Wilhelm Jensen
Der Tag von Stralsund
Wilhelm Jensen

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Ein glanzvoller Maitag war's, kühl nach seiner norddeutschen Art, unter wolkenlosem Himmel blies kräftig der Nordwind, der die Dänenflotte durch den Gellen hereingebracht hatte, für Schifferaugen indes lag etwas in der Luft, als habe er vor, nach Osten umzuspringen. Nun war der Burgemeister mit den Ratsherren und vielköpfigem andern Geleit zur Ladebrücke hinuntergestiegen, dort den Schaden zu besichtigen, doch nur mit einem schweifend flackernden Blick gingen seine Augen über die Verwüstung hin; ungefähr seit einer Stunde mochte die Sonne ihren Mittagsstand durchschritten haben. Da fuhr plötzlich von einem Mund der Ruf: »Nu smiet de Düwel sin Grotmoder vun de Trepp dal! Hefft se dat med de swatte Kunst un kamt do günt wedder t'rügg?«

So sah's aus, jeder Blick ging in die Richtung, weiß im Lichtglanz blitzend, flog vom Gellen her wie ein Schwarm von Riesenmöwen eine Anzahl mächtig gebauschter Segel gegen die Brücke zu. Schnell drauf aber rief eine andre Stimme: »Nee, dat sünd Hansen, de vörste hett de Danziger Flagg.«

Und binnen kurzem litt's nicht mehr Zweifel, sechs hansische Handelskoggen von der größten Art waren's, die sich draußen auf der See angetroffen und, wie's Brauch, zusammengehalten, da alle nach Stralsund wollten. Sie kamen aus Osten her, doch für die Fahrt durch den Strela-Sund stand der Wind ihnen entgegen, so hatten sie den Kurs nordwärts von Rügen genommen, liefen jetzt unter vollsten Segeln fluggeschwind aus dem Gellen hervor, ohne eine Ahnung, was sich seit dem Morgenbeginn vor der Stadt zugetragen. Als vorderste schnitt die Kogge mit der Danziger Flagge durch's Wasserblau; sie zeigte am Bug unterm Vorderkastell kein Erzengel- oder Heiligenbildnis, sondern das Brustbild eines jungen Weibes, eine Seejungfrau schien's darzustellen. Mit lebensvollem Antlitzausdruck war es sichtlich von der Hand eines guten Künstlers aus verschiedenen Holzarten angefertigt, das lang auf die Schultern niederfließende Haar aus morgenländischem Ebenholz, während das des Gesichtes eine Farbe wie Elfenbein darbot; die Augen unter den dunklen Brauen warfen einen sternartig silbernen Glanz, über dem Scheitel sah von einem Halbrundbogen mit weithin erkennbaren weißen Buchstaben der Name ›Gesa‹ herab. Ungewohnt und auffällig waren Bildnis und Name, doch die an der Ladebrücke angesammelten Stralsunder hatten gegenwärtig keinen Blick noch Verwunderung dafür übrig; eher weitete es ihnen etwas die Lider auseinander, daß auf dem Vorderkastell des stadtfremden, augenscheinlich nagelneu gebauten Schiffes der Sohn ihres Altburgemeisters stand und hart neben ihm eine blutjunge Magd von unverkennbarer Ähnlichkeit mit dem geschnitzten Bild unterm Bugspriet. Nur hatte ihr der scharfe Wind, oder was sonst, Stirn und Wangen mit frischblühendem Rot gefärbt, ein langes seeblaues Gewand aus kostbarstem Brüggener Samt umfloß wie weiches Wellenspiel die hochschlanke Gestalt drunter, und über ihrer Brust leuchtete, dem Krönungsschmuck einer Königin gleich, ein goldenes, funkelnde Gesteine umfassendes Halsgeschmeide.

Das nahm auch, vornan stehend, Nikolaus von der Lippe gewahr, doch nur mit dem abwesend halbirren Blick, der seit ein paar Stunden in seine Augen gefahren. Jörg dagegen fiel das Blut aus dem Gesicht; so schnell, hier beim Anlanden schon, hatte er nicht vor seinem Vater dazustehen erwartet; mühsam nach Luft schöpfend, stieg er vom Kastell zur Ladebrücke herunter. Ihn überschwoll's jählings mit der Vollerkenntnis, daß seine Veranstaltung und seine draufgestellte Hoffnung nichts als eitel Blendwerk sei, mit dem er sich selbst die Sinne betrogen; ohne daß ihm die seltsame Anhäufung der erregten Bürgergesichter am Hafenrand zum Bewußtwerden kam, trat er, kaum ein Schlottern seiner Knie beherrschend, auf den Alten zu und stotterte, den breitkrämpigen Südwester vom Kopf abziehend, scheu niedergeschlagenen Blicks hervor: »Nehmt's nicht mit Unwillen an, Herr Vater – ich habe die Kogge in Danzig bauen lassen – sie gehört meiner – der Name dran ist der von meiner – sie steht dort oben – wenn Ihr einen Blick nach ihr richten mögt – für die ich Eure Zustimmung erbitten wollte, Herr Vater – daß ich sie mir zur Braut erwähle.«

Erst nach zwei vergeblichen, schreckhaft abgebrochenen Anläufen hatte der Sprecher das gescheute Wort über die Lippen gestammelt, und zu Tode bestürzt, unfähig, weiteres beizufügen, wich er einen Schritt zurück, stand wie gliedergelähmt. Denn nun schoß ihm aus den Augen des Alten der gefürchtete Blitz entgegen, und Herr Nikolaus stieß dazu aus: »Du? Wer bist du? Heißt du Jörg von der Lippe? Sieh' mich an! Hab' ich Läuse im Bart? Das läßt du mir ins Gesicht werfen? Bist du mein Sohn oder bist du der Teufel, den ich gerufen? Heißt du Jörg von der Lippe, da zeig's und hol sie mir! Bringst du sie her, da wähl' dir des Teufels Tochter zur Braut, wen du willst! Da hinunter sind sie!«

Er reckte den Arm südwärts nach dem Strela-Sund. Der Junge begriff's nicht, sah wortlos verdutzt in die irrflackernden Augen des Alten. Einiger Zeit bedurft' es, eh' ihm auf sein Fragen aus den durcheinander redenden Antworten der Umhergedrängten zu deutlichem Verständnis geriet, was hier erst eben geschehen sei; absonderlich nahm sich's aus, als wachse dabei die bisher haltlos vorgebückte Gestalt des jungen Schiffers Zoll um Zoll aufwärts. Seine Brust weitete sich zu befreitem Atemzug, seine Schultern dehnten sich breit; in die Augen kam's ihm, als schnaube eine Weiße Brechsee vor ihnen auf und seine Faust packe nach dem Ruder, reiße es herum, um Kopf und Kragen mitten durch sie hindurch. Nun spannte er die Nüstern und witterte in die Luft; zwischen seinen Zähnen flog's hervor: »Der Mord greift um – sie kommen nicht hinaus –«

Da stand er, voll verwandelt vom Kopf bis zum Fuß, hoch aufrecht, und ebenso klang jetzt auch seine Stimme auf, furchtlos, fest, wie aus einer Stahlkehle: »Herr Vater, ist's Euer Wort?«

»Was Wort? Was Wort?« wiederholte der kopfwirre Alte.

»Wenn ich Euch den Schimpf wett mache – daß ich Euch als Tochter die Braut ins Haus führen darf, die ich will?«

Wie zwei Wellen, die vom Wirbelsturm gepeitscht, sich mit den Schaummähnen wider einander aufbäumen, standen die beiden sich gegenüber. Auch Herrn Nikolaus' Nüstern schnoben, er stieß heraus: »Prahlhans! Schlägst du mit der Zunge drein? Einer von der Lippe zeigt's mit der Faust!«

»Hier, Vater! Handschlag auf Euer Wort!«

Der Junge streckte ihm die sehnige Hand entgegen, und um einen Augenblick später überhallte es, sonderbar täuschend, die Ladebrücke. Die Donnerstimme des Altburgemeisters war's, aber sie kam nicht aus seinem Mund, sondern aus dem Jörgs von der Lippe: »Wer steht mit mir? Mein Schiff holt die Dänen, oder mich sieht keiner mehr! Dudesche Hanse! Seid ihr Lübecker in Stralsund und klopft mit dem Badequast? Da wartet unsere Flotte! Drauf! Macht sie flott!«

Ein ungeheures Stimmengetöse aus tausend Kehlen brauste gegen seinen Ruf zurück, wälzte sich weiter, in die Stadt hinein, durch alle Gassen: »Auf die Dänen!« Er hatte das Wort ausgestoßen, und es zündete wie ein Blitzfunken in einem Strohdach; die von den letzten Tagen wilderregten Gemüter der Bürger schlugen zu feuerlodernder Flamme empor. Ringsum tobte es gleich donnernder Brandung: »Aufs Deck! Alle Mann! Schützen heraus! Bombarden! Kraut!« ein Ameisengewimmel, rennend und schleppend, ergoß sich aus den Hafentoren. Die Hansestädte waren daran gewöhnt, in dringlichen Fällen Kauffahrzeuge zu Kriegsschiffen umzuwandeln, doch mit so unglaublicher Geschwindigkeit hatte dies noch keine ins Werk gesetzt. Kaum drei Stunden vergingen nach dem Einlauf der sechs Koggen, da spannten diese, als Orlogschiffe gerüstet, wieder die Segel. Hundert gewaffnete Bürger drängten sich auf jedem zusammen, von den Kastellen reckten sich die Rohrschlünde der Feldschlangen und Bombarden vor, dicht standen die Topkastelle am Mars mit Knallbüchsen- und Hakenschützen, von Armbrustern untermengt, gefüllt. Keinem kam die mehr als zehnfache Überzahl der Dänenschiffe in den Sinn, die außerdem stundenlangen Vorsprung durch den Strela-Sund hatten, doch verstärkten die Anzeichen sich, daß draußen vor seinem Ausgang der Wind ungünstig für sie umlaufe. Die Stralsunder aber hielt's wie mit einem Rausch gepackt, fast jeder von ihnen nahm mehr oder minder an der Kopfbetäubung teil, die ihren Altburgemeister zum erstenmal in seinem Leben überfallen. Nur Jörg von der Lippe zwang seine Trunkenheit ins Herz zurück, hielt den Kopf wanklos fest und klar, die Augen scharf wie die eines Sturmvogels. So stand er als Führer seiner Kogge auf dem Vorderkastell der vorangehenden ›Gesa‹ und neben ihm das lebende junge Menschenbild, dessen Antlitz der Schiffsschmuck am Bug nachahmte. Er hatte sie am Land zurücklassen wollen, doch hatte sie sich mit unbeirrbarer Willenskraft dagegen geweigert. Seeräuberblut war in ihr, das keine Furcht kannte; um sie für sich zu erringen, zog er in den Kampf, und beim Sieg oder Untergang wollte sie nicht von seiner Seite. Einer Silbermöwe, die auch Blaumantel benannt ward, ähnelnd, stand sie neben ihm; wie das weiße Brustgefieder derselben strahlte ihr Angesicht Glanz aus, und gleich blauen Flügelschwingen umschlang ihren Leib das Gewand. Jetzt hafteten staunend und bewundernd manche Augen auf ihr, wie das Schiff sich vom Ufer löste und sie dicht an der Brücke entlang forttrug, denn auch die Frauen und Mädchen der Stadt waren auf die Mauer hinausgeströmt, den fahrtgerüsteten Koggen nachzublicken, und eine von ihnen konnte sich den Mund nicht verhalten, sondern rief laut aus: »Is dat en Königin, oders kümmt se vun'n Hewen dal, de Hansen to helpen?«

*

Da hatten die jähen Überraschungen der beiden letzten Tage noch nicht ihr Ende genommen, noch eine neue gesellte sich hinzu. Nur um ein weniges südwärts von Stralsund lag im Sund die kleine Insel Strela, die ihm den Namen gegeben, und wie die hansischen Koggen eben auf diese zuzulaufen begonnen, umzog ihren Vorderrand eine dichte Segelmenge. Die dänische Flotte war's, sie kam zurück; als sie ans Ende des Strela-Sunds gelangt, hatten der heftig nach Osten umgeschlagene Wind und grobe See ihr wie mit Riegeln den Ausweg in den Greifswalder Bodden versperrt, und sie war umgekehrt, ihren Rücklauf wieder an der Stadt vorüber durch den Gellen zu nehmen. Wie man im Morgengrau in Stralsund nichts von ihrem Herannahen bemerkt gehabt, so zog sie jetzt ohne Ahnung von dem inzwischen Geschehenen in langer Reihe achtlos daher, und fast urplötzlich, beinahe unvorgesehen erst ward's ihrem vordersten Teil offenbar.

Eigen war der Vorgang in der Luft wie auf dem Wasser, auch der Wind kämpfte wider den Wind. Vom Gellen her kam noch der Nord und füllte die hansischen Segel, doch gleicherweise tat's den dänischen schon der Ost. So überflogen beide wie im Nu die zwischen ihnen klaffende Lücke. Manche stattliche Schiffe hatte die Königin Philippa ausgerüstet, und nur ein halbes Dutzend hansischer Koggen lief gegen die siebenundsiebzig an. Aber Berichte von Augenzeugen sprechen, sie hätten neben den Fahrzeugen der Feinde ausgesehen ›wie Kirchen neben Kapellen‹.

Denn Augenzeugen waren zu Tausenden da, Kopf an Kopf drängten sich auf der Stadtmauer Greise, Weiber und Kinder. Solches Schauspiel, wie heute Stralsund, hatten die Jahrhunderte noch nicht gewahrt. Im Hafen, kaum auf eine Viertelmeile weit, entbrannte an der Insel Strela vor den Zuschauern eine Seeschlacht. Doch kurz nur blieb ihnen der deutliche Anblick, nach wenigen Minuten lag alles von wogendem Pulverrauch umballt, aus dem nur da und dort geisterhaft weiße Linnen hervortauchten und zurückschwanden. Und so auch schlugen Flammen auf, loschen, von schwarzem Qualm überschnoben, aus.

Gradaus war die ›Gesa‹ als erste auf das vorderste Dänenschiff losgerannt, hatte dies, wie ein wütender Stier seinen Gegner mit gesenkten Hörnern anfällt, mit dem eisernen Schnabel niedergerannt, ohne daß es eine Gegenwehr zu leisten vermocht. Von ihren Kastellen krachten die Feuergeschütze, vom Mars herunter die Haken und Arkebusen zwischen die nächsten Feindesfahrzeuge hinein; Enterhaken, fünfarmige Anker an leichten Ketten, flogen nach ihnen aus, hielten sie gepackt, und die Stralsunder stürzten über die Brüstungen, hieben und stießen die noch wie betäubt dreinstarrenden Dänen nieder. Ehe deren nachfolgende Schiffe begriffen, was vorn geschah, war fast ein Dutzend an der Spitze zum Sinken gebracht, übermannt oder in Brand gesetzt. Dann erkannten sie nur die eine ›Gesa‹ als die Verderbenbringerin vor sich, drangen mit kochendem Grimm auf sie ein. Doch nun brausten die fünf anderen Koggen heran, fielen ihnen in die Flanken; das Waffengeklirr und Donnern der Bombarden noch überhallend, schrie's von allen Kastellen: »Dudesche Hanse!« In dichtem Gedränge und Handgemenge entstand unter den eng zusammengekeilten dänischen Schiffen eine ungeheure Verwirrung; unfähig, die Zahl der Gegner zu bemessen, von den Enterhaken gefaßt, von den hansischen Koggen überragt, wie schwimmende Häuser von Türmen, suchten sie sich zur Flucht zu drehen, verfingen sich mit den vom Wind hinter ihnen dreingetriebenen. Ihre Holzleiber krachten mit zerberstenden Planken, in das hilflos verstrickte Riesenknäuel stießen ringsum wildjauchzend die schonungslos erbitterten Hansen hinein, schleuderten brennende Pechkränze auf die verflochtene Masse, die hurtig wie zu einer einzigen Flamme emporloderte. »Dat weer'n Mandel,« schrie der Putzenmaker Putte Kock mit schornsteinfegerschwarzem Rauchgesicht, »nu lat us dat Schock vullmaken! Da krupt noch to veel vun de Garpers up't Water, fünft gifft dat Nisse.« Wilde Spaße waren's, die da und dort aus einem Mund die blutige Abrechnung des gemeinen Kaufmanns mit seinen nordischen Widersachern begleiteten; auch manch einer unter den zu Kriegern umgewandelten Stadtbürgern griff, von Spieß, Bolz und Kugel tödlich getroffen, umschlagend noch einmal mit den Händen in die Luft, taumelte, das Wasser drunten rot färbend, über Bord. Aber für jeden von ihnen versanken zehn Dänen in den Wellen oder deckten als Leichen die Wracktrümmer ihrer vielfältig zerschellend auf die Sandbänke der Insel Strela geworfenen Schiffe. Bei dem Ringkampf in der schmalen Meerenge war der anstürmende hansische Nord dem dänischen Ost über und, noch ehe eine Stunde verflossen, der Ausgang nicht mehr zweifelhaft. Was sich von dem großen, zur Erstickung zusammengepreßten skandinavischen Geschwader noch zu rühren vermochte, ließ jede Hoffnung auf den Sieg fahren, trachtete einzig noch nach Rettung aus dem Untergang.

In diesem unermeßlichen Getümmel war's Jörg von der Lippe gelungen, sich mit der ›Gesa‹ eine freie Bahn zu brechen; als die Schlacht begonnen, hatte er für zwei Augenblicke das Kastell verlassen, plötzlich blitzschnell und wortlos die Arme um seine Braut geschlagen, sie wie eine eingefangene Taube zur Kajüte hinuntergetragen und dort in sicherndem Käfig verwahrt. Nun sah er, aus der Einengung frei geworden, auf kurze Strecke weit das größte der feindlichen Schiffe vor sich, eine Kogge, fast der seinigen gleichkommend; an ihrem Hauptmast flatterte ein mächtiges Flaggenbanner mit dem Wappen der drei skandinavischen Reiche, und zwischen ihnen in der Mitte spreizte der pommersche Greif seine Fänge. Augenscheinlich war's das Admiralschiff der dänischen Flotte, und jetzt ward auf dem Vorderkastell auch sein Befehlshaber erkennbar. In goldblinkender Panzerrüstung stand er hochaufgerichtet, ein nach rückwärts schwerbefederter Goldhelm deckte ihm den Kopf, auch als Kleinod den Greif tragend. Jörg war in der Mondnacht nicht bis ins Innere des Kreidehauses am Jasmunder Strande gelangt, hatte den vom Magister Wigbold dorthin geführten Gast nicht mit Augen wahrgenommen, doch im Nu ward's ihm bei dem Anblick zur Gewißheit, der drüben mußte König Erich selbst sein, und mit weithallender Stimme schrie er diesem entgegen: »Hüt heff ick di beter, Erich vun Pommern, un min Tweerns tövt up din Arms!« Mit der Linken zu Boden greifend, hob er deutend einen dicken Ankerstrick in die Luft; sein Befehlsruf ließ das Steuer grad' auf das Admiralschiff zuhalten.

Viel Unwürdiges, besserem Menschensein Verächtliches lag in der Brust König Erichs zusammengehäuft, aber Feigheit war nicht in ihr. Ihm kam's nicht in den Sinn, dem drohenden Anprall auszuweichen, von Dutzenden seiner gepanzerten Ritter umgeben, ließ er tollkühn den Zusammenstoß aufnehmen. Der mußte auch die ›Gesa‹ leck schlagen und kampfunfähig machen; mit klugem Geschick vermied Jörg ihn im letzten Augenblick, ließ seine Kogge leewärts an die Seite der feindlichen gleiten. Trotzdem krachten und knatterten die Wandungen beider bei dem Gegendruck, die Ketten der bereitgehaltenen Enterhaken rasselten; ›Dudesche Hanse!‹ und ›Tydske Garper!‹ tobte Geschrei hinüber und herüber.

Da nahmen Jörg von der Lippe und Erich von Pommern gleichzeitig etwas plötzlich Auftauchendes gewahr. Bei dem hallenden Ruf des ersteren hatte Gesa, die junge, sich nicht von ihrem Käfig halten lassen, war wieder herausgeflogen, stand auf dem Kastell da, und wie festgebannt blieb des Königs Blick auf der wundersamen Erscheinung des jungen Weibes haften; in seinen Augen glimmerte eine brennend aufglühende Begier. Doch ein dänischer Schütze mochte sie für ein Seeweib ansehen, das mit Wind machender Zauberkunst den Hansen zum Beistand gekommen; er spannte seine Armbrust, und von der Sehne schwirrte sein Eisenbolzen grad' gegen ihre Brust. Zu Tod getroffen, hätte sie niederschlagen müssen, allein Jörg hatte im letzten Augenblick die ihr drohende Gefahr aufgehascht und eben noch Zeit gehabt, deckend vor sie hinzustürzen. So traf ihn der Pfeil unter dem rechten Schulterblatt und durchbohrte sein Lederkoller: er taumelte von der Wucht des Anschlags, schwarz zog's ihm über die Augen, und gelähmt fiel sein Arm schlaff herunter. Bestürzung überkam seine Leute um ihn, drüben brach ein Freudengeheul aus den Wappnerkehlen.

Mit dem Mädchen zugleich aber war noch ein Weib von drunten heraufgekommen, der Wind stob ihr langdunkles, graugemengtes Haar um Schläfen und Schultern, und eine schallende Lache aufschlagend, rief sie jetzt: »Kommst du heut' mit deiner ganzen Flotte, mich in dein Schloß heimzuführen, Erich von Pommern? Hier ist dein Schiff ›Gesa‹, das du bauen wolltest, mich zu holen, und hier steht Gesa, deine Braut. Sie girrt nach ihrem Tauber – deine Taube fliegt zu dir. Die Sonne geht herunter, und die Mondnacht kommt. Fang' mich auf mit deinen Armen!«

Die Gesa aus den Trümmern der Vikingburg über Julin breitete ihre Arme wie zwei Flügel weit auseinander und eilte der Brüstung des Kastells zu, als wolle sie über diese nach dem Admiralschiff hinüberfliegen. Aus ihrem Lachen, den Worten und dem Klang der Stimme war das Sonderbare hervorgekommen, das Claus Störtebeker seiner Tochter mit seinen vergrabenen Schätzen als Erbteil übermacht; nicht Geistesschwäche, denn für ihr Kind war sie mit kluger Vernunft bedacht, und was sie sprach, zeugte auch nicht von Sinnverrückung. Doch etwas Irrtönendes lag drin, wie vom Munde einer in halbem Traumzustand Redenden; so als eine mondsüchtig auf der verlassenen Düne Umgehende hatte Erich von Pommern einst das blutjunge Ding in der Nacht angetroffen und, selbst auch fast ein Knabe noch, lüstern mit listiger Betörung umstrickt, daß sie ihm nicht Widerstand geleistet. Und so war's bei seinem Anblick in dem Kreidehaus wieder über sie geraten und geriet es jetzt in gleicher Art. Jahre um Jahre hatte sie auf seine Rückkehr, die er ihr beim Fortgang zugeschworen, gewartet, bis jeder Blutstropfen in ihr sich mit glühendem Haß gegen ihn angefüllt. Der schleuderte ihm ihr irrklingendes Lachen, die mit bitterem Spott getränkten Worte ins Gesicht, und dennoch zitterte durch den grimmigen Hohn noch etwas Wahres, seit jener Mondnacht mit unaustilgbarer Sehnsucht in ihrer Brust Zurückgebliebenes hervor. Totes und doch noch Fortlebendes mischten sich in ihrem Hohnruf zusammen, das vor allem gab ihm den seltsamen, geisterhaft wahnwitzigen Klang.

Denn so lange dieser erscholl, übte er auf alle Hörer eine wunderhafte, wie festbannende Wirkung, daß mitten in der Schlacht ein paar Augenblicke jede zum Kampf auf Tod und Leben emporgereckte Hand ihre Waffe unbeweglich anhielt. Erich von Pommern aber war schreckvoll erblaßten Gesichts zurückgefahren; wie Jörg von der Lippe nichts mit Furcht überwältigte, als die Augen seines Vaters, so entfiel dem Herrn der drei nordischen Reiche Blut und Mut vor der jähen Wiedererscheinung des ihn mit Koseworten höhnenden und wie mit Ketten umschlingenden Weibes vom Jasmunder Strand. Ungezählte ihres Geschlechts, in seinem Gedächtnis ausgelöscht, hatte er in den Armen gehalten, aber sie war die erste seines Lebens gewesen, und ob er auch nie etwas von einer Gewissensscheu gekannt, packte es ihn aus ihrem Anblick mit einer knabenhaften Angst an. Als ein Mondnachtsgespenst reckte sie sich heute am lichten Tag vor ihm auf, streckte die Arme aus, sich seiner zu bemächtigen. An den Christengott und dessen Erzengel glaubte er so wenig, als es seine Ahnherren Swantibor und Waldemar Atterdag getan, doch vor Dämonen und aus Gräbern rückkehrenden Geistern schüttelte es ihm wie dem niedrigsten Schiffsknecht das Blut, und als eine Rachefurie hatte der Höllenschlund die Gesa von Wollin wider ihn ausgeschickt. Wahn durchkreiste seinen Kopf, sie fliege durch die Luft zu ihm herüber, und sie kam auf dem Schiff, das er als Knabe bauen gewollt, um Seeräuber zu werden, der Name Gesa flammte dran über ihrem Bild. Nicht aus Holz und Leinwand, ein Geisterschiff war's, gegen das kein Widerstand möglich fiel.

König Erich von Dänemark, Norwegen und Schweden schrie plötzlich, von Grausen übermannt auf: »Macht los! Der Teufel! Los!«

Ein Innehalten des Kampfes auf beiden Seiten war's gewesen, wohl kaum von der Dauer einer Viertelminute, denn auch auf der ›Gesa‹ hatte Bestürzung über das Zurückschwanken des vom Geschoß getroffenen jungen Führers unwillkürlich dem Hinüberdringen seiner Mannschaft nach dem Admiralschiff so lange Einhalt getan. Indes nur während drei oder vier schwerer Atemzüge hielt die Betäubung Jörg von der Lippe gefaßt, dann streckte er statt des rechten den linken Arm auf und rief: »Dat's blot Kinnerspeel – los up den Garpenvagel!« Doch die Enterhaken hatten unter dem pommerschen Greifen noch nicht fest gepackt, auf das Gebot des Königs war es blitzschnell gelungen, sie mit Axthieben zu kappen und mit Klüverstangen die dänische Kogge von der ›Gesa‹ abzudrängen. Eine Wasserlücke klaffte zwischen beiden auf, und jetzt kam der Wind, der Ost, der den Nord niedergerungen, der ersteren zur Hilfe, entriß sie aus der tödlichen Umarmung. Ihre geschwellten Segel retteten sie davon, während ihre Gegnerin sich beschwerlich gegen den Widerwind drehen mußte, um ihr nachfolgen zu können. Als sie's ins Werk gesetzt und auch ihre Segel sich wieder bauschten, zog der pommersche Greif hastig an Stralsund vorüber. Nun lief die ›Gesa‹ hinter ihm drein; wie ein gehetztes Wild floh Erich von Pommern über die schäumenden Wellen, sein eignes Blut machte Jagd auf ihn. So ging's nordwärts durch den Strela-Sund in den Kubitzer Bodden hinaus, doch der Greif hatte zu weiten Vorsprung gewonnen, ließ sich nicht zum andernmal fassen. Das Admiralschiff allein entkam durch den Gellen in die See, die sechsundsiebzig andern der dänischen Flotte waren von sechs hansischen Koggen niedergerannt, verbrannt, geentert, als Beute weggeschleppt. Das war der größte Tag, den Stralsund je gesehen; an ihm verlor die Insel Strela ihren alten Namen und erhielt den neuen ›Dänholm‹.

Sonnenuntergang nahte heran, als die ›Gesa‹, nachdem sie von der vergeblichen Jagd abgelassen, mit vielen Kreuzschlägen nur mühsam und langsam gegen den Ost zur Ladebrücke herankam. Doch auf dieser stand noch die ganze Stadtbevölkerung wartend zusammengedrängt, empfing das anlegende Schiff mit unermeßlichem Jubelgeschrei; unter den vordersten leuchtete des Altburgemeisters weißer Kopf, von dem er den Hut abgezogen. Jörg von der Lippe stieg vom Kastell herab, diesmal begleitete ihn die junge Gesa, ihre Mutter blieb am Deck zurück. Wie die beiden ans Land traten, fielen die Frauen und Mädchen umher auf die Knie und riefen: »Se is vun'n Hewen dalkamen un hett us holpen!«

Aus Herrn Nikolaus' Augen war das irre Geflacker vom Mittag weggeschwunden; die Menge um Kopflänge überragend, stand er mit stolzem Gesichtsausdruck. Als der Junge an ihn herangeschritten, streckte er ihm ohne Wort die Hand entgegen, doch Jörg sagte: »Mit de geiht dat hüt bi mi nich, Herr Vadder, Ji möt mit de Luchterhand vörleef nehm. Awers de Garpers hett se Jüm bröcht.«

Er faßte mit der Linken die Rechte des Vaters, der nichts erwiderte, als: »Du büst min Söhn.« Nun drehte der Alte die Augen nach Gesa, sah sie an und setzte hinzu: »Is dat min Dochter?«

»Wenn up dat Wort vun Niklas vunne Lipp to stahn is, denn warrd se dat.«

Ohne Trotz, doch auch ohne Scheu, von sichrem Augenaufschlag begleitet, kam's dem jungen Sieger vom Mund. Sein Vater hielt den Blick noch auf das Mädchen gerichtet und fragte: »Wat is din Nam?«

Ihn gleichfalls furchtlos ansehend, antwortete sie: »Gesa«. Schweigend holte der Alte noch einmal Atem, dann sagte er: »Jörg vunne Lipp mutt dat weeten. Kumm in min Hus, Gesa.«

*


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