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2. Kapitel.
Harsts Theorie.

Ich schrieb wieder ...

»... Man muß sich zunächst fragen: Weshalb holte Irina uns zu sich, weshalb kam sie insbesondere persönlich und überließ es nicht Heribert Prank, uns hinüberzubitten. – Die Polizei war gerufen worden, – Irina hätte uns doch weit einfacher telephonisch verständigt. Daß sie lediglich in ihrer Verstörtheit zu uns gelaufen kam, wäre zu verstehen gewesen, wenn sie mit Ganotta allein gewesen wäre. Sie hatte jedoch Gäste, und die vier Herren standen ihr freundschaftlich sehr nahe. Prank sagte mir auch insgeheim, er habe ihr abgeraten, uns zu holen, da wir der Polizei nicht vorgreifen würden. Sie blieb jedoch hartnäckig bei ihrem anfänglichen Entschluß und eilte davon. Ich fragte Prank, wie lange sie nach seiner Schätzung bei uns gewesen. Er erklärte, ihre Abwesenheit habe mindestens zehn Minuten gedauert. Bei uns hielt sie sich kaum drei Minuten auf, für den Hin- und Rückweg rechne ich je eine Minute, das sind im Höchstfalle sechs Minuten. Vier Minuten also verbrachte sie anderswo mit einem anderen Vorhaben. – Unterstreiche auch diesen Satz. – Was tat sie in diesen mindestens vier Minuten?! Das wäre unbedingt von uns aufzuklären.«

Ich blickte auf. »Du hegst Verdacht gegen sie?«

»Abwarten, mein Alter ... – Weiter also. Schreibe ... – Irinas Verstörtheit wirkte durchaus ungekünstelt. Sie war verzweifelt, vollkommen verwirrt und gab sich so, wie es den Umständen entsprach. Ein Argwohn gegen sie kann sowohl aus diesem Grunde als auch deshalb nicht aufkommen, weil sie unmöglich den Schuß abgegeben haben kann. Die Kugel stammt aus einer automatischen Pistole, die Eindrücke der Züge des Laufes im Mantel des Geschosses sind ein unumstößlicher Beweis. – Anderseits ist folgendes hervorzuheben, das ich ebenfalls Heribert Prank verdanke. In Irinas Salon haben dieselben Gäste schon häufiger ein harmloses Spielchen gemacht. Ich fragte Prank, ob der Spieltisch immer rechts vor dem Ecksofa aufgestellt worden sei, von wo aus ein Blick in das Musikzimmer nicht möglich ist. Prank erwiderte unbefangen, der Spieltisch habe sonst stets vor dem Wandsofa links gestanden. Mithin hat Irina an diesem Abend den Tisch anders stellen lassen. – Prank gab auch zu, daß Irina ihn, Spitzer und Direktor Hirsch bat, das Spiel fortzusetzen, während Ganotta ihr das Chanson vortragen sollte. Dieselbe Aufforderung galt auch für Doktor Ritschel, der sich jedoch als eifersüchtiger Verehrer Irinas nicht danach richtete und ebenfalls ins Musikzimmer ging. Prank hörte, wie Irina ihm halblaut zurief: ›Sie sollten meine Wünsche mehr respektieren, Doktor ...! Ganotta singt allein für mich!‹ Dies mag Ritschel schwer gekränkt haben, deshalb stellte er sich mit dem Rücken nach dem Zimmer an das eine Fenster. – Man gewinnt hieraus den Eindruck, daß Irina mit Ganotta im Musikzimmer allein und unbeobachtet sein wollte. Hat also Irina etwa nur deshalb Ganotta um den Vortrag des Chansons gebeten, um ein Alleinsein mit ihm herbeizuführen?!«

»Einen Augenblick ...!« Ich mußte in neues Blatt nehmen. Selten wohl habe ich mit solcher Spannung Haralds Ausführungen niedergeschrieben. Er war an den Tisch getreten, trank einen Schluck Kaffee und fuhr fort:

»Ich hatte Gelegenheit, Doktor Ritschel unverfänglich zu fragen, ob er denn nicht von seinem Fenster aus im Garten etwas gesehen oder gehört hätte. Er zögerte mit der Antwort. Schließlich erwiderte er: ›Ich kann mich getäuscht haben, – es war ja sehr dunkel draußen, aber mir schien's, als ob eine Frau neben der Fontäne stand. Eine Gestalt bestimmt. Ich beugte mich deshalb auch weit zum Fenster hinaus, um besser sehen zu können. Da hörte ich das Poltern des umstürzenden Klaviersessels und den dumpfen Krach, mit dem Ganotta auf den Teppich fiel. Ich drehte mich um, Irina stand am Flügel und taumelte mir halb bewußtlos in die Arme.‹ Ritschel hat dies – die Gestalt an der Fontäne – erst der Polizei gegenüber erwähnt, nachdem ich ihn darauf hingewiesen, das sei doch sehr wichtig. – Ich gewann den Eindruck, daß Ritschel noch etwas verschwiegen hat, irgendeinen vielleicht geringfügigen Umstand, der ihm jedoch verfänglich erscheinen mag. Er ist als früherer Gerichtsreporter kriminalistisch gut vorgebildet und hat wiederholt als Amateurdetektiv große Erfolge gehabt. Dabei ist er keine ganz einwandfreie Persönlichkeit. Auf seine Angaben ist kein Verlaß. Man sagt ihm nach, daß er großzügiger Bestechung zugänglich sein soll. Man wird ihn nicht aus den Augen lassen dürfen. Seine Behauptung, er hätte keinen Schuß gehört, dürfte nicht stimmen. Er, der am offenen Fenster stand, befand sich dem Mörder am nächsten, und dieser feuerte ohne Zweifel von der Fontäne aus.«

Harald setzte sich nieder und bedeckte die Augen mit der linken Hand, – wohl um seine Gedanken noch schärfer zu konzentrieren.

»... Ziehen wir aus allem das Fazit, so kann man folgende Theorie aufstellen: Irina, die kalte Kotty, hat einen heimlichen Liebhaber, vielleicht einen verheirateten Mann, dessen Frau ihr bereits Drohbriefe geschickt haben mag. Diese Frau fürchtete Irina, deshalb ließ Irina, um vor heimtückischen Schüssen sicher zu sein, den Spieltisch in die Ecke stellen. Sie vermutete gerade für diesen Abend eine Gefahr, glaubte jedoch aus irgendwelchen Gründen, daß die Gefahr dadurch zu beseitigen sei, daß sie Ganotta im Musikzimmer gewisse Vertraulichkeiten gestattete, die vom Garten aus beobachtet werden konnten und die die Eifersucht der Frau zerstreuen sollten. Deshalb auch war ihr die Begleitung Ritschels so unangenehm. Sie wollte mit Ganotta allein sein. Die Frau sollte sehen, daß sie Ganotta bevorzugte, – sie lehnte sich an den Flügel neben Ganotta. – – Du wirst zugeben, mein Alter,« sagte er lebhafter und ließ die Hand sinken, »daß diese Theorie allen tatsächlichen Feststellungen gerecht wird. Nimm an, die Frau, die von Ritschel an der Fontäne gesehen wurde, wollte gar nicht Ganotta, sondern Irina treffen, aber die Kugel ging fehl und tötete den Legationsrat. Möglich auch, daß die Frau zu Ganotta Beziehungen unterhielt. Das ist vorläufig gleichgültig. Zu meiner Theorie paßt am besten die Annahme eines Fehlschusses. Und ebenso paßt dazu folgende Erklärung für die Verwendung der noch freigebliebenen vier Minuten von Irinas Abwesenheit: Sie war im Garten, bevor sie zu uns kam!! – Beweis: Ihre Halblackschuhe! Würde sie nur über den Bürgersteig zu uns geeilt, hätten die Schuhe nicht gelbliche Schmutzränder von nassem Gartenkies haben können, – und sie hatten solche Ränder. Also war Irina in ihrem Garten. Zu welchem Zweck?! Und wo war sie?! – Nicht auf dem Hauptweg, nicht bei der Fontäne. Ihre Spur hätten wir sehen müssen. – Wo war sie? Ich weiß es nicht. Ich vermute nur, sie hoffte im Garten noch die Mörderin zu treffen. Vielleicht begegnete sie ihr wirklich noch und versprach ihr, sie nicht zu verraten ...! – Auch diese Dinge bleiben zu klären. Vorläufig finde ich keine bessere Theorie, möchte nur noch sagen: Doktor Horst Ritschel kennt die Mörderin ebenfalls!«

Ich hatte Notizblock und Bleistift weggelegt und ein Zündholz angerieben. Meine Zigarre war ausgegangen.

»Du hältst es also für vollkommen ausgeschlossen, daß Irina etwa das Nickelmantelgeschoß in eine Luftpistole geladen und doch den Schuß abgefeuert hat?« meinte ich bedächtig, denn Harsts Theorie erschien mir allzu gekünstelt. Ich selbst mißtraute Irina gründlich.

»Ausgeschlossen, mein Alter! Bedenke, daß eine Luftpistole auch nicht völlig geräuschlos ist, daß eine solche Waffe recht groß ist und sich nicht so leicht verbergen läßt. Bedenke weiter das ungeheure Wagnis, einen Mann niederzuschießen, während noch ein zweiter in demselben Zimmer weilt und nebenan drei weitere Herren, die sofort hereinstürmten. Wo sollte Irina die Waffe gelassen haben?! Ritschel drehte sich ja sofort um. Irina hätte sie nicht einmal zum Fenster hinauswerfen können.«

»Weshalb nicht?! Das ist im Moment getan.«

»Gewiß ... du vergißt aber, unter dem linken Fenster – am rechten stand Doktor Ritschel! – befindet sich an der Mauer ein großes Frühbeet mit Glasfenstern. Ich habe es mir angesehen. Die Luftpistole hätte auf dieses Fenster fallen müssen ...«

»Weshalb nicht darüber hinaus in das Blumenbeet?!«

»Weil die Entfernung zu groß ist. Von dem Bechsteinflügel, wo Irina stand, bis zum linken Fenster sind es sechs Meter. Das Frühbeet ist vier Meter breit. Wollte man eine Luftpistole durch ein offenes Fenster, dessen obere Scheiben aber geschlossen waren, weiter als etwa sieben Meter schleudern, könnte man dies nur durch einen Wurf in hohem Bogen. Irina hätte die Pistole fast horizontal schleudern müssen. Ein Wurf im Bogen war unmöglich, also – Irina hatte keine Pistole! Lücke hat auch das Zimmer so genau durchsucht, daß die Waffe nicht etwa versteckt worden sein kann. Wo auch?! Irina stand am Flügel, sie hätte die Pistole nicht einmal unter ihren Röcken verbergen können, dazu gehört Zeit. – Nein, den Gedanken lasse nur fallen, mein Alter ... Der Schuß kam von draußen ...«

»Verzeih', – und wenn Irina nur deshalb im Garten war, um die Waffe zu holen, die sie hinausgeschleudert hatte?«

»Ich habe dort nach Spuren gesucht, mein Alter ... Die hohen Absätze von Damenschuhen drücken in feuchtem Boden tiefe Löcher ein. Es waren keine Spuren vorhanden.«

»Dann allerdings ...«

»Und doch – ein anderer Umstand muß beachtet werden, und gerade dies macht den Fall noch rätselhafter. Ich habe auch die Entfernung von der Fontäne bis zum Flügel genau geschätzt: Es sind mindestens neunzehn Meter. Wenn die »Frau« mit einer automatischen Pistole feuerte, hatte sie wenig Aussicht zu treffen. Gewiß – nach meiner Theorie traf sie auch die falsche Person. Aber – gib acht! – bei neunzehn Meter durchschlägt ein modernes Nickelmantelgeschoß einen menschlichen Körper, wenigstens Weichteile, ganz glatt. Hier aber war die Kugel in der äußeren Herzwand stecken geblieben, nachdem sie nur das Oberhemd und ein dünnes, seidenes Unterhemd durchbohrt hatte. – Daß auch Lücke hieran gedacht hat, merkte ich ihm sehr wohl am. Lücke hegt auch Verdacht gegen Irina. Und doch wird er ihr niemals etwas beweisen können.« Er schwieg und horchte ... »Ein neues Gewitter scheint heraufzuziehen ... Ich denke, wir können es jetzt wagen ...«

»Was denn?«

Er hielt die linke Hand hoch und spreizte die Finger. »Ich nehme an, daß die Polizei sich entfernt hat und Irinas Gäste sich wieder einfinden werden. Irina flüsterte Prank etwas zu, und ich verstand: »Bestellen Sie auch die anderen ...« – Ich möchte dieser Versammlung als Ersatz für den toten Ganotta beiwohnen, und für dich wäre das auch ganz interessant ...«

»Auch für Lücke,« bemerkte ich ironisch »Glaubst du, daß Lücke die Villa unbewacht läßt?!«

»Ja. Soll er Irina argwöhnisch machen?! Doktor Hans Lücke ist mit der Beste vom Roten Alex. Hinter seiner Supereleganz verbirgt sich ein feiner Geist, das wissen wir am besten ... Er hat seine besondere Arbeitsmethode, und ... ich traue ihm nicht über den Weg, bei ihm gilt die Rede auch nur zur Verschleierung seiner Gedanken.«

Wir zogen die leichten Gummimäntel über, setzten die Schlappmützen auf, steckten das Handwerkszeug zu uns und waren gleich darauf in Irinas Garten neben der Fontäne.

Harald hatte meinen Arm umkrallt und wies nach vorwärts ... In dem leichten Nebelregen erkannte ich unklar einen Mann der auf dem Hauptwege saß und beide Hände gegen den bloßen Hinterkopf preßte. Der Mann stöhnte leise und fluchte dazu ...

Hans Lücke, der feudale Hans, flucht sonst nie.

Harst trat neben ihn. »Lücke, wer hat Sie denn hier niedergeschlagen?«

Lücke schaute zu uns empor. »Ein Weib, Harst ... ein Weib ... Ich habe meine fünf Sinne noch nicht ganz beieinander. Helft mir auf die Beine ... Die Kanaille schlug blitzschnell zu ... Schade um meine Beinkleider ... Sie sind hin. Ich fiel dort in das Spalierobst, und das Loch am Knie läßt meine gelbseidene Unterhose vorschimmern.«


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