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Wenn man für's Künftige was erbaut.
Schief wird's von Vielen angeschaut.
Goethe.
Seitdem Sie von uns sind, geliebter Freund, hat der heitere Genius der Geselligkeit uns gänzlich verlassen. Man bemühte sich zwar ihn zurückzurufen. Man suchte in allerhand künstlichen Mitteln Ersatz. Man brachte alle die Währungen, Reibungen, Verwürfnisse der Politik, der Literatur gewaltsam aufs Tapet. Aber – umsonst. Es fehlte der bindende Mittelpunkt, es fehlte der frische Humor, die schalkhafte Ironie, deren Geister Sie zu beschwören, und, wenn die Extreme der Ansichten an einander geriethen, stets durch glückliche Vermittelung wieder zu beherrschen wußten. Endlich mochten wir uns überzeugen, der Ernst, der gute Wille allein reiche nicht aus, um wahrhaftes Leben in einen solchen Cirkel zu bringen, und wie die Parodie die Probe eines guten Gedichts, so sey sie auch die der guten Gesellschaft.
Es entstand eine allgemeine Einkehr in sich selbst, die auf mancherlei Rücksichten hinwies. Dem Einen fiel es ein, er habe ein Haus zu übernehmen, dem Andern, er habe einen begüterten Onkel nicht zu vernachlässigen, dem Dritten, es zieme dem Ehegatten und Staatsbürger nicht mehr, dem freien, über Alles sich verbreitenden Gedankenaustausch zu huldigen. Kurz, es giebt eine gewisse ängstliche Befangenheit auch in dem Leben der edleren, geistigeren Menschen, in der sie nicht wissen, das Nützliche mit dem Schönen, die Laren mit den Musen und Grazien zu verbinden. Es macht sich die schaalste Hausbackenheit geltend. Die Gevatterschaft überflügelt die Freundschaft, der Geschlechtstrieb den Flug des Geistes, und Keiner ist am Ende geschickt genug, das Eine zu thun und das Andere nicht zu lassen.
Aber welcher Kreis schönster Geselligkeit überlebte sich nicht auch nothwendig? Trägt er doch, wie das Individuum, die Keime der Vergänglichkeit, des Todes in sich. Die gemeinsamen Interessen divergiren, nachdem sie sich kaum vereinigt. Es bilden sich andere Figuren, andere Gruppen. Es eröffnen sich complicirtere Sphären, worin es dem Einzelnen, der sonst vielleicht ein bedeutendes Wort geführt und Nachdruck geübt, nur noch gelingt, unscheinbar, doch für das Ganze wohlthätig, zu wirken, während er Befriedigung für das Gemüth einzig am häuslichen Herde findet. So schreitet des Lebens unendliche Strömung vorwärts, der sich die meisten als Welle, wenn nicht als Tropfen fügen, indem nur wenige berufen sind, als kühne Felsen da zu stehen, dem Elemente gegenüber sich zu behaupten, ihm eine andere Richtung zu geben.
Ein malerisch, wahrhaft erhabenes Schauspiel für den Beschauer, tragisch und komisch! Doch beide Nüancen verschwinden in einem Dritten, Höheren, Heiligeren. Auch soll ja Niemand Zeit haben zur bloßen Beschauung, sie macht sich dem Sinnigen von selbst. Das aber ist das Werthe einer jeden durchlebten Geselligkeit jener Art, daß sie ein Bleibendes absetzt, die Individualität über sich selbst hinausträgt, und gar oft aus so vorübergehender Gemeinschaft Vieler eine wahrhafte Freundschaft Zweier sich herausgebiert, ein heiteres, bleibendes Zwillingsgestirn über der rastlos treibenden Fluth. Doch – Sie wissen, Sie fühlen, worauf ich hindeute.
Haben Sie Dank, mein theurer Freund, für das bereite, schnelle Eingehen in das, was mich beschäftigt. Unser Umgang soll ferner dauern. In der freiesten, gemüthlichsten Weise soll er sich fortgestalten, in der unbefangensten Form des Briefes zur Sprache bringen, was irgend, ob flüchtig, ob dauernd, das innere Leben berührt, bewegt, erweitert. Was man so dem Freunde vertraut, hat immer den Vorzug vor mündlicher Mittheilung, daß es aus reiferer Ueberlegung hervorgeht, der Betrachtung länger vorliegt, und dagegen doch auch alle die Freiheiten, Begünstigungen in Anspruch nimmt, welche improvisirten Andeutungen zukommen, den höchsten Grad der Natürlichkeit, Ungenirtheit, den vollen Abdruck der Stimmung, des Vermissens, Verlangens, die Ausbeute des Errungenen, die Aussicht des zu Gewinnenden, die Kühnheit der Uebergänge, die Nachlässigkeit der Ausführung, Wahrheit, Dichtung, Grundsatz, Hypothese, Systematisches, Problematisches, Wohnhaus und Luftschloß, Alles in buntem, beliebigem Nacheinander.
Wir wollen dabei an keine unserer hohen Muster denken. Jeder soll seine eigene Bahn des Lebens beschreiben. Das schon Geleistete soll ihm zwar Typus seyn, nicht aber Vorbild, das er nur copirte. Wir strecken unsere Arme aus nach dem, was vor uns liegt. Wir freuen uns des herrlichen Gebietes unserer Literatur, worin wir unsere Schriftsteller in einem reizenden Negligée erblicken, und schlagen ihren Inhalt nach Belehrung und Genuß unendlich höher an, als was andere Nationen der Art schon besitzen. Aber wir wollen uns deshalb nicht stören lassen in unserm eigenen Morgenanzug. Auch wir wollen leben und lieben, uns bilden und bilden lassen, auch wir des Kleinen uns freuen, auf klingendem Kothurn die Welt durchschreiten, und nichts soll das Anrecht uns rauben, das sicher auch wir besitzen von Gottes Gnaden auf das Universum. Sehen Sie da des Menschen höchsten Adel, welcher auf Demuth ruht! –
Sie gedenken wohl sicher noch oft jener glücklichen Tage, in denen wir eben auf weit umschauender Höhe der Jugend angelangt waren. Eine muntere rüstige Schaar mitstrebender Gesellen hatte sich zu uns gefunden. Hinlänglich waren wir als Erben unterrichtet von der Verlassenschaft einer theuern Vergangenheit, aber doch auch nicht so genügsam und so des eigenen Berufes entbehrend, um nicht an den Erfolg eigener Unternehmungen zu glauben, um diese nicht mit Begeisterung von uns zu fordern.
Die frisch bekränzten Trophäen der vaterländischen Literatur hatten uns um sich versammelt, die ewigen Werke, die glänzenden Siege deutscher Genien hatten unsere Liebe, unsere Bewunderung entzündet, welche, nicht beschränkter Art, nach allem rein Menschlichen ein inniges Verlangen trug, und jene Produkte in Zusammenhang zu bringen wußte mit den Literaturen der Völker. Die Geschichte überhaupt mit all den großartigen Charakteren, welche sie zeichnet, war unser Besitz geworden. Diese Gestalten waren nicht bloß Objekte unserer Studien gewesen, sie hatten, was mehr bedeuten will, in unserem eigenen Leben Gestalt gewonnen, sie waren für uns unvergänglich, ja nothwendig.
Es konnte nicht ausbleiben, wir mochten im Ganzen an einer gewissen Ueberschwänglichkeit leiden, wir mochten manches viel zu hoch in seinem Werthe anschlagen. Aber – wir fühlten, wir erkannten die Tiefe und Macht der Idee. Wir fragten nicht, wie leider so Viele, nach diesem und jenem Nutzen der Wissenschaft, der Kunst, oder was denn eigentlich Religion für baaren Gewinn abwerfe für den Staat oder die Kirche, wir fragten nur nach den Ideen, die sich hier überall ausgeprägt. Und – wehe dem Jüngling, dessen Sonne der Jugend nie auf dem Scheitelpunkt eines solchen Idealismus brennt, der nie von der reichsten, durchdachtesten Theorie aus sich früh die würdigsten Ziele setzt! Er wird vor der Zeit alt werden. Er wird, wenn er nun in der gewöhnlichen, viel zu hoch gepriesenen Praxis angelangt ist, höchstens das Zeugniß verdienen, er trieb es so, wie seines Gleichen es auch getrieben, er gähnte und – starb.
Wir also standen damals gerade auf dem Niveau unseres Lebens. Wir fühlten unsere Kraft, und fühlten sie durch die Kräfte der Anderen gesteigert. Und wann in Folge einer gewissen Ueberfülle die Gefahr eines Aeußersten uns drohte, so hatte der Reiz der Form, das zwingende Gesetz der Schönheit doch längst so unwiderstehlich auf uns gewirkt, wir hatten den goldenen Lehrspruch, an der Beschränkung erst erkenne man den Meister, so zum Losungswort für unsere Wanderjahre gewählt, daß wir uns um so harmloser dem süßesten Vertrauen hingeben durften. Mit diesem Blicke sahen wir uns an, und spähten nur, nichts Arges ahnend, zu welchen Produktionen der Geist eines Jeden Eigentümlichkeit aufrufen werde.
Damals nun war es, daß uns ein herber, ein unaussprechlicher Schmerz zu Theil wurde. Woran wir nie gedacht hatten, was uns selbst nie in den Sinn gekommen wäre, mußten wir jetzt erleben. Es ließen sich die ersten kecken Stimmen gegen unsern Meister Gemeint ist Goethe. Jung forderte später, anders als die Jungdeutschen, die die Traditionslast von Klassik und Romantik kurzerhand abwerfen wollten, in seinen » Vorlesungen über die moderne Literatur der Deutschen« (1842), dass die deutsche Literatur sowohl die Forderungen einer klassischen als auch die einer modernen Literaturtheorie erfüllen solle. Die Umsetzbarkeit eines solchen Postulats in der literarischen Praxis war freilich so gut wie aussichtslos. vernehmen. Man versuchte es, nicht etwa nur dieß und jenes an ihm zu tadeln, die eigentlich culminirende Periode seiner Werke von dem An- und Ab-Steigen wegzuschneiden. Man beschuldigte ihn geradeswegs unsittlicher Tendenzen. Man wagte es sogar, ihm vorzubilden, wie er es eigentlich wieder hätte nachbilden sollen, und, während ihn die Einen zu unmännlich fanden, und doch zu hofmännisch, fanden ihn die Anderen zu griechisch-heidnisch und zu bürgerlich-unpolitisch.
Den wirklichen Ruhm des Genies kann so etwas freilich nie rückgängig machen, seinen Glanz nie trüben, und konnte es auch dieses Mal nicht, obwohl es auf einen förmlichen Sturm abgesehen war. Menzel besonders erschien schon damals, mit seinem allerdings kräftigen, aber auch eben so harten und rauhen Lapidarstyl, mit dem er das: steiniget! predigte, als einer der lautesten Vorkämpfer. Wolfgang Menzel war einer der schärfsten Goethe-Gegner des Vormärz. Menzel, der für Karl Gutzkow von 1830 bis 1834 eine Art Mentor gewesen war, hatte mit einer vernichtenden Rezension von Karl Gutzkows Roman Wally, die Zweiflerin den Anlass zum o.g. Verbot der jungdeutschen Schriften geliefert. Menzel wollte darin gesellschaftsgefährdende Pornographie und Blasphemie erkennen; die Begründung des Verbots liest sich teilweise wie eine amtliche Übersetzung der Menzelschen Denunziation. Und man könnte ohne Mühe manch' erkleckliche Attitüde für ein Aristophanisches Lustspiel ausbeuten, indem man ihn als den eigentlichen Vater, wenigstens Reichsbegründer der jungen Literatur proklamirte, deren erste Hauptphase, vorzüglich in Beziehung auf kritischen Geist und Farbe der Darstellung, von jenes Schriftstellers Buch über die deutsche Literatur Die deutsche Literatur. 2 Bände. Stuttgart: Franckh, 1828. 1836 erschien überarbeitet ein 2. vermehrte Auflage in vier Bänden. – Menzels ursprünglicher Liberalismus verwandelte sich mit der Zeit in einen völkisch orientierten Nationalismus. zu datiren ist.
Dieses Buch in seiner ersten Gestalt ist überhaupt sehr wichtig. Es hat in gutem Sinne nüchtern gemacht. Es hat die Wolken und den Nebel eines zu narkotischen Weihrauchduftes durch tüchtige, schmetternde Salven verscheucht. Es hat den gelehrten Ballast ausgeworfen, und hat sich leicht und sicher, von dem geistigen Inhalt getragen, über die Menge erhoben. Es hat eine Freimüthigkeit, eine rücksichtslose Besprechung literarischer und volksthümlicher Interessen, vor den Augen der Nation, unter uns beinahe erst eingeführt. Wir verdanken dieser Schrift einen schnelleren Betrieb und Umtrieb in unserem ganzen Bücherwesen bis auf buchhändlerische Verhältnisse. Wir erhielten sehr verdienstvolle Warnungen vor dem höchst Gefährlichen gewisser Einseitigkeiten. Aber es lag in dieser Richtung selbst die Gefahr der größten Einseitigkeit. Und in welchem Grade ist sie zum Ausbruch gekommen! Und wer hat ursprünglich verschulden helfen jenes süffisante Vornehmthun gegen die Vornehmheit, jenes unaufhörliche Uebergehen vom Derben zum Verzärtelten, vom Ziegenhainer Knotiger, derber Wanderstock, benannt nach einem Ort an der Saale, wo die Bauern aus der Kornelkirsche besonders haltbare Knotenstöcke herstellten. zur Badine Französisch: Rute, Gerte., von dem ewigen Empfehlen seines eigenen Privatgeschmackes bis zur wiederholten Verlästerung der theuersten Namen? –
Für heute genug, mein werther Freund, denn ich gebe Ihnen hinlänglich zu überdenken. Gehen Sie immerhin gerne noch einmal die Strecke Weges mit mir in der Betrachtung, die wir in der Wirklichkeit vielleicht weniger fähig waren, unbefangen zu erwägen, wenigstens in Bezug auf die Zukunft. Man spricht jetzt so viel von Zukunft. Man hat Recht; denn wir wittern Alle mehr oder weniger eine große, eine heitere. Aber – man sollte nicht so ängstlich thun, nicht so trostlos klagen, man sollte sich mehr Ruhe zu eigen machen. Es wird uns nichts entgehen, wenn wir wacker sind. Es ist alles unser, wir aber sind – Gottes.
Die Erörterungen meines vorigen Briefes scheinen bei Ihnen fast ihren Zweck verfehlt zu haben. Ich werde eine etwas andere Wendung nehmen müssen, um Sie zu bekehren, mit der Gegenwart auszusöhnen. Sie sind mir zu wehmüthig gestimmt. Sie fühlen sich und das Vaterland verwaist nach dem Hingegangenseyn so vieler großen Männer. Sie schwelgen in den Exequien, welche Ihre Liebe immerdar unterhält für so ausgezeichnete Todte, und zählen voll Bangigkeit die Wenigen, welche uns aus den schönen Tagen von Weimar noch übrig geblieben sind. Wir werden aber dennoch in diesen Schmerz der Gegenwart noch tiefer eingehen müssen, wenn wir uns über ihn wahrhaft erheben wollen.
Ist jener Glaube an den Erfolg positiver Leistungen schon in Erfüllung gegangen? Ist es uns vergönnt gewesen in Poesie und in Philosophie, in Kunst und in Wissenschaft gleichmäßig fortzufahren mit jenen großen Schöpfungen unserer Vorgänger? Wer dürfte dieß bejahen wollen? – Worin liegt aber der Grund dieses Unvermögens? Lassen Sie es sich schnell mit einem scheinbaren Widerspruch beantworten: in unserm zu großen Reichthum. Nicht bloß in dem angeerbten, auch in dem angebornen Vermögen unserer Existenz. Legen Sie sich das nicht als Stolz aus, vielmehr als Zuversicht.
Während jedoch die Schätze unübersehlich sind, welche uns unsere Literatur seit Goethe und Kant gebracht hat, während wir uns noch in der Bewältigung all' dieser Produkte begriffen sehen, und mit Nothwendigkeit gegen das Schaffen eine Reaktion erfolgt, die wir denn eben als solche in der vorherrschenden Kritik unseres Zeitalters anzuerkennen haben; während alles dessen setzt dennoch der Geist der Poesie in einer Richtung seine fruchtbarsten Zeugungen fort, ich meine in der Lyrik. Hierin ist nichts verlernt, hier fast keine der süßen Weisen früherer Sänger ausgestorben, wohl indessen manch' neue hinzugekommen. In dieser ausgestatteten Schule der lyrischen Dichter aber pflanzt sich die ganze Poesie am sichersten fort, wie eine heilige Tradition im Munde des Volks; in diesen Sängern haben wir die Herolde der kommenden Zeit, die Vorboten des neuen Frühlings, ja den Frühling selbst zu begrüßen. – Und wenn in der Philosophie, um sie als Vertreterin der Wissenschaft zu erwähnen, allerdings die Hervorbringung großer Systeme (aber auch nach welch' einem Aufwand!) einstweilen aufgehört hat, so sehen wir dennoch im Allgemeinen nirgend den Geist durch die bloße Schule, die bloße Geschlossenheit des Systems befriedigt, wie es anfangs scheinen wollte, sondern wir nehmen bereits wahr, wie sich Ansätze bilden, Keime hervorbrechen zu neuen Organismen. Gehen wir indeß wieder zurück auf den Kern unserer Zeit, auf ihren Grundcharakter. Ich spreche von Deutschland. Lassen Sie sich dieses glänzende Intermezzo einer zersetzenden Kritik nur gefallen. Wie hoch ich diese Kritik achte, wie unendlich viel mir überhaupt unsere Zeit gilt, wüßte ich Ihnen nicht entschiedener zu bezeichnen, als dadurch, daß ich dieses Zeitalter in seiner Gesammtheit ein Lessingsches nenne. Wer erräth nicht beiläufig unseren Nicolai? Historisch bezieht sich die Anspielung auf Christoph Friedrich Nicolai (1733-1811), deutscher Schriftsteller, Verlagsbuchhändler, Kritiker; Hauptvertreter der Berliner Aufklärung, Freund Lessings und Moses Mendelssohns, Gegner Kants und Fichtes.
Nicht dadurch allein begründe ich dieses, daß sich wieder die kühnsten, herausforderndsten Stimmen vernehmen lassen, welche nach Wahrheit rufen, welche diesen stechenden Durst nach Wahrheit nirgend zu unterdrücken im Stande sind, nicht dadurch allein, daß uns gleicher Weise der Zweifel packt, daß der kühnste Skepticismus unsere zahlreichen Doktrinen controlirt, sie zur Rede stellt, was sie denn eigentlich wissen, was nicht, und warum nicht, sondern auch dadurch, daß die heutige Kritik, welche uns alle in ihre Dienste zieht, ihre prüfenden Maaßstäbe uns in die Hand giebt, doch bei weitem mehr positive Elemente enthält, als man vermuthen sollte, daß aus ihren Beurtheilungen poetischer Erzeugnisse häufig selbst wieder poetische Gestalten hervorspringen, womit nach Lessing schon Jean Paul wieder den Anfang gemacht, wenn wir an Hebels allemannische Gedichte denken, und endlich, daß wir zu einem Glanze der Darstellung, zu einer Eleganz der Prosa gelangt sind, welche bis auf einfach gegliederte Struktur sehr an Lessings Anmuth und urbane Gefälligkeit der Sprache erinnert.
Und, daß ich Sie noch auf zwei Motive reicher Verheißung hinweise. Das eine ein Wort des Bakis Seher des antiken Griechenlands, der im 7./6. Jh. v.u.Z. gelebt hat und in seinen Orakelsprüchen die Ereignisse der Perserkriege prophezeite. – Hier ist wiederum Goethe gemeint., das andere eine Thatsache. – Was hat uns jener ehrwürdige Patriarch von Weimar, dem ein so wunderbar dämonischer Spürgeist die entferntesten Phänomene der Welt und Natur vor das Dichterauge citirte, daß die Kochfische in einem Bivouak eine Farbentheorie ihm herbeiführen, daß die Evolutionen der Erdgeister ihn nächtlich vom Lager aufscheuchen, was hat er uns für ein prophetisches Wort hinterlassen? – Die Individuen werden sich ihrer Eitelkeit, ihres Verneinens begeben, die Nationen sich nicht mehr in ihrer Einzelnheit bespiegeln, die Völker werden zu Völkern kommen, und es wird das Gemeinsame einer geistigen Atmosphäre das schützende Pantheon aller ächten Humanität seyn. Von gänzlichem Fehlschießen dieser Prophetie kann gar nicht mehr die Rede seyn. Wir leben unter den herausbrechenden Strahlen ihres Eintreffens.
Die Thatsache aber wäre diese. Es fehlt unserer Zeit so wenig an Poesie, daß der Poet jetzt vielmehr jedem tieferen Menschen aus dem Auge sieht; so aber, daß der Poet, und mit Recht, hinaus will in das Leben. Wir lächeln daher über eine solche Poesie, die noch immer an uns ihre Eroberungen zu machen gedenkt, wie sie mit zierlichem, sylbenzählendem Fuße über die sandbestreuete Schwelle einer Landpfarre tritt. Es kümmert uns wenig, daß die Profanen unermüdet an dergleichen neuen Luisen Johann Heinrich Voß (1751-1826), deutscher Dichter und ein bedeutender Übersetzer der Epen Homers (Ilias und Odyssee) sowie anderer griechischer und römischer Klassiker, hatte 1795 sein idyllisches Gedicht in Hexametern » Luise« veröffentlicht, das Goethe zu dessen Vers-Epos »Hermann und Dorothea« (1795) anregte. ihr Wohlgefallen haben. Wir wollen es bei guter Gelegenheit schon rügen, um auch Jenen einen Schwung zu geben. Aber die Poesie der Zeit hat ihn längst. Sie ist in die Geschichte getreten. Sie fliegt nach einem andern Rhythmus als dem sechsfüßigen, und Wahrheit und Dichtung » Dichtung und Wahrheit« ist der Untertitel von Goethes Autobiographie »Aus meinem Leben« (1808/31). heißt jetzt die Biographie der Menschheit.
Trauen Sie mir, verehrtester Freund, keine leicht zu befriedigenden Erwartungen zu. Ich weiß sehr wohl, wie viel glänzende Illusionen in unserer Zeit ihre Lichter werfen. Die eigentliche Sonne des neuen Tages ist freilich noch unter dem Horizont, wenn das glorreiche Bild auch immerhin bereits unsere Blicke fesselt. Auch schrieb ich Ihnen, wir dürften uns dem Schmerz der Gegenwart nicht oberflächlich entziehen, wenn wir über ihn hinauszukommen strebten. Ich habe unserer Zeit aus innerster Ueberzeugung den bedeutendsten Fond des Geistes zugesprochen. Um so bindender, heiliger die Verpflichtung. Das, was viele unendlich hemmt, wie eine Schuld sie belastet, will ich Ihnen, darf ich Ihnen nicht verschweigen. Es ist ein absolutes Alleinstehen in religiöser Hinsicht, ein Alleinstehen, welches sich höchstens in die leidige Gemeinschaft einer Parteiung, einer vorrübergehenden, selbst krankhaften Faktion verliert, (obwohl ein tieferes Bedürfniß, weil es in der Zeit liegt, auch den Einzelnen nach einem gesunderen, umfassenderen Organismus hinzieht). Daher von jedem niederen Standpunkt die unendlichen Anmaßungen des Ichs, welche um so weitlangender sind, als sie wirklich meistens mit Geist durchgeführt werden. Daher aber auch der Eigennutz, die rasende Willkühr.
Nachdem ich Ihnen im Früheren mehr vom Standpunkt der Poesie und Literatur aus die Zeichen der Gegenwart in so schöne Hoffnungen ausgelegt habe, so lassen Sie uns nun in Betreff der Religion zugleich in Bezug auf ihre Wissenschaft ein Aehnliches versuchen. – Ich sage Ihnen im voraus, auch in diesen beiden sind meine Erwartungen groß, obwohl ich ebenso meine, daß grade auch hier die gefährlichsten Uebelstände nachzuweisen, die gerechtesten Vorwürfe zu erheben sind.
Die Religion. Sie werden mir keine aufbürden wollen ohne einen Glauben, welcher die Macht ist über jedweden Zweifel, ohne eine Verfassung, in der jede eigenthümliche Bildung ihre Anerkennung findet. Sie sehen, ich will um jeden Preis das eigentlich Infallible, welches in jedem primitiven Akt der Religion schon liegt, anerkannt wissen, ebenso aber auch die Notwendigkeit einer Gestaltung, welche sie sich in der Gemeinschaft der Religiösen unter einander, also in der Kirche, giebt.
Darin aber haben wir das Gebrechen unserer Zeit laut zu bekennen, daß sich ein sehr großer Theil unserer Zeitgenossen, wie es scheint, durch die heterogensten Bildungselemente, um seinen Glauben völlig hat bringen lassen, so daß wir mit ihnen in Bezug auf ihre sehr prunkende Bildung wirklich wieder bei einer Aufklärung des vorigen Jahrhunderts angekommen sind, wo denn der alte Deismus, der sich Wunder wie neu! glaubt ausgesprochen zu haben, ganz in die alten Leerheiten zurückgefallen ist. Von hier aus nun wird, mit und ohne Geist, gegen die Idee einer Kirche überhaupt zu Felde gezogen. Denn wie sollte sie hier noch als die, aus jenem primitiven Keim der Religion hervorgehende, organische Institution gefaßt werden, da der treibende Keim selbst ist vernichtet worden. Und hier hätten wir es denn mit den absolut Alleinstehenden zu thun. Die Geistreichen unter ihnen sehen ihr vormals religiöses Bedürfniß von einem Pantheismus absorbirt, der, im Unterschied von jenem älteren, einer durch und durch ironischen Poesie angehört. Die Geist losen haben sich dem Erwerb und Genuß ergeben, und der grausamste Geldaristokratismus ist theils der Götze, der selbst ihnen noch einen Schein von Religion abzwingt, theils ist es die Assekuranz-Compagnie, in der sie einst selber Sitz und Stimme bekommen zu können erwarten.
Wie sieht es mit den Parteiungen aus? Wir können dem Pietismus, so edel sein Ursprung, und dem Rationalismus, wie groß die Verdienste seiner Negation, keinen ehrenderen Namen zukommen lassen, als den bloßer Faktionen, deren Recht des Bestehens bald aufhören wird, und die schon deshalb nur vorübergehende Erscheinungen des kirchlichen Lebens sind, weil sie schon jetzt in die kleinlichsten Fraktionen zusammenbrechen.
Der Rationalismus hat ein so schartiges Schwert bekommen, daß man ihm füglich auf aschgrauem Grunde ein solches zu Titelvignette der allgemeinen Kirchenzeitung empfehlen könnte. Der Pietismus aber ist so fleißig gewesen, er hat sich ordentlich durch literarische Studien so diplomatisch geschickt gemacht, er erscheint, wenn's drauf ankommt, so patent gekleidet, und bedient sich mitunter so moderner, auf den Erfolg berechneter Ausdrücke, daß man eine Verjüngung durch die Kunst zu längerem Leben glauben sollte. Aber umsonst. Er wird den reißenden Strom der Zeit nicht aufhalten können. Ja wir müssen ihm den Vorwurf machen, daß er ganz besonders durch die trostloseste Absperrung des kirchlichen Gebietes, durch die so ungenügende Zurückführung des Geistes auf eine ihm gerade beliebende Auslegung der Schrift, durch eine scheelsüchtig mißtrauische Auffassung der antiken und modernen Kunst (als wenn das Schöne nicht auch ein Göttliches wäre), und dann der Philosophie außerdem, Vielen jener Abtrünnigen eine ganz irrthümliche, trostlose Ansicht von der Kirche, ja von der Religion beigebracht hat. Oder ist er denn wirklich so freisinnig dieser Pietismus, und scheint er es nicht bloß zu seyn, um seine partikulären Interessen zu verfolgen, und wähnt er sich auch darin geistesgewandt und umfassend genug, so stellen wir ihm die Aufgabe, zu erforschen, welch' eine Ehrenstelle in der wahrhaften Gemeinschaft des christlichen Cultus einem so heiler beschaulichen Gedichte zukommt, wie Schefers Laienbrevier, Leopold Schefer (1784-1862), deutscher Dichter; sein » Laienbrevier« war 1834/35 erschienen; es handelt sich dabei um einen Gedichtzyklus, ein pantheistisches Brevier zu jedem Tag im Jahr, das seinerzeit mit insgesamt 21 Auflagen ungemein erfolgreich war. oder welch' ein ãëþóóáéò ëáëå?í von christlicher Zukunft er zu erhorchen im Stande ist aus den Worten einer modernen Rahel? –
Nehmt euch in Acht, daß ihr, während es euch darum zu thun seyn sollte, die Erde, ja die Welt, als überall des Herren, darzustellen, nicht ewig, fast wollüstig, an dem übeln Sinne, den das letzte Wort, und mit Recht, auch hat, euch festsaugt, und daß ihr nicht, um das Unendliche darzustellen, wie Kleinmeister schnell das Maß und Modell vom Tempel zu Jerusalem hernehmt. Ueberhaupt, prüft eure Principien, ob sie die göttlichen sind, und ob ihr von eurem Standpunkt Recht habt zu sagen, wie es allerdings an sich ein ewiges Recht ist, Niemand kann einen andern Grund legen, als welcher schon ge legt ist, Christus. Der Dank übrigens, der euch gebührt für das Mitbewahrenhelfen des Positiven im evangelischen Lehrbegriff, während der Rationalismus oft Alles verschleuderte, soll euch nimmer entgehen, und wir zollen ihn euch von ganzem Herzen.
Sie erinnern sich, theuerster Freund, wie ich bei Gelegenheit unseres Zeitalters Lessing hervorhob. Dieß kommt auch hier recht in Anwendung. Denn kehren wir uns nun nach der anderen Seite, die entweder ganz und gar, oder nur zum Behufe einstweiliger, wissenschaftlicher Untersuchung, vom Standpunkt außerhalb der Kirche, ihre Polemik gegen diese und das Christenthum spielen läßt, so ist es merkwürdig, wie man, nur vielleicht mit noch ausgearbeiterer Dialektik und glänzenderer Form, die Wolfenbüttelschen Fragmente Lessing war ab 1770 Leiter der herzöglichen Bibliothek in Wolfenbüttel und gab in dieser Funktion ab 1773 die Zeitschrift »Zur Geschichte und Litteratur. Aus den Schätzen der Herzoglichen Bibliothek zu Wolfenbüttel« heraus, für die er Zensurfreiheit genoss. Darin veröffentlichte er 1774/78 sieben Passagen aus der »Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes«, einem Fragment, das der Hamburger Gymnasialprofessor für orientalische Sprachen Hermann Samuel Reimarus († 1768) zwischen 1735 und 1767/68 verfasst, aber nicht zu veröffentlichen gewagt hatte. Lessings Veröffentlichung zog den sog. » Fragmentenstreit« nach sich, der von allen Beteiligten – außer Lessing besonders der Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze – äußerst aggressiv geführt wurde und in dem es um die Frage der ›Geoffenbartheit‹ der christlichen Religion ging. in Anwendung bringt, ohne daß es denn die Angreifenden merken, wie sie oft auf längstwiderlegte Argumente der Polemik zurückkommen, und auch hier dem abgedientesten Rationalismus verfallen. Sonst macht allerdings eine Wissenschaft wie die Theologie, die sich so leicht in einem starren Dogmatismus abschließt, Erscheinungen, wie das Leben Jesu von Strauß David Friedrich Strauß hatte in seinem Werk » Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet« (1835/1836) eine Unterscheidung getroffen zwischen der historischen Person Jesu von Nazareth und dem Christus des Glaubens; dabei wandte er das auf dem Gebiet der Altertumswissenschaften begründete und bereits zur Erklärung alttestamentlicher und einzelner neutestamentlicher Erzählungen benutzte Prinzip des Mythos auch auf den gesamten Inhalt der evangelischen Geschichte an, welche er als Produkt des unbewusst nach Maßgabe des alttestamentlich jüdischen Messiasbildes dichtenden urchristlichen Gemeingeistes deutete. Die inhaltlich Hermann Samuel Reimarus (siehe die vorige Anm.) nahestehende Schrift sorgte für unerhörtes Aufsehen., von Zeit zu Zeit nothwendig. Aber wie sich der Rationalismus von seiner Verachtung der Philosophie und der Pietismus zugleich von der der Kunst nimmer erholen, so haben wir um so mehr Grund auf die großen Kräfte der wiedererwachten Spekulation und auf die schönen Verjüngungen der Poesie hinzusehen, und darauf beruhen meine Erwartungen auch für Religion und Kirche, wie für die Wissenschaft, welche beide construirt.
Wir lassen uns nicht irre machen durch die, welche immerfort die Idee des Christenthums übersehen, diese großartige, diese Alles involvirende Idee. Wir können jenes Verfahren nur bedauern, welches selbst in einer Philosophie des Christenthums immer nur an der bisherigen Historie desselben haftet, und aus dieser bisherigen Erscheinung und der ihr nothwendig zufallenden Unzureichenheit über das Christenthum selbst ein zurückfallendes Urtheil fällt. Solche Angriffe gehen immer an dem Gegenstande selbst vorbei. Das Unantastbare, das Ewige des Christenthums, wodurch dasselbe erst alle besonderen Religionsgestalten möglich macht, liegt in dem, der Vernunft völlig adäquaten Enthaltenseyn des menschlichen Geistes in dem göttlichen, und so sehr ereifert ihr euch vergebens mit eurem unaufhörlichen Hinweisen auf andere Religionen, wie auf künftige Verhältnisse des Menschen zu Gott, daß in dem Princip des Christenthums, in seiner Idee, schon alle diese jetzigen und künftigen Momente vorhanden sind. Das Christenthum ist immer weiter als ihr. Es ist die kühnste Vorwegnahme.
Je mehr jenes Grundverhältniß des Menschen zu Gott, jenes allein wahre und vernünftiger Weise einzig mögliche, erkannt wird, desto mehr verbreitet sich die Kirche, die als Gemeinschaft der Geister in Bezug auf den Geist fortwährend sich verbreiten und überhaupt existiren muß, da das Gesellige, das Gemeinschaftliche schon in dem Princip des Christenthums enthalten ist: Gott und Mensch. Hier gibt es wohl scheinbare Unterbrechungen, aber keine wirklichen. Dadurch aber ist die Religion von vorne herein jeder bloßen Abstraktion enthoben, indem wir gleich in dem Grundverhältniß, gleich in dem primitiven Akt der Religion den Gottmenschen, Christus, haben; denn wir haben den Menschen unter dem göttlichen Gesichtspunkt, also das Verhältnis des Menschen zu Gott als Persönlichkeit. Deßhalb ist Christus der Grund, und es giebt keinen andern.
Es existirt überhaupt keine geistige Substanz, die in einem solchen Grade alles durchdränge und in ihrem Fortschritte so stetig wäre, als die Religion, versteht sich: die christliche. Daher fordert sie einen ununterbrochenen, einen organischen Cultus. Auch gehen wir durchweg einer höheren Entwickelung des Geselligen entgegen. Darauf deuten alle Institutionen und Unternehmungen des Staates, dahin so viele Vereine und Wohnstätten, die man der Kunst bereitet. Und die Geselligkeit in der Kirche sollte zurückbleiben? Ihr verkennt die Kirche. Sie ändert nur ihre Confessionen, ihre confessionellen Formen. Sie selbst ist ewig, und kehrt immer schöner in die Erscheinung zurück. Denn sie ist der offenbarende Organismus des Geistes schlechthin, gleichviel welcher Sphäre er dann besonders noch angehört. Daher ist das Volk, und die Ausgezeichnetsten in ihm, eben weil beide nie ohne Geist sind, für das in der Kirche Homogene auf die Länge am empfänglichsten, die zweideutige Mitte aber am schwersten zu überzeugen. Daher sehen wir, besonders in Deutschland, die Geister der verschiedensten kirchlichen Bekenntnisse und Formen, bei allen Differenzen, in der Tiefe des Geistes vom Genius geleitet doch oft ein stilles Uebereinkommen feiern. Es verklingen die confessionellen Abweichungen, wo es euch noch immer darum zu thun ist, sie schroff zu fixiren.
Ich verweise Sie besonders aus die Schriften des genialen Günther Anton Günther (1783-1863), österreichischer Philosoph und Theologe; hatte 1823 den Jesuitenorden verlassen und eine neue katholisch philosophische Lehre entworfen, die hauptsächlich in einer rationalen Begründung des Christentums und einer fundierten Anthropologie bestand. – 1857 wurden seine Schriften auf den Index der verbotenen Bücher der katholischen Kirche gesetzt; Papst Pius IX. verdammte in demselben Jahr Günthers Lehre (Eximiam Tuam). Günther unterwarf sich dem päpstlichen Urteilsspruch., der in der katholischen Kirche durch den aufgewecktesten Humor und die selbstständigste Spekulation vielleicht eine eben so seltene Erscheinung ist, als Schleiermacher Friedrich Schleiermacher (1768-1834), deutscher evangelischer Theologe, Altphilologe, Philosoph, Publizist, Staatstheoretiker, Kirchenpolitiker und Pädagoge; übersetzte die Werke Platons ins Deutsche und gilt als Begründer der modernen Hermeneutik. Theologisch versuchte er die Positionen von Rationalismus und Supranaturalismus, von im weiteren Sinne Kultur und Religion überhaupt zu vermitteln und darin über sie hinauszukommen. durch sein den verschiedensten Eigenthümlichkeiten aufgeschlossenes Weltbewußtseyn in der evangelischen. Es ist wahr, man sieht bei Günther überall das Dogma seiner Kirche die nicht zu überschreitende Grenze bilden. Man glaubt bei der Lektüre seiner Vorschule Vorschule zur speculativen Theologie des positiven Christentums (1828-1829). einen entlegensten Weltkörper zu observiren. Man erkennt einen festen gediegenen Kern, ein überraschendes Licht auf der Oberfläche, oft in den schönsten Farben spielend, Blitze in die dunkele Tiefe des reinen Aethers sendend, aber dadurch oft auch optische Täuschungen veranlassend; man erkennt eine gesetzmäßige Bewegung (Methode), man ahnet, dort müsse alles anders seyn als bei uns, andere Elemente, andere Atmosphäre, andere Bildungen, andere Intelligenzen; aber – man fühlt auch heimathliche Regungen, man fühlt die Geister eines dem Wesen nach stillen Uebereinkommens weben zwischen hier und dort, zwischen dort und hier.
Kurz, gebt uns nur Geist, recht viel Geist, die Geister verstehen sich schon, und die christliche Kirche wird sich in neuer Majestät erheben, und die verschiedenen Konfessionen in ihr werden nur seyn die einander suchenden und tragenden Stimmen der glänzenden Fuge, des großen Geisterchorals. Auch sagen wir es ausdrücklich, wer Religion haben will, ohne sich der Kirche mit seinem Glauben einzuverleiben, der prüfe sich, ob er nicht ebenso über dem Bodenlosen schwindelt, als derjenige, welcher einen Weltbürgersinn vorgiebt, ohne mit seiner Liebe einem Vaterlande anzugehören. Freilich aber: auch die Kirche soll sich nur aus der anzuerkennenden Freiheit der Geister auferbauen, und so sollten wir einstweilen besonders vom Protestantismus aus, der die Idee der Freiheit als sein besonderes Kleinod zu vertheidigen und geltend zu machen hat, auch vor allem das Beispiel der größten Freisinnigkeit geben, um theils die Vorurtheile gegen das Lähmende des kirchlichen Bandes zu vernichten, theils den Organismus der Kirche selbst zu erneuen, den Cultus zu verjüngen.
Meinen Haß gegen alles sich abschließende Parteiwesen kennen Sie von Alters her. Aber Sie haben nur zu Recht, daß derjenige in unserer Zeit oft der Verdächtigste wird, welcher sich zu keiner Partei schlägt, denn er wird sie alle gegen sich haben, er wird des feigsten Indifferentismus beschuldigt werden, und doch – Anerkennung des Christenthums als Weltreligion im Interesse der Gegenwart, ein unerschöpfliches, ein uns an den Füßen brennendes Thema, und doch – allein durch das Hinausgehen über jede Partei kommen wir im Gebiete des Geistes zur Einsicht in das Wesen und die geschichtliche Notwendigkeit einer jeden Partei. Die Parteien, so fordern wir von unserm Standpunkt, sollen selbst in der Bewegung nicht gegen sondern zu einander verharren. Sie sollen sich zu bloßen, obwohl freien Organen der, über alle Partei hinausliegenden Wahrheit oder viel sagender: Gottheit bilden. Sie sollen den Zweck eines zu Erarbeitenden als einen gemeinsamen anerkennen, und sollen in solcher Gemeinschaft einen mächtigen Organismus bilden, in dem ein Leben pulsirt, welches jenes Organische immer vollkommener ausprägt.
Man hört sehr häufig am Ende einer Debatte die Parteien erklären: wir streiten eigentlich nur um Worte, in der Sache sind wir einverstanden. Ich empfinde jedesmal bei dieser Erklärung einen heiligen Ingrimm. Es ist jene Erklärung ein Gemeinplatz der liederlichsten Art. Aber zu entschuldigen durch das Fehlen vieler Vorangegangenen, welche es zuletzt zu einer so ungeheuern Schuld gebracht haben. Warum habt ihr durch selbstisches Rechthabenwollen, durch eine fahrige, oberflächliche Willkühr die Sprache so verwildern lassen? Warum seyd ihr so gewissenlos oder doch wenigstens in eurer Angelegenheit so unklar? – Die Worte sind immer die Sache, und um eure Sache selbst muß es jämmerlich stehen, wenn eure Worte so leichtes Gewicht haben.
Es thut hoch Noth, wenn die Interessen der Religion, des Geschmacks, vor allem aber die der Wissenschaft nicht noch feindlicher und bloß feindlich auseinander fahren sollen, daß aus dem Gesichtspunkt einer Philosophie der Sprache (nicht einer Akademie, das leidet der Genius unseres Idioms nimmer) die wesentliche Einheit der Form und des Inhalts auch für die Sprache nachgewiesen werde, daß man das nicht Zufällige, sondern das Logische, Gesetzmäßige, das Consequente, in der Theorie und Praxis der Sprache, schlagend nachweise, und dem Schriftsteller, dem Sprechenden überhaupt, die Nachtheile vor Augen bringe, welche für den ganzen Fortgang der Civilisation in dem willkührlichen, von dem Gesetz abgerissenen Gebrauch der Sprache liegen. Die Eitelkeit, die Frechheit wird man dadurch nicht ausrotten, aber im Zügel halten. Wir haben es erlebt, daß Jünglinge und ältere Schriftsteller von sehr problematischem Beruf Angesichts der Nation von den preiswürdigsten Männern, die anerkannt ihr Leben der Idee gewidmet, gesprochen haben, wie von Irregewordenen, oder gar heuchlerischen Sophisten. Zu dergleichen Extasen der Arroganz kann es nur kommen, wenn die Eitelkeit in einem zu wenig bestimmten Gebiet der Sprachformen eine erwünschte Gelegenheit für ihre Anschwärzungen findet. Es ist, wie Sie mir zutrauen werden, hier von keiner Vorschrift die Rede. Das Genie bringt seine Sprache mit auf die Welt, es schafft erst den Styl, jede Eigenthümlichkeit schafft ihn sich, und bedarf, wenn sie lauter ist, keiner Verantwortung.
Nehmen Sie in folgenden Skizzen, verehrter Freund, eine mehr symbolische Zusammenstellung dessen, was im Obigen als Warnung und als Rath unserer Zeit gesagt seyn sollte.
Die Sprache hat ganz denselben, ja einen noch feiner ausgeprägten Accent als die Musik, dasselbe einschmeichelnde, süße, liebtreue Anschmiegen an das Gemüth, dieselbe Durchsichtigkeit und klingende Reinheit des Metalls, und dennoch dasselbe Unendliche des Geheimnisses. Wer, wie sie reizend und rührend den, in seiner Einsamkeit heimwehkranken Geist lockt, und wie er ihr folgt, um sich an ihre Brust zu legen zu endloser Mittheilung, da bebt er zurück, denn er hört, wie sie, die ihm Dollmetscherin des Unergründlichsten, Heiligsten, Reichsten seyn soll, selbst irre redet.
Mir schwebt eine Dichtung, ein Roman, eine Tragödie vor, von ganz eigenthümlichen Knoten und Illusionen. Gleichviel ob dergleichen schon in anderem Gehirn gekeimt oder der Same einer bisher ganz unerhörten Wunderpflanze ist. Giebt doch Begeisterung zu Allem den Freibrief, und Verstand kommt dem Dichter oft, wie dem Glücklichen im Schlafe. Aber welch' ein Pathos und Kampf, welch' ein Fatum und Untergang! – Der Held ist der Dichter selbst, der gewaltig begabte Sohn der himmlischen Götter, und doch zugleich ein Mensch, wie andere Menschen, und so zugleich Priester, denn er versöhnt mit heiliger Vestaflamme das Irdische mit dem Himmlischen. Aber – nachdem er alle Situationen eines bedeutungsvollsten Lebens durchschritten, nachdem er jede Lust und jeden Schmerz in sich gesogen, nachdem er seiner Sehnsucht, seiner Liebe mögliche Erfüllung, die Sprache, mit Entzücken begrüßt, in heiliger Umarmung seines innersten Seyns Inhalt der Geliebten zu offenbaren gedenkt, grinst ihm das Entsetzen des Wahnsinns aus dieser entgegen. Die Mittheilung stockt, das Feuer schlägt zurück, und in schmählichem Gram, in stummer Qual stirbt der Verlassene dahin. Und ob es sich auch an ihm erwiesen, daß das Ewige unaussprechlich, so hat sein Tod dennoch versöhnt, denn er eben ist diese Wahrheit.
Was nehmen wir den Mund so voll, meinen Sie, und sprechen von Weltliteratur, besäßen wir nur erst eine nationale. Und darauf werfen Sie gewaltige Fragen auf in Ihrem Briefe. Fragen, die übrigens meinem eigenen Denken und meinem eigenen Schmerze das Wort von der Zunge lösen. Nationalliteratur? Schriftsteller? Publikum? Schriftstellerisches Gewissen? Oeffentlichkeit? Zurückhaltung? – Hier drängt sich ein Stoff als Antwort entgegen, der mir unter dem schon so schweren Druck der Zeit den Athem vollends benimmt Gestatten Sie daher, daß ich mich sammle. Jetzt nur Präliminarien.
Wir haben von den verschiedensten Seiten her unserer Zeit den Vorwurf einer zu großen Rücksichtslosigkeit machen hören. Wir haben über sie die Anklage vernehmen müssen, daß sie ohne Bedenken Privatverhältnisse und Privatangelegenheiten vor das Forum des Oeffentlichen ziehe, und daß sie ohne alle Scham eine Schwelle überschreite, welche bis dahin von den Geistern der Familienpietät und der Menschenrechte aufs strengste bewacht worden sey. Wir können, wo dieses wirklich geschehn, unsern heftigsten Unwillen, unsern bittersten Tadel nicht zurückhalten. Wir sehen darin den eigentlichen Beruf des Schriftstellers so ganz verfehlt; den großen, über alle Privatinteressen weit hinausgehenden Zweck der Literatur so sehr gefährdet, und aus der Geschichte hinaus in die dumpfeste Winkelsphäre entrückt, daß wir ein solches Zumuthen, ein solches Unternehmen zur elenden Befriedigung eines lüsternen Neuigkeitsinteresses, außerdem der eigenen Gewinnsucht, in seiner ehrlosen Gemeinheit gern der Verachtung der Nation, der Ausstoßung in das Unverbesserliche übergeben wissen.
Aber wir dürfen auch eben so wenig unerwähnt lassen, wie sehr man sich in dem Fordern einer solchen Grenze ganz in das Extrem, in das Gefährliche hinein verloren hat, wie dadurch das in der neueren Zeit erst gewonnene Bedürfniß einer Nationalliteratur ganz wieder verleugnet worden, und der Gesichtspunkt für das, was überhaupt erst Literatur genannt zu werden verdient, völlig verschoben worden ist, geschweige daß man bei so beschränktem Treiben jenen Kreis auch nur noch im Auge hätte behalten können, welchen Goethe dem Streben der Schriftsteller als den umfassendsten auszumessen befiehlt.
Und doch – wer könnte den Begriff einer Literatur wirklich gefaßt zu haben behaupten, ohne sie zugleich als Gericht über jeden Einzelnen ohne Ausnahme zu denken, ohne ihr so sehr den Gesammtausdruck für den Bildungsbestand einer Nation zu vindiciren, daß nun auch der Einzelne, wiefern er überhaupt Geist genug gehabt, sich im Allgemeinen geltend zu machen, seinen Werth oder Unwerth in diesem nie schmeicheln sollenden Spiegel erblickt? Ja, hier hat Jeder sich zu stellen, falls er citirt wird. Auch soll ein Jeder daran denken, daß er citirt werden könnte. Hier ist das wahre Ehrengericht. Hier sitzt das Volk, hier sitzen die Völker zu Gericht, denn die Literatur ist, sinnet nach dem herrlichen, von Vielen vergessenen Ausdruck, Gottes Sache. – Hier also alle Frivolität, alle Gemeinheit, aber auch alle falsche Scham, alle Zimperlichkeit aus dem Wege. Hier Freiheit, aber vor allem keine Willkühr. So erst bekommen die Geister, was sie fordern, was sie mit Recht fordern, was Gott ihnen gewährt wissen will, eine würdige Sphäre für die Entwickelung ihrer Intelligenz.
Sollen wir wirklich in den Besitz einer Nationalliteratur gelangen, und zwar nach der hohen Bedeutung, wie es einer so bildungsfähigen, selbstständigen Sprache, eines so glänzenden Cyklus classischer Werke allein würdig ist, also einer Nationalliteratur, die nicht bloß in dem Bewußtseyn eines einzelnen, gebildeten Mannes, eines ausgezeichneten Gelehrten über den Betrag sämmtlicher, vaterländischer Sprachschätze besteht, sondern einer solchen, die sich vielmehr darin erweist, daß sich von den verschiedensten Seiten her weniger die Bestrebungen, als die Ergebnisse, die Früchte in das Gesammtbewußtseyn der Nation absetzen, und, aus der Blüthe des Lebens entsprungen, in der Nation lebendig fortdauern, sich weiter erzeugen, so muß, bei der, dem Deutschen zur Ehre gereichenden Gründlichkeit und Tiefe, bei dieser Neigung nie bloß zu tändeln, sondern den, zuletzt überall Recht behaltenden Ernst des Lebens mit Gemüth und Heiterkeit zu erfassen, der Schriftsteller selbst demgemäß verfahren, eine dem angemessene Stellung nehmen.
Schriftsteller! Wie süß klingt vielen dieses Wort, wie lockt es mit Versprechungen ihre Eitelkeit! Glaubt ihr aber, daß es euch so leicht gemacht werden soll? Daß ihr mit eurem Bißchen Mutterwitz, den ihr in die Farbe der Mode taucht, dem ihr die Sprache der feinsten Manier anlehrt, und dabei etwa mit vieler Gelehrsamkeit, gelingen werde, die Nation zu durchdringen? Und hier hatte ich mich nun, theuerster Freund, auszulassen über die inhaltschwere Idee: des schriftstellerischen Gewissens, welches seit einiger Zeit bei einigen ungemein zu schlummern scheint. Doch hierüber, so wie über das Publikum in einem künftigen Briefe.
Wie sehr habe ich es zu bedauern, daß ich manchen Augenblick vorübergehen lasse, von dem ich Ihnen ein ganzes Tonstück hätte setzen, und mit den mildesten, süßesten Klängen aus meinem Seelenleben hinüberspielen können, denn an dem Leidenden geht es manchmal in Erfüllung, wie die Schrift erzählt, die Engel dienten ihm, und erfrischten ihn nach der Hitze seiner Leiden.
Etwas Nomadenartiges, Abenteuerliches hat immer ein solches Leben. Aber wie ergiebig für den, der irgend die Poesie des Daseyns unmittelbar aus sich selbst zu erzeugen vermag. Man wird draußen viel mehr mit den Seinigen, mit der ganzen Umgebung zu einem Wesen, und der urweltliche Zauber und Reiz eines patriarchalischen Stilllebens schließt sich uns auf.
Wenn man noch so unberührt wäre von manchen Ereignissen, noch so ungeknickt in seinen Erwartungen, und alle die gewaltigen, lichtenden Gedankenzüge gingen noch einmal vorüber, die damals mit so ungelähmter Zunge sich offenbaren konnten, als ich mit Ihnen einige Wochen hier lebte, – helfen Sie mir unterdrücken, aussöhnen den Schmerz: bei aller Erinnerung an eine reich erlebte Welt des Geistes nun doch in der Literatur so manche Entwicklung aufgehalten, so manche schon im Keimen genossene Frucht sich verspäten zu sehen! Doch lassen wir das. –
Mir haben sich aus jenen geselligen Tagen besonders zwei Situationen eingeprägt, an welche sich noch immer ein inniges Wohlseyn knüpft. Einmal, wenn ich während der längsten Tage spät des Abends am Ufer stand, und nun in den Pausen der leisen Brandung aus weiter Meeresferne der Gesang der auf den nächtlichen Fischfang Ausgefahrenen herüberscholl, und dann ein Gespräch – vielleicht von ähnlichem Schwung und tiefster Weihe, wie Augustinus es mit seiner Mutter gehabt – in später Jahreszeit auf dem Balkon des Hauses, während die See in geheimnißvollen Wellenstößen grollte, und der klarste Sternenhimmel über der Tiefe ruhte.
Dieß wunderbare Accompagnement der Natur zu unserm Gedankenspiel, zu unserm tiefsten Graben in der Tiefe der Dinge!
Für ein solches Verhältniß des Geistes zur Natur, für ein solches Sie-Belauschen in ihren schönsten Momenten, und gemeinsames Ausschließen ihrer großen Mysterien haben noch wenig Menschen Sinn. Und selbst Forscher trieben ihr Geschäft viel zu profan, und nisteten sich viel zu sehr ein in ihr Stubenleben, und selbst Dichter waren es noch zu sehr mit der Feder in der Hand, und erlebten viel zu wenig am Sturz der Woge selbst, oder am Krater des Vulkans, und liebten immer nur die Wärme der Behaglichkeit, nicht den Schauer und Schwindel der Gefahr, als daß sie uns mehr als artige Combinationen, idyllisch-fromme Handzeichnungen hätten geben können. Die Alten und Shakespeare, gewiß auch Byron, müssen anders gewesen seyn, viel mannhaft-stärker und dennoch zarter, viel abgehärteter gegen rauhe Lüfte, und liebeglühender nach den verhüllten Reizen der Natur, nach geheimnißvoller Brautnacht, aus welcher Leben hervorgeht.
Nach der Seite der Natur wird sich bei den ungeheuern Vorarbeiten, worin wir weit über die Alten hinaus sind, die Wissenschaft sehr bald unendlich erweitern, und es scheint, als werde hier ein Fortschritt zunächst von der Philosophie als nöthig erachtet werden, um, wie die andern Disciplinen, so auch jetzt die Naturphilosophie gleichsam bewaffneter und lebendiger zu erfassen, und auch der Hegelsche Standpunkt muß noch zu neuen Resultaten führen, denen er bis jetzt vielleicht noch wenig Zugeständnisse machen wird.
Das Unendliche der Natur wird schwerlich Jemand leugnen können, der sich nur wahrhaft ihrer Betrachtung hingegeben hat, wenn auch freilich dieses Unendliche des Geistes ist, wie sie selbst des Geistes d. h. vom Geiste ist; und Mundt hat sich in seiner stark aufgetragenen Verachtung der Natur zu Gunsten der Geschichte Dies ist im Wesentlichen auf »Madonna. Unterhaltungen mit einer Heiligen« (1835) gemünzt; Mundts literaturkritische Werke aus dem Jahr 1837 »Charaktere und Situationen. Vier Bücher, Novellen, Skizzen, Wanderungen auf Reisen und durch die neueste Literatur« und »Die Kunst der deutschen Prosa. Aesthetisch, literargeschichtlich, gesellschaftlich« werden, da sie in demselben Jahr wie Jungs »Briefe« publiziert wurden, vermutlich nicht die Grundlage dieser Äußerung sein., als deren geschickten Anwalt er sich zeigt, wohl nur ein für alle Mal mit jenen gefühlvollen Seelen auseinander setzen wollen, welche bei jedem Maiglöckchen nur fühlen, wie gefühlvoll sie selbst sind.
Sonst hat allerdings auch das Gemüth ewige Rechte, und läßt sich die Natur weder verflüchtigen noch zurücksetzen. – Wer wälzte schon wahrhaft den Stein von jenem Geheimniß in Betreff des Gebundenseyns der geistigen Gegenwart an irgend eine räumliche und sogar materielle? Wer deutet, wie die Natur in der Gegenwart irgend einer ihrer besonderen Manifestationen sofort der schnellste Leiter des Gedankens wird, um den Geist in irgend eine Ferne so lebhaft zu versetzen, daß ohne solchen Leiter die kühnste, glühendste Phantasie erlahmt und erkaltet? Hier ist der Punkt, auf welchem alle Materie in ein wahrhaft bräutliches Verhältniß zum Geiste tritt, wo der empfängliche Mensch ähnliche Eindrücke erhält, wie der liebestrunkene Jüngling, der zum ersten Mal mit seinem Fuß den Fuß der Geliebten berührt. Wer statt schaalen Brunnenwassers plötzlich einen Becher Wasser aus dem atlantischen Meere, statt gemeiner Gartenerde ein Stück Chimborasso oder ägyptischer Pyramide vor sich hätte, der würde sofort das Einschlagen der Materie in den Geist wie Blitz in der weitesten Ausdehnung empfinden, und gestehen, daß hier Ergebnisse möglich, ja sicher sind, die wir bis dahin noch immer als Wunder bezeichnen müssen, hinter denen sich eine unendliche Welt erschließt, die aber nicht etwa bloß, nach Kerners Justinus Kerner (1786-1862), deutscher Arzt, medizinischer Schriftsteller und Dichter. Um ihn und Ludwig Uhland hatte sich in Tübingen 1805-1808 die sog. ›Schwäbische Dichterschule‹ gebildet. Von den 1820er Jahren wendete er sich auch spiritistischen, okkultistischen und somnambulistischen Fragen zu und veröffentlichte Bücher darüber. Vorstellung, in die unsrige hereinragt, sondern selbst in ihr schon vorhanden ist. Man muß indessen, wie gesagt, mit der Natur umgegangen seyn, man muß mit ihr die Abenteuer einer wahrhaft romantischen Poesie und Liebe bestanden haben, um Vieles in ihrem Gebiete als vorhanden zu wissen, von dem sich Schulweisheit und Kunsttheorie oft nichts träumen lassen.
Einige Astronomen würden nicht so seltsam-kleinstädtisch gefabelt haben über das Analogen anderer Weltkörper mit dem unsrigen, wenn sie neben dem Calkul auch wirkliche Produktionskraft des Geistes besessen, und vor lauter Offenbarung Gottes in dem unendlichen Raum Gott selbst nicht hätten übersehen wollen.
Vielleicht entgeh' ich abermals einer starken Erschütterung des Gemüths durch die Zeitumstände, indem ich mich schnell zu einem Brief' an Sie entschließe. Ich glaube an eine wahrhaft erlösende Kraft des Wortes. Aber ich bedarf dazu immer mehr der Feder, und bedarf dazu eines hochherzigen Geistes, der Alles hinzunehmen und zu ergänzen weiß. In der mündlichen Darstellung unserer Gedanken verlassen uns bei gewissen Stimmungen nur zu leicht Kraft und Gewandtheit, und nur nach langen Zwischenräumen kehrt einmal wieder der volle, stattliche Strom unserer sonstigen Rede zurück, wo er dann uns und die Umgebung mit einer beinah stürmischen Gewalt ergreift und dennoch nichts Verheerendes hat, sondern unendlich befruchtet. Ich habe das noch in diesen Tagen erfahren. Zuerst was mein gegenwärtiges Leben betrifft. Ich freue mich hier doppelt, an den zu schreiben, der noch ganz andere Vorgänge zwischen Natur und Mensch aus Erfahrung kennt, als da vorkommen mögen, wo man sich auf eine sehr beschränkte Weise bei der Natur zu Gaste bittet, gleichviel, ob im Freien seinen Caffee zu trinken, oder mit gelehrter Miene für die botanische Kapsel zu sammeln.
Ich habe während meines Hierseyns Genuß und Nutzen bei der Natur zu suchen verschmäht, und glaube doch, daß mir das alles von selbst zugefallen ist, aber ich habe bei ihr in einem Gottesdienste höheren Styls gelebt, und unter Schmerz und Kampf nie unterlassen können, das Auge aufzuschlagen nach den Größen, welche sie allein vorzuführen vermag, und habe das Auge geschlossen, und habe sie selig vorüberwandeln gehört im Rauschen ihres Meeres.
Wer könnte Menschenfeind seyn gerade in solcher Einsamkeit? Wer wünscht dann nicht im Gegentheil alle Menschen herbei, besonders die liebsten, um nicht bloß seine Gedanken als Auslegung, als Entdeckung zu haben, sondern auch die der andern. Die Ausführung dieser vielbezeichnenden Stelle fällt in der künftigen Zeichnung einer höheren Geselligkeit in jenes Capitel, wo von Vereinen zu Expeditionen in ferne Gegenden gesprochen werden soll, von Vereinen, welche jetzt vielleicht nur in romantischen Epen erhört wären, für welche aber die Menschheit auch bedürftig und reif werden wird, Vereine, welche wandernde Volksfeste seyn werden, an denen einmal im kurzen Leben Theil genommen zu haben ein für alle Mal den Geist lüften muß zu ewigem Erjauchzen über die Herrlichkeit des Daseyns, Vereine, von denen die Griechen in ihren wonnigen Zügen des Bacchus auch schon eine Ahnung gehabt, und die dann wieder aufblitzten in den Wanderungen nach dem heiligen Grabe, die aber glänzender, Natur und Geist umfassender wiederkehren werden, wenn die Natur in ihrer Bedeutung und Schönheit tiefer erfaßt seyn, wenn den Aufschwung einmal einem Jeden zukommen zu lassen Sache und Pflicht des Staates seyn wird, den erhabenen Aufschwung, dem sich die Gallerieen der Erde eröffnen, der dem einzelnen Menschen ein Bewußtseyn verleihen wird von der Größe und Bedeutung seines jetzigen Schauplatzes, und wie er, der einzelne Geist, nothwendig mitzählt im unendlichen Reigen, Vereine endlich, die so weit entfernt sind von allem, was jetzt etwa Geselligkeit in der Natur genannt werden dürfte, wie dasjenige, was einst welterobernde Mission des Christenthums seyn wird, von dem erst Beginnenden und noch Partikulären verschieden ist, was man schon jetzt Missionsgeschäfte des Christenthums zu nennen sich gewöhnt hat. Dergleichen Vereine werden, als Cult, in durchaus religiösem Sinne unternommen, auch der Wissenschaft und Kunst Quellen eröffnen, die nicht mehr so sparsam und trübe fließen wie heute, und werden, indem sie Arbeit und Genuß zugleich gewähren, auf eine viel menschenwürdigere Weise die Zeit ausfüllen, Mühen und Abenteuer bringen, als der Krieg mit seinen unmenschlichen Unternehmungen gegen den Menschen.
Diese Geselligkeit in der Natur wird unter der Hand eines künftigen Napoleons des Friedens ganz andere Felsen noch sprengen, Canäle graben, Länder erobern, Völker bändigen, als unter dem kriegerischen geschehen, wenn man auch hier an die ewige Idee jener Goethischen Novelle vom Kinde und dem Löwen denkt, und wir werden erschrecken vor Freude, wenn es uns vergönnt seyn sollte, einen Blick zu thun auf die dann erst zum Reiseleben und Weltverkehr und freien Aufathmen jedes einzelnen Menschen geeignete Cultur des Planeten. – Doch – ich erschrecke schon jetzt über die weitbauschige Reflexion, zu der sich mir ein stilles, verschwindendes Plätzchen am Saume des gewaltigen Meeres ausgesponnen hat.
Die Abgründe des Geistes, welche nicht leer sind, sondern zu unendlichen Gedanken zusammengeballt, sind die Abgründe der Welt selbst und ihrer unendlichen Phänomene. Daher kann man leicht an jeglicher Stelle der Erde zum Stehen gebracht werden, zu Tage und Nächte langem Stehen, wie der doch sonst so praktische Sokrates, um in stiller Beschauung die Welt zu erobern, in ihrer Schönheit sich selbst zu verklären.
Was müßte das für ein Leben seyn, bei so großer Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, wie ich sie dieses Mal an den Buchten des Meeres gehabt, in unmittelbarem Umgange mit Ihnen das alles frisch durchzusprechen, augenblicklich auszutönen. Mit Ihnen, denn – auch solche Weisheit ist baare Thorheit den Kindern der Welt.
Zuerst dieser Morgen über der See, wie ihn nie Ioniens weicher Himmel weicher gedichtet! Alles Daseyn, auch das verständigste, muß Gott sey Dank wieder zurück in den Ursprung des Einsseyns von Wahrheit und Schönheit, von Wissenschaft und Poesie. Die älteste Verschmelzung dieser Hauptrichtungen des Geistes, wie sie bei Orpheus, Homer und Hesiod sich vorfindet, wird auch wieder die letzte und die allein ewige seyn, obwohl in erhöhter Potenz. Ich studire die Geheimnisse des Wassers. Ich verstehe sie.
Die ganze Mythologie eines schauerlichen Wolkenhimmels, welche gestern das Meer ausgeworfen hatte, ist verdampft, und hat sich als mildernder Duft gelegt um die Formen der Landschaft. In der schönsten Verwirrung erkennt man die schönste Vereinigung. Alle Elemente der Schöpfung sind heute zu einander gekommen, und haben die Rollen getauscht. Das Meer ist kühn über die Ufer getreten, und spielt in unübersehlichen Wogen der Kornfelder weit in das Land hinein. Die Länder haben sich weit in das Meer verloren, Millionen bunter Steine und Steinchen bahnen eine lockende Kunststraße nach Schweden hinüber, weit laufen die Hügel als Berge hinaus, die Wälder blähen und dehnen sich unten gedoppelt, ja Vögel und Schmetterlinge fliegen im tiefsten Grunde der See. – Aber die Räume der Luft, die Häuser des Himmels sogar hat die Gigantin, das Meer, erstürmt, und breitet das luftige, blaue Gewand weit aus über den Thron des allen Uranos Uranos (›Himmelsgewölbe‹) stellt in der griechischen Mythologie den Himmel in Göttergestalt dar und herrscht in der ersten, vorolympischen Göttergeneration über die Welt., und stößt ihn hinab, und der Alte liegt nun dort im Bette des Meers mit dem glänzenden Gefolge seines Hofes, neben ihm der strahlende Sonnengott mit dem feuchtgewordenen Blick', und das himmlische Heer zahlreicher Gestirne, wie funkelnder Goldsand.
Doch reicht das Auge denn aus zum Verständniß der Welt, selbst da, wo sie sich verklärt hat bis zur Idealität des Wassers? Es kommt nur auf die Stellung an, welche wir nehmen, um keinen der Sinne mehr bloß als thierisches Saugorgan zu fühlen, sondern jeden als Leiter einer höheren, geistigen Elektricität, dem eine ganz eigenthümliche Poesie und Aneignung der Wahrheit zusteht.
Das Ohr wird neben dem Auge noch am besten gewürdigt, indem es wenigstens durch Musik und Sprache so cultivirt ist, daß es dem Geiste zur unendlichen Vermittelung gereicht, obwohl auch das Ohr sich noch viel zu wenig auf das Bedeutsame und Vielsagende des Naturlautes versteht, dieses Geistes über den Wassern der Schöpfung.
Aber Geschmack und Geruch? Wer versteht sich schon recht auf eine umfassendere Funktion dieser beiden? Wer traut dem Gaumen eine Anempfindung, ja Reproduktion großer Welteindrücke zu, eine Zersetzung der heterogensten Stoffe, welche in die geheimste Werkstatt der Natur versetzt?
Und die Nase? Die arme Nase hat fast das unwürdigste Schicksal gehabt. Man hat ihr höchstens, ungeachtet ihres arroganten Hervortretens, als Symbols einer schlechten Weisheit, die Möglichkeit einer schönen Form gelassen, und hat ihre Knochenstrebung bald eine griechische bald eine römische genannt, aber wie streng hat man gerade an ihr das Sichstecken in Alles gerügt, wie schnöde sie in die dumpfesten, thierischen Schranken zurückgewiesen! Und doch wird unsere junge Literatur auch nächstens in diesem Sinne von einer Emancipation der Nase sprechen, und wird durch etwas in's Komische spielende Uebertreibung diesem ehrwürdigen Gliede des menschlichen Körpers eine Anerkennung bahnen helfen, die es sich selbst dann im Ernste durch Thaten erwerben wird.
Man braucht sich vorläufig nur auf die anmuthigen Lieblingskinder der Nase, auf die Blumen, zu beziehen, um die sonst paradox genug klingende Möglichkeit, ja Nothwendigkeit einer Poesie der Nase bei der hartnäckigsten Intoleranz einzuleiten. Habt ihr noch nie in den Wellen der Lüfte gebadet? Nie, von Düften getragen, auf fernen Gewürzinseln genascht und geschwelgt? Hat euch nie das Meer, wenn seine Nebel als frische Morgenopfer emporrauchten, seine blauen Wogen wie Veilchen-Beete dufteten, vergegenwärtigen können, wodurch die Götter eigentlich ihr seliges Leben sich erhalten?
Ich wenigstens muß die Versicherung geben, daß ich das deutliche Auftauchen fernster Räume und Zeiten, die imposantesten Gestalten und Situationen der Geschichte und des eigenen Lebens, Napoleons Züge nach dem Kreml der Czarenstadt in Mitte der glänzenden Adler und Bajonette, das reizende Detail einer Romantik der eigenen Jugend mit dem ganzen Farbenschmelz dieser früheren Tage oft bloß dem Organ der Nase verdanke. Wie unzählige Gräber deckt schon allein der Harzgeruch des Waldes wieder auf!
Aber auch von der Wissenschaft wird die Nase in ihre Rechte eingesetzt werden. In der Metereologie zum Beispiel wird ihr eine weitreichendere, feiner messende Rolle zu spielen vorbehalten seyn, als irgend dem Barometer oder Thermometer gelungen. Sie wird die Gewitter wittern, sie wird durch ihr nicht zufälliges Hinausragen in die Atmosphäre weiter langen, als alle Expeditionen nach dem Eise des Nordpols.
Und was endlich das Gefühl betrifft, so ist von diesem Sinne eine so vollkommene Eroberung des Universums zu erwarten, daß sich von seiner einstigen Entfaltung aus eine völlig neue Aera datiren wird. Das Gefühl ist seinem Wesen nach der umfassendste Sinn, weil er der allgemeinste ist. Welcher andere Sinn hätte ihn nicht? Und dennoch ist er auch als besonderer anzuerkennen. Seine Nerven vibriren am ganzen Organismus. Alle Sinne, der ganze Organismus wird einst Gefühl werden, aber nicht thierisches, sinnliches, sondern intellektuelles. Der Magnetismus beweist dieses als nicht zu leugnende Thatsache, wenn auch dessen Einzelnheiten noch sehr problematische Sätze sind.
Ueberhaupt von dem Zusammen der Sinne, in ganz anderer Weise als bisher, Gebrauch zu machen, wird Welten entdecken lehren, wo jetzt nichts zu seyn scheint, und wird den einzelnen Menschen, selbst beim völligen Entbehren eines oder mehrerer Sinne, immer noch frei und reich bewaffnet seyn lassen.
Mitten im Schmerz ist es ja süß, das sterbende Leben in Gedanken dem Freunde aushauchen, wie der sterbende Schwan in Tönen dem lauschenden Dichter.
Ich weiß nicht, ob mich gestern die See so groß gemacht, so kühn und sanguinisch, so kindisch-ungeduldig, so dreist-vermessen im Ausdruck. Aber ich fühl's immer, wie den Herzschlag des All's, wenn ich an ihrer Bläue liege, an dem Schnee ihres üppigen Busens, wenn ich höre den epischen Rhythmus ihrer uralten Kosmogonie, ha! wenn ich hochstehe, wie gestern, auf dem wilden, äußersten Geklipp, wo ihr feuchter Blick mit meinem Auge buhlt, zu stürzen mit dem Erdfall in ihren Schooß, in den Abgrund der Welt, zu heiliger Berührung!
Wem fällt bei allem Erhabenen, Schönen nicht immer Assimilation desselben ein, Assimilation zu wahrhafter Erhaltung und Dauer! Darum macht Musik mehr als Anderes süß-melancholisch, weil sie schneller als Anderes flieht und Entflohenes vorüberreißt, darum macht sie heimwehkrank bis zum Tod. – Dieß Draußen und Unterschiedenseyn, dieß Außereinander und Uebrigbleiben, statt Ineinander und Einsseyn, sägt das festeste Herz doch noch auseinander, und darum – sterben wir Alle! – Daher möchte man das Meer jedes Mal austrinken, so oft man es sieht, bloß um dieß Pseudo-Unendliche und doch sirenenhaft Unendlichkeit Vorgaukelnde, dieß Gewaltige, welches sich dennoch an uns als Schranke lieblich bricht, und selber uns Schranke wird, in einem seligen Zuge sich anzueignen, und so immer weiter dringend und aneignend, je erhabnere, schönere Mächte, um so inniger, das wahrhaft Unendliche durch Aneignung zu produciren.
Keine Krankheit, kein Wehgefühl des Menschen ist so sehr ein Abbild, ist so sehr ein tiefsinniges Konterfei alles Katzenjammers der Erde, aller Impotenz des Mannes dem üppig schönen Weibe der Welt, wie des Weltmeers, gegenüber, als die Seekrankheit.
Und wie verlieren sich Lust und Unlust, Riesenstärke und Zwergohnmacht hier in einander! Menschen, wie Byron und Napoleon, mußte nie leichter, nie selbstgenügender zu Muthe seyn als beim Anblick des Meeres, beim Besteigen dieses Zukunft verheißenden Brautbettes, beim Hineinsinken in diese schwellenden Wellendaunen, und die Engländer haben wohl nicht vermuthet, was sie dem noch gewährten, dem sie die Welt entrückt und das Weltmeer gelassen. Tausend Andern indessen vergeht freilich schon die Luft, wenn sie nur sehen, daß wirklich die Erde ein Ende hat, daß plötzlich der träge, sklavisch sich unterwerfende Boden, auf dem sie sich angesiedelt haben, abreißt, und so sehr hat diese Schwächlinge der schläfrige Gang des Geschäfts und des Endlichen eingelullt, daß nichts Neues auftauchen, daß nicht einmal die Fata Morgana des Unendlichen sie stören, sie aufscheuchen soll, vielweniger das Unendliche selbst.
Die Gespenster, um nicht zu sagen Geister der Bornirtheit, des Aberglaubens, der Gewissensangst sind immer in dem Gefolge einer so kindischen Wasserscheu vor dem Unendlichen. Poesie? Was soll Poesie, wenn sie nicht als wandernde Musikantin aufspielt, während die gnädige Herrschaft bei Tafel das Diner einnimmt, wenn sie nicht nach Tische als abgegriffenes Leihbibliothekbuch den verdauenden Zahnstochern in den feisten Schlaf versetzt! Keine Ahnung einer Ahnung im Traume von einer Poesie außerhalb des Buches und der Coulissen, ja sogar außerhalb des Menschen selbst, von einer Poesie, welche um die Welt als äußerste Atmosphäre liegt, auf die Körper befruchtend thaut, als Woge brandet, am Granit der Erde zehrt, in ihrem Spiegel die Welt noch einmal, und schöner, vollendeter zeugt!
Aberglaube, Gewissensangst! Hätte die Menge nicht sicher ein viel größeres Geschrei erhoben, als neulich die Zeitungsnachricht ankam, das Individuum höre mit dem Tode auf, wenn nicht die stets zum Pulsschlag accompagnirende Stimme des Gewissens dadurch weniger Nachhalt bekommen, wenn nicht bei der Versicherung, auch der Geist sey kein Perpetuum Mobile, plötzlich dem niedrigen Schlemmer die Vorstellung von einem ewigen Stillstand ordentlich erhaben geworden, da er schon ängstlich berechnet, ob auch nur unzähliche Unterlassungen, geschweige Vollziehungen, die Folgen haben dürften, ihn drüben eben so warm des Glückes lieber Sohn zu betten als hüben?
Aber rechnet nicht auf den Zufall! Dieser ist nur die geniale Phantasie des ewigen Gottesgesetzes, welches die Welt und uns regiert, und dem wir Rede zu stehen haben durch ein treu und standhaft fortgeführtes Leben.
Wer hätte übrigens nicht unzählige Gedanken auf dem Herzen über diese wunderbare, Geister säende Hand Gottes, über das, was Zufall im schlechtesten Sinne scheint, und göttliche Phantasie im edelsten ist, über dieses naiv-schalkhafte Spiel der Natur, dem Einen zeitlebens einen Höcker aufzupacken, und dabei sorgenloseste Selbstgenügsamkeit eines verliebten Narcissus, dem Andern an steiler Meereswand das ungeheuere Welträthsel selbst, woran er zeitlebens kopfzerbrechend käut.
Ja, da hätte ich das Meer wieder zu Gesicht, und mein Brief mit seinen Unterbrechungen, Abschnitten gleicht ganz dieser Fahrt an den Dünen des Meeres mit diesen Abwechselungen, Ausschnitten, die mir immer wieder das ewige Meer mit seiner lockenden Bläue vor das Auge schieben.
Die Menschen sind oft so fein gesittet und artig, so gebildet und anstandsvoll, daß man gar nicht weiß, wo ein Unterkommen finden unter dieser wohlconditionirten Brüderschaar, welche kein Herzweh kennt. Wem wurde nicht schon weh unter ihnen, daß aller Anstand ihn verließ, daß sein, dann riesenstarker Geist hinaufschrie an den alten Dom, und es schien, als wolle der Himmel sich ergeben, sich neigen. Auch neigte er sich.
Das Meer muß Jeden, der nur Geistesaugen hat zu sehen, überzeugend belehren, daß wirklich der Himmel, die Seligen, die Götter in den Zwischenräumen der Welt wohnen, wie etwa die feinsten, die schmerzauflösendsten Schönheiten zwischen den Zeilen eines Gedichts. Was wird hier? Nichts. Was vergeht hier? Nichts. Was geschieht hier? Nichts. – Und doch – wer vorgiebt, hier sey auch in Wahrheit Nichts, weil er Nichts hört, nichts sieht u. s. f., und behauptet den Homer gelesen zu haben – schlagt ihm das Buch um die Ohren, und stempelt den Schulbuben mit einem E – damit er in kein Museum gelassen werde.
Der Liebreiz, dieser Verräther der Schönheit, ist nie en face, immer nur en profil zu sehen. Eine entfliehende Schöne ist unwiderstehlich, entzückend. Sie erobert gewiß, indem sie entflieht. Dieses ist der Nacken der Venus beim Virgil. Der ganze Silberblick der Schönheit schlägt auf und ein, indem sie sich wendet, die volle, vollendete Gestalt ist sichtbar geworden. Der Verfolgende selbst muß hier sich ergeben.
Am Entfliehen verräth auch die Welt ihre Schönheit, ihre – Ewigkeit. So daß sich an der Vergänglichkeit, an der Bewegung vermittelst des Liebreizes die Schönheit offenbart, welche immer Ruhe, aber nicht bloß Ruhe, sondern Ruhe der Bewegung ist. Aphrodite, die aus dem Wellenschlage, aus dem Schaume des Meeres Geborne.
So oft durch Eindrücke der Natur, oder der Kunst dergleichen Reflexionen in uns hervorgerufen werden, so finden wir darin stets Fingerzeige auf das Vorhandenseyn einer Welt, in der wirklich nichts mehr wird, weil alles Mögliche schon geworden ist, und doch ist dieses Seyn das gerade Gegentheil von Nichts, von Tod, aber auch freilich von roher, finsterer, chaotischer Masse, von der martervollen Unruhe des Lebens. Anschauung ist das Organ. Anschauung ist und bleibt dafür das rechte Wort, wie die Bibel es nennt.
Wer sich zu vertiefen, zu verlieren weiß in die sonnige Stille, in den duftigen Sammetschmelz einer Landschaft, die sich im Wasser spiegelt, in den auferstehenden Götterkreis eines zerrissenen Wolkenhimmels, wo alle die kecken Träume, welche je Dichter träumten, leibhaftig werden, wo spielende Engel mit Lockenköpfen und ringende Riesen mit Herkuleskeulen, dazwischen Guirlanden von Blumen und Drachen, golden den Himmel durchschiffen, und gar das Unterirdische durch Spiegelung sich reflektirt; wer sich hinausversetzt weit in das Meer, und doch sich selbst vor allem als Beobachter vergißt, wenn still die Nacht, lau die Luft, glatt die See, wenn der Himmel nackt mit allen Sternenaugen sich selber sieht, im Meere sieht, wenn das unendliche All durchsichtig, und ungeachtet der Nacht – Licht geworden, der weiß was hier gemeint ist. So schmeichelt alle Kunst, alle Poesie – der Wirklichkeit, und ist selbst, aber höhere, Wirklichkeit. So idealisirt sie, und muß idealisiren.
Das ist das Zwiegespräch, welches allerdings der Weltgeist ewig selig mit sich selber fuhrt, oder vielmehr mit der Welt. Dahin eilt alle Geschichte, alles Werden, Entstehen und Vergehen, zu dieser Sättigung, zu dieser Hinwegräumung alles dessen, was als Objekt immer noch dem Subjekt ein Anstoß, ein Dunkles, ein Unangeeignetes bliebe, ihm gegenüber bliebe.
In diesem Sinne hat Menzel Recht, daß die Geschichte mit einer allgemeinen Zerstörung enden werde (obwohl er es wahrscheinlich ganz anders genommen wissen will). Aber die Hand der heiligen Natur allein führt diesen Proceß, um aus dem Vergänglichen das Ewige zu gewinnen, und führt ihn alle Tage fort, und die Menschheit wird sich nie mehr in Barbarei verlieren, und Niemand hat dabei einen andern Beruf als den, durch Herausarbeitung des eigenen Geistes eine geweihete Schaar bilden zu helfen gegen die allgemeine Verwilderung. Wenn dann die Natur einschreitet und die Existenz abbricht, gleichviel eines Individuums oder eines Volkes, so ist dieser Akt derselbe, durch welchen sie uns zugleich über sich selbst hinaushebt. Zerstörung zur Aneignung. Und dieser Geist der Aneignung, der Assimilation ist es eben, der uns oft beim Meere, beim Erhabenen, beim Schönen ergreift.
Zeder hat zwar Grund zu behaupten, wenn anders in der Natur, in der Kunst die oben bezeichnete Feier vorkomme, hier geschehe Nichts. Nur glaube er nicht mit der Geschichte auch das Wissen des Geistes wie der Geister um eine solche Feier, das Sich-Sonnen in einer solchen Ruhe der Schönheit leugnen zu können.
Es heißt sehr bedeutungsvoll, und Gott sahe, daß Alles gut sey, was er gemacht hatte, und es war Sabbath, und er ruhete sich.
Diese künftige, ununterbrochene Ruhe predigt in erhabener Zunge auch das Meer, und zeigt schon jetzt im Liebreiz seiner Bewegung die künftige Schönheit aller Bildungen, zu denen es unermüdet ansetzt und gelangt.
Da wäre man denn auf's Neue zurückgekehrt in die verhüllenden Nebel der Stadt, in das ewig rasselnde Kehrwieder der Straßen. Aber selbst dieses Pochen und Hämmern, dieses Rollen und Murmeln gilt mir immer noch als ein liebes Nachbrausen des Meeres. Wird es nun schweigsamer zur Nacht, und höre ich den Sturm von Zeit zu Zeit über die Dächer sausen, so wird mir vollends wohl, denn ohne alles Regen und Weben des Ursprünglichen, des waltenden Naturgeistes, in dieser bloßen Convenienz des Hergebrachten, hinter diesen künstlichen Jalousieen, die mir jedes Wetterleuchten, jedes Aeugeln der Sterne verdecken, vermag ich niemals heimisch zu seyn.
In diesen Tagen kam irgendwo das Gespräch auf Werner, jenen eigengearteten, vielfachbewegten, mystisch-abstrusen Verfasser der Söhne des Thales Zacharias Werner (1768-1823), deutscher Dichter und Dramatiker der Romantik der einzige Dramatiker der Romantischen Schule, der Bühnenerfolge erzielte; seine Dramen umkreisen die mystischen Elemente und die Schicksalsidee. Er konvertierte 1881 zum Katholizismus; 1814 wurde er katholischer Priester und Prediger. – Das Drama » Die Söhne des Thals« (1803-1804) wurde 1807 zum ersten Mal aufgeführt; das etwas später erwähnte Drama » Die Mutter der Makkabäer« veröffentlichte Werner als letztes Werk 1820.. Es war mir diese Wendung sehr erwünscht. Ich war gespannt, ob nicht wieder das alte Herkommen sich hören lassen werde. Richtig. – An so allerdings ganz von der Ordnung der Dinge abweichenden Individuen, wie Werner, kann man erst recht sich versuchen, ob man mehr als die jetzt überall im Munde geführte Freisinnigkeit besitzt. – Natürlich, wieder das Wohlfeilste: Gemeinplätze. Ein Unbedeutender, durchaus Verirrter, ein Heuchler erster Art sey er gewesen. Ich suchte einzulenken. Vergebens. – Gewiß aber hatte es die Natur in Werner auf einen sehr großen Dichter angelegt. Der Prolog zur Mutter der Makkabäer hat Eigenschaften, welche nicht zu den oft anzutreffenden gehören, indem er, ungeachtet all' der schwer zu deutenden Bilder-Staffagen, den nagendsten Schmerz zur christlichen Schönheit, im Gegensatz der antiken, verklärt, und dadurch den Dichter und Hörer versöhnt. – Daß aber Werner in der letzten Zeit ein Heuchler gewesen, ist ein schnödes Urtheil, wenn man das Ehrenwort der Vorrede zu jenem Drama und sein Testament gelesen hat.
Uebrigens bin ich weit davon entfernt, Werner's Richtung in jeder Hinsicht in Schutz nehmen zu wollen. Nur kann ich, wie Sie wissen, aus einem unwiderstehlichen Rechtlichkeitsgefühl heraus, und besonders aus dem Widerwillen gegen alle Coterieen, es nie unterlassen, mich schnell auf die Seite dessen zu stellen, gegen den ich Alles anrücken sehe.
Die Menge, weil sie selbst es nie zu einem Wendepunkt bringt, nie zu einer Entschiedenheit im Guten und Bösen, ist daher auch nie befähigt, irgend eine Krisis wahrhaft zu begreifen. Sie mäkelt ewig herum, selbst da, wo sich wirklich durch endliche Entscheidung ein Charakter gebildet hat, wo ein Eigenstes im Allgemeinen erlangt, wo ein von Gegenstand zu Gegenstand geworfenes Herz endlich in einer vielleicht fern liegenden Sphäre seine Ruhe erlangt hat. Wo man alsdann sich freuen, und jede Eigentümlichkeit in ihrer Art gewähren lassen sollte, da beginnt man nun erst recht zu lästern, Neid zu hegen, Schadenfreude zu empfinden. Wo von Jenen nach schmählichem Schiffbruch doch endlich ein Hafen erreicht ist, und sich nach bester Ueberzeugung ein Leben geborgen weiß, da geht nun bei der Menge das Kopfzerbrechen erst an, und der endlose, nichtswürdigste Zweifel an der Aufrichtigkeit jener sich gerettet Glaubenden treibt in arger Sophistik sein ehrloses Spiel. Kurz – die Menge, als die eitle, begreift so wenig irgend ein Ewiges, irgend einen Ernst, ein bleibendes Interesse, daß sie für jedes dergleichen einen fertigen Gemeinplatz, einen Spottnamen, für jede eingetretene Ordnung eine augenblickliche Verrenkung hat. Das Hingegebenseyn an die Idee heißt sie überspannt, das rücksichtslose Bekennen der gewonnenen Ueberzeugung nennt sie Heuchelei.
Wo aber wirkliches Weltbewußtseyn ist, da muß man sich auch an solchen Phänomenen erheben können, die vielleicht ein ganzes Leben hindurch nichts als zwecklos hinschießende Dunstbildungen zu seyn scheinen, bis sich kurz vor ihrem Tode eine feste Gestalt hervorbildet, die – ein rührender Anblick – plötzlich aufleuchtet, und in einer Glorie wie in einem Allerheiligsten verschwindet.
Wie gewaltig, hochgeachteter Freund, regen Sie durch Ihre Briefe dasjenige in mir wieder an, was ich als eines der frühesten und süß-schmerzlichsten Probleme meiner Jugend bezeichnen muß, als das eigentliche Bedürfniß meiner Individualität, als den versprechendsten und lockendsten Schacht meines etwaigen Leistens und zu Felde Ziehens. Nämlich – die in unserer Zeit und Literatur noch durchaus nicht gewonnene Versöhnung des Weltlichen mit dem Göttlichen, des Profanen mit dem Heiligen, der freiesten, gebildetsten Persönlichkeit mit der strengsten, keuschesten Lauterkeit des Christenthums.
Ja, Christenthums! – Ich glaube an keine Verwirklichung ächt liberaler Ideen, einer wahrhaften Freisinnigkeit, als allein, wenn solches vom Standpunkt des Christenthums aus unternommen wird. Jungs ›Sowohl-als-auch-Position‹, die Klassik und Romantik mit dem Jungen Deutschland versöhnen will, ebenso den Idealismus der ersteren mit des letzteren Realismus (wie er in Kapitel 11 verdeutlicht), bezieht sich auch auf das Religiöse und fordert die Versöhnung des Jungen Deutschland mit dem Christentum. Ihm entgeht dabei, dass dieses im Zeichen der Restauration von den Herrschenden ausschließlich als Machtinstrument betrachtet wird; die Umsetzung von Jungs idealistischer Forderung hätte eine Unterwerfung unter die bestehenden Herrschaftsverhältnisse bedeutet. Außerdem – mein Catonischer Wahlspruch – halte ich freilich dafür, daß Alles unser ist, wir aber sind Gottes. –
So lange ihr das Christenthum immer noch nicht begreift, seine Idee immer nur noch in die eines ewig stabilen und zu vertilgenden Feudal-Systemes setzt, so lange sprecht mir nicht von eurem Liberalismus, von eurem über den Partheien stehenden Kosmopolitismus. So lange habe ich euch unausgesetzt im Verdacht eines doch sehr weichlich gesinnten, unwillkührlich seine eigene Behaglichkeit suchenden Egoismus, welcher Auslegung euer ewiges Glänzen-Wollen, eure nie zufriedenzustellenden, und die Gegenwart drüber verlierenden Raisonnements trefflich zu statten kommen.
Dann aber muß freilich auch christlicherseits, also von den Trägern dieses Geistes – ich meine nicht bloß den Klerus, es heißt vom evangelischen Bekenntniß aus: wir Alle sind ein priesterlich Volk – darauf hingearbeitet werden, daß diese ewigen Zänkereien, in denen man das Eigene als das allein Wahre ausschreit, verschwinden, daß das Christliche nicht selbst wieder nur auf der einen Seite, sondern sogar noch in dem als Ferment erkannt und anerkannt werde, was sich dem Christlichen scheinbar und einstweilen auch vielleicht wirklich entgegensetzt. Denn so schwer zu verstehen ist oft die weltgeschichtliche Methode des Christenthums, so greift sie über alle die einzelnen Tendenzen über, so kühn nimmt sie alles Edle vorweg und in Anspruch, daß oft gerade da ihre Thätigkeit waltet, sich neue Gestalten des Christenthums bilden, wo der Uneingeweihte auch auf die Länge nur Feindliches wittert und seine Verfolgungen freveln. Dann aber hört der Christ selbst auf der zu seyn, der er seyn sollte. – Abwehren müssen wir, zurückwerfen alles Ungöttliche bis zur Vernichtung, aber prüfen wir ja die Erscheinungen langmüthig. Wo Geist ist, stoßet nicht zurück, der Geist ist das Göttliche. Gewinnet die Geister durch Großmuth, durch eigenen Geist. Erhaltet sie euch, denn nur der Geist schafft die Geschichte, und hat selbst eine. Verkennet nicht seine Entpuppungen. Legt ihm nicht die oft verletzenden Explosionen seiner Entwickelung als leibhaftige Teufelei aus. Ihr bindet in der Regel Gott dann die Hand. Ihr lehnt eine seiner Verherrlichungen vorwitzig ab, womit ihr überrascht werden solltet. Strafet, aber vergebet. Ihr besonders seyd darauf gewiesen. Glaubet nicht denen, die alles gleich – schwarz und verrucht nennen.
Dieses antworte ich einstweilen auf das, was Sie, Verehrtester, in Ihrem Schreiben in Untersuchung bringen. So antworte ich, indem Sie gestatten, daß ich mir in Ihrer Person das Publikum vorstelle. Dieser ganz eigene Kampf, in dem wir uns jetzt Alle befinden, beruht er nicht auf jenem, noch immer in der Literatur dauernden, feindlichen Gegensatz zwischen dem Göttlichen und Weltlichen, dem Heiligen und Profanen? – Sie haben Recht, er soll dauern, wie Schleiermacher sagt: »das Christenthum ist polemisch«, aber nie darf die Feindschaft selbst Zweck seyn, immer nur Methode, nie darf sie in Argwohn, in Mißtrauen ausarten. Und es muß in der modernen Literatur, wenn sie kein Tummelplatz fader Eitelkeit und roher Leidenschaft länger seyn soll, an den Schriftstellern der Nation, welche jene repräsentiren, allerdings die Harmonie, welche ich fordere, einst noch hervortreten. Auch finde ich dieselbe in dem, was das Prädikat des Classischen wirklich verdient. Daß aber dieses Wort in unserem Leben so äußerst selten im strengsten Sinne gebührt, liegt eben in der unendlich schwierigeren Aufgabe, welche die Neueren zu lösen haben. Wie unendlich hat sich die Welt erweitert! Und so besteht allerdings jener Gegensatz in einer Weise, wie er nicht bestehen sollte. Und das ist denn der große, der klaffende Schmerz, der uns gegenwärtig beherrscht und ängstigt: diese Versöhnung an uns und an so vielen anderen zu vermissen. Das ist der Hauptsitz unserer modernen Melancholie und innersten Zerrissenheit, unseres oft haltlosen Ironisirens, unserer Faustischen Verzweifelung. Jung nimmt hier Bezug auf den sog. »Weltschmerz« (im Grimm'schen Wörterbuch erklärt als »tiefe Traurigkeit über die Unzulänglichkeit der Welt«), der für Byron, aber auch für die die Produkte des Jungen Deutschland typisch war; Sternbergs erste Novelle führte nicht zufällig den Titel »Die Zerrissenen« (1832). Denn, wie der Conflikt zwischen dem Profanen und Heiligen auch von dem Reichbegabtesten (denn der hat gerade den härtesten Kampf zu bestehen) in jedem Falle zu schlichten sey in unserer Zeit, völlig gnügend hat das noch Niemand gezeigt. Wir aber können die Lösung dieses Problems weder uns noch den Zeitgenossen erlassen.
Fragen Sie mich nun nach meiner Ansicht, über das, was jetzt das Publikum so sehr beschäftigt, über den Schriftsteller, den wir, indem wir annehmen, er hätte sich nicht genannt, als den Ungenannten bezeichnen wollen, so entnehmen Sie sich gefälligst dieselbe aus der Beilage folgender Fragmente, die ich Ihnen aus meinem Tagebuch mittheile.
Er schreibt öfter unter seiner Chiffre K. G. als mit vollem Namen. – Anm.d.Verf. (Gemeint ist der von Jung enthusiastisch bewunderte Karl Gutzkow. – D.Hrsg.)
Auch die Geister folgen in ihrer Bewegung bestimmten Gesetzen, ohne daß dieser Gesichtspunkt eine Mechanik der Psychologie befürchten ließe, ohne daß er der Freiheit der Person im mindesten Eintrag thäte. – Der erste Stoß zu dieser Bewegung liegt jenseit aller Erfahrung, er ist das Ursprünglichste, die That Gottes. Erst da, wo sich aus dieser heraus kleinere Sphären bilden, die immer wieder um einen Mittelpunkt kreisen, welches Centrum in seinen Funktionen oft sogar über seine Peripherie hinaus producirt, wo sich dann wieder eine selbstständige Sphäre ankündigt, erst hier geht die Beobachtung an, denn wir befinden uns auf dem Boden der Geschichte.
Von einem unserer großen Männer empfingen wir das Bekenntniß, er habe erst durch einen andern Bedeutenden den Stoß zu einer unendlichen Bewegung erhalten. Ja, es kann sehr oft ein minder Großes ein höchst Eminentes erzeugen. So stellt sich überall der Organismus des Lebens, als ein in sich selbst wieder Organisches dar. So in der Natur. So in der Geschichte in höherer Potenz. Wir finden hier die Uebergänge von der Familie zum Staate, von der Gesellschaft zur Kirche. Wir finden Schulen um einen Meister versammelt, Sekten um einen Stifter. Goethe hat in der bloßen Idee eines Romanes der Wahlverwandtschaften das Geniale bekundet, und wie wir aus diesem ersehen, was denn eigentlich Wahres und Vernünftiges an dem Fatum ist, und wie es nur entsteht aus dem Conflikt der einzelnen Leidenschaften, welchem der Wille nicht ausweicht, so auch wird jenes lediglich bestimmende Gesetz der Bewegung, jener Zug des Wahlverwandtschaftlichen nur so lange Statt finden, bis die Freiheit erwacht, und nun der Wille sich entscheidet, ob er länger zu folgen gedenkt, oder nicht. Seine Emancipation kann oft ein Frevel, oft eine Tugend seyn.
Es ist die Aufgabe des Literaturhistorikers, den angegebenen Proceß auch für seine Disciplin zu beweisen, den schon vorliegenden zu produciren. Er wird in unserer Zeit, wo die Erscheinungen sich drängen, wo sie sich massenweise in einander schieben, eilen müssen, das Netz auszuspannen, um die Zeichnung treu entwerfen zu können. Auch in jüngster Zeit erlebten wir die Wiederholung des Angedeuteten. Menzel hatte ohne Zweifel während einer ganz bestimmten Periode einen großen literarischen Einfluß. Nicht auf die Wissenschaft. Nicht auf den Theil unserer Literatur, welcher sich mehr oder weniger um die großen Schöpfungen Goethe's peripherisch gestaltete, und den wir schon längst als den eigentlich classischen zu bezeichnen gewohnt sind. Sondern vielmehr auf denjenigen, welcher aus der nach Goethe sich bildenden, romantischen Sphäre wieder selbstständig hervorgeht, und den wir den kritisch-populären zu nennen haben. In diesem ist denn Menzel eine Zeit lang der Mittelpunkt. Man hat von jetzt ab in der Literatur offenbar mehr die Tendenz auf das Volk hin. Und wenn auch Goethe bei seiner glänzenden Vielseitigkeit selbst auf diese Erscheinung hervorrufend und anregend gewirkt hat, so ist das Eigenthümliche ihr doch keinesweges abzusprechen. – Beide aber nach Goethe sich bildenden Sphären sind nur als planetarische Uebergänge zu einem künftigen Systeme zu betrachten. Wie sehr übrigens Menzel noch die Nabelschnur der Schlegelschen Schule an sich trägt, beweist einmal, daß, wo er eigentlich producirt hat, das Märchenhaft-Romantische immer noch bei ihm austönt, und dann beweist es seine Vorliebe für Tieck, für Görres; ja selbst sein Hervorheben Schiller's auf Kosten Goethe's hat hiermit genauesten Zusammenhang.
Nicht lange dauerte das Menzelsche Supremat. Er selbst war viel zu wenig produktiv, als daß es hätte der Fall seyn können. Ich lasse mich hier nicht darauf ein, nachzuweisen, was sonst etwa noch dem kritischen Stuhle zu Stuttgart abtrünnig geworden. Zusehr beschäftigt mich jetzt der – Ungenannte. Er hat früh und stark das Bedürfniß gefühlt, seine Eigenthümlichkeit unabhängig zu machen. Wer wollte, bei allen Vorzügen Menzels, ihm das verdenken, da er die eigenen in so hohem Grade besitzt. Ich bin besorgt, er wird bei der ungeheuern Fliehkraft, mit der er sich über die frühere Sphäre hinausgestürzt, um seine eigene Bahn zu suchen, mannigfaltige Störungen veranlassen.
Welch' ein kecker, kritischer Ajax Ajax der Telamonier, auch Ajax der Große genannt, einer der großen Helden vor Troja, der nur durch Achilles übertroffen wird.! Nicht selten zu schonungslos, zu grausam, in einer zu jugendlich wilden Extase, aber bedeutend auf jeden Fall. Wer weiß, ob wir nicht später noch lächeln werden, wenn wir uns erinnern, wie übelnehmerisch, wie wenig langmüthig wir gegen die Ueberkraft seiner reich ausgestatteten Jugend gewesen, lächeln, wenn wir bedenken, in welcher Weise wir dieses Schriftstellers erwähnt, wie wohl Goethe und andere Leute in früheren Literaturbriefen auch bisweilen vorkommen, und er nun groß und ausgebildet dasteht in Mitte all' seiner Schöpfungen. Er muß schon jetzt um vieles mehr ein ganzer Mensch seyn, als selbst die Geneigten ahnen, viel weniger aber die zugeben werden, denen er, wie sie es nicht immer verdient, wehe gethan hat. Das Sittliche, das Religiöse scheint ihm im tiefsten Grunde eigen zu seyn, aber ich fürchte, er verkennt das Positive des Letztern, er faßt das Positive der Religion zu sehr als bloß Historisches, allmählig zu Antiquirendes, und bedenkt nicht, daß es ein Positives auch der Religion geben muß, welches nur die rationale, ich sage nicht rationalistische, also die ewige Offenbarung derselben seyn wird. O, daß man ihn warnen, daß man ihn für die Spekulation, nicht für die Schule, noch mehr gewinnen könnte, als er die tiefsten Principien derselben schon jetzt verräth! – Daß dieser edle, Freiheit athmende Geist es verschmähte, der Frivolität sich als Mittels zum Zweck zu bedienen! Er besitzt einen weltumfassenden!
Sollte man denn ein Recht haben, bei aller zarten Empfindlichkeit, den Gebrechen des Einzelnen wie der ganzen Zeit gegenüber, diese Mängel unermüdet fast allein herauszukehren, da man sie doch selbst mit den anderen theilt und theilen muß, um ein Mensch zu seyn? – Das scheint Lieblosigkeit und ist es doch bei diesem Schriftsteller gewiß nicht. Aber die Unruhe reißt ihn fort, die Unruhe, dasselbe Geschlecht, welches er schon im Besitz so herrlicher Güter sieht, auch noch zum Bewußtseyn über das Herrlichste zu bringen. Daher dieses immer nur Skizzen entwerfende Darstellen, dieses nicht Zeit haben, dieses Zürnen, welches Haß scheint, diese Ironie, welche Kälte vermuthen läßt.
Werden sie dir's so deuten, wie du es doch eigentlich meinst? Können sie es, wenn du bedenkst, welch' ein Zufall die Lektüre bei uns Allen noch leitet, um die Seite, die Zeile gerade auch gelesen zu haben, von der man allerdings gestehen müßte, wer das auch nur einmal zu sagen vermag, der meint es am Ende doch immer redlich? Ich erstaune über dieses plausible Herauswickeln der verborgensten Impulse, über dieses grausam-liebevolle Herausglätten der geheimsten Herzensfalten. Manchem Autor, der doch ebenfalls eine Macht aufzubringen hat, muß es doch höchst ärgerlich und fatal seyn, sich durch eine so glänzende, scharf eindringende Reiterei überflügelt zu sehen. Mit Waffenrock und Helm, mit Schild und blau angelaufener Klinge wird er eine prächtige Parade gegen dich machen, aber unfehlbar – zusammengehauen werden.
Das eben heilige euch die Literatur, und lasse euch in ihr Gottes Sache erkennen, daß ein solcher Geist der Gerechtigkeit sie immerdar durchwaltet. Auch der Begabteste, auch der Uebelwollendste vermag nichts gegen diesen Geist. Daher, wo einer muthig frevelt, es wird schon ein Muthigerer gegen ihn auftreten, und selbst, wenn dieser gegen den Frevler zu weit geht, selbst ihn wird die Strafe eines Dritten erreichen, und immer wird alles sich wieder zur ewigen Weltordnung herangestalten.
Ein ungeheurer Irrthum! Frevel darf es unter keiner Bedingung genannt werden, denn wie kann der freveln, welcher im ungestümsten Suchen des Heiligen begriffen ist, der gerade darin irrt, daß er wähnt, es könnte durch den höchsten Aufwand des Talentes, des Genies entdeckt werden, und der nur darin zurechnungsfähig ist, daß er das, was die Menschheit, die immer weiter ist als der Mensch, schon besitzt, als ein Superstitiöses antastet. – Auch wird dieser Anmaßung die Nemesis folgen.
Sie ist ihr gefolgt – im augenblicklichen Zürnen und Strafen der Nation, nicht in jenem festen, kurzen Tritt, in jenem fürchterlich-keulförmigen Phalanx eines Kritikers. – Es giebt Irrthümer, Uebereilungen, deren nur der tiefe, von Sehnsucht entflammte Mensch fähig ist. Der flache, der gleichgültige versteht sie nicht einmal. Wie schnell wird sich der Edle mit dem Edeln verständigen! Also hierüber kein Wort mehr.
Aber ein anderes von Wichtigkeit. Es gilt, einen Schriftsteller seinem ganzen Werthe nach zu erkennen, ihn sich zu erhalten, der eine ungewöhnliche, in Leistungen sprechende Bedeutung hat. Er schien mir von vorn herein auf einer bewunderungswürdigen, aber eben so gefährlichen Höhe zu stehen. Schwindel ergriff mich oft, ich gestehe es, beim bloßen Hinaufblick. Welch' ein Absturz war hier gegeben, schon nach dem, was in der öffentlichen Meinung gilt, ja sogar nach dem, was in ihr wirklich, als das Vernünftige, das Ewige ist. – Es war leicht zu haben, ihm zu sagen, daß er in der Gefahr des furchtbarsten Fall's sich befände. Es war kleinmüthig, nicht so viel Glauben an den Genius, welcher die Welt und den Menschen trägt, zu besitzen, um laut auszusprechen, daß der ihn nur noch höher tragen, aber dadurch auch eben jedem Fall entrücken werde. Es war aber grausam, ihm selbst zuzurufen, daß er bereits gestürzt sey, in einen Abgrund, aus welchem Niemand wiederkehrt.
Er steht nach meiner Ansicht ganz in der Periode, in die kein Proletarier Zeit seines Lebens tritt, in welcher man voll ist des Gottes, des Welten schaffenden, in welcher die Elemente gähren und toben, aber nicht bloß chaotische Massen sich wälzen, sondern schon Gewordenes neben Werdendem fröhlich und jugendlich hervortaucht. Er hat nicht bloß den Antrieb gefühlt, vieles einstweilen in einander zu werfen, um zu verjüngen. Er hat bereits zu schaffen begonnen, Gestalten, wie nur der Genius sie heraufzubeschwören vermögend ist. Er steht mit einem Worte in jener Zeit, in welcher allein Göthe ein Gedicht wie den Prometheus dichten konnte, dieses zwar gewiß höchst einseitige, aber auch eben so erschöpferische, oder Schleiermacher seine Monologen schrieb, die, ebenfalls prometheischer Natur, den Uebergang in die gemeine Wirklichkeit kühn hinter sich zusammenbrechen, – beides Werke, so unverstanden, so fad begriffen von der Menge, wie seine bisherige Tendenz.
Er scheint mir ein junger Titan zu seyn, dessen Milchhaar sich kaum um das Kinn zu bräunen angefangen, und schon thürmt er Berg auf Berg zu olympischem Siege, wirft Flamme auf Flamme aus, daß die mürben Trümmer zusammenstürzen, daß die harten Schollen der Erde sich lockern. Er scheint ein Grauen empfunden zu haben, auf den von anderen erworbenen Lorbeern sich fest zu hocken und wohl seyn zu lassen. Die offenkundige Leerheit, von geheimem Stolz nicht wenig gebläht, schien ihm eben so weh zu thun, als das damenhafte sich Fächeln ästhetischer Seelchen bei der Hitze des langweiligsten Thees, und nicht länger wollte er seyn der liebe, artige Sohn einer solchen Zeit, sondern schwang sich kühn hinaus über sie, um die Fadheit von dort her zu blockiren. Es ist wahr, sein Feuereifer hat ihn zu weit geführt. Mancher ganz Unschuldige hat unter ihm leiden müssen. Aber wie vielen Schuldigen auch hat er das Horoskop gestellt, ihnen den Spiegel vorgehalten, welcher zum Brennspiegel geworden. Wie hat er ein Feuer angezündet über solcher Behaglichkeit, dessen fürchterliche Zungen um ihn selbst jetzt lecken.
Es ist schwer zu begreifen, wie man sich selbst die stolze Freiheit einer Gott begeisterten Jugend hat herausnehmen dürfen, ohne in diesem Frühling eine Blüthe unentfaltet, eine Blume ungenossen zu lassen, damit die Welt voll werde der Herrlichkeit Gottes, und wie man dasselbe nicht auch anderen zu gönnen vermag. Es verräth ein enges, kleinstädtisches Herz des vermeinten Weltbürgers, nicht zu wissen, daß dort, wo die Gestirne gehen, dasselbe Vernunftgesetz waltet, welches den Himmelstürmenden wieder in die Kreisbahn reißt, und in Sympathie mit dem Gesetze der eigenen Brust ihn, obwohl frei, eben darum mächtig zur Schönheit zwingt. So verräth sich beim Kritiker das Alter mit der Krücke. So will er denn doch die Jugend zustutzen, nach dem Schneidermaß seiner Epoche machenden, und damals wahrlich nicht blöden Liebenswürdigkeit.
Ich bewundere bei obigem Schriftsteller die in der That höchst geschmackvolle, selbstständige und doch treue Auffassung der Geschichte. Nur in Betreff des Christenthums hat er mir zu viel Geschichte. Ich meine, er hat die Geschichte desselben, er hat es immer mehr als Historie und weniger als Idee. Wer aber die Idee des Christenthums faßt, der muß wissen, daß über seiner Region allerdings kein Stern mehr kreist, kein Sonnenstäubchen mehr webt, denn das Christenthum ist und bleibt – Weltreligion.
Zuweilen ertappt man sich denn doch bei dem Wunsche, in der Literatur für einen gewissen Ausschuß der Geister ein Heiligthum errichtet zu sehen, ein akroamatisches Ausschließlich Eingeweihten vorbehalten. Heiligthum – Akademie, Museum, Salon zugleich, und doch noch mehr als dieß alles zusammen. Hier müßten die größten, die entgegengesetztesten Genien mit einander verkehren. Hier alle Meister-Werke der Gegenwart an die vollendeten Werke der Vergangenheit sich reihen. Hier kühner Entwurf zu künftiger Ausführung, hier jede Studie, mit wie riesenhaftem Anlauf auch unternommen, sich sehen und hören lassen dürfen. Alles – zur Erbauung, Vertiefung, Erregung, Befreundung, kurz: zum gegenseitig sich entzündenden Umgang der Meister mit Meistern, der Meister mit Gesellen und Lehrlingen. Alles – nur einstweilen. Dem Volk, dem Allgemeinen kann, darf auf die Länge nichts entzogen werden. Nur um Zeit, Einverständniß, Orientirung, Wege zur Beschleunigung harmonischer Bildung, Mittel, pädagogische Hebel zur Entwicklung großartiger Gesinnung zu finden. Bloß um Schaden zu verhüten, Mißverständnisse zu vermeiden, bloß um nicht die reichste, schönste Eigenthümlichkeit zurückgedrängt zu sehen, weil eben ihre Hervorbringungen der unrichtigsten Auslegung, der gefährlichsten Auffassung ausgesetzt sind. Bloß damit der Mündige, dem Mündigen gegenüber, einmal jede Frage aufwerfen, jeden Zweifel wagen, jeden auch umfassendsten Urgedanken aussprechen, damit er einmal das Entzücken erleben könnte, in wahrhaft reicher Geselligkeit sein Innerstes von einer Gesammtheit der Geister verstanden, gewürdigt, gesteigert, verklärt zu sehen.
Was hätte hier das Genie für Probleme auszuwerfen! Wie genügend, erschöpfend wären sie zu lösen. Was könnten hier für Ausstellungen gewagt werden, um die Schönheit zugleich als höchste Unschuld und Lauterkeit zu gewahren! Was würde hier für ein Cultus durchzuführen seyn, der die Kirche, den Auserwählten, im Verein aller in der Natur und Menschheit vereinzelten Gottes-Strahlen offenbarte! –
Viele Notabilitäten der neuesten Zeit sind von so eminenter Bedeutung und so über alle Gegenwart hinausweisend, daß man immer wieder zu jener Gedankenreihe veranlaßt wird.
Was nun das vielbesprochene Buch des erwähnten Verfassers betrifft, es hätte nie in die Welt dürfen. Es ist eine Studie. Es ist eine geistreiche Skizze, eine kühne, nicht für die Menge entworfene. »Wally, die Zweiflerin« entsprach der Forderung des Jungen Deutschland nach einer dem »Leben« zugewandten Literatur, indem er die »Zerrissenheit« der Zeit durch eine Diskussion grundlegender Glaubensfragen demonstrierte. Gutzkow brachte der Roman immerhin einen Monat Gefängnis ein. – Freilich wird übersehen, dass Gutzkow den Skandal auch provozierte. Sein Vergehen war, dass er dem gelehrten Streit zwischen theologischem Rationalismus und protestantischer Orthodoxie eine lebensnahe Praxis gab und diesen somit für ein ungelehrtes Publikum interessant machte. Gutzkow setzte in seiner Strategie des Arrivierens das Einschreiten der Obrigkeit und der Zensurbehörden als positiven Faktor voraus und machte sie damit bewusst zum Mitspieler in seinem komplexen und gewagten Erfolgskalkül. Schließlich gab es im Vormärz einen Markt für oppositionelle Literatur und entsprechend Verleger, die Interesse an solcher Ware hatten. Diese Verleger und die uneinheitliche Zensurpolitik in den Einzelstaaten des Deutschen Bundes ermöglichten schließlich Gutzkows Erfolg. Sein Werk ist dabei paradigmatisch für die Existenz eines auf sich gestellten, modernen und selbstbewussten Berufsschriftstellers anzusehen. (Nach Grimm, Joachim: Karl Gutzkows Arrivierungsstrategie unter den Bedingungen der Zensur (1830-1847). 2010.) Es ist ein nur zu getroffener Schattenriß eines großen Theils unserer heutigen Salon-Welt. Man verstehe nur von der Spitze zurückzutreiben. – Ja, der Verfasser hat großes Aergerniß gegeben. Er hätte es nicht sollen. Ja, er geht in der Objektivirung eines bodenlosen, wie ein Krebs unter Koketten und Roués um sich fressenden Zweifels oft zu weit, wenigstens was die Veröffentlichung, das Aergerniß betrifft. Aber – wer ihn deßhalb der Irreligiosität beschuldigen, wer aus diesem Buche, selbst bei früherer Lauheit, sich nicht der Religion in die Arme werfen wollte, – ich verstehe ihn nicht. –
Das Christenthum wird unaufhaltsam die Menschheit selbst zu jenem einstweilen für Wenige geforderten Heiligthum reif machen. Sein Reich kommt. Ja es selbst ist schon dieses Heiligthum für die, welche es kennen. Vom Christenthum aus daher ist schon jetzt jede Frage, jeder Zweifel erlaubt. Nur gebet den Schwachen kein Aergerniß! Das Christenthum weiß jede Frage zu beantworten, jeden Zweifel zu heben.
Da überhaupt ist jede Frage, jeder Zweifel erlaubt, wo man schon von vorn herein Gott hat, aus Gott heraus und zu Gott hin fragt und zweifelt. Dieß ist das Ringen mit Gott, wie es die Bibel selbst nennt, dem der Sieg nie ausbleibt. Unser Verfasser hat Gott. Daher weiß er bewundernswürdig bis auf den Schein des Verzweifelns zu fragen, zu zweifeln. –
Wer ist diese Unglückliche? Die Titelfigur des Roman »Wally, die Zweiflerin«. – Ein von der Natur zwar begabtes, aber viel zu schnell aus der Kinderstube in den schillernden Gesellschaftssaal, wo man immer interessant seyn soll, hineingeworfenes Wesen. Die durch Welt verkünstelte Begabung wird nicht ungerächt bleiben. Die tieferen Bedürfnisse, das, des schwersten Verständnisses fähige Gemüth des Weibes wird schon wiederkehren, wird zerstören. Jetzt ist sie befriedigt, geschmeichelt die Kleine. Sie poussirt und wird poussirt. Sie glänzt. Sie ist allerliebst. Sie ist bis auf den bleichen, weichen Teint der Wange entzückend. Eine stets bereite Schaar dienender Cavaliere umschwärmt ihre Wege, wacht beinahe in ihrer Antichambre. Sie ist kalt, aber um so Gluthen erregender. Sie ist grausam, aber welcher Geck apportirte nicht gern ihre Reitgerte? Sie findet bereits Ueberdruß an so hündischen Gesellen. Sie findet alles bereits fad, alles ennuyant, aber – einer nahet sich ihr, der, bei allem Heuchel der Wärme, selber Eis genug besitzt, ein so süßes, lockendes Vanillen-Eis, um das Feuer, die Gluth der Begierde in ihr zu fachen.
Dieser Mensch, einst ein großer Mensch, jetzt ein ungeheurer, ein Ungeheuer, – hat einmal Flammen geworfen. Flammen bei deren nächtlichem Schein er seine Studien gemacht, Welt- und Menschen-Studien. Flammen, bei deren wetterleuchtendem Blitz er alle Genüsse der Erde gekostet, bis auf die Hefe geschlürft, und dessen vulkanische Tiefen nun ausgebrannt haben, und der nun, nach dem knirschenden Geständniß: es ist alles eitel, nur noch statt der früheren Lust, die er zu Tode gejagt, aus Langerweile die noch lebende Schwester: Grausamkeit zu sich genommen.
Er ist in alle Intriguen weiblicher Eroberungssucht eingeweiht. Er durchblickt die Spröde, die es nicht mehr gegen ihn ist. Er wird ihr zuvorkommen. Er wird ihr Geschichten erzählen. Er wird sich selbst mit Unschuld belügen, indem er sich einen Augenblick in die Aesthetik flüchtet, zu einem lebenden Bilde. Er wird seines Mädchens Begabung, das Ursprünglichste ihres Naturells längst weg haben, um die Geister des Wissenwollens in ihr zu wecken, um ihr statt der Nahrung – Gift, statt der Wahrheit – Lüge, statt der, mit Gott und der Welt und dem sich hin und her werfenden Ich aussöhnenden Ideen – prunkende, gleißende, tückische, würgende Zweifel zu geben. Er wird ihr die Hand bieten, ihr stets bereiter Seelsorger zu seyn. Er wird sie verlassen – foltern – tödten. Doch genug. – –
Nur dieses noch. Jene Studie, jene kühn hingeworfene Concentrirung einer, unter einem Theil unserer Gebildeten grassirenden Verbildung und Haltlosigkeit bis auf viele Consequenzen hin, ist von Rechtswegen verdrängt worden. Es war eine große Uebereilung, so etwas der Oeffentlichkeit zu übergeben. Aber ein Theologe von der Gedankentiefe etwa eines Daub Carl Daub (1765-1836), deutscher evangelischer Theologe; unter dem Einfluss Hegels später der Hauptvertreter der spekulativen Restauration des orthodoxen Dogmas und Gegenspieler Friedrich Schleiermachers. wird über jener Fabel voll Wahrheit schon den ewigen Triumph des Christenthums erkannt, wird den Verfasser schon verstanden haben. Und so zürne man diesem nicht länger, er hat es wahrlich nicht verdient. Und geht in euch ihr Anderen, die ihr davon gehört, oder selbst eingesehen habt, und verschmähet nicht – die Nutzanwendung.
Es wird selten allerdings zu gerade so gearteten Extremen einer Verzweiflung an Religion in der Wirklichkeit kommen. Aber bedenkt, daß die schleichende Schwindsucht einer gegen alles Religiöse, Kirchliche sich indifferent verhaltenden Genußsucht und Weltfeinheit gerade so gefährlich ist, als die galopirende einer, auf den Genuß und den Ueberdruß folgenden Verzweiflung an der Lösung des Zweifels. Bedenkt, daß da, wo aus Furcht vor Ueberspannung und frömmelnder Schwärmerei, bereits sogar die Frömmigkeit selbst anrüchig geworden, und das Wort: Gott sogar, als nicht mehr von gutem Klange befunden wird, der nämliche, nur länger währende, aber durchaus in dasselbe Verderben führende Proceß eintreten muß, der auch dort ist verzeichnet worden. –
Werdet mißtrauisch gegen die bloße, glatte, marmorkalte Form eurer Conversation, gegen die geschniegelte, hinter dem Flor-Tuch und der Cravate in moderner Selbstgenügsamkeit sich blähende Eitelkeit. Gebt eurer Geselligkeit eine Tendenz, einen Schwung zu höheren Zielen hin, und glaubt, daß nirgend die Gefahr größer ist, als wo sie allmählich naht, und nirgend der Nerv der Religion sicherer ertödtet wird, als wo man im Rausch des Salons nicht Zeit hat, zu sich selbst zu kommen, und zu viel Scham vor der Welt besitzt, als daß man das feste Geständniß ablegen sollte, auch über die Confirmationszeit hinaus noch fortwährend mit göttlichen Dingen sich zu beschäftigen. Die Schminke der Eitelkeit und der Scheinsucht zerfrißt eben so gewiß, nur langsamer die Seele, als das Scheidewasser des Unglaubens und der Zweifelsucht.
Der Schriftsteller nehme die höchste Stelle ein, welcher Ideen hat. Die Idee ist der eigentliche Bildungskeim des Genies. Man kann es bis auf zwanzig Bände gebracht haben, ohne eine Idee nachweisen zu können. Das Talent täuscht oft sich und andere, indem es Ideen nur selbstständig verarbeitet, wenn nicht gar in der Copie eines Originals nur eine große Gewandtheit besitzt, woraus denn häufig die schönste Virtuosität in der Form hervorgeht. Ist aber ein Schriftsteller der Idee sich bewußt, so muß es ihn auch hinziehen, sich einer Welt gegenüber zu bilden, ja die Welten, die er schafft, mit jener in irgend einen Contakt zu bringen. Die Nation, die Menschheit, wird ihn beschäftigen. Beide, wiefern sie selbst in Ideen wurzeln. Die Nation, als Volk in der Idee des Staates, als Gemeinde in der Idee der Kirche. Die Menschheit endlich in der Idee Gottes.
Und so sehr wird der Geniale am wenigsten, trotz alles Verkanntwerdens, einer Hingebung an die Gesammtheit entbehren können, daß er es nur mit Schmerz über sich gewinnt, ein Produkt, welches eine integrirende Gestalt in der Geschichte seines Werdens ist, wieder in sich zurückzunehmen. Wie vollständig, wie ungenirt haben sich Goethe und Schiller vor den Augen der Nation gebildet. Und doch muß allerdings auch jene Stärke der Entsagung der Genius besitzen. Fehlt er hierin, aus zu großem Drange, wenn auch nur, zu wecken, zu erschüttern, – ihr müßt es vergeben, denn wie viel auch habt ihr ihm zu danken.
Der Schriftsteller, welcher mich hier beschäftigt, verdient durchaus das Zeugniß, in reichem Besitz von Ideen zu seyn. Daher seine Form eine ganz eigenthümliche, ganz ursprüngliche. Sie drängen ihn so diese Ideen, daß die halbe Energie seiner feurigen Jugend dazu gehört, sich nicht zu überstürzen, sondern bei allem kühnen, schaffenden, auflockernden Hinausgreifen in die Zukunft, dennoch ein Maß, einen Rhythmus zu beobachten, der denn auch in dem gebildetsten Style dem Ohre vernehmbar wird. Die andere Hälfte seiner Energie ist freilich immer noch so bedeutend, um da, wo er seine Polemik, seine Ironie walten lassen will, alles was in dieser Richtung liegt, auf's tiefste zu verletzen.
Von der Poesie aus, als einer höheren Wirklichkeit, der gemeinen den Krieg zu bringen; das durch die Vernunft keiner abstrakten, sondern der gestaltenreichsten Poesie angestammte Besitzthum der Geschichte den Dichtern zu vindiciren, den Neubau zu beginnen; zu diesem Zweck, zu einem solchen Preis auch im Kampf wo möglich sich nur der Schönheit, des Witzes, als Mittels, zu bedienen; – dieß scheint mir die Grund-Idee unsers Autors zu seyn. – Wer bei ihm nicht zwischen den Zeilen zu lesen versteht, der versteht ihn gar nicht. Hier liegen schon meistens die Gestalten, die Werke angedeutet, welche er zu schaffen sich gedrungen fühlt. In der Zeile hat er bis jetzt in der Regel nur Zeit gehabt, gegen das Halbe, das Verschrobene, das Zurückgekommene zu streiten, mit Ausnahme der Werke, welche weniger unmittelbar die Kritik wollten, und die denn auch das Geniale seines eigentlichen Produktionsvermögens auf das erfreulichste bekunden.
Diese feine Ironie, wie sie auf den Blättern seiner meisten Schriften weniger zu lesen steht, als webt, dieses Combinationsvermögen des glänzendsten Verstandes, diese Wärme, die sich nur klug zurückzieht, um nicht mit der weinerlichsten Schlaffheit verwechselt zu werden, und, wo ihr sie erwartet, an die That euch mannhaft mahnt, dieses mit einem reinen Jünglingsherzen lebendige Hingegebenseyn an die Idee, an die Wahrheit, an die Schönheit, an Gott; – wir sollten uns aufmachen, um so viele Gaben nicht ungenossen, ungewürdigt, ohne Dank, daß der Genius uns immer noch besucht, vorüber zu lassen. Vielleicht hat nicht oft das Lockenhaar einer solchen Jugend um eine so sinnige Stirn, um eine durch Verstand und durch Lebenseinsicht so geweihete Wölbung gespielt.
Man hat, unerklärlich, an diesem Schriftsteller oft gänzlich den Dichter, den Arbeiter mit Tönen der Lyrik, wie jene fabelhaften Sänger, an einem Baue der Zukunft, und daher auch sein oft dämonisches Eifern und Grollen verkannt. Mancher Libellist hat oft täppisch und bärenhaft genug den romantischen Schwank und Elfen-Spaß so grob genommen, daß er dem edelen, feinen Geister-Könige dafür mit der Tatze gegeben. Man hat ihm noch wenig Gerechtigkeit, wenig Anerkennung widerfahren lassen. Bedenkt, daß auch wir in dieser Hinsicht gut zu machen haben. Bedenkt, daß er die Nation viel geliebt hat, darum sey ihm auch viel verziehen. Er hat Zugeständnisse gemacht. Er hat sich bis diese Stunde uns treu erwiesen. Er hat die vaterländische Civilisation durch eine Menge neuer Gesichtspunkte, neuer Ideen, er hat die so bildsame Muttersprache durch Formen und Wendungen der gediegensten Anmuth bereichert.
Es ist merkwürdig, daß die gegenwärtige Literatur mit einem partiellen Abfall von Goethe beginnt, in der neuesten Zeit jedoch wieder bei ihm anlangt. Und welch' eine Apotheose unseres größten Dichters ist uns zu Theil geworden! Hätte er sie doch noch erlebt, da er so viel Unbill erleben mußte!
Ja, diese Schrift über Goethe »Ueber Göthe im Wendepunkte zweier Jahrhunderte« (XII & 256 Seiten) von Karl Gutzkow war 1836 erschienen. ist sie nicht eine Doppelkrone zum Ruhme des Dichters und des Künstlers selbst? – Berggeister, stille, neckische Gnomen und Elfen, welche dieses reine Gold bereitet, spielen und sonnen sich noch in seinen Adern. Unabsehbare Geisterzüge, alle die Bildungen Goethe's, schreiten würdig, nach dem Wohllaute süßer Lyrik, durch diesen Gold-Spiegel, obwohl das gewöhnliche Auge höchstens Wellenlinien sehen wird. Steine hat der Künstler eingelegt, so edler Art, daß sie ein funkelndes Diadem bilden, dessen Sterne, selbst wenn eine finstere Nacht über unsere Literatur hereinbrechen, selbst wenn man Gold von Holz nicht mehr unterscheiden sollte, immer wieder die Krone, und wem sie gilt, andeuten werden.
Auch in der Anerkennung soll man nicht meinen, das Wieweit bestimmen zu können. »Laß dir keine Grenze setzen in deiner Liebe,« sagt Schleiermacher. Ich glaubte wirklich schon in der Schrift über Goethe bei dem Verfasser zu einem einstweiligen Abwarten gelangt zu seyn, und dennoch muß ich in seiner Philosophie der Geschichte »Zur Philosophie der Geschichte« (XII & 305 Seiten) von Karl Gutzkow war ebenfalls 1836 erschienen. eine Erneuerung meines Beifalls erfahren. Ich weiß sehr wohl, daß mit einer bloß subjektiven Wahrnehmung noch nichts bewiesen ist. Aber ich wüßte mein Urtheil auf die schlagendsten Gründe zurückzuführen, obwohl es wahrlich nicht leicht ist, solchen, rüstig aus dem Haupte des Begeisterten hervorspringenden Gestalten nach Verdienst zu begegnen.
Ich hätte freilich gegen Manches in dieser Schrift auch manche Erinnerung zu machen. Die Schwingen des Geistes tragen den Verfasser wieder zu unaufhaltsam fort. Er sieht aus seiner heitern erhabenen Perspektive Manches wohl nicht richtig. Er läßt sich manches Anzuerkennende entgehen. Er hat keine Zeit dazu. Die Zukunft lockt ihn. Die Auffassung manches historisch Vergangenen, manches Gegenwärtigen hält hier nicht immer Stich. Wir können wieder am wenigsten mit der Stellung einverstanden seyn, die er dem Christenthum zu geben scheint. Wir möchten ihm wieder und wieder empfehlen, eine Vertiefung in die Idee des Christenthums, und möchten ihm in der wohlwollendsten Absicht rathen, zwei Cardinal-Tugenden des Christenthums in ihrer ewigen Bedeutung nicht zu verkennen: die Reue, welche die allein durch den Geist mögliche Vernichtung des Bösen, ja des Uebels enthält, und die Demuth, welche nur die andere Seite eines männlichen Selbstbewußtseyns ist, welches nie ausbleiben kann, wo das Göttliche in menschlicher Form sich offenbart.
Dann aber – wie vieles zeichnet der Verfasser auch meisterhaft! Welch' ein Füllhorn befruchtender Ideen schüttelt er in seinem Fluge über uns aus! Wer hätte sich nicht zu Gott auferbaut an dem Grund-Charakter dieser Schrift? Wer hätte, wenn auch früher müde und muthlos geworden, sich nicht innerlich gegürtet, und ihn wieder brausen gehört den jungen Frühlingssturm, über frischbesäete Aecker, über grünende Saaten, durch Blüthenflocken, unter dem Nachthimmel voll unendlicher Sterne? Wer hätte es nicht wie einen Schrei in sein Ohr vernommen, daß auch das Gefühl sein Recht habe, und zu seinen Rechte kommen werde, das Gefühl, welches unter der Wonne schauert, und vor dem Schmerze bebt? Wer hätte sich nicht wie auf der Zinne der Geschichte gesehen, und sie dehnte ihre Riesenglieder aus durch die Zeit, wie die Natur durch den Raum, und durch kein Netz des Systems, durch kein berechnendes Verfahren ließen sich beide fangen und in den gewünschten Cirkel bringen? –
Die Geistesfülle, die Gedankenschwere, den Glanz der Ueberraschung, den Witz, der vom Ausgang zum Niedergang fliegt, und nicht selten mit seiner Pointe die Spitze einer Nadel trifft, den Styl, der jedes Muster verschmäht, sich selber Gesetz ist, und mit dem nicht zu widerstehenden Zauber der Sprache den Hörer fast um den Inhalt bringt, – das alles wird jeder Unbefangene anerkennen müssen. Ja, was den Styl betrifft, so haben außer unserm Autor wohl nur wenige Schriftsteller das äußerst Bedenkliche eines wiederkehrenden Rhythmus so glücklich in der Prosa zu überwinden gewußt. Und doch wieder ganz anderer Art, als es in dem Feierlich-Großartigen und Gothisch-Epischen eines Görres Joseph Görres (1776-1848), deutscher Gymnasial- und Hochschullehrer sowie katholischer Publizist; gründete 1814 den einflussreichen Rheinischen Merkur, der in der Restauration für liberale Forderungen eintrat; ab 1819 erfolgte der Wandel zum politischen Katholizismus; in seinem Spätwerk wendete er sich der christlichen Mystik zu. hervortritt.
Was unsern Schriftsteller nur gleich in der Vorrede seines Buches zu der klagenden Bemerkung über seine Schreibart bringen mag? – Ich glaube die Sinnesweise derjenigen Leser, die solcher Bemerkungen bedürfen, deren Ohr oft eben so den Effect vom Künstler fordert, wie sie den Applaus ertheilen mit – Plumpheit.
Oder sollen wir etwa wieder zurückrufen jene Schwerfälligkeit der Darstellung früherer Zeit, in deren Ton der Bewegung man immer das gellende, mühsame Aechzen und Knarren jener schwerbeladenen Frachtwagen zu hören wähnte, welche Gibbon Edward Gibbon (1737-1794), britischer Historiker, der 1776 bis 1789 sein umfangreiches Hauptwerk »The History of the Decline and Fall of the Roman Empire« veröffentlicht hatte; das angebliche »Ächzen und Knarren«, das Jung dem Werk attestiert, erweckt übrigens einen falschen Eindruck: zwar fährt Gibbon mit zahllosen Anmerkungen in der Tat schweres wissenschaftliches Geschütz auf, behandelt dieses jedoch mit einer Ironie, die ebenso britisch wie aufklärerisch ist. zur Abfassung seines großen Geschichtswerkes die nöthige Bibliothek herangefahren?
Nein, der Verfasser beruhige sich. Es ist wahr, sein Styl ist ein Freund von Überraschungen. Er überflügelt oft. Aber mit welcher Anmuth immer! Mit welchen Memnonstönen Memnon ist ein mythischer König Äthiopiens, der nach Hektors Tod in den Kampf um Troja auf dessen Seite eintritt. – Die Kolosse bei dem ägyptischen Theben, von den Griechen fälschlich »Memnonkolosse« genannt, gaben, solange die obere Hälfte, durch ein Erdbeben abgeworfen, am Boden lag, bei Sonnen-Aufgang einen klingenden Ton von sich, der in der Antike als ein wehmütiger Gruß gedeutet wurde, den der gefallene Sohn (als dieser galt Memnon der Sage nach) seiner Muttern Aurora darbringe. der Zukunft! Ein Styl der, obwohl Prosa, dennoch den Zauber aller Versarten absorbirt zu haben scheint.
Es thut der Brust und dem Kopfe wohl, daß dieser Schriftsteller sich jede Vorausbestimmung, jede Abschließung verbittet. – Durch mechanische Fertigkeit und Wissenschaft, durch Correspondenzartikel und Handelsverbindung haben wir uns so bekannt gemacht mit unserer Erde, daß wir dem tellurischen Irdisch. Leben oft keine neue Produktion mehr zutrauen. Ja unsere Astronomen haben sogar den unendlichen Weltraum uns so ausgekehrt, daß sie einem furchtsamen Publikum bereits die Versicherung gegeben, es geschehe auch am Himmel nichts neues mehr, wenigstens dürfe kein Komet in das Gehege der Erde kommen. Und dennoch sieht sich der Geist, wenn wir uns recht besinnen, ewig jener Welt-Pforte zugewendet, durch die stets neue Phänomene heraufdringen, und diese Andacht vor dem Unendlichen und dessen heiligen Manifestationen ist es eben, welche das erwähnte Buch auf das vortrefflichste unterhält. –
Was müßte das übrigens für ein Prachtbau seyn, der würdig wäre, als eigentliches Heiligthum an solche Propyläen einer Philosophie der Geschichte zu stoßen! – Und sehen wir denn nicht Alle, voll Spannung und Vorfreude, in diesen Tagen einem Bau der Art entgegen?!
Auch auf unsern Schriftsteller möchte ich hinweisen als auf ein Phänomen von ganz eigenthümlichem Lichtreiz. Er ist, wie es mir scheint, in seiner kühnen, oft von allem Geltenden sich entfernenden Bahn schon wieder auf der Rückkehr in die Sonnen-Nähe begriffen, obwohl dieses nur scharfe Augen gewahren, da Kometen in der Sonnen-Ferne sich langsamer bewegen. Aber er wird jetzt schneller gehen, und wir werden, wenn feindliche Weltkräfte ihn nicht aufhalten sollten, sehr bald beobachten, wie er in erhöhtem, selten gesehenem Glanze leuchtet, und in mächtigem Fluge seinen Weg zur vollsten, schönsten Ellipse vollendet.
Auch den Begabten freilich kann, wie gesagt, Unvorhergesehenes hemmen. Und ich lehne es auf das Entschiedenste ab, Prophet seyn zu wollen. Aber sonst bekenne ich, allerdings unsern Schriftsteller schon längst begrüßt zu haben, als einen Glück-Bedeutenden, Hoffnung-Erregenden, der uns auf's Neue glauben machen sollte an die unendlich ausgebärende Zeugungskraft unserer Literatur.
Welch' eine Oede fühle ich wieder in mir und in der Umgebung nach Ihrer Abreise! Und doch auch welch' einen reichen Weltverkehr ewig zwischen uns auf- und abgehen, seitdem ich Sie gefunden habe. Man müßte sich einen Freund dichten, wenn man keinen hätte, bloß um in diesem Du, welches das Ich unermüdet fordert, erst recht die unendliche Welt umfassen zu lernen.
Heute nur wenige Zeilen. Sie wissen, ich habe es mir vorbehalten, nächstens in meinen Briefen eine Beantwortung jener Fragen zu versuchen, welche Sie mir vorgelegt haben. Es muß auf jeden Fall binnen kurzer Zeit vieles anders und besser werden in der Literatur. Es muß unter uns sich verringern die Zahl derjenigen, denen Literatur das gleichgültigste, freilich auch unbekannteste Ding unter dem Monde ist, oder die nur ihre Privatzwecke dabei zu verfolgen gedenken. Wenigstens fordert es die Höhe deutscher Intelligenz, daß ohne verpestenden Einfluß bleibe die Abgestorbenheit jener Naturen, welche nicht einmal der wohlfeilste Zink-Gehalt einer geistigen Erscheinung, viel weniger ein edleres Metall, auch nur zum Scheine des Lebens, zu galvanischen Zuckungen bringt.
Es muß aber auch vor allem das schriftstellerische Gewissen tiefer in sich gehen. Es muß sich ein Ehren-Geist unter den Schriftstellern constituiren, der alles Fade, Eitle, Unsittliche, Unheilige ausmerzt, in die äußerste Nichtigkeit schonungslos zurückdrängt. Die wackern Schriftsteller müssen das Bedürfniß einer neuen Weihe ihrer Kräfte zum Wohle des Staates und der Kirche fühlen. Sie müssen es verachten, nur dem Augenblick, dem Zeit-Vertreib, ja Verderb zu dienen. Es muß sich ein Organ bilden, eine Garantie zwischen Publikum und Regierung, eine Art literarischer Constitution, die unermüdet darauf zu wachen hat, daß der Mißbrauch der Feder vor der Nation gebrandmarkt werde.
Doch wie dürften wir uns, verehrtester Freund, den Verhandlungen bei Gelegenheit jener genialen Schrift über Goethe, undankbar, dem lieblichen Kinde entziehen, seinem Denkmal? Bettina von Arnims »Goethes Briefwechsel mit einem Kinde« war 1835 erschienen; dieses Werk, dessen ›Dokumente‹ zum Teil sehr stark bearbeitet und romantisch komponiert sind, wurde ein Verkaufserfolg und beeinflusste das Goethe-Bild der Folgezeit stark.
Es gibt eine stille, verborgene, seltsam beleuchtete Welt im Menschen, unendlich, wie die an das Sonnenlicht herausgeborene. Wenn sich die letzte in großen Massen, in scharfgezeichneten festbestimmten Zügen äußert, in Wald und Feld, in Meer und Gebirg, in Aether und Gewölk sich gestaltet, wenn sie in der Schönheit Wellenlinien sich tausendfach ergeht, in Moosen spielt, in Blumen tändelt, in mannigfacher Creatur die tausend Glieder regt, bis sie in des Künstlers Schöpfungen die Grenze der Natur überschreitet, den Himmel auf die Erde senkt, daß die alten Münster sich wölben, daß Göttergestalten mit Menschen wandeln, wenn sie endlich das gewaltige Drama der Geschichte auseinanderfaltet, wo Kraft an Kraft sich übt, und That an That vorüber rauscht, wo in der Schale des fortschreitenden Gerichts die Völker wie Individuen wiegen, und sich ein Jedes hinauf an den Tag der Oeffentlichkeit drängt; – dann arbeitet jene in ihrer stillen Verborgenheit nicht minder emsig fort, wenn auch Alles in verjüngtem Maßstab, in zarteren Bildungen, aber derselbe Reichthum, dieselbe Bedeutsamkeit. Ihre Blumen sind Sinnpflanzen, die vor jeder Berührung keusch zusammenbeben, um sich zu schließen. Ihre Kunstschöpfungen sind Phantasmen, über welchen sie in Mutterliebe brütet. Ihre Geschichte ist ein dämmernd-geheimnißvoller Sagenkreis, woran sie unablässig dichtet. Wunderbare Lichter sendet sie oft in die Oberwelt, daß es scheint, als habe die alte Erde vor Alter einen Riß bekommen. Geister sendet sie, damit die Menschen droben vor lauter Sonnenschein nicht geblendet, vor lauter Klarheit nicht zu verständig werden. Sie legt die Sterne wie Karten aus, ergründet das Meer wie ein plätschernd Bächlein. Aus Kindern, aus Frauen spricht sie in sinnreichster Weisheit. Dem Wahnsinn leiht sie Scharfblick, schmetternden Humor. Und wenn geliebte Menschen sterben, durchleuchtet sie die Todesstunde mit holdem Dämmerstrahl.
Aber – glaubet nicht, daß diese Welt des Gemüths, wie anspruchslos sie in ihrem Begehren seyn mag, sich dennoch irgendwie in ihrer Wirksamkeit beschränken lasse. Indem sie Allem entsagt, hat sie Alles in ihrem Bereich, und das ganze erscheinende Universum ist die große Tastatur, auf der sie ihre Melodieen anschlägt.
Dieß – die Heimath Bettinens.
Wie vieles Würdige, Anerkennende, Geistvolle ist über sie gesagt worden. Wer auch wie manche Unzufriedenheit hat sich hören lassen. Bettina von Arnim erfuhr und erfährt sehr unterschiedliche Beurteilungen. Zeitgenossen beschrieben sie als »grillenhaftes, unbehandelbares Geschöpf«, als koboldhaftes Wesen. Man sieht sie aber auch als emanzipierte, vielbegabte und neugierige Frau, die sich erfolgreich für persönliche Unabhängigkeit und geistige Freiheit einsetzte, für sich wie auch für andere Menschen. Wußte im Ernste mancher Erwachsene nichts Eigneres, nichts Bedeutungsreicheres herauszulesen?– Oder fürchtete der Verständige mit dem Kinde ein Kind zu werden, und sich, selbst tändelnd mit der Tändelnden, an der Würde des Mannes etwas zu vergeben? –
O der unnützen Furcht, wo so zwei Naturen kalt und weit an einander vorübergehen, ohne sich je auch nur streifen zu können! O der leichten, üppigen Geburt, die keiner Zange, keiner Hebamme bedarf, sondern, schon in der Frühe des Lebens reif, sich nach eigenem Gesetze löst! Und o der in anderem Sinne leichten, und nur zu verständigen Auslegung, die glücklich genug ist, sich auf ihre ernste Gesetztheit berufen zu können. –
Nichts berechtigt den Beurtheiler, so weit ich Bettinens Briefe kenne, die, trotz aller Gluth der Liebe wohl geschlechtslose Natur, und dennoch Mädchen und Jungfrau und Braut, – Knabe, Jüngling und Held zugleich, diese unendliche Blüthenwelt, in der sich eben so Natur und Kunst, wie Mann und Weib verschlungen zeigen; dieses Gedicht, welches allen Zeiten und Sitten, allen Regeln und Formen Hohn spricht, und in Bezug auf Goethe und Mignon Pygmalions Sage Der antiken Sage nach schafft der Künstler Pygmalion eine weibliche Statue, die er immer mehr wie einen echten Menschen behandelt und sich schließlich in sie verliebt; nach einem Anruf der Liebesgöttin Venus wird die Statue tatsächlich langsam lebendig. – Der Stoff ist seit dem 18. Jh. vielfach literarisch verwendet worden, bis hin zu George Bernhard Shaws Drama »Pygmalion« (1913), auf dem das erfolgreiche Musical »My fair Lady« (1956) fußt. wahr macht, plötzlich mit kritisch-polizeilicher Hand an das Licht der alltäglichen Wirklichkeit, in den Auflauf einer so schon verwirrt genug gemachten Menge zu ziehen, und wohl gar nach schonungsloser Männer Weise in die Geheimnisse, in die Geschichte dieser Liebe hineinzuforschen, und zu fragen, ob hier nicht gar – ein ganzes Leben könnte verfehlt worden seyn. –
Lehrt nur so die Menge mäkeln und beargwöhnen, unterweiset sie nur so, an keine Unantastbarkeit mehr zu glauben, und sich überall zu überzeugen, was hinter dem Schmelz der Blume wohnt, ob ihr's nicht bald dahin gebracht habt, daß noch seltener das Ursprüngliche auf Erden erscheint.
Was soll zuletzt aus unserer Kunst, aus unserer überfeinen Bildung werden, wenn jede Erscheinung am Thore des Lebens befragt wird, ob sie sich auch als einem Stande angehörig, einer Classe dienend legitimiren könne? – –
Das wird zuletzt noch daraus, daß wir jedem Genie, einverstanden mit der Menge, die, wir wissen was, darunter versteht, den Eingang versagen, aus kleinlicher Furcht, es könnte Feuer über Nacht entstehen, daß wir nur noch dem Angelehrten und Eingelernten, dem mit Taufschein und Diplom Versehenen Ehre erweisen, und daß uns herzlich bange und spießbürgerlich beklommen zu Muthe wird, wenn uns dennoch durch das Ueberlisten der, ewig Aus- wie Ein-Wege wissenden Natur das Ungeheure begegnet, das Geschlechtlose, welches in keine Thorschreiber-Liste, in keine, bis jetzt entworfene Kategorie passen will. Doch –
»Jene himmlischen Gestatten
Sie fragen nicht nach Mann und Weib,
Und keine Kleider, keine Falten
Umgeben den verklärten Leib.«
Wie kommt's, daß der Deutsche unermüdet gegen seine eigene Natur wüthet? – Daß er in diesen ewigen Huldigungen an das Ausland sich unbegreiflich dessen schämt, was, im Besitze eines anderen Volkes, dessen gegründetsten Nationalstolz hervorrufen würde? – Es ist gewiß die größte Kleinlichkeit, welche uns anklebt, daß wir über unsere unvergleichliche Größe so kleinlich denken, und man muß, gerade aus ächtem Welt- und Gottes-Bewußtseyn, aus freudiger Anerkennung dessen, worin andere Völker einzig sind, die stärksten Farben auftragen, wo es das eigene Lob gilt, weil dieses wiederholte Schmähen auf sich selbst zuletzt eine Epidemie wird.
Es ist wahrlich kein uns aus den deutschen Urwäldern noch angestammtes Ungeschick, kein Hinneigen zum grüblerischen Schwärmen, daß uns beim bloßen Kerzen-Licht und Brillanten-Feuer in der Conversation oft ein Heimweh ergreift, eine, unter den Fingerspitzen schneidende Winter-Kälte. Das ist die grollende Tiefe unseres Gemüths, die befriedigt seyn will. Das ist das Allgefühl dessen, was der Mensch umfassen soll zu ewiger, bewegungsvoller Ruhe. Das ist der Wehe-Ruf unserer Zeit nach einer höheren, dem Himmel näheren Geselligkeit. – Sie wird uns zu Theil werden. Auch die Sprache ist dazu unendlich bildsam. Sie hat uns Proben gegeben, welche die Weltsprache der Franzosen nachzubilden vergebens bemüht seyn möchte. Und so schämen wir uns nicht, unseres Gemüths, unserer Eigenthümlichkeit, und so sey uns doppelt begrüßt ein Gemüth wie das jenes wunderbaren Kindes.
Es ist nicht bloß Bettina, es ist nicht bloß eine Seite Goethe's, nicht bloß ein Grundzug des deutschen Volkes, über welchen von jenen Unzufriedenen grausam der Philister-Stock gebrochen wird, es sind auch noch andere ganz bestimmte, sich ebenfalls ihres Berufes, ihrer Aufrichtigkeit und treuen Offenheit bewußte Naturen, die ewig in der Menschheit wiederkehren, welche dort vor ein Menschengericht gerissen, und in die Acht gestoßen werden. – Ich kann mir nicht denken, daß irgend etwas anderes Bettinen tiefer verletzen, mit schmerzlicherem Undank lohnen könnte, als wenn glatt und scharf ihr Beruf noch in Zweifel gezogen wird. – Der Trost freilich, die völlige Beruhigung kann ihr nie ausbleiben, ihr, zu deren Füßen sich ja selbst der Grimm der Gefahr oft auf der Stelle legen mußte.
Es wird eine Zeit kommen, in welcher alle falsche Scham aufgehört hat, denn die Menschen werden wieder Kinder geworden seyn, aber erwachsene, vollendete, himmlische Kinder, Kinder voll Taubenunschuld und Schlangenklugheit, Kinder voll Lebenspoesie ohne Märchenunsinn, Kinder voll Weisheit und Dreistigkeit, ohne alle Altklugheit und Naseweisheit. Sie werden den Unglauben an Engel Lügen strafen, denn sie werden selbst Engel seyn. Sie werden jedem Ceremoniel, jeder Steifheit und Abgestorbenheit leerer Etikette und Weltsitte in das Angesicht lachen, und werden alles Eis der Erde wegschmelzen mit Sonnengluth, und Frühling wird sich lagern auf allen Höhen und in allen Tiefen, an allen Bächen und auf dem öden, weiten Ocean selbst. Sie werden, geschlechtslos, den Himmel mit der Erde vermählen und jedes Auge trocknen, und es wird ein großes, seliges, allgemeines Brautfest seyn, und kein Wesen mehr einsam, und alle Sterne des Weltalls werden über dieser Brautnacht brennen, und die Kerzen und Sterne unserer Salons werden auslöschen. –
Ein solches Kind, ein solcher Vorbote der künftigen Welt ist auch – Bettina. – Sie sagt jedem in sich Verknöcherten: du bist ein Gerippe, und sagt jedem bloßen Verstandesmenschen: du bist ein Narr, und sagt der rohen Menge: ich hasse dich, und wenn ich liebe, was geht's dich an? – Leset ihre Briefe, ein ewiges Gedicht. Leset ihre Briefe, und findet auch hier eine Verherrlichung Gottes, die er selbst sich in seinen Geschöpfen bereitet hat. –
Neu herausgegeben
und mit Anmerkungen versehen von
brucewelch