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An einem regnerischen Aprilabend verließ ein großer schlanker Herr in dunkelgrauen Wettermantel und mit tief in die Augen gedecktem Hut das am Berliner Zoologischen Garten gelegene Paradies-Hotel und schritt eilends in das unfreundliche Wetter hinaus. Der Portier warf ihm einen erstaunten Blick nach, murmelte etwas Unverständliches vor sich hin, und die Sache war hiermit vorläufig für ihn abgetan.
Eine halbe Stunde später tauchte derselbe Herr in einer kleinen Kneipe im Berliner Norden auf, fragte den ob solch vornehmen Besuchs sehr überraschten biederen Wirt nach einem Mann namens Huber und wurde daraufhin in das sogenannte Vereinszimmer gewiesen, wo zur mäßigen Freude des Kneipenbesitzers seit einer Stunde drei Leute, die er am liebsten sofort wieder fortgeschickt hätte, denn der »Blaue Schwan« war ein durchaus einwandfreies und ehrbares Lokal und der Wirt als alter Berliner hatte für eine gewisse Sorte Menschen einen untrüglichen Blick.
Der hochgewachsene Fremde hatte bei seinem Eintritt in das Vereinszimmer sehr schnell und geschickt eine Halbmaske vor sein Gesicht geschoben und war nun vollkommen unkenntlich.
Die gedämpfte Unterredung dauerte ungefähr eine halbe Stunde. Dann zahlte der Fremde, der seine Handschuhe nicht ablegte, jedem fünfhundert Mark, warf noch zwanzig Mark für die Zeche auf den Tisch und entfernte sich ohne besondere Eile. Der Wirt – genau wie der Portier – schickte ihm einen langen erstaunten Blick nach, und dieser Blick wurde noch mißtrauischer, als einer der drei hastig hinter dem Fremden das Lokal verließ. Aber »Zaunlatte« hätte sich diese Mühe sparen können. Der große Herr hatte ein Auto bereit und sauste davon, ohne daß Zaunlatte die Nummer lesen konnte. –
In derselben Nacht gegen zwölf Uhr ereilte dann Allan Garp das ihm vielleicht vorausbestimmte Geschick, als er mit seiner Schwester Ellen von Bekannten aus Potsdam heimkehrte. Es regnete wieder, und Garp fuhr daher recht vorsichtig, zumal Ellen, eine ebenso begeisterte wie leichtfertige Motorradlerin, aus reinem Uebermut wiederholt seinen Weg kreuzte.
Dicht vor dem Eingang zur Avus-Bahn steigerte Garp das Tempo, um einer Taxe auszuweichen, und fast gleichzeitig – die Ursache hatte er nie begriffen – tauchte seiner Schwester Motorrad wiederum vor ihm auf, und das Unglück war geschehen. Er hatte seine eigene Schwester, mit der er freilich sehr kühl und förmlich verkehrte, überfahren und getötet.
Er kam vor Gericht. Die Zeugen, und das waren der Schofför und die beiden Insassen der Autotaxe, bekundeten übereinstimmend mit einem Polizeibeamten, daß Garp der Taxe zu schnell und auf der falschen Seite ausgewichen sei. Er wurde zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, und sowohl seine Bekannten in Potsdam wie sein einziger noch lebender näherer Verwandter sagten sich völlig von ihm los. Der einzige, der zu ihm hielt und ihm Briefe schickte, war gerade der Mann, von dem er es am wenigsten erwartet hatte.
Er verbüßte seine Strafe in der Anstalt Plötzensee, und der Tag seiner Entlassung war ein noch regnerischerer und noch unfreundlicherer als jener 3. April, an dem ihm das furchtbare Unheil zugestoßen war. Schwere Gewitter tobten über Berlin, und als Allan Garp das Gefängnistor hinter sich hatte, dankte er es Doktor Lohr von ganzem Herzen, daß er ihn mit seinem Auto erwartete.
Richard Lohr war dem Namen nach Rechtsanwalt, sein großes Privatvermögen gestattete ihm jedoch vollkommen, seinen etwas merkwürdigen Liebhabereien zu leben. Er war dreißig Jahre alt, hatte eine Zeitlang Strafverteidiger gespielt und beschäftigte sich nun ausschließlich und rein theoretisch mit Kriminalfällen. Sein kühler, klarer Kopf begnügte sich mit einer Ausarbeitung von schriftlichen Theorien über kriminelle Tagesprobleme, und Zeitungen und Zeitschriften rissen sich geradezu nach seinen geistvollen Haarspaltereien, die er in der Art des seligen Sherlock Holmes abzufassen pflegte, die jedoch stets mit Witz und beißender Ironie durchtränkt waren.
Doktor Lohr bewohnte kleine neue Villa im Berliner Vorort Zehlendorf. Als er und sein Gast dort eintrafen, war die Köchin gerade einkaufen gegangen und der Diener säuberte die Zimmer im ersten Stock.
Dieser Diener, Karl Melzer mit Namen, vernahm das Nahen des Autos und das Zufallen der Haustür. Er wollte sich erst etwas säubern, bevor er nach den Wünschen der beiden Herren fragte, vernahm jedoch gleich darauf einen Schuß und erblickte vom Balkon Allan Garp, der wieder zum Auto stürmte und allein davonraste.
Karl Melzer eilte ins Erdgeschoß hinab und fand seinen Herrn mit einem schweren Kopfschuß im Herrenzimmer auf dem Teppich liegen. Er rief die Polizei und einen Arzt an, und da aus Lohrs Wandtresor, der offenstand. mehrere tausend Mark fehlten, wurde hinter Allan Garp sofort ein Steckbrief erlassen. Man entdeckte zwar Lohrs leeres Auto im Grunewald unweit des Restaurants Hundekehle, Garp selbst blieb verschwunden.
Doktor Lohrs Schußverletzung war zum Glück weniger schwer, als es anfänglich geschienen hatte, und seine Vernehmung am Nachmittag ergab, daß er, wie auch die Wunde bewies, von Garp von hinten brutal niedergeknallt worden war, und zwar mit Lohrs eigener Pistole.
Am Abend saßen wir wie stets zu dreien um den großen Kaminofen, und Harsts schmales Gesicht wurde in dem matten Dämmerlicht der Stehlampe nur dann deutlicher sichtbar, wenn er einen Zug aus der Zigarette tat und deren Spitze stärker aufglühte.
Steen, ein Jüngling mit kecker Wippnase und beängstigend modernem Anzug und haarscharfen Bügelfalten, hielt noch die dritte Ausgabe der heutigen Abendpost in Händen, und die Zeitung machte wieder einmal mit wortschreierischen Ueberschriften über »Allerneuestes über Allan Garps Raubmordversuch« blendende Geschäfte, obwohl das »Allerneuste« nur darin bestand, daß nun festgestellt war, Garp sei in einem Wettermantel Doktor Lohrs und in dessen Hut entflohen, die er offenbar in der Diele vom Haken gerissen habe.
Plötzlich schnurrte das Telefon. Harald meldete sich. Wir hörten mit.
»Hier Doktor Lohr, Zehlendorf ... Sie kennen mich gewiß dem Namen nach, Herr Harst.«
»Leider ... Ihre Angriffe gegen meine Arbeitsmethoden entbehren zuweilen der Sachlichkeit.«
»Um so stolzer dürfen Sie jetzt sein, daß ich Sie bitte, mich sofort zu besuchen. Weshalb, werden Sie sich denken können.«
»Allerdings ... – Gut, wir kommen. Schraut und ich. Unser junger Freund Steen ist etwas unpäßlich, leichte Grippe.«
Das war Schwindel. Fred Steen hatte nur anderes zu erledigen.
»Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Harst ... Also auf Wiedersehen.«
Wir beide machten uns zum Ausgehen fertig. Im Flur hingen noch am Garderobenständer ein feuchter Wettermantel und ein nasser Hut.
»Fred, Sie nachlässiger Schlingel, – weg mit den Sachen!«, fauchte Harald den tief geknickten Steen sehr ärgerlich an. »Durch Ihre Bummelei können wir in Teufels Küche geraten!«
In unserer stillen Arnoldstraße sind Autotaxen selten. Wir hatten Glück. Zu meinem Erstaunen befahl Harst jedoch dem Fahrer: »Zunächst nach dem Paradies-Hotel am Zoologischen Garten.«
Der Portier im Hotel war noch derselbe wie vor einem Jahr. Er nahm uns in seine Loge und erklärte uns, die Geschwister Garp hätten allerdings »damals« hier gewohnt.
Durch Harsts eingehende Fragen wurde das Gedächtnis des Portiers schließlich so weit geweckt, daß er uns noch folgendes erzählte: An jenem Abend, als Miß Garp totgefahren wurde, hatte gegen sieben Uhr ein Herr das Hotel verlassen, der offenbar sein Gesicht zu verbergen suchte. Wahrscheinlich sei es aber Doktor Lohr, der Verehrer Miß Garps, gewesen.