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Ums rotdächrige Dorf eine Schwarzdornhecke.
Wie eine Schar kriechender Landwehrmänner sieht die Schwarzdornhecke aus.
Griesgrämig, alt, geizig, treu; lauter wackere Familienväter.
Und die Landwehrmänner haben stechende Spieße.
Kommt der Frühling wie ein lustiger Unteroffizier, lacht die Landwehrmänner an und kleidet sie neu ein.
Er setzt ihnen grüne Mützen auf.
Zieht ihnen grüne Hosen an.
Gibt ihnen leuchtend weiße Waffenröcke.
Manche kriegen sogar Tabakspfeifen.
Die Gruppe an der Spitze namentlich hat richtige Tabakspfeifen.
Die müssen ja auch gegen den Wind marschieren.
Und wenn der angeblasen kommt, der Frühlingswind, dann steigt ein gelber Blütenstaubrauch aus den Stummelpfeifen auf.
Die Landwehrmänner lärmen und piepsen vor Freude und schnurren.
Der Frühling hat ihnen nämlich auch Sperlinge unter die Mützen gesetzt und Ammern.
Ein Admiral segelt prächtig prüfend an den Landwehrmännern vorüber.
Bei den Landwehrmännern ist es nämlich ganz egal, von wem sie besichtigt werden.
Ob es nun ein Admiral ist oder ein General.
Im Frühling kommt eben ein Admiral, der sieht nicht so aufdringlich aus.
Aber die Landwehrmänner stehen stramm und mucken nicht.
Der Admiral fliegt weiter.
Und die Schwarzdornhecke hinkt und singt und marschiert lustig ums Dorf.
Die Wegweiser habe ich nicht befragt, diese kalten, eisernen Wegweiser.
Über die Maas bin ich gefahren, wo sich große Dampfer durch das Wasser pflügen. An Häuschen bin ich vorübergeflitzt. Heimatruhig stieg der Rauch aus den kleinen Schornsteinen, und die roten Ziegeldächer so heimatwarm. Ein schiefer Holzzaun läuft um die Häuschen herum. Bunte Sommerblumen lachen durch den morschen Zaun ... Ein Stückchen Heimat!
Hinein in ein Dorf: »Der Ankauf von Eiern und Butter für Heeresangehörige ist streng untersagt.« Hinter dieser Tafel ein ausgebranntes Franktireurnest. Die Fensteraugen stieren rußig in den Sommerhimmel hinein. Aus den kahlen Mauern zwängen sich kichernd die Blumen. Ein Dorfbrunnen gluckst in die müden Sommerstunden hinein. Rot leuchtet ein Rosenstrauch und ein Kirschbaum. Ein Kirchturm blickt demütig auf die kahlen, verräucherten Häuser. Draußen, vorm Dorf ein Schafhirt mit seinem blauen Kittel, der mit goldenen Knöpfen benäht ist.
* * *
Die Blumen schäumen auf mich zu, vom Abhang herunter, von den Wiesen einher. Vogelmelodien umschlingen mich auf meinem Rade ganz lieblich. Ein Kuckuck schreit.
Weit, so weit ist die Landstraße – –
Irgendwo treffe ich einen Mann mit einem Wolkenhut, einem weiten, vergrauten Pelerinenmantel. Ich steige ab. Der Mann guckt mich mit seinen kleinen, verglasten Augen an. Der Schnurrbart hängt zerkaut um seine Lippen.
Er stellt sich vor: Paul Verlaine ...
Ach, den kenne ich doch. Seine Schuhe sind ganz zerwandert. Und wie dieser Herr nun an zu sprechen fängt, da merke ich erst, daß er betrunken ist, vom Absinth ganz benebelt.
Wir setzen uns auf den Landstraßenrand. Er kramt ein zerschriebenes, durchgeschwitztes Notizbuch aus der Tasche. Und nun deklamiert er mit zaghafter, verschleierter Stimme Gedichte, die er gestern und vorgestern und heute gemacht hat. Lilien blühen in diesen Gedichten auf. Rosenblätter fallen auf die Verszeilen. Hier und dort ein zärtlicher Blumenbühl in den Reimen.
Und dann sagt er mir, daß er über einen Fuhrmann ein Gedicht gemacht habe, über einen Fuhrmann, der im Abendlichte ganz voll Sonnengold war und der, als er vom Wagen stieg, sich in ein Knäul von duftenden Winden verwickelte und verfitzte und nicht mehr aus den duftenden Blumenstricken herauskonnte.
Ich wollte das Gedicht hören.
Da lächelte er und murmelte: »Ich habe heute nacht im Schlosse Orval geschlafen. Hier um die Ecke herum ist es. Da war ein Kammermädchen. Ich sage Ihnen, Augen hatte das Ding, wundervolle Augen! Yvette hieß sie. Der habe ich das Gedicht geschenkt und einen Kuß dazu.« – – Er lüftete seinen Wolkenhut, torkelte einen kleinen Feldweg hinein und rief mir noch zu, daß eine Viertelstunde weit ein Muttergottesbild stände mit einem Hahn darauf. Da wollte er beten. Dann verschwand er im mohnroten Ährenfeld.
* * *
Ich rase nach Orval. Da liegt es, das weiße Schloß! Es spiegelt sich im grünen Wasser, waldumrauscht, waldumflüstert, waldumsungen. Die Uhr auf dem Turme steht auf halb sieben Uhr.
So steht sie wohl schon seit 1914. – Bunte Fenster der Schloßkapelle.
Aus dem Portal heraus kommt jener berühmte Herr mit der berühmten Extrauniform, Kneifer und Gefreitenknöpfen, unterm Arm die Ordonnanzmappe. Jener berühmte Mann, der genau weiß, wann der Krieg aus ist. Der ganze Herr war eine Bügelfalte. Da wußte ich auf einmal, daß Paul Verlaine ja schon lange gestorben ist und daß ich auf meinem Rade gedöst hatte.
Langsam schiebe ich mein Rad bis zur Abtei von Orval.
Ein efeuversponnener Eingang. Ein Großvater macht auf. Heruntergekommen und verwildert wie die Ruinen, die er mit seinem treuäugigen Hunde bewacht. – Im Hause dieses Mannes ein großer Saal mit einem riesigen Kamin und einem kaputtgesungenen Harmonium. Die Bäume nicken in den Saal hinein. – Auf einem großen, großen Tische steht ein Kaffeetopf, liegt ein halbes, zerbröckeltes Brot und eine Tabakspfeife. Dann steht noch eine Zigarrenkiste auf dem Tische. – Ansichtspostkarten von Orval sind drin. Schon furchtbar abgegriffen sind die. – Stück für Stück zehn Pfennige. – Übrigens, der Saal ist das Frühstückszimmer des Herrn Portier. Nun wollte ich auch das Wohnzimmer sehen, aber das hat er mir nicht gezeigt. –
Ein malerischer Anblick. – Wie große flehende Arme strecken sich die Ruinen in den Himmel. Erhabene Bäume, die weise patriarchalische Sprüche in das Trümmerfeld flüstern und die sich noch heute darüber entrüsten, daß die französische Revolution die wundersame Abtei zerschlagen hat. – Wenn der Wind geht, dann knurren die alten Bäume. – Der riesige Klostergarten ist ganz verwildert. Sträucher und Bäume lachen und freuen sich, turnen an meinen Beinen herum. Ich stehe richtig in einer schwankenden Flut von Rot und Weiß und Grün und Gelb und Blau und Schwarz. Es ist, als ob sich die Blumen freuten, daß sie jetzt blühen können wie sie wollen, nicht mehr wie damals, als heilige Gebete auf ihre Köpfchen fielen. – Und die Vögel! Da, der Säulengang, der jetzt von der deutschen Regierung wiederhergestellt wird! Romanischer und gotischer Stil wechseln ab. So richtig eine Freude für Architektenaugen. Säulen, die mit pausbäckigen, langflügeligen Engeln verschnörkelt sind. – Ein Rundfenster, durch das sich seitlich der Himmel drückt und die schwankenden, geisterfrommen Baumwipfel. Vorbei ein Vogelhusch. – Immer weiter geht's. Man kann sich stundenlang in dieser zertrümmerten Abtei herumtreiben. – Eine Quelle schlägt ihr blaues Auge zum Himmel empor. Das ist die Quelle, die Orval den Namen gab. Orval ist Goldtal. Eine Prinzessin trank einst aus dieser Quelle. Sie beugte sich vornüber. Ihr Haar fiel goldig bis auf den Spiegel der Quelle. Die Prinzessin verlor beim Trinken den goldenen Fingerring. Er war nicht wiederzufinden. Tag und Nacht beteten die Nonnen zur Jungfrau Maria. Eines Tages schwamm der Ring wieder auf dem Spiegel der Quelle. – Deshalb Orval – Goldtal. – Ich steige hinab, in den Säulengang unter der Erde. – Unzählige, breite, säulengewaltige Gänge; hier und dort tanzt ein Lichtstrahl von draußen herein. Ratten rascheln. Ein reißender Bach gibt dieser unterirdischen Säulenwelt etwas ganz Grausiges. Wieder heraus aus der kalten Säulenheiligkeit. – Oben der Himmel, als hätte ein einsames Malerkerlchen die Farbe zurechtgemacht für die Ruinen von Orval. Mit andächtigen Pinselstrichen hat das putzige Malerkerlchen die blauen Himmelsdächer für die geheimnisvollen, grausigen, holden Ruinen gemalt. – Der Bach spritzt wieder auf, knurrend, reißend, falsch. – Als ich wieder hinaus bin, da ist mir, als ob der Segen und die Tränen der Nonnen hier aufgeblüht wären zu lachenden Farben.
Weit, hinter den Bergen geht die Sonne zur Ruhe.
Verwildert waren alle seine Lieder,
Wenn er die Flinte in die Morgensonne trug.
Umspült von dunklem Trommelklang,
Auf seinen Lippen lag Gebet und Fluch.
Nun hat die Kugel ihm das Augenlicht zerrissen.
Er geht gebeugt, in grauer Armut durch den Tag.
Umschwebt von einer edlen, frommen Schwesternhaube,
Sehnt er sich nach einer Stube mit altem Uhrenschlag.
Und manchmal klimpert er mit seiner Löhnung in der Tasche,
Und lächelt müd, probt pfeifend eine Melodie,
Und blüht ganz auf und singt und singt
Das wilde Lied von seiner Kompagnie.
Und die alten Gassen reißen meine Augen groß auf wie damals, als ich noch alle Märchen glaubte.
Wie könnte ich sie beschreiben, die Häuser, die schläfrig mit ihren fetten Schornsteinen in den Tag hineinblinzeln?! Und dort das Haus, das ganz eingehüllt in philosophisches Dunkel an der dreckig fließenden Straßenrinne kauert! Ein Glanz von Handwerkerherrlichkeit liegt in diesen Häusern. Wenn jetzt die Tür aufgeht, denkt man, wird eine Memling-Madonna heraustreten.
Dort ein Haus mit zerbogener Dachtraufe; das schläft nicht mehr und träumt nicht mehr, das ist schon tot und verfault mit den billigen, bunten Jahrmarktnippes, die auf dem Fensterbrette stehen. Wie ein finsterbuschiges Leichenbitterauge stiert vom Hause eine Laterne herunter. Und eine Pumpe steht vorm Hause und fliegende Kinderwäsche auf der Leine und ein Nachttopf dazu, und oben auf der Pumpenspitze sitzt ein umgestülpter Schuh. Vier struppige Kinder: zwei Jungen, jeder den Eßlöffel in der Hand, und die Mädchen, blond mit steifabstehenden Zöpfchen, schrien vorm erloschenen Hause: »Der paterken trekkt zijn nonnicken in.«
Dort ein griesgrämiges Haus, das wie einen Schalksgedanken einen blaufenstrigen Balkon aus sich herausschiebt. Wieder ein Haus trägt wie ein engeldurchkichertes Wappenschild ein sanftrotes Heiligenbild auf blauem Grunde in die Herrgottsschnitzerstunden der Gasse. Ich werde die verwitterten, sanften, müden, auftobenden Gebärden dieser Häuser nie mehr vergessen. Und doch sitzt irgendwo an jedem Hause ein Fünkchen Lustigkeit; sei es nur ein lachendes Engelsköpfchen, das keine Nase mehr hat; oder ein Storch, der verwittert die Sonne ankrähen möchte; oder ein Giebel, dem man richtig die Lust ansieht, im Zickzack in den Himmel zu hüpfen.
Und die Augen, die vor Jahren noch die Herrlichkeit eines deutschen Dorfes in sich getrunken haben, glauben an einen Narrenstreich, wenn sie schwerfällig buchstabieren: Gemeenteschool, oder Drukkerij, oder Ingang. – – Da sitzt der Kerl, der mit lachendem Pinsel diese verschrobenen Aufschriften machte. Dick wie ein Falstaff, er trieft von Fett. Man möchte ihn kitzeln, damit er meckert und mit dem Bauche wackelt, dieser Wanst, so denkt man. Und wenn man ihm eine Krone auf den Kopf stülpte, dann würde er aussehen wie der König, den Jordaens malte mit frechlustigen Farben. Dieser halbbeschwiemelte König wäre berufen, die Herrschaft über diese Gassen zu führen.
Dort eine fromme, weiße Flügelhaube, die langsam an den Häusern vorüberkriecht; unter der Flügelhaube ein welker Mund. Jede Stunde streut der Belfried einen Choral auf die Dächer und in die Herzen.
Hinter den Gassen stehen hochbeinig eins, zwei, drei Mühlen und schaufeln das Himmelsblau in die wunderlichen Fensteraugen. Und auf dem Kanal ziehen die Schwäne sagenleise ihre weiten Kreise.
– – Manchmal wacht eine Trommel auf, zieht hinter sich her krachende Soldatenstiefel und verdreckte Stahlhelme. Die Häuser sind nicht wachzukriegen.
Das Gesicht einer verschwundenen Zeit hält sie fest und gibt sie nicht mehr frei.
Kennst du den Abend über Brügge, der die Dächer wie finsterbuschige Augenbrauen über die niedrigen Fenster schiebt?
Kennst du den Abend, der lauter Märchen und Schauergeschichten über die flandrische Stadt schüttet?
Die Pappeln am Kanal schwatzen wie lange, dürre Narren. Ein Windstoß zupft an den Erlen, die schwankend flüstern. Das Wasser blitzt falsch und verlangend auf. – – Dann ist alles wieder still.
Dumpf brütet das Johannishospital vor sich hin: »wo ist der Maler, der seine Bilder wie Jesuskerzen in mich hineinstellte?« »Er ist tot, «brummt der Belfried wie ein strenger Gildenmeister; »brennt ein Dreierlicht an zu seinem Gedächtnis.« – –
Das Gruuthuus baut sich großspurig wie ein trotziger Patrizier in die Nacht.
Die alte Kanzlei hascht die Sterne in ihre zierlich geschwungenen Giebel.
Das Kloster der Schwarzen Schwestern liegt wie ein murmelndes, geschlossenes Gebetbuch da.
Die Beginenbrücke springt vorsichtig über den Kanal und wartet auf die Frauen, die lauter Barmherzigkeit sind.
Die dummen, einfältigen, armen Häuser bei St. Jakob schneiden Fratzen und kichern in sich hinein, wenn ein altes Mütterchen über die Tümpel springt und sich die Beine auf den spitzen Steinen vertritt.
Wie eine Hexenkammer liegt der kleine Turnierhof da. Der herbstliche Nachthimmel klappt ihn zu. Und die Klappe ist so dicht und schwarz, daß die Gesichter flandrischer Ritter, die hier mutig blitzten, vom Himmel her nicht mehr in den spielzeugkleinen Turnierhof gaffen können.
Teufelsgassen. Ihre taghelle Einsamkeit löscht der Abend aus. Erlkönigslandschaft. – Das Herz schauert. –
In das düstere Brüten der Erlen am Kanal setzt sich der Nebel. –
Kennst du den Abend über Brügge?
Hinter der Front ein Nest, angeschossen, die Straßen von Wagenrädern zerwühlt. Früher, als es noch Frieden war, tat das Städtchen so einfach und versonnen. Es lebte so seinen Tag hin, den einen wie den andern. Aber das ist schon lange her. Jetzt, im Kriege, ist das Städtchen laut und marktschreierisch geworden. Ein feldgrauer Jahrmarkt mit Lachen und Fluchen, Peitschenknallen und Regimentsmusik und Schreien, und von fernher das Wummern der Geschütze. Die Fensterscheiben, die dreckigen Häuseraugen im Städtchen, klirren. –
Und Herbst ist's. –
Am Marktplatz ein Schild: Kaffeestube.
Ein langgedehnter, schmaler, niedriger Raum. Schulbänke stehen darin, und hinten, an Stelle des Lehrerpultes, steht ein Schanktisch, vollgetürmt mit Zigarettenschachteln, Zigarrenkisten, Keks und mit einem dampfenden Kaffeebottich. Fünf ganze Pfennige die Tasse Kaffee. Eine Luft ist in der Kaffeestube, eine Luft, die einen mit ihren Krallen würgt und an die Wand drückt. So nach Leder und Zigarren und Schützengraben und Mist.
Die Kaffeestube schwelt. Ein Rembrandtdunkel zieht nachtvogelhaft über die Kopfe der Feldgrauen, die hier vor sich hindösen und das warme Kaffeegesöff in den kalten Magen kippen. Andere sprechen laut vom Kriege und fluchen, daß sich die verräucherten Feldherren, die an den Wänden kleben, auf die Straße flüchten möchten. Andere, die vom Urlaub kommen, schimmern von Heimat und haben das Herz irgendwo in einem deutschen Städtchen vergessen. Das sieht man ihnen durch das Kaffeeklappendunkel an. Versprengte, wie zerrissene, bartstopplige Banditen sitzen sie da, den Zigarettenqualm durch die Lunge paffend. Und hinter jeder Rauchwolke her die Frage: Wo ist meine Kompagnie? Faule Ordonnanzen, großmäulige Offiziersburschen, behäbige Trainkutscher – alles durcheinander.
Manche schlafen. Manche schnarchen, den verwilderten Kopf auf die Fäuste gepflanzt oder auf die Bank geschmissen. Einer kommt herein mit einem Knüppel in der Hand und einem schüchternen, lieben Sanitätshund an der Kette. Und der Hund wimmert vor Kälte und schüttelt sich, und die alte, dreckige Landsturmhand streichelt den Hund und drückt ihn.
Die Kaffeeklappe summt. Immer dunkler wird's. Einer kramt ein Schützengrabenlicht aus dem Tornister und brennt es an. Das Dreierlicht glänzt auf wie ein sehnsüchtiger Heimatsgedanke. Und die Rauchschwaden ziehen lüstern in das Licht.
Vorm Schanktisch wird geschrien und gelacht und Kaffee verkauft. An der Erde sitzen drei und spielen Skat auf einer Kiste. Ein junger Kerl sitzt beim Licht und schreibt eine Ansichtspostkarte. Ja, eine Ansichtspostkarte, die das lausige Etappennest zu einem lieblichen Städtchen hinausschwindelt. Der Soldat, der hinten den Kaffee ausgibt und die Kasse führt, beträgt sich wie ein saugrober Herbergsvater. Einer geht zum Klavier und spielt ein paar Takte; eine verwilderte Geige mischt sich darein.
Das Licht geht aus. Die Kaffeeklappe träumt. Sie grübelt eine Sehnsucht aus, und die Sehnsucht krallt sich durch die dreckigen Waffenröcke und kriecht in jedes Herz hinein. Es ist, als kämen die Sprüche wieder und die Fibelrätsel, die einst, vor langen Jahren, auf den Schulbänken lagen.
Die Kaffeestube träumt die ganze Nacht.
Und draußen fallen die kalten, windverwehten Herbststerne in die Pfützen der nächtlichen Gassen.
Es war im Oktober 1915, nach den Tagen von Ducki.
Drüben, in Rußland war's.
Wir lagen in einem elenden Bauernhause, hinter der Front, auf Stroh.
Mich hatte ein Russe über den Haufen geschossen, und ich lag da und träumte von einem Fetzen Heimat.
Gefangene Russen krochen nachtvogelhaft herum und bettelten von den Leichtverwundeten Zigaretten.
Der Oktoberwind pfiff ums Haus herum.
Im Ofen war eine Bärenhitze.
Ein Berliner, mit verbundenem Arm, saß auf dem dreckigen Fensterbrett, hatte ein Kruzifix, das ja überall spinnenverwoben in den Russenhäusern herumliegt, in der rechten gesunden Hand und pfiff: »Püppchen, du bist mein Augenstern.«
Und die Läuse, verdammt die Läuse!
Eine Russin, bunt wie eine Aurikelbraut, brachte Milch und Tee.
Und sie nahm kein Geld dafür, sie lächelte nur.
Es war, als wehte sich um ihren Kopf ein schmetterlingsbunter Heiligenschein.
Der Sanitätssoldat brannte drei Wachskerzen an.
Das war so schön, so wunder-, wunderschön.
Mir war's, als käme meine Kindheit auf einem Weihnachtsschlitten angeläutet.
Mir war's, als wäre ich ein ganz fröhlicher Quintenmacher, der nun krank liegt, weil seine Geige zerbrochen ist.
Ein süßes Traurigsein kroch in mein Herz.
Da schleppten sie einen Oberleutnant herein.
Sie hatten ihm die Hosen vom Leibe geschnitten, weil er einen Bauchschutz hatte.
Und er wimmerte und wimmerte und weimelte.
Man merkte ordentlich, wie er vor Schmerz die Zähne zusammenbiß.
Im linken Auge hatte er noch das Monokel sitzen.
Wahrhaftig, das kecke Monokel.
Beim funkelnden Kerzenlicht sah ich ihn.
Und ich sah auch, wie in seinem alten, fahlen Galgenvogelgesicht das Kindergesicht sich aufschlug.
Und das Monokel!
Der Berliner sang mit herzlicher Gassenjungengrazie: »Ist – das – Bummeln – noch – so – schön – – – Mal – muß – man – nach – Hau – se – ge – h – n.«
Und das Monokel glitzerte im Kerzenlicht.
He, Geigen her!
Rosen her!
Tanze mit mir, kornblondes Mädchen du!
So mußte ich immer denken; die ganze Nacht durch.
Langsam ging der Wind ums Haus.
Morgens, vier Uhr, war der Oberleutnant mit dem Monokel gestorben.
Der Sanitätssoldat schleppte ihn hinaus; dann brachte er einen ganzen Arm voll Holz herein.
Draußen war eine Hundekälte.
Mit halbscheuer Anmut kam wieder die Russin herein; brachte Milch und einen Korb voll Eier, die sie im Dorfe zusammengekauft hatte.
Eine blonde Haarsträhne hüpfte ihr immer in die Stirn.
Sie strich die Haarsträhne immer wieder lächelnd zurück.
Ich muß immer an sie denken.
Sie trug vorn auf der Brust ein kleines Silberkreuz, das wundervoll aufglitzerte im Kerzenlicht.
Und wenn sie mal Ruhe hatte, las sie aus einem zerlesenen Bändchen Verse von Puschkin.
Ich habe ihr einen blauen Rittersporn geschenkt, der in meinem Soldbuche lag und den ich irgendwo gepflückt hatte, als wir noch lustige Tage im Schützengraben hatten.
Es ist wunderschön, wenn ein Mann, der irgendwo in einer Schreibstube sitzt und von staubigen Akten angeguckt wird und recht trockenen Verfügungen, plötzlich einmal durch den Frühling läuft und von den Kirschbäumen ganz weiß verschneit wird. Wunderschön ist's auch, wenn ein alter, zerlumpter Dorfgeiger an der Kirchtür lehnt und ein Schmetterling auf seinen abgelatschten Stiefeln sitzt. Und ganz wunderschön ist's auch, wenn ein Herr Unteroffizier, der im sechsten Jahre dient und sein ganzes dickes Notizbuch mit Nachexerzierstunden vollgeschrieben hat, Engelshaar auf seinem Rocke hat; funkelndes, glitzerndes Engelshaar.
Das war am Tag nach Neujahr, am Abend. Da wurde unser Weihnachtsbaum abgeputzt. Das machte der Herr Unteroffizier. Der hat den Baum nun einfach hinausgeschmissen. Der Baum aber hatte sich, weil er vielleicht wußte, daß er gerade von einem Unteroffizier mit sechs Dienstjahren so behandelt wurde, einfach gewehrt. Hatte den Unteroffizier, den Herrn Unteroffizier, von hinten gefaßt und von vorne angegriffen, und hernach, weil er wußte, daß gegen eine Person mit sechs Dienstjahren schlecht anzukommen ist, hatte er sich ruhig hinausschmeißen lassen. Und sein ganzes, liebes, lustiges Engelshaar hatte er dem Unteroffizier gelassen.
So stand er da, der Herr Unteroffizier, draußen, unterm Sternenhimmel. Glitzernd stand er da wie ein mausarmes Musikantlein, das ein ganz liebes Lied im Kopfe hat. Und der Mond ganz tief am Boden, gerade unter den Stiefeln vom Herrn Unteroffizier. Wie fein das aussah. Der Herr Unteroffizier stand ganz auf Mondensilber.
Ich dachte mir, Herrgott, wenn er noch leben würde, der gute Herr Spitzweg aus München!
Unser Herr Unteroffizier wäre was für ihn!
Jetzt kratzfüßelte er herum im Mondenscheine. Ich dachte, jetzt wird er wohl singen oder er wird ein durcheinanderkicherndes Gedichtchen in die Nacht hinaus deklamieren ...
Plötzlich: »Ich bitte mir aus, daß bis morgen früh der Strunk hier beiseite geschafft ist!«
Ein Schrei war das.
Und der Herr Unteroffizier hatte doch Engelshaar auf seinem Rücken. Und er stand doch da, ganz im Mondensilber stand er da ...
So ein Befehl, so ein Befehl hat richtige Krallen.
Aber schön hat er doch ausgesehen, der Herr Unteroffizier mit dem Engelshaar.
Es ist doch sonderbar: Ein grauköpfiger Kerl, ohne jegliche Freundschaft zum Orthographiebuche, schlägt, mit der Tabakspfeife im Munde, Schlachten; glorreiche, wilde Schlachten, die durch die deutsche Geschichte strahlen.
Was ist das für ein Feldmarschall, der Unglück klein schreibt und Armee auch klein und hinten noch sogar mit h!
Ja, dieser Blücher!!
So steht er da, tabakumräuchert, Spielkarten im Königskittel und die Marschroute nach Paris.
Und er flucht, daß selbst der König zusammenknickt, und er rast durch Schlachten und Pulverdampf, und er schreibt an seinen Bruder wegen seiner zehnjährigen Tochter Friederike: »Sollte meine tochter Schon Frisiert sein so bitte um gottes willen laß alles auß kemmen.«
Und den lieben Gott sieht er nur im Helm und Harnisch. Und Napoleon hätte er so gerne in Unterhosen erwischt.
Und er weint um die Königin Luise wie um eine selige, blaue Heimat, die vom Sturm zerrissen wurde.
Blücher!
Alle Soldatenherzen hat er in der Tasche.
Sein Willen wirft gewaltige Legionen um.
Und als er in schweren Stiefeln durch die Himmelstüre krachte, hat ihm der Herrgott eine Blume ins Knopfloch gesteckt.
Und Blücher hat gelächelt wie damals, als er den fünften Skat glücklich gekloppt hatte. –
Immer rein in den Tornister!
Sie sind so leicht, die Briefe vom alten Blücher. Und wenn du, Kamerad, irgendwo in Rußland oder in Frankreich eine Heckenrose brichst, so lege sie zwischen die hingehauenen Blücherbriefe.
Oder wenn du das Eiserne Kreuz erhältst, so lege das Blättchen, worauf dir dein Kompagnieführer deine Tapferkeit und deine Furchtlosigkeit bescheinigt, zwischen die schwertdurchklirrenden, donnernden Blücherzeilen.
Und wenn er das oben sieht, der Graukopf in Elysium, der alte, gute, rauhborstige Preußen-Feldmarschall, dann wird er dir einen Gruß zunicken, einen lachenden, frühlingsblauen Soldatengruß.
Wenn der Sturm aufsteht: langbeinig, wild, mit langen, wüsten Schritten über die Felder jagt, die Bäume um den Hals faßt und mit ihnen einmal linksrum tanzt und einmal rechtsrum tanzt; wenn der Sturm sich in die letzte Siegesfahne wickelt und wieder rauswickelt und hernach hinter den Sperlingen herheult, dann muß ich immer an den jungen Goethe denken, wie er, zweiundzwanzigjährig, am Wanderstabe durch die Natur geschritten ist. – – –
Am ihn herum der Sturm.
Und seine Brust war voller Lieder; jeder Buchstabe eine Blume. Und das Herz so bunt wie ein Bilderbuch.
Da waren sie alle drin, die blondzöpfige Friederike von Sesenheim, der eisenklirrende Götz von Berlichingen, der Zauberdoktor Faust und eine Handvoll wüste, mädchenlachen-durchkicherte Studentenlieder; dazwischen ein paar ganz stille, ganz sonntagsstille Volkslieder. – – –
Um ihn herum der Sturm und der prasselnde Regen.
Die Sterne waren seine Magister; seine schimmernden Magister. Und ihm war's, als hörte er Nachtigallen singen. – – –
In seiner Tasche ein lieber Brief von seiner Mutter und der letzte Schattenriß eines Mädchens, das er gestern geküßt hatte. – – –
Goethe, so haben wir dich lieb! – – –
Wenn du so geblieben wärst, dann hätten die Leute vor lauter Liebe gar keine Lust gehabt, deine Schneiderrechnungen zu veröffentlichen.
Gesehen habe ich ihn nie –.
Ich sah nur seinen Namen mit großen Augen in meinem Geschichtsbuche stehen. Diesen Namen, der so hart ist wie ein Adlerschnabel. Aber in Babelsberg fühlte ich ihn, den Bismarck. Im Babelsberger Schlosse, im Arbeitszimmer vom alten Kaiser.
Ganz schmucklos und ausgelöscht sieht das Arbeitszimmer aus: Ein ganz einfacher Schreibtisch; Tintenfaß, Federkiel und eine stramme, stattliche Reihe der preußischen Rangliste.
Ein Stuhl vorm Tisch; rührend einfach. Der alte Kaiser hat immer drauf gesessen.
Und neben dem Schreibtisch, zur rechten Hand, steht wieder ein Stuhl mit einer Lehne.
Das ist derselbe Stuhl, worauf Bismarck saß, hinter dem er stand, wenn er beim alten Kaiser zum Vortrage war. Wenn man sich die Lehne dieses Stuhles beguckt, dann sieht man ihn, dann fühlt man den Bismarck.
Die ganze Stuhllehne ist zerkratzt, mit Fingernägeln zerkratzt.
Und dann sieht man den alten Kaiser, zu dessen Geburtstag alle Groschen in Deutschland kamen und zu Geburtstagslichtern wurden für den greisen Wilhelm.
Man sieht ihn ganz richtig, weißhaarig, bebrillt, wie er sich im Lehnstuhl zusammenkauert.
Und dann die verschiedenen Jahrgänge der preußischen Rangliste.
Wie müssen die furchtsam zusammengerückt sein, wenn sie an der Tür die Kürassierstiefeln krachen hörten!
– Draußen der Frühling, der jedem Babelsberger vom Gesichte herunterglänzt. Die Linden duften, als wären sie weihrauchduftende Brautnachtslichterchen.
Und die Kaiserin Augusta schreibt an den alten, guten Kaiser: »Hat er Dich wieder vorgehabt, der Schreckliche?–«
Nun bin ich wieder da! Vom Urlaub zurück. Mir ist, als ob ich mein Herz vergessen hätte; zu Hause, bei meiner lieben Frau; oder ob ich's verloren hätte unterm blühenden Lindenbaum; oder auf der Landstraße beim Sonntagläuten im Morgenlicht.
Ich habe mein Herz nicht mitgebracht.
* * *
Meine Frau hatte sich ihr schönstes Kleid angezogen.
Und sie hatte mir ins Knopfloch einen kleinen Veilchenstrauß gesteckt. Aber auf den Gesichtern von verschiedenen Leuten lag's wie eine komische Frage: Schämt die sich denn gar nicht mit so einem zu gehen, der einen verregneten Rock an hat und schwere Stiefeln an den Beinen?
Und einer kam an mich ran, der hatte wirklich einen feinen Anzug auf dem Leibe.
Und Gamaschen trug er.
Und der sagte zu mir, ob ich meine Mütze nicht gerade setzen wolle und etwas hineinlegen wolle, damit sie wieder Form kriege und nicht mehr so aussieht, als ob sie für einen Strauchdieb gemacht sei.
Wenn das unser Kompagnieführer wüßte!
Der ist doch mit uns durch Blut und Not gegangen, und der hat nie nach unseren Mützen geguckt und nach unseren Kitteln. Der gibt uns die Hand, der streichelt uns, wenn wir auch wie die dreckigsten Sperlinge aussehen.
* * *
Und einmal bin ich ins Zeughaus gegangen.
Und da habe ich ihn mir angesehen, den Rock vom alten Fritz; den schäbigen, schäbigen Rock, den der größte König, den wir Preußen haben, getragen hat.
Ich weiß nicht, was ich sagen soll. – –
Aber eins: Wenn der Rock nicht ein Heiligtum wäre und du brächtest ihn zum Trödler, er würde ihn dir vor die Füße schmeißen und dir frech ins Gesicht lachen.
Und unter diesem Rock hat ein Herz gepocht; ein Königsherz, das unser Vaterland in die goldigsten Seiten der Geschichte einschrieb.
Auf diesem Rock hat die Sonne glorreicher Schlachten gelegen; auf diesen Rock sind die Tränen gefallen, die ein Choral von Bach aus einem Königsauge holte. Und als er einmal krank war, der querpfeifenumhüpfte Philosoph und Soldat von Sanssouci und zu einer Garnisonbesichtigung gehen wollte, da trat einer zu ihm, einer von denen, wie ich sie während meiner Urlaubstage in neuer Auflage genug erlebt habe, und sagte: »Majestät, ich werde einen Wagen bestellen.«
Aber der alte König winkte ab und brummte: »Herr, wenn ich fahre, so fährt die ganze Armee. – –«
Und wenn er uns heute so sehen würde, voller Dreck, zerrissen, verlaust: Er würde sich nicht schämen.
»Guten Tag, Kinder! – –«
»Guten Tag, alter Fritz! – –«
Und seine Augen würden blitzen.
Und er war doch ein König; und er war doch ein Held; und er war doch ein ganzer großer König.
– – Aber er hatte doch einen zerrissenen Rock an.
Es war in den Apriltagen 1917.
Schneeflocken folgen noch; dann kam mal wieder die Sonne und machte die Pferdehufe goldig.
Bei Reims war's.
Die Deutschen waren zurückgeschlagen, die Franzosen saßen in einer Stellung, wo sie das Gelände gut übersehen konnten, wo ihre Maschinengewehre mähen konnten. – – –
Diese Stellung mußte den Franzosen wieder abgenommen werden.
* * *
Oben, im Elysium, spielten Napoleon und Friedrich der Große Schach.
Als der alte Fritz die Schachpartie gewonnen hatte, blickte Napoleon lange fragend in die grauen, blitzenden Augen des Preußenkönigs. – – –
Dann sagte er, mit einem Eulenspiegellächeln im Gesicht: »Nun habe ich doch recht behalten. – – Meine Garde ist wieder aufgestanden. – – Bei Reims! – – Sie stürmen vor.« – –
Der alte Fritz blieb stumm, nahm eine Prise, griff zu seinem Dreimaster, verneigte sich vor Napoleon und ging.
Dann ritt er auf einem Sternchen hinunter, ins mondverträumte, deutsche Vaterland.
Sein alter, abgetragener Soldatenrock zottelte um ihn herum im Frühlingsabendwinde.
Er blickte in ein Haus, und da sah er Kinder, die beim Lampenlicht ihre Schularbeiten machten.
Da lächelte er mit seinem zahnlosen Großvatermunde.
Durch die liebliche Enge einer Gasse drückte er sich.
Er hörte, wie eine Mutter ein leises Wiegenliedchen sang.
Und er nahm seinen Krückstock und dirigierte zum Liedchen.
Das war so wunderschön, wie er so dastand im Silber der Frühlingsnacht.
Sein Schatten fiel groß und komisch an die Häuser.
An einem Gartenzaun blieb er stehen, schnubberte, dann bückte er sich nieder und pflückte sich die Hand voller Veilchen.
Dann ging er weiter und steckte seine lange Nase in die Hand, die voller Veilchen war.
* * *
Die märkischen Grenadiere warteten vor Reims; verregnet, müde.
In einer halben Stunde wird der Angriffsbefehl kommen und sie rütteln und schütteln und in ihr Herz hineinkriechen.
Sie denken noch an Heimattüren, die sich gerne für sie auftun möchten.
An Vater und Mutter denken sie und an weinende Mädchen.
Wie ein wunderlicher Musikante sieht der alte Fritz aus, dem man eine Geige auf den krummen Rücken binden möchte und in die Rocktasche ein Bündel mit Liedern stopfen möchte und Tänzen.
Der märkische Bataillonskommandeur geht ihm entgegen.
Der Bataillonskommandeur steht stramm, dann läßt er seine Kerle antreten.
Der alte Fritz geht lächelnd an jeden heran und streichelt mit welken Händen die braunen Soldatenbacken. – –
Der Befehl kommt; der blutige Befehl.
Die Reihen ordnen sich.
Die Kanonen fangen an zu brüllen; es ist, als ob der Teufel auf seine tosende Höllenschaufel die grauen, märkischen Grenadiere nimmt und sie gegen die Franzosenlinien schaufelt.
Es ist, als trügen die märkischen Grenadiere Leichenfackeln für die Franzosen. – –
Und der alte Fritz stand da, auf offnem Feld. – –
Auf seinen Krückstock gestützt stand er da; ein seliges Lächeln glitt über sein zerfallenes Gesicht, das Falten hatte wie ein alter Weiberrock.
Er stand so lange da, bis sie drüben waren, die Grenadiere.
Bis die Franzosen rannten und ihre Stellungen den Preußen überlassen mußten.
Und da murmelte der alte Fritz: »– – – Mei – ne – braven – Kinder – –!«
Dann ging er mit einem Landsturmmann zusammen in eine französische Dorfkirche. –
Er setzte sich müde auf eine Bank – –
Durchs offene Fenster flog eine frühe Drossel.
Der Landsturmmann saß oben an der Orgel; er spielte eine Fuge vom seligen Sebastian Bach.
Und der alte Fritz saß da, den Kopf geneigt, die Hände gefaltet.
Aus seinen Augen fielen Tränen auf die gefalteten Hände.
Wenn man sein Ding weg hat und man ist geheilt oder aus dem Lazarett entlassen, dann kommt man wieder zum Ersatzbataillon, zur Genesenenkompagnie oder zur sogenannten Zirkuskompagnie. Wir liegen in einem Speisesaal, ganz nahe an der Kantine; auf Strohsäcken.
Wenn dann einer in der Kantine auf dem Klavier herumwirtschaftet, dann denken wir immer, wir sind Sperlinge, lustige, frohe Sperlinge. Oder wir denken, wir sind Handwerksburschen mit Wanderstrophen und mit zerrissenen Strümpfen.
Die alte Soldatenherrlichkeit beginnt; zwar langsam, ansteigend, aufschimmernd, aber der Soldatengeist rührt sich, wenn beim Morgengrauen der Unteroffizier: »Aufstehen!« ruft. Und dann wird angetreten.
Die Zirkuskompagnie tritt an.
Ein buntes Bild. Allerhand Uniformen. Grau und blau und Drillich. Langgestiefelt, militärisch beschuht, hier und dort einer mit Ziviltrittchen, Schirmmützen, Feldmützen, Zivilmützen. Kurzhaarig, langhaarig, wohlfrisiert.
Mit Stock, ohne Stock, krumm, schief, lahm, stramm, gebeugt, straff.
Der alte Soldatengeist geht flüsternd durch die Reihen.
Über uns ein Flieger; ein sogenannter »Schwalbenvater«. Der klettert mit seinem Flugzeug oder mit seinem »Püppchen« am Himmel herum.
Donnernde Feldwebelworte wackeln an Köpfen und Füßen und rennen durch die Adern.
»Arbeitsverwendungsfähige! Garnisondienstfähige!
Erste Staffel.
D.U. – – U. – – – – U. U. – – – –!
Zweite Staffel.
Vorübergehend Garnisondienstfähige und Felddienstfähige!
Dritte Staffel.«
Und dann wird man kommandiert.
Erstens: Zur Wache, die Graden und Strammen und Forschen und Feurigen.
Zweitens: Zum Fensterputzen, die mit Kopfschüssen und schlapper Haltung.
Drittens: Zum Hoffegen, die mit gerade nicht militärischer Haltung.
Viertens: Zum Schafhüten, die Frommen, die Guten, die Herzlichen, die Zitternden.
Es ist so sonderbar: Früher Pulver, Gas, Bajonett, Hunger, Kälte, Unteroffizierschnauzbart, Granate, Gewehr, Heimweh. – – Und jetzt: Fensterputzen, Basteln an Soldatengräbern, Blumenwinden, Schafe hüten, Unteroffizierstrohsack aufschütteln. Es ist doch so sonderbar, was man beim Militär alles wird! Abends liegt man wieder auf dem Strohsack und lächelt, wenn einer das Klavier quält:
»Unsere Sehnsucht nimmt der Wind,
Weil wir so grau wie die Spatzen sind.«
Und manchmal geht's durch unser Herz; wie ein schimmerndes Lichtlein geht's auf; irgendein liebes Gesicht oder das Aufblauen von Heimatbergen oder das Blinzeln eines Fensters im Heimatstädtchen.
Und dann kommen rote Scheine in die Zirkuskompagnie; jahrmarktskasperrote Scheine. Und die Scheine schreien, daß man vor lauter Freude in der Seele erschrickt.
Urlaub! – – – Ur-laub!! – – Uurlaub! Vierzehn Tage!
Ein Kamerad hat mir erzählt, daß er daheim einen Zylinderhut hat vom alten Mommsen.
Den hat er getragen, als er die römische Geschichte schrieb und in seinem durcheinandergeworfenen Studierzimmer auf einer Stehleiter saß, ganz oben, an der Bücherwand, und las und las, den Zylinderhut ins Genick geschoben, die Brille auf der Stirn, und las und las, bis ihm die Beine einschliefen.
Wenn ich wieder nach Hause komme, dann möchte ich mir doch den Mommsenzylinder von dem Kameraden kaufen.
Wenn man so nachdenkt: Das bebrillte, dünne Pergamentgesicht, das lange, weiße Haar hat aus dem Zylinderhut herausgeguckt.
Und was hat doch dieser Zylinderhut alles erlebt!
Er hat den Schrei des Ödipus gehört, als sich der die Augen ausstach. Er hat die stampfenden Legionen der Römer gehört, ihre strahlenden Ruhmestaten. Er hat auf die lorbeerduftenden, marmorkalten Gesänge antiker Poeten gelauscht, der Zylinderhut. Und er hat doch sicherlich nur zehn Mark gekostet bei irgendeinem Hutfabrikanten in der Leipziger Straße in Berlin.
Bücherstaub und Straßenstaub hat er geschluckt.
Und unter ihm immer dieses ganz versonnene Gelehrtengesicht und die weißen Gelehrtenhaare und dieser feine, schmale Großmuttermund.
Du hast ihn widergespiegelt, den fröhlichen Studentenfackelschein, du grundgescheiter Zylinderhut.
Berliner Straßenjungen riefen dir nach. Du ranntest, schaukeltest. Auf der Charlottenburger Chaussee fielen weiße, zarte Kirschblüten auf dich nieder. Ein Sperling flog auf dein Dach und fing an zu piepsen und zu schimpfen, weil du ein so gelehrtes Stück Möbel bist. Weißt du es noch, Zylinderhut?
Dein alter Herr, als er nach Hause kam, hat sich an seinen Schreibtisch gesetzt. Ein kleines Mädchen kam angetrippelt. Das hat er genommen und hat's auf seinen Knien schaukeln lassen, und hat dich, Zylinderhut, auf ihren Blondkopf gesetzt, und der Kinderkopf mit lustigem Näschen hat ganz tief in dir drin gesteckt, du kluger, bücherkluger Zylinderhut!
Wenn ich nach Hause komme, dann kauf' ich dich.
Wenn ich nach Hause komme, Zylinderhut.
Aus Büchern, die Schulgeruch atmen, steigt er hervor, dieser gewitterwilde, pechumdunkelte Bettelmönch aus Wittenberg.
Wenn man in der dritten Klasse sitzt und in der vaterländischen Geschichte 2-3 auf der Zensur hat, da hört man ordentlich die Hammerschläge an der Schloßkirche zu Wittenberg.
Und als er den letzten Nagel an die letzten Thesen pochte, der herrliche Bergmannssohn, da sah man ganz richtig, wie der Turm auf der Kirche wütend an zu wackeln fing wie ein Kantor, wenn ein Schüler eine Frechheit an die Wandtafel malt.
In Worms, da sah man richtig die Teufel rotäugig auf den Dächern kauern, als dieser Luther, den Strick um den Leib gewürgt, zum Konzil ging.
Luther! ...
Wie habe ich dich so geliebt, weil du in einer finsteren Stube geboren wurdest; in einer finsteren, armen Stube, die im Heiligenscheine lag.
Du bist ja ein ganz tapferer Magister des Herrgottes gewesen.
So ein Magister, der, wenn's drauf ankam, den Federkiel umdrehen konnte und damit fuchteln konnte und stechen konnte wie mit einem Schwert.
Und ich habe dich so lieb, weil du solche schöne Briefe an deine Kinder geschrieben hast.
Solche Briefe, die man nur zu Weihnachten schreiben kann, wenn der Christbaum brennt und wenn auf der dicken, heiligen Bibel in der Studierstube das kleinste Kind sitzt und vor lauter Christnachtsfreude in die Händchen klatscht.
Und dann hat der Doktor Martinus Luther einen Satz geschrieben, bei dem sein Federkiel zur Feder vom Engelsgefieder geworden ist: »Es kann mir nichts Schlimmeres in der Welt geschehen, als wenn mein Sohn Hänsichen böse auf mich ist.«
Wenn meine Frau ein Kind kriegt, dann will ich diesen Satz über unsere Stubentüre malen.
Und die teuerste Farbe will ich dazu kaufen.
Als der Pastor Mausmüller hörte, daß die Frau vom Kleinbauer einen Jungen bekommen hatte, da lächelte er ganz selig.
Der Kleinbauer war vor einer Woche bei Arras gefallen; da draußen, wo die Schwerter Blut trinken und sich die Raben sattfressen.
Und am Sonntag sprach der Pastor Mausmüller von der Kanzel herunter so ein paar ganz liebe Worte zu den Bauern.
So ein paar Worte, als wären sie von den Sternen heruntergefallen, in die Bauernkirche hinein.
Und als der Mausmüller sprach, da summte eine Biene durch die Kirche und ein verirrter Schmetterling flog auf den Altar. – –
»– – Und die Frau vom Kleinbauer hat einen kräftigen Jungen bekommen. – – Wir wissen's alle, daß vor einer Woche der Kleinbauer bei Arras gefallen ist. – – Aber er ist nicht tot, der tapfere, gute Kleinbauer. – – Daheim, in der Stube, wo der Himmel hineinleuchtet, in der Wiege, da liegt die kleine, lustige, kichernde Unsterblichkeit vom Kleinbauer. – – Und die kleine Unsterblichkeit strampelt mit den Beinen, klatscht mit den Händchen – –« Und dann war's, als ob aus den glücklichen Pastoraugen zwei Tränen fielen.
Und der Mausmüller kniete nieder, faltete die Hände und betete: – – »Wir danken dir alle, lieber Gott, daß du dem Kleinbauer einen kleinen Jungen geschenkt hast. – –«
* * *
Am Nachmittag dachte der Pastor Mausmüller an die einzige Flasche Wein, die ihm mal der Landrat geschenkt hatte, und die er sich für eine ganz besondere Gelegenheit aufgespart hatte.
Er holte die Flasche Wein aus dem Keller, setzte sich ganz allein in eine verschwiegene Gartenecke, hob das erste Glas und murmelte:
»– Auf den Kleinbauer seinen Jungen – –«
Dann trank er.
Zwei Baumblüten flogen lustig ins Glas hinein.
Ich will meinen Mund auftun und deine Herrlichkeit verkündigen, mein liebes Dorf.
Gucke alle Abende in meinen Traum mit der süßen Armseligkeit deiner Häuser, mit dem Herdrauch, der ruhig in den Himmel zieht.
Um deinen Teich stelzt schweigend der Storch, wie ein gepuderter Ritter mit Stoßdegen und Hackenschuhen.
Auf deiner einzigen Gasse sitzt im grauen Bettelmannskittel und rußigen Schnurrbart der Sperling wie ein heruntergekommener Humorist. An der Mühle, die wie eine schwarze Libelle hinter dir hockt, mein liebes Dorf, da wohnt die saubere Jungfer Bachstelze; hat ein bläuliches Röckchen an und ein weißes Mieder dazu und schwarze Pantöffelchen auch noch dazu und eine weißschwarze Schleppe, die immer auf und ab fliegt beim Tanzen.
Und die Jungfer Bachstelze spinnt flink und zierlich und trillernd einen Bogen, der dich ganz umwickelt und umgarnt.
Und Himmelslicht spinnt sie in den Bogen und Kindergesang und Schnitterlachen.
Bis auf die ärmsten Herbergsbetten fliegen die Blüten vom Kirschbaum. Und wenn man so drinliegt im Herbergsbett, dann sagt man sich: Zwei Mark fünfzig Pfennige für das Schlafen hier in einer Frühlingsnacht, das ist doch gar nicht viel – – – –.
Und wenn dann der Mond kommt, wenn sich ein Großvater vor die Tür setzt, wenn kleine Kindernasen seine Knie berühren und wenn die Kinder das Lied vom Vater Hey singen: Weißt du, wieviel Sternlein stehen? – – –
Dann sagt man sich immer wieder: Zwei Mark fünfzig Pfennige für die Kammer hier, der Wirt ist doch wirklich ein sehr gütiger Mann.
Und die Kinder singen immer wieder das Lied vom Vater Hey – – –.
Wieviel Bläue liegt doch in den Zeilen, wieviel Gold, als hätten die Engel, in der Stube vom Vater Hey, die Farbe zurechtgebraut.
Und der hat hernach mit feinen Pinselstrichen das Liedlein an den Frühlingshimmel geschrieben.
»Weißt du, wieviel Sternlein stehen an dem blauen Himmelszelt.«
Und der Vater Hey hat Tabak geschnupft und jedes Jahr hat seine Frau ein Kind gekriegt, und in seinem Gesangbuch lag immer der erste Liebesbrief von seiner Frau, und wenn ihn der Herr Bürgermeister besuchte, da hat er immer seine schöne, buntbeblümte Weste schief zugeknöpft gehabt.
Du lieber, guter Vater Hey – – –.
Zwei Mark fünfzig Pfennige für ein Herbergsbett ist wirklich furchtbar billig.
Wenn man so aus der Ferne guckt, dann sieht das Dorf wie eine zusammengeworfene Spielzeugschachtel aus.
Die Gassen gehen ganz leise durchs Dörflein.
Zögernd springt die Brücke über den Mühlbach. – –
Auf der Dorfwiese wachsen kleine Primeln.
Und die Bauern nennen die Primel: Habmichlieb.
Ist der Name nicht wunderschön? – – –
Und die Primeln riechen ganz nach Gänsemädchenliebe.
Jetzt weiß ich noch was. – – –
Ein Paar Augen hat sie wie ein Prinzeßlein, das in irgendeine Schaubude geht und sich den längsten Mann der Erde ansieht.
Ganz erstaunte Augen hat sie.
Und dabei ein bißchen traurig und dann wieder ganz lustig.
Wie kommt das nur?
Ja, wenn ich den Herrn Franz Schubert fragen könnte – –.
Den hat sie so lieb.
Und sie heißt Thora.
Manchmal fliegt ein Schmetterling auf ihre Nase.
Und der Schmetterling spiegelt sich in den Augen der kleinen Thora.
Wenn sie mal groß sein wird, dann heiratet sie sich einen Dichter.
Wenn der Dichter sie dann anguckt, dann braucht er nur zu schreiben.
Alle Tage einmal gründlich in die Augen gucken und das Gedicht ist fertig.
Jedes Gedicht zwanzig Mark Honorar, da können sie schon ganz gut leben.
Und wenn sie dann ein Kind kriegt, dann muß er sie natürlich täglich zweimal angucken, denn wenn sie erst ein Kind haben, dann kostet es schon viel mehr.
Die kleine Thora hat daheim eine goldene bayerische Brautkrone.
Und sie setzt die Brautkrone manchmal ganz schüchtern auf.
– – – – – Herrgott, aber nun ist mein Schreibheft bald vollgeschrieben. – – – –
Jetzt muß ich aufhören. – – –
Ich will auf das andere Papier gleich noch an meinen Kompagnieführer schreiben, ich möchte so gerne nach Hause, zu meiner Frau. –
Das Leben war für uns ein weicher, seliger Tanz in lauter Wiesenblumen.
Nun liege ich hier draußen rabenumkrächzt.
Und wenn der Lehrer daheim mit lieber, trauter Mühe die Kinderseelen in der Fibel exerzieren läßt und ganz selig sagt: »Ihr Kindlein, liebet euch untereinander,« dann putze ich hier draußen vielleicht meine Flinte, zähle meine Patronen und beobachte. Du sitzt nun wohl daheim, hinter mondhellen Giebeldachscheiben. Vorm Hause steht eine treue, hohe, schlanke Wache von Birkenbäumen, die sich im Herbstwind wiegen.
Mit weher Grazie nimmst du die Laute auf den Schoß. Auf den Fußspitzen flattert der kleine Kanarienvogel. Und du singst ein Lied von einer Prinzeßchenfreite; oder ein süßes, rosenüberhangenes Verslein von Werweißwem. Und während du traurig singst, da lache ich wohl hier draußen, im gelben Herbstlicht.
Und wenn du fröhlich singst und die Lautenbänder in ihrer Buntheit vor Jauchzen zittern, dann – – du – – vielleicht – –
Aber unser Leben war ja ein weicher, seliger Tanz in lauter Wiesenblumen.
Der Student Franz Hildebrand ist als Feldwebel gefallen ... so ein jauchzender Junge! So ein morgenfrischer Wanderkopf!
Sein Name marschierte vorschriftsmäßig durch die lange, klagende Verlustliste, lief von dort aus in ein kleines, heimatliches Kreisblatt und blühte dort auf; lachend und singend, seinen Lebenslauf erzählend, seine Heldentaten.
Und dann war alles vorbei.
Er war gefallen.
Nach acht Tagen kam der Nachlaß des Studenten Hildebrand: Sechs Mark, eine dicke Brieftasche, eine Uhr, ein Taschenmesser und ein Buch: Gedichte von Eichendorff. Ein schmales, graues, abgegriffenes Büchlein.
Durch das Buch war die Kugel geflogen.
Wie eine Satansklaue hatte sie die Zeilen zerrissen, die vom grünen Geheimnis der Wälder rauschten. Die Zeilen, die vom schlummernden Abendgelb übergossen waren. Die Zeilen, in denen zierliche Birken standen. Die Zeilen, die vom Wanderwind erbebten. Die Zeilen, die ganz innig sangen, wenn sie von der Fremde nach Hause flogen. Die Zeilen, die aufblitzten, wenn sie zu jubilierenden Kirchtürmen emporkletterten.
Aber die Kugel war frech durchgegangen, hatte die ewige Eichendorff-Herrlichkeit zerwühlt, zerrissen und war zuletzt warm und müde im Studentenherzen hängen geblieben ...
Der Student Franz Hildebrand ist als Feldwebel gefallen.
Und so sind wir durch Rußland gezogen, flintenknallend, hungernd, jubelnd.
Und wir haben uns durch Rußland gequält und geblutet und gesungen bis hinauf vor Dünaburg.
Manchmal um uns die Schmetterlinge wie fliegende Edelsteine; manche Felder ritterspornblau; ein richtiger Anblick für Heiligenbildermaler.
Und die Heimat so weit, und keine Briefe seit Wochen mehr.
Braun sind wir geworden; die Haare lang, und wir möchten so gern einmal baden.
* * *
Es sind mir so viel Erinnerungen geblieben.
Ich will mal eine Erinnerung erzählen.
Wir lagen am Narew, verscharrt die halbe Nacht.
Da kommt der Befehl, daß zwei Mann ins Dorf müssen, das drei Kilometer vor uns liegt. Es muß nachgesehen werden, ob Russen drin sind.
Wir schleichen los: der Gefreite Mausmüller und ich.
Ich war damals noch Musketier und kaum erst vierzehn Tage bei der Kompagnie.
Stern auf Stern sprang aus dem Himmel; solche lieben Sterne, die daheim in Deutschland ein Frühlingsdörfchen umreigen; irgendwo.
Das Dorf liegt vor uns; um zwei alte Pappelbäume herumgeschaufelt.
Und die Pappelbäume stehen da wie zwei besoffene, zottige Dorfschulzen.
Wir ziehen die Stiefel aus.
Strumpfleise geht's in die Scheune hinein. –
Da plötzlich Hufgalopp! – Russenflüche –
Das Russennest zittert und summt – Kosaken! – Herrgott!
Mausmüller unter einer Tonne, die in der Scheune steht.
Ich hinauf auf den obersten breiten Balken; drücke mich ganz zusammen.
Der Balken paßt. – Ich bin ja auch nicht breit. – Und so lang bin ich auch nicht. –
Gott sei Dank, sehen kann mich keiner.
Hinter mir, auf dem Balken, liegt mein Gewehr; drei Patronen sind drin. Zehn Patronen habe ich noch in der Hosentasche. – Ah, und obenauf mein scharfes Bajonett! –
Das Scheunentor fliegt auf; ächzend.
Bis ins Herz hinein quietscht mir das Scheunentor.
– – drei, vier, sechs Kosakenkerle mit ihren Pferden.
O Junge! Junge! Junge! –
Hübsche Kerle, schwarz wie die Nacht – Rassekerle. – Wunderschöne Stiefel. – Und Augen – Gott, wenn die mich sehen! –
Sie machen's sich bequem; die Pferde schnuppern überall herum. –
An was denke ich nur? –
Wenn ich mich nur umdrehen könnte!
Wenn ich mich nur einmal kratzen könnte! Die Läuse fressen mir den Rücken auf.
Wie wär's, wenn ich jetzt ein Streichholz nehme und ein Fünkchen ins trockene Heu hineinschmeißen würde.
Wo ist meine Streichholzschachtel?
Im Stiefelschaft! – Ich kann das rechte Bein nicht anziehen. – Ich kippe sonst 'runter, in die Kosakenhorde hinein.
Meine Taschenuhr tickt.
Hu, meine Taschenuhr frißt sich in mein Herz hinein.
Ob meine Frau wohl jetzt einen recht lieben Brief an mich schreibt? –
Mein Vater hat wohl heute Nachtdienst – Nachtdienst ist gar nicht schlimm. Es sieht sich ja ganz schön an, wenn die Züge am Bahnwärterhaus vorbeijagen. –
Meine Mutter weiß soviel Zaubersprüche und las am Morgen immer im Traumbuche.
Verdammt, wenn ich nur die blödsinnige Zauberformel wüßte! – Ich möchte so gern zur Maus werden.
Zur kleinen, grauen Maus. –
Da, unter mir ein Aufschreien! –
Ein Mädchen in der Scheune. – Im langen, weißen Hemd; barfuß; die Haare dirnenzottig.
Um den Hals eine Blütenschnur aus rotem Mohn.
Schön sieht sie aus – wunderschön; wie mit Blut betröpfelt. –
Der Mond glimmerte durch eine Bodenluke; griff nach meinem Gesicht und hielt es fest; ganz silbern fest.
Jetzt brachten sie Wein.
Aber da – was guckt dort durch das Spundloch?
Die blonde Haarlocke vom Mausmüller hat sich durch das Spundloch gedrückt.
Und die blonde Mausmüllerlocke, sie baumelt ganz lieb heraus. –
Hei, jetzt tanzen sie, jetzt schreien sie!
Die Flaschen fliegen. –
Und jetzt – ich sehe, wie ein Kosakenkerl eine Flasche auf die Tonne stellt. Er erblickt die liebe Locke vom Mausmüller. – Er denkt, sie wäre da auf die Tonne gefallen. Er reißt an ihr herum.
Ich fühle, wie sich der Mausmüller vor Schmerz in der Tonne windet. –
Da fliegt sie um, die Tonne.
Mit großen, stieren Augen gucken die Kosaken auf den Mausmüller. Einer springt zu, greift in ein Strohbund, wickelt einen Strick. Mausmüller wird gefesselt, unter Hallo abgeführt. –
Ich sehe seine Augen noch; er lächelte ganz traurig. – Die Locken purzelten ihm auf die Stirn, – die dummen Locken. –
Wie lange lag ich noch da oben, auf diesem Henkersbalken?
Wie lange hörte ich noch den schläfrigen Schritt der Wachen?
Wie lange hörte ich noch das Scharren der Pferde?
So lange, bis das Frührot durch die Dachluke blutete.
Unsere Artillerie funkte plötzlich drei-, viermal prasselnd ins Dorf hinein. Dann Flintenschüsse.
Ein Hasten und Jagen durchs Dorf.
Die Kosaken waren davon ...
Wenn ich an dieses Erlebnis denke. – So etwas ist mir noch nie passiert. – So – daß einem oft das Herz stehenbleibt. – So – daß einem das Blut in den Adern stockt. – Ja, das erlebte ich in dieser Russenscheune.
Und der liebe Mausmüller mit der blonden Locke? Ich habe nie wieder von ihm etwas gehört.
In einem dreckigen Russennest, das im Regenwind zusammengekauert zwischen zwei Hügeln saß wie ein frierendes Bettelweib, fand ich in einer Dreckpfütze etwas Goldenes, Schimmerndes: ein Amulett.
So groß und rund wie ein Talerstück.
Auf der Vorderseite die Jungfrau Maria mit dem Kinde an der Brust; herausblickend aus sonnigem Wolkengewimmel.
Auf der Hinterseite einen Baum, der ästestark, vogelumzwitschert in die Bläue des Himmels steigt.
Keine Schrift auf dem billigen, blechernen Amulett; nur ein liebloser Haken, der es hielt.
Etwas Rührendes sang um das Ding, das wie eine goldene Träne der Ewigkeit in der schwarzen Dreckpfütze gelegen hatte. Sagenlieblichkeit. Wie ein wehmütiger Akkord aus einem russischen Volkslied, das die Gefangenen singen, wenn sie müde in den Abend hineinwandern nach ihrem Strohsack.
Das Amulett hatte einer jungen Russenmutter gehört.
Sie hatte es sich, in irgendeinem Trödlerladen, nach der Geburt ihres ersten Sohnes gekauft.
Sie trug das Wunderschildchen immer auf ihrer Brust, damit die Fruchtbarkeit ihres Leibes nicht aufhöre. – –
Übers Dorf hin jagt der Wind; lauert pfeifend auf den Herdrauch, der aus den Schornsteinen steigen soll, mit dem er sich haschen und jagen will.
Aber das Dorf ist kalt und tot.
Soeben höre ich: Der Herr Unterrichtsminister will ein künstlerisches Erinnerungsblatt für gefallene Lehrer in der Schulstube aufhängen.
Das ist ein so schöner Gedanke.
Aber manchmal hab' ich kein richtiges Zutrauen.
Wenn's nur kein Bilderbogen wird, der nach Bestellung riecht und nach Druckerpresse.
Ich denke hierbei an das Gedenkblatt für gefallene Krieger von Doepler.
Warum müssen denn Rosen auf dem Gedenkblatte sein?
Und einer, den eine Kugel getroffen hat, und eine Frau, die so schön süß aussieht mit ihrem Lorbeerkranz?
Hold muß so ein Erinnerungsblatt sein; Tränen muß man darauf finden und versöhnende, liebliche Geigenstriche.
Und nun ein Erinnerungsblatt für gefallene Lehrer.
Da muß eine Himmelstür gemalt werden; eine blaue, sternenumglitzerte Himmelstür.
Und die muß halb geöffnet sein.
Und vor der Himmelstür muß einer stehen im grauen Rock, die Flinte umgehängt, in langen Stiefeln.
Und den lieben Gott muß man halb sehen, wie er hinter der Himmelstür steht.
Und er will dem Grauen, der zur letzten, holdesten Herberge kommt, die Vaterhand entgegenstrecken.
Das Erinnerungsblatt für gefallene Lehrer muß ganz eine holde, liebliche Geste der Versöhnung sein.
In Friedenstagen hat er immer den engeldurchsungenen Spruch gesagt: »Liebet euch untereinander.«
Und dann ist er trotzdem hinausgezogen und hat geschossen, bis er sein Blut hingab.
Es muß innig sein, das Blatt, und hold, weil's eben für eine Schulstube ist mit Sperlingen am Fenster.
Und weil so viel kleine Schulkinderaugen das Erinnerungsblatt angucken.
Weil soviel Lesebücher und Bibelbücher da sind, die der Herr Lehrer so gerne hatte.
Und dann muß das alles fehlen: Musketier und Gefreiter und Unteroffizier und Leutnant usw.
Denn das sind Namen, die nicht deutsch sind, und von denen viele kaum eine Vorstellung haben.
* * *
Es gibt im Hessenlande einen lieben Meister: den Otto Ubbelohde. Der kann so was zeichnen. Nicht der Herr Doepler oder sonst wer mit dem grellen Farbentopf.
Und dann sollen keine Lorbeerkränze auf dem Blatte sein.
Die Linde ist der deutsche Baum.
Und das Gänseblümchen, das im Grase sitzt, das kennt deutsche Wanderlieder und Wind und Sonnenschein und den blauen Himmel, der in deutsche Gassen strömt.
Und die Gedenkzeilen dürfen nicht so stolz und kalt sein.
Es klingt gewiß schwungvoll und hurraumschrien, wenn drauf steht: »Der Musketier Johannes Schmidt starb am 30. August 1916 den Heldentod fürs Vaterland.«
Aber wieviel schöner ist's, wenn drauf steht: »Unser lieber Herr Lehrer Johannes Schmidt ist nicht wiedergekommen.«
Und dann ganz klein, auf der Rückseite, Datum und Schlacht, wo der Schulmeister gefallen ist.
Aber gut und herzlich muß das Erinnerungsblatt sein, das der Herr Unterrichtsminister malen oder zeichnen lassen will; sonst soll's lieber nicht aufgehängt werden.
Das Soldbuch des gefallenen Lehrers im Schulstubenschrank, oder das Eiserne Kreuz –, wenn das den Kindern gezeigt wird, das ist mehr als alle, alle Erinnerungsblätter zusammen.
Meine Mutter erzählte mir oft, mit herzlicher Liebe, von ihrem Kantor; einem Dorfschullehrer, irgendwo in einem verkrochenen Neste.
Sie erzählte, wie er, gleich nach dem Schulgebet, mit dem Finger auf sie zeigte und sagte: »Schöchens Mine, von dir kriege ich noch e Fünfer. Sag's deiner Mutter und bring'n mir morgen früh mit. Vergiß es aber ja nicht.« Die Kinder hatten nämlich mit dem Lehrer einen Ausflug gemacht, und meine Mutter hatte das Zehrgeld, nämlich die fünf Pfennige, vergessen, und der Herr Kantor hatte es ausgelegt.
Ich weiß nicht, aber der Dorfschulmeister meiner Mutter kroch in mein junges Herz, und da lächelt er noch drin und singt dort drin und fabuliert dort drin noch heute.
Halb Vogelscheuche, halb Dorfphilosoph, so malte ich ihn mir aus. Ein Kerl, der mit dem Heiland Bruderschaft in der Dorfschenke trinkt. Ein Kerl, der mit flatterndem Haar auf den Kirchturm klettert und die Dorfuhr richtig stellt. Ein Kerl, in den sich die Bibelsprüche ganz verliebt haben. Ein Kerl, der das Weihnachtsevangelium geschrieben haben könnte, wenn er immer das Geld gehabt hätte, sich den schönsten Tabak für seine lange Pfeife zu kaufen. Ein Kerl, der mit dem Gesangbuch unterm Kopfkissen schlafen geht und mit der Brille auf den Augen, und der pfeifend erwacht.
Der Dorfschulmeister meiner lieben Mutter. Ich habe ihn meine ganze Schulzeit hindurch gesucht; aber ich fand ihn nie.
Wohl traf ich mal einen Sonderling, einen Spaßmacher, ein Hutzelmännchen. Aber die hatten alle etwas Gepflegtes, Steifes, Respektvolles. Immer war um sie und ihre Lehrerwürde ein Heiligenschein, ein kalter Heiligenschein, den auch die zehn Gebote haben.
Den Kantor meiner Mutter traf ich in den Dörfern am Wegrain sitzend, vogelumsungen, oder auf der Orgelbank, wo seine Seele selig und müde im Choral zerfloß. Oder ich traf ihn in einer Bauernstube, wo er die Prozeßakten aufschlug und durchblätterte und dem Bauer, der stumm und verwundert dabei saß, weise Ratschläge gab und sich die Ratschläge mit drei Eiern und einer Blutwurst bezahlen ließ. O Dorfschulmeisterzauber! Ich nahm mir vor, Lehrer zu werden.
Als ich mitten im Lehrerwerden war, kam ich mir vor wie ein wandelndes, neugebundenes Konversationslexikon und wie eine tadellose Bügelfalte. Die Bücher pumpten in meinem Kopf ihre lederne Gelehrsamkeit hinein, und ich schnarrte sie und schnurrte sie, schweißtriefend wie eine Maschine, wieder aus. Kurz: der Präparandenkopf tat mir weh von all dem Kram, und in meinem Herzen lachte ganz laut und selig der Dorfschulmeister meiner Mutter. Da warf ich den Krempel in die Ecke und ging ins Blaue hinein. Und der Kantor in meinem Herzen immer mit mir mit, durch Hunger und Lachen, durch Tränen und Sorge.
Er kroch durch meine Geschichten, die ich schrieb, durch meine Verse. Er grüßte mich aus Großstadtzeitungen und lächelte mir aus Zeitschriften zu. Er stillte meinen Hunger; er bezahlte die Miete meiner Kammer. Und als ich Soldat wurde, zog er mit mir ins Feld und schleppte mit mir mein Gewehr. In einem Schützengraben vor Wilna sprang er in ein kleines Theaterstück, das ich im Unterstande schrieb. Und als mich eine flinke Russenkugel nach Hause schickte, da sah ich ihn wieder, auf Großstadtbühnen, im Rampenlicht, leibhaftig sah ich ihn wieder vor tausend, tausend, tausend lachenden Augen, meinen Sternenkantor, den Dorfschulmeister meiner Mutter.
Wie ich ihn mir erträumt hatte, so stand er da. In seinen Augen spiegelte sich das Dorf, wo ich geboren bin. Ich danke dir, lieber Gott, daß du mich nicht hast Lehrer werden lassen und in mein Herz nicht Meyers Konversationslexikon hineingesteckt hast. Ich bin gar nicht traurig, daß ich nicht pensionsberechtigt bin. Ich danke dir, lieber Gott, daß du den Kantor aus der Jugendzeit meiner Mutter gehascht hast, an den Rockzipfeln mit deinen ewigen Händen, und daß du ihm eine lustige Kammer gegeben hast, zum Singen und zum Philosophieren, in meinem Herzen. Ich danke dir, lieber Gott.
An den Anfang meiner kleinen Fibelbetrachtung stelle ich ein bebrilltes, pensionsberechtigtes Männchen: den Fibelmacher.
Und nun halte ich ihm einen Spiegel vor.
Und der Spiegel sind die Worte, die einst Moritz von Schwind, am Arm einen birnen- und wurstbeladenen Marktkorb schleppend, zu Ludwig Richter sagte: »Sixt, lieber Richter, wenn einer halt Lieb und Freud hat an einem Bäumerl, alsdann zeichnet und malt er all seine Lieb und Freud mit, und das Ding hat ein ganz anderes Aussehen, als wenn es ein Esel noch so schön abschmiert.«
Siehst du, lieber Fibelmacher: Wo ist bei dir die Liebe und die Freude und das Wunderselige?
Wo ist das Pfingstkleid deiner Seele?
Da fällt er um.
Seine Seele trug ja einen schönsitzenden Gehrock.
In seinem Blute sangen nicht die Nachtigallen.
Die Sehnsucht nach Titeln und Orden blitzte durch sein Blut.
Was ist die Fibel?
Sie ist der erste Blick, der aus dem Auge des Lebens in das Herz des Kindes fällt.
Die Fibel ist eine Schwester des Bilderbuches, eine Schwester, die nicht nur fröhlich sein kann, sondern auch ernst und klug dabei und doch so lieb und so kameradschaftlich.
Die Fibel ist die erste Offenbarung der Bildung.
Die Fibel ist die erste Herberge der Kinderseele.
Die Fibel ist das buntfenstrige Studierstübchen des Kinderherzens.
Die Klugheit der Fibel und die Lebhaftigkeit der Fibel haben immer etwas Streichelndes; nichts streng Dozierendes, nicht immer der halbzornig erhobene Zeigefinger.
Die Fibel ist das Buch, in dem das Gesicht Gottes, sanft auf beide Hände gelegt, in seiner schönsten Lieblichkeit ausstrahlt.
Die Fibel ist das Buch, in dem Gott zum ersten Mal zum Schuljungen und Schulmädchen »Du« sagt.
Die Weisheit der Fibel liegt auf einem Frühlingsschwalbenflügel.
Die Bibel kann, trotz aller Herzlichkeit, und Liebesgewalt, verfluchen und zornig sein; und schlagen mit ewiger Faust, denn sie ist das ganze Leben.
Die Fibel aber soll in Güte aufgehen, weil hinter ihr erst die ernste Gebärde des Lebens beginnt.
Und was ist die Fibel in Wirklichkeit?
Immerhin ein rechtschaffenes Buch, das wie eine Sparbüchse anmutet. Eigentlich recht ärmlich und, man kann sagen was man will, tüchtig. Ein Schulbuch, über das sich das Kinderherz freuen kann und das wütende Kinderhände an die Wand schmeißen, wenn die Fibel quält. Die heutigen Bilder der Fibel sind abgeleierte Klischees, lieblose, verzuckerte oder verlogene Abbilder des Lebens. (Ausgenommen die künstlerischen Fibeln, die den richtigen Fibelton aber auch nicht treffen.) Die Texte bewegen sich in fünf bis sechs Stücken auf dichterischen Höhen, zergehen in einer gemachten Mittelmäßigkeit und versinken in lächerliche Einfalt. Man sieht ordentlich den Fibelmacher, wie er aus dem Goethe das Heidenröslein herausreißt und es in die Fibel klebt; man sieht ordentlich, wie der Fibelkerl aus der zerwühlten Schreibtischlade des lieben Vaters Hey die Fabeln herauskramt und dem seligen Claudius das Abendlied aus der sonntäglichen Rocktasche zieht. Und als er nichts mehr fand, da riß er aus dem Tierschutzkalender den Beitrag des Herrn Ypsilon über die Gutmütigkeit des Esels und aus einem Sonntagsblatt ein dummes Kindergebet. In seiner blinden Hast vergaß er natürlich das Lieblichste, das je auf dieser Erde geschrieben wurde: das Weihnachtsevangelium. Und als er die Fibel immer noch nicht voll hatte, da riß er sich, unter unsäglichen Gehirnschmerzen, selbst Reimereien und Verselein aus dem Kopfe und stopfte damit die Fibel voll.
Ich klage an:
Die Fibel darf keine Dreierangelegenheit sein. Es darf keine Fibelmacher geben, die auf Bestellung arbeiten. Wir brauchen einen Fibeldichter mit der kinderfrohen Glorie eines Pestalozzi, mit der ländlichen Sternensehnsucht eines Matthias Claudius und mit der frommen Phantasie eines Paul Gerhardt. Und wir brauchen einen Fibelmacher vom Schlage eines Hans Thoma, eines Uhde und Wilhelm Busch.
Die Fibel wird dann so herrlich sein, daß selbst Christus, wenn er wieder zur Erde käme und in die Schule gehen müßte, mit freudigen Augen zu dieser Fibel greifen würde. Wenn wir diese Fibel haben, dann haben wir einen Besitz, der ebenso herrlich ist wie die des Faust.
Und dann muß ich noch sagen, daß die Fibel, trotzdem sie nur fünfzig Pfennige kostet und neben dem Frühstücksbrot ganz unscheinbar im Tornister liegt, das Gesicht einer Kultur ist.
Der Krieg, die große Blutmühle, hat niedergerissen und zermalmt und auch – aufgebaut.
Und ab und zu fliegt sogar aus dieser Blutmühle ein Fünkchen Menschlichkeit, das beglückend wirkt.
Die Wiesen sehen jetzt aus wie die Sonntagskleider der Urgroßmutter, als sie noch ein Mädchen war.
So rot und blau und grün und weiß.
Und kleine Kinderhände wühlen jetzt im blassen Gold der Blumen.
Der Fink holt lustige, herzige Töne aus Flur und Wald und streut sie über Wiesen und Häuser.
Am blumendurchnickten Zaune sitzt der Fink und singt.
Und der Zaun zittert und bibbert vor Freude.
* * *
Lange zuvor, im Jahre 1914 noch, da haben die Belgier die Finken gefangen.
Und dann haben sie ein Stahlstäbchen genommen und glühend gemacht. Und mit diesen Stahlstäbchen stachen die Belgier den Finken die Augen aus.
Ein Zischen, und die kleinen Finkenaugen waren verlöscht. Und als der Spiegel der Finkenaugen, in denen sich der blaue Frühlingshimmel spiegelte, zerbrochen war, da sang der kleine Fink. Herrlich sang er, schmerzlich, angstgepeitscht. Der ganze Fink war nur noch ein Gesang, ein zitternder Gesang. Und er sang und sang, es war, als wollte er die Sterne vom Himmel heruntersingen.
Alle Jahre wurde dann in Belgien ein Finkensingen veranstaltet. Lauter geblendete Finken.
Und wer den andauerndsten Sänger hatte, der bekam einen Preis.
* * *
Als die deutschen Fahnen siegreich durch Belgien getragen waren, da erließ der deutsche Gouverneur ein Schreiben an die Belgier, worin er die Finkenblendungen streng untersagte.
Das Schreiben hatten die deutschen Fahnen mit ins Belgierland gebracht.
Ein Wintertag in München.
Irgendwo, auf vertretener Steinstufe, eine Katze. Eine blaue Tür und grüne Fensterläden. Überm Eingang des kleinen Hauses, das sich ganz im Schneewinkel zusammengekauert hat und mit müden Fenstern im Laternenlicht blinzelt, ein Muttergottesbild, mit weißen Blüten besteckt. – Unsagbar schön ist das.
Und irgendwo blauschimmernde Bergzüge, und irgendwo, in einer Bayernkirche, ganz vergessen im Kircheneck, eine verlorene Rose. Und Legendenschein, und dann ein kleines Mädchen. Mockerl heißt sie. Süße Holdheit in den großen Schulmädchenaugen. Und überhaupt, es ist, als ob dieses kleine Bayernmädchen rührend und schlicht von einem herzlichen Ländler durchzittert ist.
Wir gehen ins »Deutsche Museum«.
Die Wärter im »Deutschen Museum« sind alle von einer leisen Müdigkeit.
Da steht eine alte, gelbe Postkutsche aus dem Jahre soundsoviel. Ich klinke den Schlag aus. Die Kutsche riecht so sonderbar nach welken Veilchen und nach Kerzen. Wir gucken uns vorsichtig um und schwupps sind wir beide in die Kutsche verschwunden. Wir lehnen uns zurück und die Kleine spricht leise und selig, indem sie die zarte Fenstergardine beiseite schiebt:
»Lieblich war die Maiennacht.
Silberwölklein flogen
Ob der holden Frühlingspracht
Freudig hingezogen.«
Ich wippe auf meinem Sitze und die Kutsche schaukelt und wiegt sich. Uns ist, als ob Kirschblüten auf die Kutsche fallen und vergessene Dörfer an uns vorüberfliegen und Vögel am Kutschenfenster vorübersegeln.
Das Mockerl sitzt an mich geschmiegt und hat ganz vergessen, daß sie irgendwo, in ihrer kleinen Stube, einen großen, unbarmherzigen Stundenplan hängen hat. In ihrem Schoße liegen zwei Blumen. Nelken; rot und weiß. Und die liegen wie große, himmelsverirrte Schmetterlinge in ihrem Schoß.
Auf einmal wird der Schlag aufgerissen.
Wir denken, jetzt wird ein fröhlicher Postillon ein süßes, wehes Liedlein blasen.
Aber – –
In die Kutsche schiebt sich ein großer, schnurrbartflatternder Kopf mit blauer Mütze.
»Waas –? Die Chais'n z'sammenfahrn, so kommt's ma vor. Raus! D'Haxn in d'Höh!«
Da sind wir ganz verlegen ausgestiegen, und draußen, bei Sturm und Flockentreiben, lächelten wir leise vor uns hin:
»Lieblich war die Maiennacht.
Silberwölklein flogen
Ob der holden Frühlingsnacht
Freudig hingezogen.«
Geh' ich auf ein Haus drauflos. – – –
Und ich habe einen Urlaubsschein in der Tasche.
Und der Kuckuck ruft, und die ersten Wiesenblumen gucken mich groß an.
Und Sonne auf dem Rücken. – – –
Geh' ich auf ein Haus drauflos. – – –
Und mir ist, als wäre aus meinem grauen Kittel ein Hochzeitsrock geworden.
Meine Stiefeln wollen gar nicht mehr marschieren.
Tanzen wollen sie.
Und meine lustige Soldatenmütze will nicht mehr grade sitzen.
Ein Weidenreislein wippt an ihr herum.
Geh' ich auf ein Haus drauflos. – – –
Und die Frühlingsluft kitzelt meine Nase, bis ich niesen muß.
Am Wege steht ein Kinderwagen.
Und ein Sperling sitzt drauf.
Und wie ich in den Wagen gucke, ganz groß, da fängt das kleine
Kind an zu weinen, weil ich mit meinen dreckigen, rauhen Fingern
An den kleinen Kinderohren dran herumgezupft habe.
Und der Sperling fliegt davon.
Geh' ich auf ein Haus drauflos. – – –
Und ich bin Unteroffizier geworden.
Und Kinderlieder um mich her.
Und der Nachtwächter hat sich rasieren lassen.
Und aus der Giebelstube nickt mir der Kirchspielschreiber zu.
Und der Schulmeister freut sich, weil ich Unteroffizier geworden bin,
Und weil das auch eine Ehre für ihn ist.
Geh' ich auf ein Haus drauflos. – – –
Und ich habe ihr ein Schnupftüchelchen mitgebracht, eins aus richtiger Seide.
Das hat zwei Franken gekostet. – – –
Es ist ganz still im Hause.
Nur die Wanduhr hör' ich ticken und den Kanarienvogel singen.
Da ziehe ich mir die Stiefel aus und gehe heimlich,
Ganz herrgottsheimlich die Treppe hinauf.
Dann gucke ich durchs Schlüsselloch, und da sehe ich, wie sie das
Bett ganz neu überzieht.
Wir hatten in unserer Kompagnie einen Kriegsfreiwilligen mit einem guten Notexamen und mit dem Deutschen Literaturatlas von Könnecke. Nach der Parole, abends, saß der Kriegsfreiwillige auf der Bude und las und studierte und träumte in seinen Literaturatlas hinein. Immer mußte er sich das Bild vom alten Mommsen ansehen, diesen Kopf, so wunderbar wie aus Pergament, von weißen, gelehrtenweißen Haaren umrieselt.
Immer mußte er den Kopf schütteln, wenn er den Christoph v. Schmid erblickte. Es war doch so sonderbar, wenn er den Mann, der zeitlebens um seine Nase herum lauter kleine Kinder sitzen hatte, sich abmalen ließ mit zwei großen Orden; einen um den Hals und einen auf der Brust. Und die Orden waren so furchtbar groß.
Und dann der Freiligrath mit seiner großen, schlenkrigen Handschrift und mit seinem wallenden Haar. – – Ach, den konnte man wirklich nicht lieb haben.
Aber Schiller, hurra – – oh, du lieber Schiller! Dein Bild aus der Jugendzeit so lebendig; man fühlt so richtig, wie Feuerfunken aus deinen Augen knistern.
Du hast auch einen Unteroffizier über dir gehabt, und du hast trotzdem deine »Räuber« gefiebert. Und du hast auch Arrest gehabt, und du hast dennoch – – ausgehalten hast du – –. Und auf der Bude, auf unserer alten Soldatenbude mit den kalten, militärisch geraden Schränken und mit den schön gebauten, buntgewürfelten Betten, liefen Schillers Verse umher und die Worte Karl Moors und manchmal auch der Schnauzbart des Herrn Feldwebels.
Und das hat alles der deutsche Literaturatlas von Könnecke gemacht.
Goethe war uns zu kalt, zu olympisch. Aber Schiller, du guter, schlimmer, ganz verrückter Schiller! –
Und Kleist! O, wenn der doch unser Kompagnieführer gewesen wäre! Schon der ganze Blick, der ganze Kerl mit dem Jungenkopfe. – – Aber er hätte doch nicht unser Kompagnieführer sein können; er hatte sich ja die Haare etwas lang in die Stirn gekämmt, und ein Kompagnieführer muß immer etwas auf guten Haarschnitt geben.
Aber Liliencron. – – Die Handschrift schon. So richtig eine Handschrift für Urlaubsscheine, die ins Gras wollen, unterm blauen Himmel, zu den Schmetterlingen und in die mondhelle Nacht zum Küssen. Ja, so richtig eine Handschrift für einen lieben Urlaubsschein.
Immanuel Kant, der große Mann, der in Königsberg, wenn er philosophierte, die Häuser umschmiß, sah ganz genau wie unser Unteroffizier Lehmann aus. So was Verkniffenes im Gesicht; immer eine Stunde Nachexerzieren auf den Lippen. –
Aber Schiller und Kleist, ihr beiden aus Könneckes Deutschem Literaturatlas, ihr seid aus diesem Buche herausgesprungen, habt uns das Gewehr tragen helfen und den Tornister schleppen helfen, und wir haben gesungen, daß die Sperlinge auf den Dächern, in unserem lothringischen Garnisonstädtchen, ein richtiges Soldatenherz kriegten. – –
Und dann sind wir in den Krieg gezogen. Der Kriegsfreiwillige mit dem Literaturatlas auf den Tornister gebunden, und der hat nicht mehr gut ausgesehen, als wir in Stellung gingen.
Erstens der Wind und der Regen, und dann unsere dreckigen Finger.
Und dann wuchsen in Rußland so viel Rittersporn und Mohn, und da haben wir gepflückt, was wir pflücken konnten, haben die Blumen in den Literaturatlas gelegt, damit wir sie, schön gepreßt, in unsere Heimwehbriefe legen konnten. Wir legten die Blumen immer auf die Seite, wo einer stand, den wir nicht leiden konnten.
Herr Immanuel Kant war fast ganz aus dem Literaturatlas verschwunden, weil die Blumensäfte sein ganzes Unteroffiziersgesicht verlöscht hatten.
* * *
In der Schlacht um Wilna ging's ziemlich scharf zu.
Es war am Morgen; wir machten einen Sturmangriff. – Ich mußte mich immer nach dem Kriegsfreiwilligen umgucken, er hatte nämlich den Literaturatlas auf seinen Tornister gebunden.
Ich mußte immer denken, was mag der Jean Paul wohl sagen und der Novalis und der Hölty und der Rosegger und der Eduard Mörike, was müssen die wohl denken, weil die Kugeln um sie so herumpfeifen.
Die Russen schossen wie die Verrückten.
Wir buddelten uns ein; wir sprangen wieder vor; wir brüllten Hurra! – Wir konnten nicht rankommen.
Der Kriegsfreiwillige kroch ganz an mich ran: »Du? ...!« Er lag totenblaß da. Ich fragte: »Bist du kaputt?« Er lächelte: »Ach nee, in mein Gewehr ist nur Sand reingekommen.« Und dabei guckte er mich so ganz gierig an. Herrgott, ich kann den Blick nicht vergessen! Er schien zu warten, ob nicht ein Ding angeflogen kommt und mir die Knarre aus der Hand schlägt, damit er gleich zupacken konnte. »Krieche zurück, vielleicht liegt hinter dir ein Gewehr.«
Er kroch etwas zurück.
Plötzlich, so ganz leise, todbeschattet, verschleiert: »Au ..!«
Er lag platt auf der Nase.
Er war zurückgekrochen, hatte, weil er den Literaturatlas auf dem Tornister trug, den Russen ein gutes Ziel gegeben und war getroffen.
* * *
Ich weiß nicht mehr, aber ich war so furchtbar traurig, so furchtbar traurig; das Herz tat mir so weh.
Wir machten bis zum Abend noch ungefähr zwanzig Sprünge, dann gruben wir uns ein und warteten bis zum Morgen. – Mir war's, als ob die ganzen Kerle im Literaturatlas plötzlich aufstünden und für den toten Kriegsfreiwilligen jeder ein kleines Gedicht machten; ein kleines, liebes Verslein.
* * *
Du guter Kamerad!
Nun habe ich dich nicht wiedergesehen. Wir sind durch Regen und Wind, durch Blut und Tod gegangen; immer hinter den Russen her. Wir sind durch schöne Städte gestolpert und durch dreckige Dörfer; immer hinter den Russen her. Wir sind verlaust, meine Hosenträger sind zerrissen; immer hinter den Russen her. Ich habe dein Gesicht in meinem Herzen, dein liebes Jungengesicht, das im Literaturatlas herumträumt; immer hinter den Russen her.
Der Himmel sieht uns schon so manche Woche.
Wir sind die Brüder grauer Erde.
Und wenn's wieder Frühling wird, dann blühn aus unsern Händen lustige Blumen.
Aus unsern alten, grauen Röcken huschen Vögel und singen.
In unsern Ohren wohnen Grillen.
Aus unsern Haaren flattern Schmetterlinge.
Ameisen treiben sich in unsern Stiefeln herum.
Sonnenstrahlen glitzern aus unserm Tornister.
Und von all dem Heimweh, das in unsern Herzen wohnte, sind unsere Augen ganz weit geworden und spiegeln die Dörfer wider, die wir einst verlassen haben, die Kinder, die Frauen, den Vater, die Mutter.
Und um uns her tanzend, immer mit wirbelnder, wirbelnder Trommel, pfeifend und singend, kichernd und feixend, unser großer Hauptmann: »Der Tod!«
Wir sind die Brüder grauer Erde.
Und die Stare im Garten wie durcheinanderkicherndes Heiratsvolk.
Und das Dorf heißt Lebküchlehütte.
Aber das Dorf riecht nicht nach Weihnachten.
Nach Flieder riecht's.
Zwei kleine Jungen ziehen die Strümpfe aus.
Sie wollen sehen, ob das Wasser im Dorfteiche noch kalt ist.
Und am Schulhause ein flitzender Schwalbenschatten.
Und der Müllergeselle ist im Kriege. – –
Der Müllergeselle, der harte Wanderschuhe hatte und lachende Lieder und lustige Augen und zehn Taler im Monat.
Der Müllergeselle ist im Kriege, und er hatte doch die Gänsemagd so lieb gehabt.
Nun läßt er gar nichts mehr von sich hören.
* * *
Hoch oben, unterm Dache, ist die Kammer der Gänsemagd.
Ganz sanft streicht der Frühlingswind seinen Fiedelbogen.
Und die kleine Gänsemädchenkammer ist ganz voll vom Duft der Kirschblüte. – –
Das Bett ist so schön und akkurat gemacht.
Das Kopfkissen ist wie mit dem Lineal geradegelegt.
Draußen baumelt das Dorfabendglöckchen.
* * *
Die Gänsemagd geht auf Strümpfen leise die Treppen hinauf; die Holzpantoffeln in der Hand.
Und die Treppen knarren.
Dann schleicht sie schnell in ihre Kammer und stellt die Pantoffeln an die Tür.
Sie legt alles auf den Stuhl, der am Bette steht, den kurzen, geblümten Unterrock und das Leibchen und die Strümpfe.
Sie weiß nicht, daß es Nachtjacken gibt oder Nachthemden. – –
Dann springt die Gänsemagd ins Bett.
Und sie liegt so traurig da mit ihrem blonden, derben Gesicht und mit ihren blauen Augen, die Gänsemagd.
Und dann macht sie heimlich, ganz selig Platz. – –
– – – Drückt sich schmal an die Wand und lächelt. Und dann streichelt sie das Kopfkissen und die Bettdecke.
* * *
Der Müllergeselle ist im Kriege.
Nun läßt er gar nichts mehr von sich hören.
In meinen Adern lacht und singt
Das Blut einer Bauernmagd.
In Spiel und Not, in Krieg und Tod
Wird zum Herrgott du gesagt.
Die Wolken singen ihr Wanderlied.
Die ersten Lerchen fliegen.
Die Sterne kriechen im Abendwind
In bunte Kinderwiegen.
Ich höre das Läuten der Glocken.
Die Sichel singt darein.
Es webt um den Kopf meiner Mutter
Die Lampe den Heiligenschein.
Ich hebe die Flinte ins Morgenrot.
Ein kurzes Gebet, ein Fluch.
Meine Mutter geht über die Felder.
Der Wind zerrt an ihrem Tuch.
Weiße Hochzeit macht mein Städtchen
Mit dem alten Kirchturm heut.
Wie der sich reckt im Frühlingswind!
Wie der sich streckt und knurrend freut!
Auf den Graukopf stülpt er singend
Eine Mütze ganz von Gold.
Hei, wie ihm vor Hochzeitsglück
Sein einzig kleines Auge rollt!
Um den Hals, den ungewaschnen,
Knüpft er sich ein blaues Tuch,
Und er spiegelt sich im Teiche,
Gravitätisch, ernst und klug.
Und er streichelt, zehnmal singend,
Seinen greisen Landsknechtsbart.
Und die Feder auf der Mütze
Zittert blitzend auf und ab.
Da, aus Kleinstadtkindersingen
Webt er sich den grünsten Rock.
Rote, blaue Hosenbeine
Schenkt ihm noch ein Fliederstock.
Und das Städtchen, weißgekleidet,
Kniet zu seinen Füßen hin:
»Lieber Herre und Gebieter,
Bleib mir treu und nimm mich hin.«
Jeder Sperling wird zum Pastor,
Falter werden Fahnen fein,
Und mein Herz schmilzt jubelfroh
In spinnwebgraue Flöten rein.
(Eine Chronik-Idee.)
Als das Städtchen Perückenmühle noch Sanftleben hieß, meldete sich eines schönen Tages der Kaiser an. Reinhold der Fleißige regierte damals.
Der Bürgermeister ließ gleich die Gassen ganz bunt und duftend machen. Die Gassen standen vor Erwartung wie langbeinige Hexenweiber, die sich gar nicht wohlfühlen, wenn sie gewaschen werden und wenn ihnen der Kopf und die Beine und der krumme Rücken mit bunter Blütenflut umrieselt wird.
Und überall standen die Leute. Die hatten sich natürlich ihre schönsten Sonntagskleider anziehen müssen. So hatte es der Herr Bürgermeister befohlen.
Der Bürgermeister aber schwitzte.
Er rannte in seiner Stube umher und murmelte und murmelte und fluchte und rannte wieder zum Tisch, der ein großes Stück Papier ganz ängstlich festhielt. Und der Bürgermeister pflanzte seinen Kopf auf den Tisch, trat krachend den Tisch an das dritte Bein und konnte die Begrüßungsrede nicht festhalten. Sie wollte nicht in seinen Kopf. Und er war doch ein Bürgermeister.
Aber man muß auch bedenken, daß zur Zeit Reinholds des Fleißigen die Begrüßungsreden furchtbar umständlich waren. Erstens holperten nämlich die Begrüßungsreden wie ein blumenbeladener Lastwagen, dann stolperten sie wie ein kurzsichtiger Schulmeister, dann beteten sie wie eine sonnenbeschienene Großmutter und zuletzt zwitscherten sie wie ein Vogel. Und wer das ohne Anstoßen konnte, der war ein tüchtiger Mann in den Augen Reinholds des Fleißigen.
Um die Begrüßungsrede nun in den Kopf zu kriegen und das Herz freizumachen von aller Angst und Scheu, rannte der Herr Bürgermeister in eine Turmstube über dem Stadttor.
Er ließ sich gleich eine tüchtige Kanne Wein kommen und sagte zum Hauptmann, der alle Stadtwächter kommandierte: »Wenn Ihr den Helmbusch vom Kaiser draußen vor der Stadt seht, dann ruft Ihr mich, – dann ist's Zeit. – Ich will dann gleich vors Tor und ihn begrüßen.«
Und der Bürgermeister trank und lernte, trank und fluchte, trank und deklamierte, trank und lernte, trank und trank und deklamierte und trank und trank, trank, deklamierte.
Der Hauptmann aber wußte bestimmt, daß nach der Begrüßung die Stadtwächter alle Freibier bekommen würden. Und weil er eben ein pflichttreuer Hauptmann war, mußte er das Bier für seine Soldaten probieren und ging also in eine Schenke, stopfte seinen dicken Bauch unter den Tisch, schob großspurig die Beine vom Bauche, daß die Hälfte der Stube in ein schönes, mächtiges Dreieck geteilt wurde, rief die Wirtstochter und sagte ihr, daß sie sofort zur Wache rennen und der Wache sagen solle, daß die Wache sofort vors Tor gehe. Und wenn die Wache den Helmbusch vom Kaiser sehe, sollte die Wache sofort in die Schenke kommen und dem Herrn Hauptmann Bescheid sagen. Die Wirtstochter knixte und rannte. Der Wirt brachte Bier. Einmal – zweimal – dreimal – viermal. – Und der Hauptmann strich sich den Bauch, wischte und leckte an seinem Schnauzbart herum, und seine Augen wurden ganz groß und feurig, als er zum fünften Male trank. Und seine Stirne glühte, als er zum sechsten Male trank. Und seine Nase tropfte, als er zum siebenten Male trank. Und als er zum achten Male getrunken hatte, da sagte er, daß er der beste Freund vom Kaiser Reinhold dem Fleißigen sei. Und als er zum neunten Male getrunken hatte, da sagte er, daß er die einzige Tochter vom Kaiser Reinhold dem Fleißigen bestimmt heiraten würde. Und als er zum zehnten Male angesetzt hatte, da schrie er, daß er gar keine Lust mehr habe, von einem Herrn wie Kaiser Reinhold dem Fleißigen regiert zu werden. Der Wirt stand stramm, und der Hauptmann schrie beim elften Krug: »Übermorgen bin ich Kaiser von Sanftleben und aller umliegenden Ortschaften ...!« Und der Wirt riß verwundert die Augen auf.
Es war ein heißer Tag.
Und die Wache, die vom Hauptmann durch die Wirtstochter Befehl bekommen hatte, auf die Hutfeder vom Kaiser aufzupassen, schlenderte in eine Herberge vor der Stadt.
Der kleine Junge vom Herbergsvater spielte auf der Schwelle. Die Wache strich sanft den kleinen Jungen, Emil hieß er, über den Blondkopf, zupfte dem kleinen Emil ein bißchen an den Ohren herum und sagte dann: »Emilchen, paß auf, wenn der Kaiser kommt! – – Er hat eine große Feder am Hut. Und wenn du die Feder siehst, Emilchen, dann kommst du gleich 'rein und sagst mir Bescheid. Aber paß gut auf, Emilchen. Hier hast du ein Goldstück dafür – – –« Und er riß sich einen goldenen Knopf von der Uniform und gab ihm den.
Die Wache setzte sich in die Herberge, ließ sich Bier kommen und einen Federkiel und Tinte und schrieb einen Brief an die Liebste irgendwo. Und die Wache schmunzelte, als sie schrieb und schrieb. Sie schrieb nämlich, daß Kaiser Reinhold der Fleißige vor einer halben Stunde angekommen sei und mit ihm, nämlich der Wache, in der Herberge »Zum wilden Husaren« sitze und mit ihm, nämlich der Wache, tüchtig zeche und Bruderschaft trinke. Die ganze Stadt stünde vor der Tür und schrie: »Hurra! Hurra! Richard der Fleißige! Hurra! Hurra! Hurra! Ernst Hausknecht!«
Der kleine Emil vom Herbergsvater aber hatte einen kleinen Wagen. Und als der kleine Emil ein bißchen ums Haus herumguckte, fand er ein schmales Brett. Das konnte er für seinen Wagen gebrauchen. Er suchte mehr, ging unter den Schuppen und fand einen großen Nagel. Und der Truthahn schrie. Und der kleine Emil lachte den Truthahn an. Und der Truthahn schrie immer mehr. Und der kleine Emil nahm seine Holzpantoffeln und warf sie nach dem Truthahn. – – Da! – – Draußen! – – Rot und blau eine große Feder auf und ab, ab und auf! – – Staubwolken! – Pferdegetrappel trapp, trapp, trapp! Und das klirrte und strahlte! – – Der Kaiser! – –
Die Wache sprang auf, riß den Helm vom Nagel; die Tinte fiel um und lief über den großmäuligen Soldatenbrief. – – Die Flinte her! – – Aus der Tasche purzeln die Geldstücke für die Zeche, und nun raus. – – Da –, er sieht nur noch den breiten, blau und weiß gestreiften Kaiser-Reinhold-Rücken! – – Was tun? Er lief querfeldein, auf einen Seitenweg, hin zum Hauptmann.
Der brüllte ihn an wie eine blutig angelaufene Kanonenkugel. Der Hauptmann kriegt seinen dicken Bauch nicht unterm Tisch hervor. Der Hauptmann schwankt, er taumelt. – Endlich. – – Der Hauptmann steht.
Und der Kaiser reitet durch das Tor. Trompeten erwachen.
Der Bürgermeister im Turmgemach horcht auf, springt in die Höhe wie ein Weinpfropfen, wird bleich, greift sich in seine Perücke und reißt sie runter; flucht den Hauptmann, der in die Stube torkelt, an und schüttet dem Hauptmann und sich die Weinkanne vor Erregung auf den Festrock. Der Hauptmann hält sich am Bürgermeister fest, jetzt kollern sie, ganz verfitzt, die Treppen vom Turmgemach herunter. Der Bürgermeister rennt und rennt wie ein wilder Habicht. Hinter ihm her, wie Fledermäuse, der ganze schwarzgekleidete Magistrat. Und zum Schluß wie ein gerupfter Truthahn der Hauptmann. Immer durch die Gassen laufen sie, zum Markt hin. Und die Gassen jubeln und lachen.
Da, am Markt, hält vorm Rathaus der Kaiser.
Angstverzerrt, schweißtriefend hüpft der Bürgermeister aus dem Menschenmeere; schlägt hin, steht wieder auf, schlägt noch einmal hin und steht zerschlagen vorm Kaiser. »Allerdurchlauchtigster, großmächtigster Kaiser Reinhold der Fleißige,« beginnt er, »die Ehre, die heute Eure Stadt – –« »Woher kommt Er?« fragte der Kaiser und sieht ihn ruhig aber durchdringend an. »Ich bitte um Gnade,« stammelte der zerschundene Bürgermeister. »Ich erwartete Eure Majestät am Tore; aber ich hatte meine Perücke vergessen. Als ich den Helmbusch Eurer Majestät sah. – Ich rannte und suchte meine – –« »Perücke?« Kaiser Reinhold der Fleißige lächelt. »Dann will ich der Stadt eine Perücke ins Wappen geben, daß sie daran denkt, Euch eine auf den Kopf zu setzen, wenn Ihr Euren Kaiser erwartet. – Und fortan soll diese Stadt nicht mehr Sanftleben heißen, sondern Perückenmühle.«
Bleib mir immer lieb so lang,
Bis ein Schneck die Welt umgang.
Will dir immer treu auch sein,
Bis vom Himmel Rosen schnein.
Denke an mich, herzenswarm,
Sonst bin ich ganz bettelarm
*