mehr. »Auch mich hätten sie getötet – ich entfloh in einem Kanu, sie hielten mich für tot, aber ich erreichte ohne Wasser und Lebensmittel eine der kleinsten Inseln dort im Süden und lebte dort viele Monate, bis ich ein größeres Boot gebaut hatte und nach meiner Heimat Apemama zurücksegelte, wo ich gerade eintraf, als Hektor Garnier dich belog, Käpten Larsen, und du ihn mitnahmst … Ich kam als letzter an Bord, du erinnerst dich, und ich zahlte die Überfahrt bis Honolulu nur zum Schein und bat dich, den Heizern helfen zu dürfen. Du weißt es noch. Ich wollte von denen, die mich kannten, nicht gesehen werden. Und als sie mich sahen, hätten sie mich getötet, wenn ich nicht mit doppelter Zunge geredet hätte … Wir Gilbertleute gleichen einander oft wie die Zwillingsbrüder, und der Name Nataupo – Wind – ist dort so häufig wie bei den Engländern der Name Smith. Ich verstellte Sprache und Haltung und war wie ein Arbeiter von den Plantagen, nichts mehr, obwohl ich hier auf Francislan seit Jahren von König Pierres Weisheit gelernt und sein Vertrauen mir erworben hatte und im Dorfe der echten Francislaner Richter und Oberhaupt war.«
Er blickte prüfend über die brausende Flut – die Wogen leckten höher und höher, die Kanäle füllten sich, und schließlich blieben nur noch weit draußen die Reihen der Klippen und die drei hohen Korallenfelsen als siegreiche Kämpen gegen den anwachsenden Ozean übrig.
Wir standen geduckt hinter spärlichen Büschen, hinter uns türmte sich der grüne duftende Berg auf, neben uns schwankten im Winde die Stämme der segenspendenden Palmen. Zuweilen fiel eine überreife Kokosnuß krachend herab, hüpfte über Abhänge, brachte das Gestrüpp in Unruhe und lag still.
»Jetzt ist es Zeit«, sagte Nataupo dann.
Er hielt jedes weitere Wort für überflüssig. Er kroch hinab zum Strande und verschwand bis zum Kopf im Wasser. Ich sah, daß er seine Waffen mit der Rechten emporhielt und mit der Linken eine Stahltrosse umklammerte, die unter Wasser offenbar bis zur Löweninsel gespannt war.
So wateten wir acht Mann nach den hellen Felsen, umspült von Wasser und Gischt – als einzigen Halt gegen die Macht der drängenden Flut das harte, zerscheuerte Seil.
Wogen gingen über uns hinweg – Minuten kamen, in denen mein linker Arm, die blutig zerschundene linke Hand dem gierigen Ozean kaum mehr widerstehen konnten.
Aber – Nataupo hatte die günstigste Zeit gewählt, die Wachen drüben zu überfallen. Zur Zeit der steigenden Flut wagt niemand solchen Weg. Wir wagten ihn, um nicht bemerkt zu werden – und wie scharf der alte Pierre von den Burschen behütet wurde, sollte ich sehr bald erfahren.
Wir kämpften um unser Leben und um Pierre Garniers Freiheit. Wir kämpften uns vorwärts gegen die anrollenden Wasserberge mit dem verbissenen Ingrimm derer, die Gutes planen und die Elemente in ihrer hindernden Torheit nur belächeln. Wir stemmten die Schulter jedem heranbrausenden grünen Ungeheuer entgegen und ließen es über uns hinwegbranden, schöpften tief Atem, und hasteten und tasteten uns weiter, bis die neue Woge kam – wie Soldaten, die sprungweise gegen den Feind anrennen.
Dann wurden die Wasser des Pazifik friedlicher: die Riffe brachen ihre Kraft, wir befanden uns unter Wind in einem kochenden weißen Kessel von Schaum und tänzelnden kleinen Wellen.
Jetzt sah ich das mächtige Riff aus nächster Nähe. Wie eine uralte Burgruine, die von Vogelunrat weiß bespritzt ist, strebte es schroff empor – gut zehn Meter über die Flutgrenze, ein unregelmäßiger Korallenberg mit Rissen und Spalten – – ganz oben vier Palmenstämme, sanft zueinander geneigt – die Stützen des hölzernen Verschlages droben, in dem früher ein freundliches Licht bei Nacht über das Meer gefunkelt und gewarnt und gewinkt hatte.
Wir drückten uns an der Kalksteinwand eng zusammen, Leib an Leib.
Nataupo sagte zu mir: »Herr, der Schurke Hektor Garnier ist sehr mißtrauisch … Siehst du den Draht, der zum Ufer und zu der höchsten Palme des Berges und von da zur Stadt läuft? – Es ist ein sprechender Draht. Wir durften ihn nicht zerschneiden, denn die Wache in des Verräters Palast hat den Befehl, jede Stunde die fünf Leute anzurufen, die den alten Pierre behüten. Er und die fünf sind droben in dem Hause auf den Balken, und ich weiß, daß sie Pierre erschießen und in die See werfen sollen, falls Fremde sich dem Turme nahen. Außerdem, Herr – der Turm steht mitten in dem großen Gehege der männlichen Löwen, und es sollen jetzt dort fünf Löwen vorhanden sein, die Hektor absichtlich schlecht ernährt, damit sie jeden anfallen, der etwa bis zum Turme vordringen will. Die Wachen ziehen die eine Leiter, die zum Randgitter führt, stets hinter sich empor, so daß es eben keinen gefahrlosen Weg zu Vater Pierres Gefängnis gibt. – Was tun wir, Herr?«
Ich äugte noch schärfer hin, aber ich sah nur den Oberteil des Turmes. Zwischen den Stützbalken liefen Leitern hin wie bei jenen einfachen Balkenbauten, die man in den weiten Wäldern meiner Heimat als Beobachtungsstand errichtet, um das Wipfelmeer überblicken und rechtzeitig ein Schadenfeuer zu Zeiten der Dürre melden zu können.
Ich sah gegen den Himmel lediglich die zackigen Randfelsen der Löweninsel und das hohe Eisengitter – von den Tieren selbst war nichts zu spüren. Sie verhielten sich ganz still. Und das wunderte mich, denn hungrige Löwen streifen umher und knurren und brüllen.
Nataupo schien mit seiner Weisheit am Ende. Von mir erwartete er einen Rat.
Und – hier so rasch einen Entschluß fassen – ich bin nie für übereilte Pläne gewesen. – Hektor Garnier hatte seinen Vater nur zu sicher untergebracht. Wie sollte man an die fünf Kerle droben heran?! Wie verhindern, daß sie den Gefangenen nicht ermordeten, bevor wir zupacken konnten?!
»Nataupo, wann werden denn die fünf abgelöst?« fragte ich …
Doch auch die schwache Hoffnung zerrann …
»Morgens und abends, Herr …!«
Wäre die Ablösung in kurzem zu erwarten gewesen, hätten wir leichteres Spiel gehabt.
So, wie die Dinge lagen, konnte nur ein kecker Handstreich Erfolg versprechen.
»Bleibt hier unten!« sagte ich kurz …
Neben uns zog sich eine Spalte schräg aufwärts … Man hatte dort Stufen hineingehauen.
Die Redensart »Dem Kühnen lächelt das Glück« ist ebenso fadenscheinig und löcherig wie all diese Phrasen aus der Vorratskammer verstaubter Philosophen. – »Der Frechheit lächelt das Glück« wäre schon richtiger.
Noch richtiger ist: »Erfolg ist ein Kind des Zufalls und kühler Berechnung – und der Bruder der Leichtgläubigkeit.« – Dies habe ich einmal irgendwo gedruckt gefunden, und es hat sich mir so fest eingeprägt, als ob es eine besondere Weisheit wäre. Es mag ein tiefer Sinn darin liegen – zumindest wirkt der Spruch eigenartig.
»Nataupo, kennst du einen der Leute bei Namen, die jetzt dort oben wachen?« fragte ich und griff nach der untersten Stufe.
Einer der Francislaner antwortete sofort: »Atafu ist der Anführer, Herr – – Atafu, Oberkapitän bei der Polizei …«
Die Titel auf Francislan sind etwas ungewöhnlich. Oberkapitän – das erinnert so ein wenig an jene Zeiten, als in Mexiko die Armee mehr Generäle als Soldaten hatte.
Ich war zufrieden. Also: Atafu!!
Ich kletterte die Stufen bis zum Eisengitter hinan, dann lugte ich erst einmal geradeaus, was wohl die Löwen täten.
Ich sah sie – ganz hinten jenseits des Turmes, sie ruhten und … fraßen.
Ich habe gute Augen, und die Nacht war hell, fast zu hell jetzt. Der eine der Löwen bewegte sich, legte die Pranken anders, und da erkannte ich, was er fraß: er benagte ein menschliches Bein …! – Zeugfetzen waren dort umhergestreut, Reste einer Francislaner Polizeiuniform …
Was bedeutete das?!
Meine Augen wanderten nach oben. – In dem Balkenboden des »Taubenschlages« schimmerte matt ein erleuchtetes Viereck, eine offene Falltür, und die oberste Leiter lief in dieses Loch hinein.
Sollte etwa …?! – – Und wieder schielte ich nach den Löwen hin …
Frechheit siegt – im Nu über das Gitter – fünf Sprünge, ein Satz – ich packte die unterste Leiter …
Da flog einer der prächtigen Mähnenkerle empor … und bekam einen Tritt gegen die Schnauze, fiel zurück und kehrte sich beschämt ab.
Rauf auf die zweite Leiter …
Auf die dritte …
»Atafu!!« brüllte ich …
Brüllte ich …
Erfolg ist der Bruder der Leichtgläubigkeit …
Ich kam auf die dritte Leiter, die oben in das Loch hineinragte.
»Atafu … Atafu …!!«
Sie mußten mich hören … Aber kein Kopf erschien – nichts erschien.
Ich hielt die Pistole halb vorgestreckt, und mit einem kräftigen Schwung flog ich in den großen Käfig hinein … blickte rasch umher …
Es war ein Raum mit einem Fenster nach Norden zu, unter dem noch das Gestell für den Scheinwerfer stand.
Links standen eine Bank, ein Tisch – Flaschen, Gläser, Waffen darauf …
Vier gelbgekleidete Polizisten saßen dort, die Köpfe auf den Armen, weit über den Tisch gelehnt. Jeder hatte seinen Tropenhelm etwas ins Genick geschoben.
Mitten über dem Tisch hing eine Karbidlampe, deren Schirm nach dem Fenster hin durch schwarzes Tuch abgeblendet war.
Schliefen die Leute?!
Ein besonderer Gedanke kam mir …
Ich zog dem einen den Helm vollends ins Genick …
Der Mann war tot. Von seiner Stirn rann ein dünner Blutfaden über die schwarzen Augenbrauen.
… Da war auch eine Tür in der Wand gegenüber dem Fenster, mit Blech benagelt wie diese ganze Zwischenwand, mit starkem Eisenblech – mit zwei Riegeln, die sich durch Vorhängeschlösser verschließen ließen –, in der Mitte der Tür war ein Schieber aus Eisen angebracht – ein Guckfenster.
Ich schob die Eisenplatte zurück, denn die Riegel waren verschlossen.
Eine Hand legte sich auf meine Schulter …
»Wer sind Sie, mein Herr?«
Hätte ich Pierre Garniers Bekanntschaft auf andere Weise gemacht, dann würde ich nicht so rasch und so eindrucksvoll die seltsame Persönlichkeit dieses ungewöhnlichen Mannes durchschaut haben.
Ein Mann!!
Vor mir stand er – ein scharfgeschnittenes Gesicht mit weißem Knebelbart, weißem starkem Hängeschnurrbart, dicken buschigen weißen Brauen, großen dunklen jungen Augen und einer etwas fleischigen Nase mit kräftig betonten Nüstern. Das dünne gebleichte Kopfhaar war frei zurückgestrichen, mitten über den Schädel lief eine rote Narbe und markierte einen Scheitel – die Schultern fielen leicht ab, die in helles Leinen gekleidete Gestalt erschien zierlich und knabenhaft, aber in der ganzen Haltung lag etwas unbeschreiblich Selbstbewußt-Ausgeglichenes.
Er hatte die schmale zarte Hand etwas erhoben, und die Pistolenmündung berührte mein Herz.
»Wer sind Sie?!«
Die Stimme klang mild und warm, und doch traute ich dieser Stimme zu, das Gebrüll der Brandung zu übertönen.
»Nataupo wartet unten«, erwiderte ich – denn was hätte mein Name ihm genutzt?!
Er nickte nur. »Ich sah euch kommen, und ich habe auf Nataupo gehofft – die ganze Zeit … Ich war vorbereitet. In elf Monaten kann man seinen Kerker schon öffnen, wenn man nur vorsichtig ist.« Er bückte sich, und eine der Blechplatten neben der Tür löste sich … Dahinter klaffte ein zackiges Loch in den Wandbrettern.
»Hektor glaubte sehr klug zu handeln, als er die Wände meiner Zelle auch innen benageln ließ«, sagte Pierre mit einem kurzen Auflachen. »Hektor hielt mich wie einen kostbaren Besitz eingeschlossen, es hat mir an nichts gefehlt, ich kann mich wirklich nicht beklagen, nur etwas heiß war es da drinnen, und Hektor mag gedacht haben, die Sonne würde Henker spielen …« Wieder lachte er leise. »Die Sonne über meiner Insel verschonte mich, und eine schlau beiseite geschaffte Klinge meines Rasierapparats, den ich jeden Morgen benutzen durfte, kann in der Hand eines sehr geduldigen Charakters in elf Monaten Wunder vollbringen … Ich werde den Rest dieser Klinge in Gold fassen lassen und fernerhin stets bei mir tragen.« Er schob die Pistole in die Tasche und reichte mir die Hand.
»Ich danke Ihnen … – Sie haben für mich viel gewagt. Ich nahm Ihnen die Arbeit hier ab. – Wie heißen Sie?«
»Abelsen … – Wollen wir nicht aber besser den Turm verlassen und …«
»Nein. Der telefonische Anruf wird sofort erfolgen …« Er deutete auf eine einfache runde Wanduhr über einem Schränkchen …
»Um ein Uhr, Mr. Abelsen … – Ich werde antworten. Sie können Nataupo und die anderen holen – bitte.«
Ich blickte ihn an, und jetzt erst fiel mir auf, daß seine Züge in dieser unheimlichen Starre und Blässe entfernt an Isabell erinnerten.
Ich sage: Unheimliche Starre! – – Es war in diesem ruhigen, stillen Gesicht etwas so versteckt Drohendes, Finsteres, Unerbittliches, daß mir das Geheimnis der wunderbaren Erfolge dieses Südseepioniers mit einem Schlage verständlich wurde.
Ein Idealist – ja – aber ein ganzer Kerl trotzdem!! – Möglich auch, daß die elf Monate Kerkerschaft in diesem Brutkasten aus diesem Herzen alle Güte ausgebrannt hatten.
Dann schrillte auch schon das Telefon …
Pierre öffnete den Schrank, nahm den Hörer von der Gabel und sprach mit verstellter Stimme ein paar Worte in die Muschel und legte den Hörer wieder zurück.
»Alles in Ordnung«, nickte er …
Wir stiegen die Leitern hinab …
Nataupo kam uns entgegen – Herr und treuester Diener begnügten sich mit wenigen Sätzen, aber des Gilbertmannes Augen strahlten heller als die Sterne am ewigen Firmament.
Und dann?!
Kampf gegen die Wellen, Rückkehr zum Strande …
Pierre, der alte Pierre unter denen, die ihn noch immer liebten, unter seinen Getreuen, umringt, umjubelt – –
– – er starr, sein Lächeln starr …
Elf Monate in der vernichtenden Glut eines Holzkäfigs – – verständlich, daß in dem Manne die heilige Flamme erstickt war und ein fremdes Feuer diese Seele zerfraß.
Er fragte nichts, er sagte nichts – – er lächelte … Und so schritt er neben Nataupo voran über den knirschenden Korallenkies, hin zum Innenstrand, zu den vierzig Kanus – – eine lautlose Prozession der Rache glitt über das blinkende friedliche Wasser der Lagune …
Die Stadt des alten Pierre schlief.
Larsen und ich saßen hinten in dem langen Kriegskanu … Zwischen meinen Füßen hockte ein hundsschnäuziges Bündel: Men Huleb!! – Die Dorfleute, die echten Francislaner, hatten ihn halbtot im Busch gefunden, hatten ihn gepflegt, eine kundige Hand hatte die Schußwunden gesäubert, verbunden, und derselbe Mann hatte mir meinen Men Huleb am Binnenstrand in die Arme gelegt: so fanden wir uns wieder zusammen, der Mantelpavian und ich – wir gehörten zusammen, und das Geschick hatte nicht gewollt, daß Men Huleb elend krepiere.
Mein Herz war weit und froh, und meine Hand kraute Hulebs Kopf, und seine schwarzen Finger streichelten die meinen.
Die Stadt schlief, als ihr Begründer heimkehrte nach elf Monaten Qual und zäher geheimer Arbeit.
Die Stadt erwachte, als die ersten Schüsse fielen, als alle Lampen aufflammten.
Es war kein Straßenkampf, kein blutiges Ringen …
Es war ein leichter Sieg, denn die Fremdlinge, die hier in zierlichen Häusern hausten, hatten im stillen wohl auch die Rückkehr dessen herbeigesehnt, der ihnen ein gütiger Vater gewesen.
Daß gerade Hektor entkam und mit ihm ein Dutzend farbiger Matrosen:
Zufall?!
Auch Nataupo wußte nicht, daß dieser Schurke für diese Nacht die Jacht sich als verschwiegenen Platz seiner heimlichen Gier ausersehen hatte …
Hektor Garnier entwischte mit der Jacht – fand noch Zeit, die beiden Schoner und den kleinen Dampfer halb zu rammen …
Zufall?! – Nein!!
»Für den Elenden wäre der Strick zu schade gewesen … eine Kugel erst recht …!« sagte der alte Pierre am Morgen zu mir, als wir ohne jede Schutzwache durch die Straßen der Stadt schritten und überall von farbigen Weibern und Kindern freudig begrüßt wurden. Die Männer hielten sich noch sehr im Hintergrund, das schlechte Gewissen und wohl auch die ehrliche Einsicht ihrer schamlosen Undankbarkeit standen ihnen an der Stirn geschrieben.
Nur an einigen Stellen waren Wachen der alteingesessenen Dorfbewohner postiert – in der Ferne auf der Ringinsel knallte irgendwo zuweilen noch ein vereinzelter Schuß – die Hauptschuldigen entgingen ihrer Strafe nicht, und die Haifische hatten einen guten Tag.
Pierre fühlte wohl das Bedürfnis, gerade mir einen tieferen Einblick in seine Vergangenheit zu gewähren, und als wir am Außenstrand dicht an der Nordseite der Einfahrt in die Lagune im Schatten gelbblühender Büsche auf einem Korallenblock Platz genommen hatten, begann er ganz von selbst zu sprechen.
»… Ich bin kein reinblütiger Franzose, Mr. Abelsen. Mein Vater stammte aus der Normandie, meine Mutter war Portugiesin. Ich hatte Rechtswissenschaften studiert, nebenbei zeigte ich lebhaftes Interesse für soziale Fragen. Sie kennen sicherlich des Amerikaners Edward Bellamy utopischen Roman ›Ein Rückblick aus dem Jahre 2000‹. Dieses Buch machte mit seinem von wirtschaftlichen Erschütterungen befreiten Gesellschaftssystem, das allgemeines Glück garantieren sollte, stärksten Eindruck auf mich. Ich war reich, war Idealist, und die Lektüre von Südseeabenteuern wandte schließlich meinen Blick auf diese begnadeten Inselwelten. Ich faßte den Entschluß, mich in der Südsee niederzulassen und den Versuch zu wagen, harmlose Naturkinder, unverdorbene Instinktmenschen für meine Ideen zu gewinnen. Ich kaufte einen Dampfer – dort liegt er, der ›Bellamy‹, man arbeitet schon eifrig an seiner Reparatur –, ich gelangte zunächst bis Honolulu, und dort nahm ich Hektor und Isabell, Kinder eines soeben verstorbenen Schiffskoches, aus reiner Nächstenliebe an Kindes Statt an und erwarb diese entlegene Insel Francislan. – Was ich hier alles geschaffen habe, sehen Sie mit eigenen Augen. Meine Francislaner hingen an mir mit Treue und Dankbarkeit, wir waren eine große, glückliche Familie fast fünfzehn Jahre lang, ich ihr Oberhaupt, Vater aller – wir arbeiteten einer für den andern, unser Wohlstand mehrte sich – meine Insulaner hätten sich niemals gegen mich empört. Dann führte ich leider Arbeiter ein, einige Europäer suchten hier Schutz, ich fragte nicht nach ihrer Vergangenheit, es waren intelligente Leute unter ihnen, denen jedoch eins fehlte: sich einzufügen in unsere Gemeinschaft! – Zu spät erkannte ich, daß der Bau dieser Stadt und das Abweichen von meinen bisherigen Grundsätzen, nämlich die übereilte Errichtung einer Art Parlament, eine scharfe Scheidung zwischen den echten Francislanern und den weit zahlreicheren Fremdlingen nach sich ziehen müßten. Und gerade damals vor elf Monaten, als ich meine Fehler wieder gutzumachen und den alten gereinigten Kommunismus, wenn ich mich so ausdrücken darf, wieder zu neuem Gedeihen zu erwecken und das Schädliche auszutilgen trachtete, riß der heuchlerische Hektor mit seinem Anhang selbstsüchtiger, verbrecherischer Abenteurer die gesamte Gewalt an sich. Eines Nachts überfielen sie mich, kerkerten mich ein – ohne Schuß, ohne Schwertstreich geschah das alles –, so blind war ich gewesen, so vertrauensselig. Hektor, getrieben von einem krankhaften Ehrgeiz, suchte sein Regiment dadurch zu stützen, daß er die mir ergebenen Francislaner unter Scheingründen erschießen ließ – ich galt für tot – dieser verworfene Heuchler hat sogar ein pomphaftes Begräbnis für mich in Szene gesetzt, hat mir drüben ein Denkmal errichtet, wo unter der Steinplatte ›meines‹ Grabes … ein Ziegenbock in dem kostbaren Sarge ruht. – – Weltgeschichte im kleinen, lieber Abelsen …! – Mein Nachfolger vergeudete das Gemeingut, umgab sich mit theatralischem Gehabe, elegante Dirnen aus fernen Häfen füllten seinen Harem – in elf Monaten zerstörte er durch diese gewissenlose neue Regierungsart die Reste dessen, was meine Fehler – das gebe ich zu – noch von dem Ursprünglichen übriggelassen hatten. Faulheit, Genußsucht, Unterdrückung der einfachen Schichten, Ausbeutung der Wohlhabenden, Fleißigen – – oh, ich blieb auch in meinem Kerker stets über alles auf dem laufenden, denn die Wachen in dem Leuchtturm unterhielten sich laut genug, ich konnte mir aus ihren Gesprächen ein Bild dieses Niederganges machen, und – mein Herz wurde hart. Meine einzige Hoffnung blieb Nataupo, der Gilbertmann – eine zweite schwache Hoffnung setzte ich auf Isabell und meine alten Francislaner. Isabell versagte. Was Sie mir von ihr erzählt haben, enttäuschte mich bitter. Aber – ich kann sie nicht verurteilen, Abelsen, sie war nie eine Natur mit eigenem Willen, sie war zu sehr Weib, und Hektor mag es sehr leicht gehabt haben, sie auszuschalten und sie schließlich sogar halb und halb für sich zu gewinnen, bis auch ihr das Gewissen schlug. Sie befreite Nataupo, und meine Francislaner scharten sich um ihn und räumten mit diesem Gesindel gründlich auf. – Wir haben auch Isabell nicht gefunden … Vielleicht hat sie sich selbst den Tod gegeben, sie scheute sich, mir unter die Augen zu treten … Ich … habe sie sehr liebgehabt, Abelsen. Eine irrende Seele – es ist schade um sie. Ich hätte ihr gern verziehen.«
Diese letzten Sätze Pierre Garnier bedeuteten für mich die erfreuliche Lösung einer sehr peinlichen Frage, denn ich wußte, wo Isabell sich befand: Nataupo hatte sie heimlich nach dem Dorfe schaffen lassen, Nataupo hatte mit Larsen und mir darüber gesprochen – er wollte Pierres ersten Grimm verrauchen lassen, bevor er ihm über Isabells Verbleib die Wahrheit gestand.
»Mr. Garnier, Ihr Pflegekind ist drüben im Dorfe …« sagte ich nunmehr ohne jede Scheu. »Ich hoffe, Ihnen durch diese Mitteilung eine Freude bereitet zu haben …«
Er schaute über das nur leicht bewegte Meer hin. Es war ein windstiller Tag, und soeben fuhren drei Kanus durch die Einfahrt nach den Riffen hinaus zum Schildkrötenfang. Die Ruderer sangen – all diese Südseeinsulaner sind sanges- und tanzfrohe Menschen –, die kurzen Blattruder tauchten sehr regelmäßig in die blaugrüne Flut ein – und der alte Pierre meinte still und sichtlich bewegt:
»Ja, das freut mich … Ich wollte nicht ganz einsam werden für meine letzten Jahre. – Begleiten Sie mich, Abelsen …«
Wir machten um die Palmen, zwischen denen die Galgenbalken mit ihrer traurigen Last hingen, einen Umweg und gelangten an den Innenstrand, an den Hafen mit der langen Ladungsbrücke, den Bogenlampen, den Schuppen und Speichern und der Schmalspurbahn, die den ganzen Inselring umlief. Ich war erstaunt, daß ich hier im Hafen bereits alles in voller Tätigkeit fand: Kippwagen mit Kopra rollten heran, Ladekräne kreischten, Hämmern, Dröhnen und Gesang empfingen uns – ein paar braune Kerle verdufteten zwar noch ängstlich, die meisten jedoch täuschten eine Geschäftigkeit vor, die nur Vater Pierre wieder versöhnen sollte. – Seltsam genug, wie schnell dieses kleine Gemeinwesen sich wieder umgestellt hatte!! Ich sah Polizisten in ihren gelben Uniformen, die übereifrig die Koprahaufen sortierten – Weiber wuschen neben dem Stege allerlei Wäschestücke – – der alte Pierre rief diesem oder jenem ein freundliches Wort zu – vier Ruderer stießen unser Kanu ab, und pfeilschnell ging's hinüber zu der breitesten Stelle der Insel, gen Westen, wo das Dorf der »echten« Francislaner in dichtestem Grün verborgen lag.
Ich kannte es noch nicht.
Die Lagune zeigte hier auch Innenriffe, und zwischen diesen Korallenfelsen hindurch kamen wir in einen breiten Kanal, der zu meinem Erstaunen viele Nebenarme hatte.
Luftige, saubere Hütten, alle hoch auf Pfählen ruhend, alle mit Wänden von buntem Flechtwerk und bunten Dachbalken, erhoben sich in diesem Kanaldorf auf kleinen Inselchen – jedes Anwesen besaß saubere Zäune, nackte Kinder plantschten im Wasser, Schweine sonnten sich in morastigen, umfriedeten Tümpeln, Ziegen und ein paar Schafe liefen frei umher – im Nu waren wir bemerkt worden, irgendwo rasselte eine Trommel, eine zweite meldete sich – ein Höllenlärm hub an, und, empfangen von der ganzen Bewohnerschaft, betraten wir das große, hallenartige Gemeinschaftshaus, in dessen Eingang Nataupo mit seinen sanften Augen und seiner natürlichen Grazie stand und Vater Pierre bescheiden, aber würdig begrüßte. – Hinter uns drängte die Menge lautlos nach – alle wußten wohl, daß Pierre Garnier gekommen war, sich mit seinem Kinde wieder zu versöhnen.
Ein geflochtener hoher Sessel, mit Muscheln, bunten Korallen, Haifischzähnen und Schildkrötenpanzern geschmückt, nahm die zierliche Gestalt des Inselherrn auf. – Nataupo war verschwunden.
Dann kam Isabell. Sie schritt durch den breiten Eingang und durch die breiten Lichtbahnen, die durch die teilweise hochgerollten regendichten Dachmatten in den langen Raum Einlaß fanden. Ihre Haltung war frei und ihre Bewegungen beschwingter denn je, gleichsam befreit von der Schwere einer Schuld, die ihre Seele in den harten Kampf zwischen Dankbarkeit und Zuneigung und verbrecherischer Unterordnung unter den Willen des kalt berechnenden Bruders hineingezerrt hatte.
Die Francislaner hatten sich sämtlich niedergehockt, und der plötzlich wieder aufgetauchte Nataupo saß einen Schritt vor dem Halbrund der braunen Leiber und begann ganz plötzlich einen leisen, eigentümlichen Gesang, der, von taktmäßigem sanftem Händeklatschen begleitet, sofort von allen Dorfbewohnern aufgenommen wurde und in seiner getragenen sanften Melodie an einen Choral erinnerte. Es war, wie ich später hörte, eine Art Gebet zum »guten Gott«, zum Sonnengott, und es besagte hier nichts anderes als eine Bitte der Insulaner, Vater Pierre möge seinem Kinde verzeihen.
Ich hatte mir dieses Wiedersehen zwischen Vater und Pflegekind ganz anders vorgestellt. Die Szene, die nun folgte, hatte nichts Sentimentales, Rührseliges an sich. – Es war eine fremde Welt mit fremden Gebräuchen, und drüben die modernen Hafenanlagen und die technischen Neuerungen auf Francislan versanken hier rasch in meiner Erinnerung wie etwas das Gesamtbild Störendes. Mich ergriff diese Szene mehr, als ich gedacht hatte.
Isabell blieb vor dem hohen Sessel stehen und senkte den Kopf und sprach wenige leise Worte. Pierre Garnier blickte sie ruhig an, hob dann die Hand und legte sie auf ihr kastanienbraunes Haar. Ich sah, wie seine Augen sich halb schlossen und wie es in seinen Zügen arbeitete. Dann rückte er zur Seite und zog Isabell neben sich, und beide lächelten den singenden Francislanern zu, der Gesang schwoll an – die jungen Leute und Mädchen schnellten hoch und begannen um den Sessel eine Art Reigen, wirbelten immer lebhafter umher – Trommeltöne mengten sich ein, und Nataupo trat schließlich mit einem überaus zierlich geschnitzten Kasten vor die beiden hin und schwenkte ihn wie ein Weihrauchfaß in der Luft – dieser Kasten enthält »den großen Fetisch« der echten Francislaner, man könnte ihn auch einen Reliquienschrein nennen, denn altheidnische und christliche religiöse Gebräuche und Vorstellungen, sind auf dieser jetzt wieder glücklichen Insel auf das für diese Sonnenkinder praktische Maß ineinanderverschmolzen.
Dann flutete die Menge ebenso plötzlich von dannen, und auch Nataupo schritt hinweg – Isabell wandte sich zu mir und streckte mir freimütig die Hand hin. – Still gingen wir zum Boot hinab und fuhren zur Stadt hinüber. Jedes Wort hätte die Empfindungen in uns nur erniedrigt. Vater Pierre und sein Kind saßen Hand in Hand – nachher sprachen sie sich wohl unter vier Augen miteinander aus. – Ich und Larsen kümmerten uns um die beschleunigte Reparatur des Dampfers, denn wir mußten unbedingt am kommenden Morgen in See gehen, um Hektor und die anderen Banditen noch auf Malmotta abzufassen. Wir hatten begründete Hoffnung, noch rechtzeitig meine Insel zu erreichen, da die Vorräte der Jacht an Brennstoff aufgebraucht gewesen waren und da Hektor nur unter Benutzung der Notsegel Malmottas ferne Gestade anlaufen konnte.
Nataupo gesellte sich sehr bald zu uns, und in den Arbeitspausen – wir griffen mit zu – erhielt ich von ihm wertvolle Aufschlüsse, die meine Kenntnis der Südsee wesentlich erweiterten. Eins interessierte mich besonders. Ich fragte ihn, wie es eigentlich mit der Menschenfresserei unter den Insulanern heutigentags bestellt sei. – Er blickte mich etwas erstaunt an.
»Herr, man spricht nicht gern darüber«, erklärte er ganz offen. »Du weißt vielleicht, daß besonders die Leute von Neuseeland und die des Marquesas-Archipels früher die Jagd auf Langschwein liebten. So nennen sie ihre Opfer – – nannten sie so, bis die Europäer hart eingriffen und schließlich sogar auf den Marquesas das Tätowieren verboten.«
»Herr, du mußt all das, was mit der Menschenfresserei hier in der Südsee zusammenhing, den heidnischen religiösen Vorstellungen eingliedern. Nur so begreift man diese Scheußlichkeiten, die euch Europäern als das Abschreckendste vom Schrecklichen erscheinen.«
Diese Auffassung war mir ebenfalls vollkommen neu. – Nataupo hämmerte einen Niet fest und fuhr dann fort: »Menschenfleisch, besonders das des erschlagenen Feindes, gilt noch heute auf abgelegenen Eilanden« – er lächelte etwas verlegen – »als größter Fetisch. Der Genuß eines Langschweins, Herr, mache stark, gesund, reich und unverwundbar. So glaubte man … – Das Langschwein-Fest war verbunden mit allerlei Tänzen und Beschwörungen – junge Krieger und erblühte Mädchen erhielten bei diesen Festen ihre Tätowierungen – der, der ein Langschwein für sein Dorf beschafft hatte, schnitzte besondere Zeichen in seine Dachbalken. Denke nicht, Herr, daß diese Insulaner jener barbarischen Inseln nur ausschließlich und ständig sich um ein Opfer ihrer furchtbaren Gelüste bemühten. Nein – urplötzlich überkam, vielleicht nach Monaten, einen Mann der Wunsch, einen Feind zu töten. Seine Raserei steckte die ganze Gemeinde an, und in den wilden Schluchten und Urwäldern jener Inseln, die zumeist kleine Atolle sind, erdröhnten die Kampftrommeln, unter feierlichen, streng vorgeschriebenen Zeremonien wurden die Krieger von den Fetischmännern geweiht, und sobald das erste Langschwein erbeutet war, versammelte sich alles an einem bestimmten Orte, der verborgen im Dickicht lag und dessen Steinsitze mit den Jahren blank geworden … Vier, fünf Tage dauerte dieser Rausch, dann kehrte jeder zu seiner Beschäftigung zurück. – Herr, man schonte weder Kinder noch Greise – hatte ein Schiff mit Europäern das Unglück, einen solchen Inselhafen in der kritischen Zeit anzulaufen, entging keiner dem teuflischen Blutbad. Noch im Jahre 1890, Herr, wurde die ganze Besatzung eines amerikanischen Schoners von Marquesasleuten aufgefressen. Dann griffen die Gouverneure noch schneller durch, man erschoß die Langschweinjäger, man verbot die Tätowierungen gänzlich, und Kapitäne, die an solchen bedenklichen Inseln vorüberkamen, feuerten blindlings mit Kanonen auf die Stranddörfer. Das ist alles wahr, o Herr. – So leicht ließ sich das Entsetzliche jedoch nicht ausrotten. Die Menschenfresser wurden vorsichtiger. Winzige Stücke vom Langschwein schmuggelte man in Zündholzschachteln nach strenger überwachten Inseln – ein noch ekelhafterer Handel blühte mit diesem Artikel auf, gewissenlose Weiße beteiligten sich daran, spurlos verschwanden unzählige Opfer, stets hieß es: ›Die Haie nahmen sie!‹ – – Ob heute all dies gänzlich ausgetilgt ist – ich glaube es nicht. Christentum und Barbarei reichen sich hier unbewußt die Hand. Ich kenne Marquesasleute, die ihre Missionare verehren – aber diese Missionare sind klug und schweigen, wenn fernab die Trommeln dröhnen – sie verrammeln ihre Häuser und legen Patronen bereit … Was jahrhundertelang tief in der Volksseele eingewurzelt war, läßt sich in dreißig Jahren nicht ausrotten. Langschwein war der Hauptbestandteil des heidnischen Kultes, und« … – er lächelte abermals – »auch Weiße haben Weiße verspeist – erinnere dich an Käpten Larsens Bootsfahrt mit Moses Jamestown und dem lahmen Krikatawu, nachdem das Boot gekentert war …«
Nataupo wandte sich seiner Arbeit wieder zu, und Larsen und ich tranken jeder einen Schluck Palmwein.
Nun ist auch dieser Tag vorüber …
Der westliche Horizont verliert seine roten Feuerstreifen der sinkenden Sonne, das Rot verblaßt, ein freundliches Violett kündet die Schatten der Nacht an, und die Seebrise schwillt und fächelt durch das offene Fenster meine schweißfeuchte Stirn.
Men Huleb hebt die Hundsnase, reckt sich, betastet vorsichtig seine Verbände und grunzt ganz leise und kommt mit zwei Schritten über das noch tintenfeuchte Papier dicht zu mir heran und streichelt mir die Wangen und das dünne Kopfhaar.
»Werden wir Malmotta wiedersehen?« frage ich ihn leise, und unsere Augen ruhen ineinander wie die eines alten Ehepaares, das durch Gewöhnung vieler Jahre eins des andern Gedanken errät.
Men Huleb hat mir damals Petersens, meines Schwiegervaters, Zeichnung jenes Nordriffs von Malmotta in die Hände gespielt, Men Huleb ist jetzt so innig mit mir verwachsen, daß ich zuweilen der lieben Täuschung mich hingebe, er sei nur eine verfeinerte, geistig verfeinerte Wiedergeburt meines Fennek, meines kleinen lieben Fennek, der so oft auf Janes Schoß geruht hat und auf den ich zuweilen sogar etwas eifersüchtig war.
Der Mantelpavian antwortet mir mit einigen Koselauten … Vielleicht bejaht er meine Frage. Aber in mir selbst nagen Zweifel mancher Art, ob ich Janes Grab nochmals werde schmücken dürfen. Überhaupt – um ehrlich zu sein – alles, was Malmotta betrifft, ist in meinem Gedächtnis seltsam verschwommen und wie in feine kühle Nebel gehüllt. Starkes Erleben schwächt die alten Eindrücke ab, und was hier auf Francislan und unterwegs hierher auf der Jacht geschah, das – ja das war Weltgeschichte in kleinem, das war die Tragödie eines Menschenbeglückers – das Drama »König Pierre«.
Ein freundlicher Insulaner, ganz in Weiß gekleidet, Diener des Palastes, tritt ein und bittet mich in aller Form zum Tisch. – Wenn die Abendmahlzeit vorüber, werde ich wieder mit Isabell am Außenstrand entlangwandern, denn in diesen wundervollen Vollmondnächten der Südsee ist Schlaf Zeitvergeudung. Isabell und ich haben die freie Sprache gegenseitiger Freundschaft gefunden … Aber – hinter Isabells hoher kluger Stirn und unter der weißseidenen Bluse, die sich schwach vorwölbt und bei der tadellosen Gestalt nur eben den Reiz der Weiblichkeit andeutet, mag's doch anders aussehen. Ich weiß es nicht, und ich will es nicht wissen.
Von den Straßen der Stadt herauf klingen Gesänge – in der Ferne quält sich ein Grammofon ab, trotz zerkratzter Platte Musik vorzutäuschen. Hunde bellen, Möwen streichen wie weiße Wolken über die Lagune, die Palmenwedel drüben erzittern unter der Brise, die Brandung wächst, und mit der nahenden Flut gleiten die Kanus der Schildkrötenfischer durch die Einfahrt pfeilschnell dem Kanaldorfe zu …
Es ist ein seliges Land, solch ein großes Palmenatoll …
Das felsige Land Vater Pierres liegt hinter uns. Ob ich es jemals wiedersehen werde, ob ich je wieder die phantastische Miniaturstadt mit elektrischem Licht, gelb uniformierten Polizisten und arbeitsamen, strebsamen Bewohnern, die nun in ihrer Gesamtheit von neuem eingesehen haben, was alles sie dem gütigen Manne und Schöpfer dieser Stadt verdankten, betreten werde – ob ich je wieder über die sauberen Muschelkieswege und -straßen wandeln werde, ich bezweifle es. Die trüben Vorahnungen, die mich seit Tagen quälten, scheinen sich bestätigen zu wollen.
Ich sitze hier in der kleinen Kajüte des Dampfers »Bellamy«, die mit unter der Brücke liegt. Ich habe sie mir ausgewählt, bevor wir Francislan verließen. Ich möchte allein sein und diese letzten Tage mit ihren bunten Eindrücken friedvoll an mir vorüberziehen lassen wie weiße Schwäne, wie geläutertes Geschehen von einst. Ich betrachte vieles jetzt von einem ganz anderen Standpunkt aus, diese Miniaturrevolution in einem Miniaturstaat hat doch wieder meinen Blick für Dinge und Menschen erweitert und mir vielleicht das Verständnis für die Massenseele beigebracht.
Massenseele – wie drüben die auf meiner Insel, auf Malmotta, die uns das Landen verwehren, uns mit Gewehrfeuer vorhin empfangen haben und dann auch den großen mechanischen Kugelspucker arbeiten ließen und von uns dreißig Mann hier an Bord ein Drittel hinterlistig wegfegten.
Dieser Hektor ist schlau, dieser Kerl hat den Teufel im Leibe und Hirn und würde vielleicht gerade wegen seiner glatten Heuchlerfratze, die den gewiegtesten Menschenkenner täuschen kann, zu noch Größerem bestimmt sein als nur dazu, irgendwo im Trüben zu fischen und jetzt das Gold aus dem Riff meiner Insel zu stehlen.
Der Abschied von Pierre und den braunen Francislanern war herzlich und beinahe etwas rührselig. In aller Frühe dieses Abschiedstages war ich noch mit Isabell, Larsen und Nataupo über die Lagune gerudert, wir hatten die Löwenfarm besucht, die ich gern einmal bei Sonnenlicht sehen wollte und – sie war sehenswert! Die schönen Bestien, alle tadellos im Stande, drängten sich am Gitter zusammen, und ihr dumpfes dröhnendes Grollen und das katzenartige Miauen einiger junger Sprößlinge in einem besonderen Gehege versetzten meinen Huleb, der natürlich mit von der Partie war, derart in Aufregung und Wut, daß er die Löwen … mit Steinen zu bombardieren begann. Wir lachten herzlich, es war ein erheiternder Zwischenfall, und gerade deshalb vermerke ich auch des klugen »Löwen« Pierre Garniers einzigartige Raubtierfarm in meinen Erinnerungen als etwas packend Seltsames und streiche all das Widerwärtige, das gerade mit diesem großen Riff und seinem Holzturm verknüpft war. Pierre, Vater Pierre, war ein Leu … Männer seines Formats sind sehr selten.
Daß dieser alte König von Francislan ganz aus sich selbst heraus Milde walten ließ und die noch im Kerker sitzenden Schuldigen, darunter den Herrn Polizeichef Linggeser, begnadigte und ihnen ein großes Kanu überließ nebst Proviant und Wasser, damit sie die nördlich gelegene Weihnachtsinsel erreichen könnten – dieser Gnadenakt warf ein noch helleres Licht auf des alten Südseepioniers braves Herz. Schwerer schon war's ihm geworden, Isabells Bitten nachzugeben und ihr zu gestatten, uns zu begleiten. Er hatte mich noch in letzter Minute beiseite genommen und mich gebeten, sein Kind – denn Isabell war ihm letztes Glück verrauschender Lebenszeit – vor jeder Gefahr zu hüten … Er hatte mich dabei seltsam durchdringend angeblickt und hinzugefügt: »Das Mädel gefällt mir nicht, Abelsen … Ich spüre es, daß sie Hektor haßt und daß neben diesem Haß noch eine andere Leidenschaft sie bewegt. Sie ist mit ihrem Gewissen längst nicht fertig geworden, wenn sie auch die Unbefangene spielt – dieser Bursche da, den ich Sohn nannte, hat sie aus ihrer Bahn geworfen und mit seinem gefährlichen Einfluß auf sie vieles Gute in ihr vernichtet, was vielleicht nur wieder von neuem erblühen könnte, wenn …« – Und dann schwieg er, sagte ganz unvermittelt: »Abelsen, wollen Sie hier auf Francislan mein Nachfolger werden?! Ich fühle, daß ich nicht mehr lange zu leben habe – ich fühle auch, daß Sie vielleicht mit Isabell …« – dann brach er abermals ab … – »Nun – so etwas überläßt man am besten der Zukunft!«
Ich verstand ihn sehr wohl. Sein innigster Wunsch war es, Isabell und mich vereint und beständig neben sich zu haben.
Ich schüttelte leicht den Kopf, preßte des alten Mannes Hand aber noch herzlicher. »Mr. Garnier, ich sagte Ihnen, wie sehr mich die Enge bedrückt … sehr bald! Und solch eine Koralleninsel, soviel Halbkultur, soviel Verantwortung, ein Leben nach der Uhr, ein Leben als … Händler und …«
Seine gütig abwehrende Geste ersparte mir weitere Worte. – Sollte ich ihm sagen, daß Isabell niemals Ersatz für meine tote Jane werden könnte?! – Aber eins sagte ich ihm doch.
»Vater Pierre, Sie haben Nataupo!! Nataupo ist der Mann, dem Sie einst getrost Ihr kleines Reich hinterlassen können. In dieser muskelstrotzenden Brust schlägt ein treues, ehrliches Herz – die Intelligenz Nataupos wird Ihr Werk fördern und schützen …«
Das sagte ich ihm …
Nataupo ist mit an Bord des »Bellamy« – Larsens sind an Bord, die blonde Grita führt wieder das Küchenregiment, unsere tadellos bewaffneten dreißig Francislaner sind sämtlich Leute aus dem Kanaldorf und durchaus zuverlässig.
Die drei Tage Seereise bis zu meiner Insel waren nur das Vorspiel zu dem Ärgeren, das uns vor Malmotta zustoßen sollte – kein Tag ohne Sturm, ohne Gewitter, Regenböen und sonstige Widrigkeiten. Eine der doch zu flüchtig wieder vernieteten Eisenplatten dicht über der Wasserlinie löste sich, und wir mußten das Leck notdürftig abdichten, mußten die Pumpen arbeiten lassen und sehnten alle den sicheren Hafen von Malmotta herbei.
Nachts gegen elf kam die Insel in Sicht. Wir fuhren mit abgeblendeten Lichtern, wir schwangen dann ein Boot aus und schlichen uns, sieben Mann, lautlos der Einfahrt zu, um erst einmal festzustellen, ob die von Hektor geraubte Jacht und die übrige Bande unter Krikatawu und dem Nigger noch anwesend seien.
Ich steuerte – es regnete in Strömen, und unbehelligt kamen wir durch die Südeinfahrt in die Lagune hinein – unser Boot war bei dem Wetter kaum zu bemerken. – Der »Bellamy« lag tausend Meter weiter in See.
Ich fand die Lagune leer. Nirgends auch nur eine Spur von den Banditen … Ich schritt um den Grottenberg herum, ganz allein, erreichte die Nordbucht und stand eine Weile still an Janes und Fenneks Grab. Als der Regen etwas nachließ, erkannte ich draußen zwischen den Riffen den langen dunklen Leib des gekenterten Dampfers, der noch immer mit den Deckplanken des Vorschiffes auf dem hohen Turmfelsen lastete.
Ich war allein. – Es wäre ratsamer gewesen, Men Huleb mitzunehmen, denn meines vierhändigen Freundes schärfere Sinne hätten den Feind sicherlich gewittert.
Wir waren alle zu vertrauensselig. Unser Boot kehrte zum »Bellamy« zurück, und langsam dampften wir vorwärts, waren dann gerade mitten in der Einfahrt, in dem kaum hundert Meter breiten Kanal – als – ein winziges bißchen Glück! – einem der gutversteckten Schurken zu früh die Büchse losging.
Von den Randriffen des Kanals schlug Blitz und Knall warnend in die Finsternis …
Wir drei standen auf der Brücke: Larsen, Nataupo und ich …
Larsen riß den Hebel des Maschinentelegraphen sofort herum – die Schraube lief rückwärts, aber die Flut hatte schon begonnen und der Ozean quoll in reißendem Strom in die Lagune.
Der geringe Glückszufall, daß der eine Schuß sich löste, ward ausgelöscht durch den glänzenden Mond, der hinter dem ziehenden Gewölk hervorkroch.
… Von den Randklippen der Einfahrt blitzten ganze Reihen von Mündungsfeuern auf. Ein wilder Bleihagel prasselte über uns hin – Schreie lebten auf, Stöhnen, neue Schreie … Noch toller schossen die Kerle – – und als der »Bellamy« mühsam sich wieder die offene See erkämpft hatte, als der Regen gänzlich aufhörte und schwaches Dämmerlicht über den Ozean sich breitete, kam die weiße Jacht von Westen heran, wollte uns rammen, überschüttete uns mit dem bleiernen Regen des Maschinengewehrs.
Larsens Kunst als erfahrener Kapitän verhütete das Ärgste – und wir anderen, in verbissener Wut hinter der Reling kauernd neben den Leichen der so heimtückisch gefällten Kameraden – wir anderen vergalten's denen da drüben …
Noch nie habe ich wohl so hurtig angelegt, gezielt, abgedrückt wie damals … Noch nie hat neben mir ein Mädel wie Isabell ihre Winchesterbüchse so sicher, so eilig gehandhabt … Noch nie hatte mir ein anderes Mädel die frischgeladene Waffe so flink in die Hand gedrückt wie Grita Larsen.
Ja, wir zahlten's ihnen heim …
Den Spucker hatten sie achtern aufgebaut auf dem Dach der Kajüte … Der Spucker verstummte bald … – auf dem hellen Dach lagen nur noch stille Gestalten, und die Jacht entrann uns in die Lagune hinein.
So war's.
Nun belagern wir meine Insel. Der Dampfer kreuzt vor der Einfahrt, und soeben kommt Nataupo und meldet mir, daß ein Boot mit großem weißem Lappen auf den »Bellamy« zuhalte.
Sie wollen unterhandeln.
Bin neugierig auf ihre Vorschläge …
Der lahme Krikatawu hat den Unterhändler gespielt. Hektor Garnier ließe uns sagen, er wolle uns von den in dem Korallenriff gefundenen Goldbarren zweihundert ausliefern, wenn wir wieder nach Francislan zurückkehren würden, ohne ihn weiter zu behelligen.
Zweihundert!
Wieviel mochten die Schufte also wohl im ganzen dort in dem hohlen Riff entdeckt haben?!
Krikatawu stand grinsend vor mir – Nataupo hielt eine Laterne, und ringsum warteten meine Gefährten auf meine Entscheidung.
Dieser Krikatawu trat durchaus nicht bescheiden auf. Hektor kannte wohl seine Unverschämtheit.
»… Mr. Abelsen, überlegen Sie es sich«, sagte er eindringlich. »Sobald es hell wird und die Ebbe beginnt, wird die Jacht die Lagune verlassen, und daß ein zweiter Kampf, Mr. Abelsen, für euch hier aussichtslos ist – – wir sind noch immer über vierzig Mann, und – – ihr?! Die Jacht überrennt euch – wir werden das Maschinengewehr durch Sandsäcke schützen, wir werden keinen Mann verlieren …!«
Der Lump hatte nicht so ganz unrecht mit seiner Voraussage.
»Komm nach drei Stunden wieder«, entschied ich. »Wir werden beraten.«
Grinsend kletterte er in sein Boot …
Larsen fluchte hinter ihm drein, Nataupo biß die Zähne knirschend aufeinander …
»Wartet ab«, tröstete ich sie und zeigte auf die Mondscheibe, die bereits wieder hinter finsterem Regengewölk verschwand. »Ich kenne meine Insel! Rasch – helft mir … Vater Pierres Dynamitpatronen sollen ihnen das fette Gericht versalzen!«
Ja, ich kannte meine Insel …
An der Westseite der Einfahrt gab es drei Korallenblöcke, die unten bereits völlig verwittert waren. Nach dem Wasser zu fiel der Strand gerade dort steil ab, und kamen die Blöcke erst einmal ins Rollen, dann würden sie den Kanal bestimmt für ein Schiff von dem Tiefgang der Jacht sperren.
Es goß in vollen Strömen, als Nataupo mich an Land ruderte. Um die Banditen zu täuschen, hatten wir den Scheinwerfer des Dampfers so gerichtet, daß nur gerade der Kanal und die Ostseite seines Ufers von dem Lichtkegel umspielt wurden.
Unser Boot war nur ein winziges Kanu, für drei Mann berechnet. Nur ein so glänzender Ruderer wie Nataupo, nur ein Insulaner mit solch eisernen Muskeln konnte diese Nußschale durch die Riffe bis an die Einfahrt bringen …
Die letzte Strecke mußte ich schwimmen. Vor Haifischen brauchte ich mich nicht zu fürchten, der Hai meidet die Ebbe- und Flutströmungen enger, riffreicher Laguneneinfahrten – ich hätte diese gefahrdrohenden schäumenden Wirbel ebenfalls gern gemieden, anderseits schützte ihr Gischt mich vor dem Entdecktwerden.
Mein wasserdichtes Paket mit den Dynamitpatronen und den Zündern trug ich auf dem Rücken – auf dem Leibe nur eine blaue kurze Hose, zwischen den Zähnen das Jagdmesser – die Hände hatte ich frei, und auf Nataupos sachkundigen Rat hatte ich sie mir lose mit breiten Streifen einer wollenen Decke umwickeln lassen – als Puffer, damit die scharfen Korallenfelsen mir die Finger nicht zerrissen.
Schwimmen?! – Nein – es war, als ob ein unsichtbares Tau mich vorwärtsrisse – ich hielt die Arme halb gekrümmt vorgestreckt – so fing ich manchen Stoß ab. Und doch begrüßte mich meine Insel hier mit all ihren mir bisher unbekannten Tücken, zerschnitt mir die Haut, zerfetzte mir die linke Wade. – Spitze Nadeln ragen aus den Riffen hervor, meist sind es Überreste riesiger Muscheln, die das Wasser und der mitflutende Sand haarscharf geschliffen haben. – Bevor die Insulaner der Südsee Stahl und Eisen durch die Europäer kennenlernten, haben sie für ihre Speerspitzen, Pfeile und Messer lediglich diese Muschelklingen benutzt. Es handelt sich dabei um eine besondere Art Muscheln aus prähistorischer Zeit, deren Schalen metallische Beimischungen enthielten. Diese Muschelklingen bildeten einst einen vielbegehrten Handelsartikel. Heute findet man sie nur noch auf ganz entlegenen Inseln vor, wo die Insulaner sie selbst für feinsten Whisky nicht hergeben, denn zumeist sind es Fetischmesser, und wieviel Menschenblut sie vergossen haben – besser nicht daran denken!
Ein letzter grausamer Stoß gegen die eine Schulter – eine letzte Kraftanstrengung, und ich lag halb betäubt auf dem harten körnigen Korallenboden, zwischen hellen, triefenden Zacken – ich kroch vollends an Land, duckte mich, atmete ruhiger – mein Leib war wie eine einzige brennende Wunde, und doch hatte ich Glück gehabt: dort über mir ragten die drei Kalkklötze empor, und hier in der Nähe war kein Feind, der mich durch einen einzigen Schuß hätte abtun können. Sie fürchteten wohl den Scheinwerfer, oder sie steckten weiter nach der Lagune zu in den Büschen … Ich konnte meine Arbeit in aller Ruhe vollenden.
Und auch die Arbeit will gelernt sein! Wer die Wirkung eines Sprengstoffs nicht kennt, wer eine Dynamitpatrone nicht richtig unterzubringen weiß, wird niemals den erstrebten Erfolg damit erzielen. Hier sollten die drei Felsen nur umgekippt und mit einigem Schwung ins Wasser befördert werden. Zerplatzten sie, so war das Ergebnis mißraten. Nur ihre ganze kompakte Masse konnte die Einfahrt sperren. Daß mir dies bei allen dreien gelingen würde, damit rechnete ich nicht. Der mittlere Block war bereits derart verwittert, daß er bestimmt platzen mußte.
Ich ließ mir Zeit. Ich war sehr zufrieden mit den lauen Regengüssen, die meinen Rücken peitschten. Ich kniete vor dem südlichsten Block und keilte die Patronen fest. Und als die Arbeit vollendet, als auch die verdeckten Lunten leise zischten und fauchten, floh ich hinab ins Wasser, watete aufrecht durch einen engen Seitenkanal, in dem ich so manches Mal mit Jane geangelt hatte. Feinster Seesand bedeckte hier den Boden, von der Flut war wenig zu spüren – aber – – der mißgünstige Mond und die Regenwolke hatten sich mit dem Feinde verbündet, bleiches Licht löste die Finsternis ab, und zischend fuhr der Bleihagel um mich her in die sanft gurgelnden Wasser. Ein höheres Riff bot mir Schutz – bis zum Halse stand ich im Wasser und … zählte …
Zählte: Hundert, hunderteins, zwei, drei, vier … fünf …
Bei hundertdreißig mußten die Explosionen erfolgen.
Ich zählte und lugte hinter der Zacke hervor …
Verfrüht kam der dreifache Donnerschlag …
Ich sah Steinstücke fliegen …
Tauchte unter …
Wartete …
Ich spürte den Luftstoß bis hierher – der Boden zitterte – ein Hagel von Kalk prasselte nieder …
… Die drei Riesenfelsen waren nicht mehr da, als ich mich aufrichtete …
Wahnwitziges Geheul gellte von der Lagune her – Schmerzensschreie zerschnitten die Luft, Angstschreie flatterten hoch …
Eilends watete ich weiter in See. Nataupo war mit dem Kanu zur Stelle, nahm mich auf, und auch unser Dampfer schob sich näher heran und beleuchtete die Einfahrt mit grellem tastendem Riesenfinger.
Als ich an Deck gelangte, als Nataupo mich rasch in ein Segel hüllte (denn von der Schwimmhose war nicht mehr viel übrig), färbte sich das Segel immer blutiger … –
Frau Helga Larsen hat mich verbunden und bepflastert … Diese stille Frau war die feinfühligste, zarteste Pflegerin eines derart zerschundenen Leibes. – Das, was man Schamgefühl nennt, verliert sich in seiner zwecklosen Übertreibung sehr bald in einem Ozeanstrich, in dem die Inselbewohner am liebsten nur mit Schurz umherlaufen – und die Dörfler von Francislan hatten den altgewohnten Lendenschurz, den jeder Luftzug hebt, noch nicht abgelegt gehabt – oder wieder angelegt.
Dann kamen auch Isabell und Grita herein, als ich erst sauber zugedeckt auf dem Bett lag und Men Huleb neben meinem Kopf saß und mißbilligend grunzte … Ihn empörte es, daß ich nun auch genau wie er nach Verbandzeug duftete und daß Isabell und Grita mir eine dampfende Brühe einflößten.
Zwei Mädchen – ein Mann …
Ich verteilte meinen Dank gerecht – Frau Helga erhielt den Hauptanteil, und die beiden heimlichen Rivalinnen mußten sich diesmal mit einem Lächeln begnügen. – Als Nataupo ein paar Minuten drauf ebenfalls erschien, als er berichtete, auf der Insel sei jetzt der Teufel los, da hielt mich nichts mehr im Bett …
»Her mit den Kleidern, Nataupo!«
Die Mädchen protestierten …
Flüchteten bald …
Ich humpelte an Deck …
Wir horchten …
Auf der Insel Schüsse, Geschrei, Gebrüll – der Teufel der Habgier hatte seine Saat gestreut, und die Saat keimte und die Schößlinge waren Schüsse, Messerstiche, Mord!
»Sie sind übereinander hergefallen – des Goldes wegen!« sagte Larsen verächtlich. »Sie wissen, daß sie die Jacht aus der Lagune nicht mehr herausbekommen – vielleicht hat Hektor Garnier dieses Blutbad angezettelt …«
»Und die Überlebenden werden mit einem Boot zu fliehen suchen«, meinte ich und deutete nach Norden. »Bis zur Nordbucht können sie eins der Boote der Jacht über die Insel schleppen … – Larsen, runter mit unserem Großboot! Verlegen wir ihnen auch den Weg …!«
Nichts von Schmerzen mehr – nichts von Müdigkeit …
»Isabell – einen Schuß Brandy für mich!« – Und sie lief und kam und sprang dann mit in den Kutter.
Neun waren wir: Isabell, ich, sieben Francislaner … Und die ruderten Endspurt um die Insel herum, bis wir in die Ketten der Nordriffe einbogen und das gekenterte Wrack, der Riesenwal, uns die Straße sperrte.
Der Lärm auf der Insel war verstummt. Wir lauerten unweit der Bucht … Der Himmel klärte sich, im Osten wurde der Horizont fahl und grau – der neue Tag zog herauf.
Da sahen wir sie.
Die Motorpinasse der Jacht hatten sie auf Palmbaumklötze gelegt – hatten Stricke um die Schultern, zerrten und spielten Pferde … keuchten und …
Fünfzehn waren's noch …
Hektor Garnier kommandierte, Krikatawu wechselte die Rollklötze aus, Moses Jamestown half …
Sie spielten Pferdchen um Gold.
Sie hatten es eilig …
Der Tag kam.
Und eine Kugel kam und warf den Neger nieder, eine zweite kam und zerschmetterte Hektors Knie – die schwere Pinasse kippte zur Seite, begrub Hektor halb unter sich …
Die anderen sprangen ins Gestrüpp. Feuerten …
Hektor brüllte.
Seine langgezogenen Schmerzensschreie machten die Möwen wild …
Die Sonne schämte sich dieses Bildes der Mörderinsel und blieb hinter Dunst versteckt.
Hektors langgezogene Schmerzensschreie gellten hinter uns drein, als wir vor dem Geknatter des Maschinengewehrs in dem hohlen Riesenriff Schutz suchten.
So ward Malmottas letzter Tag eingeläutet.
… Malmotta ist nicht mehr …
Was von Malmotta blieb, ist nur ein winziges Inselchen.
Mein und Men Hulebs Heim ist der hohle, hohe Kalkfelsen.
Unten an diesem Felsen zwischen zwei Reihen schützender Riffe liegt die Pinasse der Jacht.
Ich habe über die Kuppe des Felsens an Stangen ein Segel schräg ausgespannt – als Sonnenschutz. – Ein Tisch und ein Klappstuhl stehen da, und ich sitze mit dem Gesicht nach Süden und sehe … nichts … oder doch nur ein paar Kalkfelsen, noch feucht, dampfend in der Sonne …
Ich warte geduldig und blicke auf die rollenden Wogen, die jetzt noch die Stelle bedecken, wo einst drei Gräber an der Westseite der Nordbucht lagen. Ich weiß, daß diese Gräber bei Ebbe frei liegen und daß ich dann hinüberwaten kann zu Jane und Fennek.
Ich bin wieder einmal allein mit meinem vierhändigen Freund – und um mich her ist der gewaltige Ozean, der keine Grenzen zeigt – und unter mir ist das große Riff und die Höhle und … das Gold – ganz tief unter mir, eingekeilt in die zusammengepreßten Wände der Höhle, die nur mehr ein Schacht und ein kurzer Gang ist.
Und das ist unsere Wohnung:
Auf einem Korallenriff, in einem Korallenriff, nicht größer als sechzig Meter bei Hochwasser, bei Ebbe auch nur sechzig Meter Felsen und Zacken, aber nach Süden dann flache niedrige Stellen – – und drei Gräber mit einer Steinwand dahinter und Inschriften in dem harten Fels.
Das sind die Reste von Malmotta.
Immerhin: Land!!
Immerhin: eine Höhle, ein sicherer Hafen für die Pinasse und ein Wohnraum für einen Mantelpavian und einen Mann, der weder durch Isabell noch durch die blonde Grita den Pfad abseits vom Alltag verlor.
Ich lebe wieder abseits vom Alltag.
Eremit, Einsiedler …
Narr?!
Vielleicht …
Ich habe Gesellschaft: meine Gedanken, Papier, Feder, Men Huleb, Möwen, Haie – allerlei anderes Getier.
Und die liebste Gesellschaft: dort das eine Grab, das mittlere. Auch Gräber können innige Gefährten sein.
Fünf Tage leben wir so, Men Huleb und ich. Vor sechs Tagen verschwand Malmotta …
Ich schaue nach Süden – die Wasser zerrinnen, die Flut gibt den Felsen frei und die drei Steinplatten, die Grabplatten. Ich lege die Zigarre weg und falte die Hände über dem Papier. Nicht um zu beten. Wer nichts als den Ozean um sich hat und auf einem Riff haust, dessen Gedanken sind stets Gebet. Die Einsamkeit bedrückt mich nicht, diese Einsamkeit ist heilig. Sonnenaufgang und Sonnenuntergang sind herrlichste Wunder des Schöpfers, Ebbe und Flut sind gestillte und aufkeimende Sehnsucht, die Brandung ist die allgewaltige Orgel – und die Stimme in mir, die all dies als Geschenk preist, ist die Stimme Odins oder Jehovahs oder Allahs oder Gottes …
In solcher Einsamkeit ist man selbst Gott …
Immer höher entsteigen die Gräber dem Meere.
Men Huleb hüpft bereits unten auf den trockenen Korallenbänken umher und sucht kleine Krebse. Es gibt hier eine Art mit weichen Rückenschildern, fast wie winzige Schildkröten. Die frißt er mit Haut und Haar.
So warte ich auf Jane jeden Tag.
Die Ebbe bringt mir Jane, die Flut raubt sie mir.
Jeden Tag.
Ich darf so still auf sie warten. Denn ich war treu, bin treu. Ich wies alles von mir, was blonde und braune Mädchenköpfe mir boten. Isabell und Grita sind davongefahren, und der kleine Dampfer »Bellamy« hatte den großen Bruder »Hardanger« im Schlepptau. Das war ein seltener Anblick hier unter dem Äquator.
Immer höher entstiegen die Gräber dem Meere.
Das Grab … – Jane und Klein-Fennek. – Schließe ich die Augen, sehe ich sie vor mir, Jane und Klein-Fennek. Das ist das große Wunder der Auferstehung. – – Man muß über alles geliebt worden sein, um von den Toten zurückzukehren in das Reich der Lebenden. Nur die Liebe bringt solche Wunder und solchen Dank. – Selbst wenn ich die Augen öffne, entschwinden die Gestalten nicht. Jane hält Fennek im Arm – wie damals, als sie aus der Kajüte trat und die Schüsse fielen … – Ein Nervenarzt würde sagen, ich leide an Sinnestäuschung. Sie sagen soviel, die Doctores. – Es ist eigentümlich, daß die Gestalten jeden Tag klarer, deutlicher und schärfer umrissen erscheinen. – Ob es doch nicht gut tut, sich derart mit den Abgeschiedenen zu beschäftigen und sie zu zwingen, im hellen Sonnenlicht sich zu zeigen und die …
Nein – es tut nicht gut, und was ich hier treibe wie ein Beschwörer, das ist nicht mehr treues Gedenken, das ist Aberwitz! Heute fühl ich's: Aberwitz!
So sagte Isabell zu mir mit ihrem bleichen, feinen Gesicht, als ich erklärte: »Ich bleibe!!«
Sie war enttäuscht – mehr noch, entsetzt. Ich las in ihren dunklen Augen die brennende Angst um meine Seele, die hier krank werden müßte auf diesem Riff …
»Das … wäre … Aberwitz, zu bleiben!« stieß sie hervor, und ihre Augen schienen einzusinken. »Ich bitte Sie, Olaf – begleiten Sie uns!«
Sie saß auf einer Bank, wie sie kaum je ein schlankes junges Weib besessen haben dürfte – einer Bank aus Goldziegeln, aus Ziegeln reinen Goldes, geschmolzen von Jahrhunderten in den Königspalästen der Inkaherrscher, geraubt von habgierigen Spaniern, auf ein Schiff geschleppt, das dann hier auf Malmotta strandete …
Draußen schossen die Banditen mit ihrem Maschinengewehr wie die Tollhäusler, draußen brüllte Hektor wiederum seine schrillen Schreie zur umnebelten aufsteigenden Sonne empor, die Francislaner erwiderten hin und wieder mit besser gezielten Schüssen und riefen uns von der Kuppe des Felsens ihre Erfolge zu …
»Wieder einer!«
Menschenleben waren billig damals.
Und Isabell saß auf der goldenen Bank und fragte nochmals:
»Olaf, das kann Ihr Ernst nicht sein – Sie wollen wirklich hier auf Ihrer Insel bleiben – nur mit Men Huleb?!«
Das war die Stunde der Versuchung.
In ihren Blicken lag alles, was ein Weib zu geben hat.
Ihre Hände tasteten nach den meinen …
»Olaf …!«
»Ich weiß, Isabell …« – sie tat mir leid – ich hatte nichts zu verschenken. Sie … sie … alles!
Ich drückte ihre Hände …
»Wieder einer!« rief jemand in den Schacht hinab …
Menschenleben waren billig damals, und Isabell saß auf den Goldbarren, die von den gestrandeten spanischen Piraten hier in diesem Riff irgendwo versteckt worden waren – die Spanier starben, Malmotta versank, tauchte wieder auf, versank … – ein grandioses Schaukelspiel der unterirdischen Gewalten, bis eben mein Schwiegervater Petersen das Versteck entdeckte und die Skizze zeichnete und sie dem jungen Mantelpavian am Roten Meere um den Hals knotete. – So sind die Märchen, in denen die Dichter den ganz tiefen Sinn hineinzaubern.
»Isabell«, sagte ich herzlich, »ich habe dich als Freundin sehr gern – sehr gern, liebe blasse Isabell … – Nun wollen wir beide ganz brav sein und zusehen, wo das Versteck dieser Barren sich eigentlich befand.«
Ich nahm die Laterne und schritt tiefer in den Gang hinein. Da war dann die eine Treppe mit den roh ausgehauenen Stufen, und die vier untersten Stufen bildeten ein Stück und waren zur Seite gedrückt. Dahinter gähnte ein dunkles Loch …
Also das war das Versteck! Hätte ††† John Petersen ††† es nie gefunden!! Blut, Verbrechen, Niedertracht stanken aus diesem Loch mit schwefligen dünnen Dünsten hervor … Wo Gold ruht, verwest alles andere – Gold zerfrißt die Seele, den Leib – der lahme Krikatawu war Petersens Gefährte, so erfuhr Hektor Garnier von dem Schatz …
Hektor liegt unter der umgekippten Pinasse, halb zerquetscht …
Auf meiner Insel gingen Mord und Blutrausch um … Sie ist verflucht, diese Insel der Seligen …!!
Und dann …
Aus dem eklen Loche unter der Treppe ein Brummen, Dröhnen, Grollen, als ob ein Untier sagenhafter Größe sich im Erwachen dehnt und reckt und sich räuspert …
Dröhnen …
Daß der Boden zittert …
Daß das Riff wankt …
Eine eiskalte Hand packt die meine …
»Olaf, was … ist das?!«
Ich wende nur halb den Kopf.
»Das ist … die Stimme der Urmutter Natur, Isabell … Die Mutter ruft ihr Kindlein Malmotta zurück in ihren Schoß … – Rasch, nimm diese Ziegel – rufe die Francislaner … rasch.«
Und wie gehetzt schleppen wir die Barren in den Kutter. Von der Insel kein Schuß mehr … Andere Schüsse donnern in den Tiefen der Erde.
»Abstoßen!!« – und mit vierzig Barren flüchten wir in dem Kutter hinaus auf das Meer. Die Artillerie der Tiefe feuert Salven … Der Ozean schwillt an zu ungeheuren Blasen, die knallend bersten … Fahles Licht liegt über der Szene des Untergangs.
Die Francislaner rudern … rudern … Obwohl der Motor bereits wie rasend faucht … Aber da ist irgendeine Strömung, die uns allen Anstrengungen zum Trotz in der Nähe festhält … Das Wasser fließt wie ein Strom eines stürzenden Katarakts in unbekannten Tiefen …
Ein zitterndes Mädchen ruht in meinem Arm. Aber meine Augen hängen an meiner Insel …
Sie … versinkt …
Langsam … ganz allmählich …
Sie wehrt sich nicht – sie gleitet zurück in den Ozean …
Die Laguneninsel ist bereits verschwunden, die Palmen tauchen hinab – nun schrillt auch Hektor Garniers wahnwitziger Schrei allerschlimmster Todesfurcht über das Grollen und Dröhnen der Feuergeister hinaus – er hat sich frei gemacht von der Last der Pinasse, er schleppt sich den Berg hinan … schreit, brüllt … brüllt …
Wir starren hinüber, Eis in den Adern, eisigen Schweiß in den Poren …
Und … die Insel sinkt …
Der Verräter dort oben sieht die nahende grüne Flut …
Wir sehen: ein Krachen – – der Himmel scheint einzustürzen …
Eine neue Wasserblase platzt, wirft das Wrack des Hardanger auf den Kiel – der Dampfer schwimmt, Masten, Schornstein nach oben … taumelt – – schwimmt, taumelt …
Der Verräter Hektor, halb im Wasser bereits – – eine Palme stürzt, trifft – – ein neuer Knall …
Und … von Malmotta blieben nur die Nordriffe …
… Mein Riff.
Der kleine Dampfer des großen Idealisten Pierre hatte sich bei den ersten Anzeichen der Katastrophe schleunigst davongemacht. Daß wir in dem Kutter nicht in die Tiefe gerissen wurden, blieb ein unerhörter Glückszufall. Freilich, keiner von uns hatte in den kurzen Minuten, in denen sich hier das gewaltige Naturschauspiel des abermaligen Versinkens Malmottas vollzog, an sein eigenes Ich und die uns drohenden Gefahren gedacht. Die überstarken äußeren Eindrücke dieser unheimlich-großartigen Vorgänge, die wilden Todesschreie des Verräters Hektor, die mehr als seltsame Art, die den Dampfer »Hardanger« aus seiner gekenterten Lage wieder aufrichtete – schließlich noch als glanzvollen Abschluß der Tragödie die urplötzlich aus dem Dunst hervorbrechende Sonne und die jähe grelle Beleuchtung eines ebenso unvermittelt wieder zur Ruhe gekommenen Ozeans: wir erwachten wie aus einem wüsten Traum, und Isabell löste sich blaß und verstört aus meinen schützenden Armen – die Francislaner hockten mit grauen Gesichtern untätig da und stierten auf die Stelle, wo soeben noch die große Zauberinsel mit ihren frisch grünenden Palmen und Büschen, dem hohen Berge, den beiden Wracks und … der weißen Jacht eine zukunftsreiche Oase in der weiten endlosen Wasserwüste vorgetäuscht hatte.
Nichts war geblieben als die Riffe, der Dampfer Hardanger, der kleine Dampfer Bellamy, unser Kutter und merkwürdigerweise auch die Pinasse der Jacht. Diese selbst war mit untergegangen. – Die Pinasse und der Hardanger trieben mit einer noch immer recht scharfen Strömung nach Süden, also unseren Gefährten auf dem Bellamy entgegen, die denn auch beide Fahrzeuge schleunigst vertäuten und uns erwarteten.
Ich konnte durch das Glas deutlich erkennen, daß Larsen sich sofort an Bord des Hardanger begab, der ziemlich tief lag, mithin sehr viel Wasser geschluckt hatte.
Als wir dann den Kutter am »Bellamy« festmachten, als die bleichen Gesichter Frau Larsens und Gritas und das ruhige, braune Antlitz Nataupos uns entgegenlächelten – als Käpten Larsen drüben auf seinem ihm wiedergeschenkten »Hardanger« erschien und von der Brücke mit dem Sprachrohr herüberrief, daß die Kessel nicht unter Wasser ständen und die Reparatur des Schiffes auf Francislan in kurzem beendet sein würde, da gab's mit einem Schlage allseits gelöste Zungen – Fragen, Antworten überstürzten sich, jeder wollte seine eigenen Beobachtungen als wertvoll beachtet haben, jeder wußte diese oder jene neue Einzelheit. Der ungeheure Bann einer unerträglichen Nervenanspannung war gewichen, und der Taumel der Freude erfüllte Herz und Mund zum Überfließen.
Larsen kehrte an Bord des »Bellamy« zurück, schloß sein Weib, seine Kinder in die Arme … Sein Schiff war sein Reichtum gewesen, sein Schiff war gerettet – und als ich ihm noch still die Goldbarren unten im Kutter zeigte und ihm erklärte, dreißig davon sollten ihm gehören …: Gold – Gold – hier schuf es einmal wirklich glückliche Augen, hier ward's einem Menschen geschenkt, der mir ein wahrer Freund geworden.
Es wurde ein heißer, windstiller Tag. Während Larsen, Nataupo und die überlebenden Francislaner den »Hardanger« leer pumpten und an Deck etwas Ordnung schufen (die Masten waren nur noch Stümpfe, der Schornstein stand schief, die Brücke war halb zerstört), ruderte ich in dem kleinen Boot des »Bellamy« ganz allein mit meinem Men Huleb zu den Riffen, den letzten Überbleibseln meiner Insel.
Malmotta war nicht gleichmäßig versunken – das hatten wir alle beobachtet. Zuerst und sehr schnell verschwand der südliche Lagunenteil, die Einfahrt – dann folgte, ebenfalls schräg, der felsige Nordteil.
Ein Gedanke, der hiernach wohl einige Berechtigung hatte, ging mir immer wieder durch den Kopf – eine Frage: Sollten etwa die drei Dynamitexplosionen diese Katastrophe veranlaßt haben?! War es möglich, daß die starke Erschütterung des Korallenunterbaus des Südteils die ewigen Feuer der Tiefe zu raschem Aufflammen gereizt hatten?!
Vielleicht …!
Seltsam war es ja, daß Malmotta jetzt schon wieder in den Schoß des Ozeans zurückgeglitten war, nachdem es kaum zwei Monate die Oberwelt besucht hatte! Bisher hatte dieses Emportauchen der Insel stets mehrere Jahre gewährt – so hieß es auch in den Überlieferungen der Gilbertinsulaner und der Cookleute, in deren Sagen und Märchen das geheimnisvolle Eiland seit undenklichen Zeiten eine besondere Rolle spielt.
Vielleicht also …! – Kein Wissenschaftler konnte das mit Bestimmtheit verneinen oder bejahen – genau so wenig, wie die Gelehrten sich über die Frage einig sind, ob der Erdkern eine flüssige feurige Masse darstelle oder ob lediglich Verschiebungen im Urgestein unseres Erdballes jene ungeheuren Wärmemengen erzeugen, die zu den Vulkanausbrüchen und vulkanischen Veränderungen der Erdoberhaut führen. Reibung erzeugt Wärme – und daß so enorme Gesteinmassen, die durch irgendwelche Einflüsse in Bewegung geraten und sich aneinander mit ebenso enormen Flächen unter stärkstem Druck reiben, alle dazwischengebetteten schmelzbaren metallischen Schichten in feuerflüssigen Zustand bringen können, ist als »Erdkerntheorie« wahrscheinlicher als die andere Annahme, daß wir Menschlein lediglich auf einer erkalteten Kruste unseres Planeten von etlichen Meilen Dicke leben und der Erdkern eine flüssige Masse darstelle.
Ich und mein Men Huleb allein im Boot, allein auf der Fahrt zum versunkenen Grabe meiner Lieben … Seltsame Gefühle bewegten mich, als ich, langsam, wie traumverloren die Ruder durchziehend, die Stelle passierte, wo das Grab sich befinden mußte. Meine blonde Jane war mir genommen – – sogar das Grab! Und Jane war mir alles gewesen …
Dann gelangte ich zwischen die hellen Korallenriffe, an denen das Meer sanft emporleckte und brandete und schäumte. Da war der große Kalkwürfel, der noch vor einer Stunde das Vorschiff des gekenterten Hardanger gestützt hatte – da war die Außenspalte, durch die man unschwer auf die Kuppe emporklettern konnte – da waren ringsum als schirmende Zäune die niedrigen Klippen – – die Reste von Malmotta!
Ich hatte ein zweites Mal ein Naturwunder gigantischen Ausmaßes miterlebt, und wie sehr mich dieses Erlebnis erschüttert hatte, spürte ich erst jetzt so recht, wo ich allein war und nicht die lärmende Freude meiner Gefährten und deren emsige Geschäftigkeit, die doch nur den kalt-praktischen Dingen galt, mich fernerhin wohltuend ablenkte.
Ich stand dann oben auf dem Riff neben dem Loch des Schachtes … Ich spürte jenes stille, tiefinnerliche Grauen, das uns Menschen befällt, wenn wir einmal angesichts der Wirkungen eines beinahe unfaßbaren Naturereignisses unsere eigene jämmerliche Nichtigkeit klar empfinden.
Ich blickte umher … Es war die Zeit des höchsten Standes der Flut, und nicht einmal der Berg von Malmotta, nicht einmal eine einzige der riesigen Palmen war sichtbar. Das Meer rollte mit langen Wogen über das tiefe Grab meiner Insel hinweg – das Meer umspülte drunten in der Tiefe wieder die Wracke der Schiffe, das Meer füllte die Wohngrotte, in der meine Jane, Fennek und ich so glücklich waren.
Ich blickte in den Schacht hinab … Die Leitern waren noch vorhanden, und ich stieg vorsichtig abwärts. Ich nahm an, ich würde unten ebenfalls den gierigen Ozean vorfinden – ich fand keinen Tropfen Wasser, nur der Felsengang war verschüttet – auch wieder nicht verschüttet, sondern zusammengepreßt, wie wenn man knetbaren Teig zum Ganzen zusammendrückt – von dem Felsengang existierte nur noch der Anfang, etwa ein Stück von sechs Meter Länge, und die Treppen, die goldene Bank, auf der vorhin Isabell gesessen – alles war zermahlen, zerdrückt, alles das war verschwunden …
Starr und fest und eisern versperrte der Fels hier den Weg. Als ich ihn mit dem Finger berührte, fand ich ihn heiß, und mein Finger zuckte zurück. Ein schwacher Schwefeldunst füllte den kurzen Höhlengang – auch der Geruch verlor sich bald genau wie die Hitze des Gesteins, und jetzt erinnert nichts mehr an Malmottas Versinken als das eine:
Malmotta starb, verschwand!
Es gibt kein Malmotta mehr – –
Die Freunde haben dann nachher übergenug auf mich eingeredet, sie doch zu begleiten … Grita Larsen hat feuchte flehende Augen gehabt, als der Abschied kam – Isabell war bleich wie der Tod.
Die Pinasse der Jacht ließen sie mir zurück und übergenug Proviant, Waffen, Kleider, vieles andere. Ich bin ein Robinson mit reichem Inventar und einem treuen vierhändigen Freunde. Ich habe auf meinem Riff sogar Trinkwasser in einer tiefen Spalte der Nordseite, und ich nehme an, daß diese Zisterne irgendwie mit der Quelle des versunkenen Berges von Malmotta in Verbindung steht.
Es kann sein …
Langsam tauchten damals die beiden Dampfer unter die Kimmung … Das Abendrot flammte gerade … Es war ein farbenfrohes Abschiedsfeuerwerk.
Und dann war ich allein – wie jetzt … Dann schlief ich die erste Nacht in der Höhle unten – neben Men Huleb und meinen Vorräten.
Morgens aber, ganz früh, vollzog sich das neue, dritte Wunder: die Ebbe kam, die Wasser sanken, und Janes Grab erschien … Ich watete hinüber … Jane war mir zurückgegeben, der barmherzige Ozean öffnete seinen Schoß und zeigte mir die Stätte, die das bessere Teil meines Ichs barg – eine geliebte Tote.
Jetzt aber, wo der Spuk drüben, die beiden Gestalten zerronnen sind und ich mir bewußt geworden bin, daß dieses weichliche Heraufbeschwören der Abgeschiedenen letzten Endes zu geistiger Umnachtung und Trübsinn führen muß, reiße ich meine Gedanken gewaltsam los von jener Stelle …
Ich greife zu meinem Fernglas und überschaue den endlosen Pazifik …
Dort im Nordosten – täuschte ich mich?! – – Taucht da nicht ein weißes Segel auf?!
Menschen?!
Nein – noch will ich die Menschen meiden, wer es auch immer sei, ob Insulaner oder Europäer.
Hastig berge ich mein Sonnenzelt, ziehe die Pinasse dichter an das Riff, liege dann zwischen den zackigen Rändern der Kuppe und schiebe Men Huleb gleichfalls in Deckung.
Und beobachte …
Das weiße Segel kommt näher … Ich erkenne die Form des Schiffleins – es ist ein sehr großes Kanu –, und vorn im Kanu steht …
Ja – es ist zweifellos Fritz Linggeser, der begnadigte Polizeichef von Francislan – es sind die zwölf Leute, denen Pierre Garnier großmütig das Leben schenkte.
Ein Zufall, daß sie auf das Riff zusteuern?!
Absicht?!
In jedem Falle unerwünschter Besuch!!
Ich krieche rückwärts zum Schacht, hole mir Waffen … Men Huleb hilft …
Wir werden ja sehen, was die Kerle hier wünschen … Sie können alles erhalten, was sie wollen: Langbleigeschosse, Pistolenkugeln!
Aber nicht einer der Horde betritt diese Klippen – das weiß ich –, und ich schiebe einen Patronenrahmen in die lange Remingtonbüchse.
So begann der Auftakt zu Simisatto … – Was ist Simisatto?!
Aber das ahnte ich damals nicht, das habe ich hier nachträglich in mein Tagebuch eingefügt.
… Men Huleb grunzt ärgerlich und starrt dem Kanu entgegen …
Er hat allen Grund, den Besuch nicht sehr zu schätzen …
Herr Polizeichef Linggeser brüllt irgend etwas herüber …
Meine Antwort ist kurz und bündig und eindeutig: eine Kugel reißt ihm den zerbeulten Tropenhelm vom blonden mähnigen Schädel …