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Nathan Aronsohn ging schon so klein in der Ferne, daß er in seiner Fortbewegung an einen beinlahm angeschossenen dunklen Vogel erinnerte. Sein Blick suchte überall am Boden umher, manchmal stand er still und purrte mit dem Haken in einer leichten Aufwölbung des Sandes, die jedem anderen Auge unauffällig geblieben wäre. Noch er nickte darauf nieder und redete laut vor sich hin: »Es ist nichts ohne Grund und Ursache in der Welt,« und immer stellte sich heraus, daß dieser Spruch sich auch bei dem von seiner Achtsamkeit Wahrgenommenen bewährte. Ein Stein oder ein Brettstück oder sonst etwas bildeten den Anlaß der Erhöhung in dem ebenen Strandboden, meistens vollständig, ober doch allein für den Lumpen- und Trödlersammler nicht wertlos. So kam er mit oftmaligem Anhalten nur langsam weiter, der Tag zeigte sich, wenigstens jetzt, nicht ausgiebig für ihn, selten einmal lud er den Sack ab, einen Plunder hineinzutun, und nur ungefähr zu zwei Dritteln erst war jener gefüllt. So schon zu Haus zu kehren, lag nicht in seinem Brauch; einmal den Inhalt übermessend, ließ er vom Mund kommen: »Was man hat heute getan, hat man nicht nötig mehr zu tun morgen. Ist er doch ein Nimrod zu unserer Zeit, daß er vielleicht findet gutes Gefallen an dem Ding, daß ich hab' an meinem Finden auch ein gutes Gefallen.«
Mittagsstunde war's geworden, doch Nathan setzte die Richtung der Stadt zu nicht weiter fort, sondern bog nach links ab quer ins Land hinein. Nach einiger Zeit ließ er sich auf eine etwas erhöhte Heidebulte nieder, zog ein Stück alttrocken Brotes als Mittagsmahlzeit aus der Rocktasche, und seine noch guterhaltenen Zähne krachten durch die harte Rinde. Die linde Frühlingssonne hatte schon wieder mannigfaches Leben der Tierwelt aus dem Winterleben hervorgelockt, auch eine schwarzblaue Blindschleiche ringelte sich unter einem Strauch heraus auf den warmen Sandboden. Der Rasthaltende sah ihr zu und sagte: »Es bleibt alles in der Welt, wie es ist gewesen von Anfang her. Sie hat versucht die Eva mit dem Apfel, wird der Apfel wohl sein gewesen von Gold.« Doch er zeigte sich nicht sonderlich schlangenkundig, denn er redete die harmlose Schleiche an: »Bist du von der Sorte, davor hat Besorgnis der Christenrabbi, sie könnt' die Seeschwalbe vergeben mit einem Giftzahn, daß er sie nicht gern will laufen lassen mit den bloßen Füßen über das Heideland. Warum sollte das Gewürm beißen ihr in den Fuß? Aber es ist wohl nicht, daß er's meint so, sondern daß ich auch nicht ließe gehen die Miriam allein weit über die leere Heide.«
Nathan hatte zu Ende gekaut, blieb indes, sichtlich über etwas nachgrübelnd, noch ein Weilchen sitzen, dann machte er sich wieder auf den Weg oder richtiger auf den kaum wahrnehmbaren Pfad zwischen dem braunen Gestrüpp. Doch er war hundertmal hier gegangen und fehlte keinen Tritt; ein Heidedorf, ein Häuflein ärmlicher Hütten hob sich als nächstes Ziel vor ihm auf. Aber für seinen Sack gab es keine besitzlose Armut; spähend und suchend humpelte er von Hofstall zu Hofstall, meistens umsonst an sich nehmend, was niemand mehr wollte, ab und zu einmal handelnd und aus einem altersschwarzen ledernen Schnürbeutel ein paar schmutzverkrustete Kupferstücke herausfingernd. Dann blieb das Dörfchen hinter ihm, wie eine abgeweidete Koppel, von der die Herde weiterzieht, und er ging wieder auf der freien Fläche. Seine Richtung hielt sich dem näherrückenden breiten Waldgürtel im Osten entgegen.
Bisher war immer sein Schatten neben ihm, allgemach vor ihm auf gewandert, doch nun ward derselbe bleich und schwand rasch völlig weg. Die Aprilsonne in seinem Rücken konnte sich noch nicht zum Untergang anschicken, aber er hatte mit Recht gesagt, daß er ein Wetterglas im Bein trage, und es kündigte ihm für heut noch einen Umschlag am Himmel an. Das bestätigte sich, wie er den Kopf jetzt umdrehte. Eine Wolkenbank schob sich, die Sonne deckend, über der See herauf, vorauslaufender Wind ging mit einem Stoß durch die da und dort noch an den Stengeln haften gebliebenen vorjährigen dürren Heideglöckchen und ließ sie leise rascheln. Nathan Aronsohn redete zu sich selbst: »Ist es doch der Jahresmonat, der nicht weiß, was er will, ob er will scheinen lassen heiß die Sonne oder wehen mit kaltem Sturm. Es ist in seiner Jugend noch das Jahr, sie hat in sich beieinander Sonne und Sturm.«
Der Wind blies, und das Gewölk stieg rasch höher, den ganzen Himmel einzunehmen. Kein Regen fiel, doch es ward ein grauluftig rußiges Wetter; am Waldrand, den der Wanderer nun erreichte, knarrte das Geäst. Zwischen alten Buchen hindurch ging er auf sich verbreitendem besserem Weg, der auf anderes als bäuerisches Besitztum hindeutete. Ein Klang scholl durch die Stämme heran, jetzt als ein Hufschlag erkennbar, gleich danach tauchte um eine Krümmung her ein Reiter auf. Ein junger, höchstens erst zwanzigjähriger Mann mit aristokratischen Gesichtszügen, einen unter ihm tänzelnden feingliedrigen Fuchs zu langsamem Schritt zügelnd. Sich an den Wegrand drehend und die Mütze abziehend, blieb der Jude stehen, das Pferd vorüberzulassen, doch unerwartet hielt der Reiter, ihn ins Auge fassend, an und sagte:
»Läufst du noch immer mit dem Sack, Nathan? Man glaubt's kaum, daß zu Haus alles Tag um Tag so bleibt. Setz' auf.«
Der Angesprochene sah, ohne dem letzten Geheiß nachzukommen, ungewiß auf, eh' er entgegnete:
»Weiß ich nicht, ob ich mich lasse täuschen von meinen Augen und ob es ist der gnädige Herr Junker Meinold von Alfsleben, der mir erweist die Gnade, mich zu kennen und zu benennen mit meinem Namen?«
Der junge Herr lachte. »Sind deine Augen alt geworden, Nathan, oder ich so anders in den dritthalb Jahren, seit ich zuletzt hier war? Ich habe dich doch früher oft genug gefragt, was du im Sack hättst. Nu siehst freilich nicht grad' wie eine Fee aus, aber als Knabe war's mir, als müßt' einmal das Köstlichste aus ihm herauskommen, wie nur der Karfunkelstein im Märchen.«
»Wunder, Herr Junker, Wunder, das wird geschaffen von der Zeit. Hat sie doch mitgebracht dem Herrn Baron über der Lippe wie weiche Fäden von Seide ein Wachstum von braunem Haar, daß ist geworden aus dem feinen Knaben ein schöner Mann und er mir nicht mehr kenntlich geblieben in seiner Veränderung.«
»Glaubst du, ich hätte dich angehalten, um mir ein Kompliment von dir machen zu lassen?« lachte der Reiter wieder mit weißvorschimmernden Zähnen. »Wenn du das willst, kannst du mich ›Herr Doktor‹ anreden; wir treffen uns gewiß manchmal wieder. Ich habe große Lust, hier in die Weite zu reiten, die See hat's mir oft in der engen Stadt angetan, und mich trieb's gleich heute hinaus. Du kommst von draußen her, zwischen den Bäumen sieht man nicht recht, aber mich deucht, der Himmel wird anders.«
Nathan hatte seinen Sack von der Schulter heruntergenommen und band ihn auf. Dazu antwortete er:
»Wird er anders, hat er mich doch vielleicht geführt mit guter Absicht auf diesen Weg, zu begegnen dem Herrn Junker, der in früherer Zeit oft hat geglaubt, daß ich trage Köstliches in meinem armen Sack. Habe ich drin auch heut keine Kostbarkeit, aber ein Stück, was könnte gefallen einem Liebhaber von alten Gewaffen, daß ich es wollte vorweisen auf dem Schloß dem hochgnädigen Herrn Vater, weil er ist wie ein Nimrod in unserer Zeit.«
Unter dem Sammelsurium seines Sackes kramte Nathan von zu unterst eine Sattelpistole herauf, die augenscheinlich lange feucht gelegen, und an der er sich bemüht, stellenweise den braunen Rost wegzuputzen. Doch nur am Kolben war dies einigermaßen geglückt, so daß sich zu den Seiten eingelegte silberne Arabesken erkennen ließen; am Hahn und Laufe hatte der Säuberungsversuch nichts genützt. Nun hielt er die kleine Schußwaffe zu dem Reiter ausgestreckt, der, sie zur Hand nehmend und betrachtend, zunächst erwiderte:
»Sehr alt scheint die Pistole mir nicht grad', und das aus dem Märchen, was ich in deinem Sack glaubte, ist sie noch weniger.«
Nathan fiel ein: »Der Herr Junker wird doch sein ein Kenner, zu sehen, daß sie schon muß gedient haben zu Großvaters Zeit.«
Meinolf Alfsleben versuchte umsonst, den eingerosteten Hahn zu spannen und versetzte dabei: »Hatte man damals schon Perkussionsschlösser? Ich verstehe nicht viel von Feuergewehren, aber mich deucht, über dreißig Jahre kann sie kaum alt sein. Hast du sie am Strand aufgefunden?«
Die letzte Frage kam ihm, weil bei einem Umdrehen der Pistole einige weiße Sandkörner aus dem Lauf fielen, und den Juden mit einem leicht schalkhaften Blick ansehend, fügte er nach: »Hat der Strandvogt sie dir durchpassieren lassen, Nathan?«
Dieser zuckte die Schulter. »Ist es doch altes Eisen, das gehört keinem Menschen und hat keinen Besitzwert für irgendeinen, als für den Liebhaber. Das Wasser hat's einmal gebracht an den Strand und der Sand hat's genommen in sich und hat's heute gegeben mir, als ich bin vorbeigekommen. Was hält' ich bemühen sollen den Strandvogt um ein Stück Eisen, das ich selber nicht hätte aufgehoben, wenn mir nicht wäre eingefallen, es könnte machen ein Vergnügen dem gnädigsten Herrn Baron. Weil ich habe gehabt das Glück, hier zu begegnen dem Herrn Junker, brauch' ich vielleicht den Fuß nicht weiter zu setzen bis ans Schloß, denn es hat ausgemacht ein Gewicht in meinem Sack, es zu tragen bis hierher.«
In einem Begleitblick des Sprechers lag Erwartendes, das dem Hörer nochmals ein Auflachen abnötigte. »Das heißt, ich soll das Ding nehmen, es meinem Vater zum Geschenk zu machen, und weil dein Rücken dran zu schleppen gehabt, hat das alte Eisen, wenn's auch nicht aufhebenswert ist, doch einen Preis.«
Er steckte die Pistole in den Halfter, griff nach seiner Tasche und reichte dem Juden zwei Talerstücke in die Hand hinunter. »Das wird Wohl genug sein, Nathan, für dein Kompliment von vorhin; mehr schätz' ich meine Schönheit nicht wert, und dem rostiges Stück geht drein. Aber treff' ich dich wieder, hoff' ich immer noch, du hast mal den Karfunkelstein im Sack.«
Sein Pferd antreibend, ritt er weiter. Es ließ nicht Zweifel, er habe die Silberstücke nicht für die unbrauchbare Waffe gegeben, sondern aus Gutherzigkeit und weil's ihn erfreut, ein aus Kinderzeit altbekanntes Gesicht wiederzusehen. Nathan Aronsohn stand noch auf dem Fleck und redete, die beiden Taler betrachtend:
»Hätt' ich bemüht den Strandvogt mit dem alten Gerümpel, es wär' nicht geworden irgend jemandem zunutz. Und hätt' ich's gebracht dem Vater, er war' nicht gewesen so freigebig dafür, wie der Sohn. Es muß alles finden seine richtige Zeit und den richtigen Mann.«
Wen Kopf aufhebend, blickte er dem zwischen den Stämmen Verschwindenden nach. »Was heißt der Karfunkelstein aus dem Märchen das junge Blut? Will's bedünken, es würde sein hochfreigebig dafür, wenn ich ihn könnt' seinen Augen herausholen aus dem Sack,«
Diesen jetzt wieder aufladend, folgte er der Straße nicht mehr, sondern bog weglos rechtsab in den Wald, die nächste Richtung zur Stadt einschlagend. Der Tag war zum Schluß doch noch einträglich gewesen, denn auf so viel hatte er seinen Strandfund nicht veranschlagt, und zufrieden zog er das knickende Bein seiner noch beträchtlich entfernten Behausung zu. Der Reiter war der Richtung gefolgt, aus der Nathan gekommen, und vor den Waldrand hinaus gelangt. Hier traf der bisher aufgegangene Wind ihn ins Gesicht, die Dämmerung brach noch nicht an, aber ein trübes, unschönes Licht lag über der Heide, nur matt noch im weiten Halbbogen die graue See und davor rechtshin den Kirchturm von Loagger erkennen lassend. Der junge Mann hatte sich das Ziel seines Ausrittes anders vorgestellt, statt des erwarteten Sonnenglanzes breitete sich eine traurige Unterweltsbeleuchtung über alles hin und lockte ihn nicht, heut zum Wachrufen heiterer Knabenerinnerungen weiterzureiten. Wenigstens nur eine kurze Strecke noch, dann wandte er seinen Fuchs um und schlug den Rückweg ein. Unter den Bäumen fing jetzt vorzeitig Zwielicht zu spinnen an, doch wie der Waldgürtel sich ungefähr nach einer Viertelstunde wieder lichtete, hob sich aus freiem Raum noch deutlich ein Landschloßgebäude auf. Das Herrenhaus des adeligen Gutes Ekenwart war's, seinen Namen vermutlich von einem noch daneben ansteigenden, mit dickknorrigen Eichen bedeckten Hügel tragend, der ein Hünengrab ferner Vorzeit unter sich bergen mochte. Das breite, aus grauem Gestein errichtete Gebäude nahm sich, da und dort Verwitterungsspuren zeigend und von Vernachlässigung redend, nicht sonderlich anheimelnd aus. Nach seiner Bauart mußte es bereits aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts stammen, und ebensolange befand das Gut sich im Besitz der Herren, seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts Freiherrn von Alfsleben. Der gegenwärtige Eigentümer war Dietrich von Alfsleben, der Vater des heimkehrenden jungen Reiters.
Vollständig wider eigene Neigung und Willen hatte Dietrich Alfsleben in frühester Jugendzeit, fast noch als ein halber Knabe, von einem Gebot seines herrischen Vaters gezwungen, sich mit einer reichen Erbin verheiratet, deren Mitgift das Gut von einer erdrückenden Hypothekenlast befreite. Leidenschaftlich veranlagt, bäumte er sich zuerst jäh gegen den Zwang auf, aber der Wille des Alten, der ihm kurzweg nur die Wahl zwischen Hochzeit und Enterbung ließ, drückte ihn nieder, und mit gebrochener Widerstandskraft brach er auch innerlich unter dem aufgenötigten Joch zusammen. Er wurde wortkarg, in sich geschlossen, verdüstert und menschenflüchtig, jeden anderen Verkehr abbrechend als mit seinem Kindheitsgespielen und intimsten gleichalterigen Freunde Meinolf von Rhade, dem einzigen Sohn des Herrn von Helgerslund. Mit jenem ritt er im tollen Jagen durch Tage und Nächte weit ins Land oder segelte, oft bei wilddrohendem Sturm, in die See hinaus; sein Begleiter ward zuweilen von dem Gedanken angerührt, daß er stürzend oder mit dem Boote umschlagend den Tod suche. Doch dann kam ihm unerwartet Erlösung, kaum ein Jahr nach dem Beginn seiner Ehe einem Sohn Leben gebend, verlor die junge Frau das ihrige im Wochenbett, und er war frei, dabei unabhängig und reich. Nach dem Freunde ließ er den Knaben Meinolf taufen, begab sich selbst mehrere Jahre hindurch auf Reisen in südliche Länder. Stattlich, mit scharfgeschnittenen, schönen Gesichtszügen ward er dort vielfach zum Zielpunkt von Frauenaugen und Eroberungsgelüsten, doch sein heißungestümes Blut schien durch den erlittenen Ehezwang kaltgedämpft, er achtete auf keine, knüpfte selbst kein flüchtiges Verhältnis an, sondern lehrte ungebunden, von der Nachricht des plötzlichen Ablebens seines Vaters zurückgerufen, nach Haus, hier zeigte er, seiner Natur gemäß, keine Trauer, da er keine empfand, machte vielmehr den Eindruck von einem, der einen bösen Traum abgeschüttelt und sich seines Aufwachens im heiteren Morgenlicht freut. So ward er wieder Meinolf Rhades unzertrennlicher Genosse, der alte, doch das letztere nicht in Wirklichkeit, denn beide standen erst im Anfang der zwanziger Jahre, in freudigster Frühsonne des Lebens. Wie ehemals ritten sie miteinander und segelten, und Dietrich Alfsleben lachte wieder wie vor seiner Heirat; sein Herz zog ihn nicht zum anderen Geschlecht, der Freund war seine Liebe. Ein Jahr lang, da riß eines Tages der Wettersturm Meinolf Rhade beim Segeln weit draußen auf der Nordsee in die Tiefe, und Dietrich Alfsleben kam allein zurück.
An dem Tage hatte er die wiedergewonnene Lebensfreudigkeit zum andernmal verloren und fand sie nicht mehr; bei dem Jugendfreunde lag sie drunten am Meeresgrunde. Sein Wesen nahm das schon einmal über ihn Geratene und Abgeschwundene aufs neue an, schweigsamdüster, menschenscheu, alles von sich weisend, saß er in dem alten Herrenhaus. Plötzlich einmal griff er wieder zu dem einst angewandten Mittel, sich auf weite Reisen zu begeben. Aber diesmal versagte es ihm die Besserung, im gleichen seelischen Zustande kehrte er nach Ekenwart heim, freudlos-einsam in dem weitleeren Väterschloß sitzend, das er niemals zum Aufsuchen von Standesgenossen in der Nachbarschaft verließ. Überhaupt hielt er mit keinem Menschen Umgang, selbst nach Helgerslund hatte er nie mehr den Fuß gesetzt, obwohl er naturgemäß früher auch zu der Schwester Meinolf Rhades in naher freundschaftlicher Beziehung gestanden. Man wollte wissen, er habe sie heimlich geliebt und der Abbruch seines Verkehrs mit ihr stamme von ihrer Verlobung her, doch war er schon monatelang, ehe Herr von Brookwald zuerst dort ins Haus gekommen, nicht mehr in diesem vorgekehrt. Nur eines brachte ihn aus der Tür hervor; etwas Sonderlingstum hatte seit Vorvätern den Alfsleben im Blut gelegen und ebenso Trieb zum Jagen, der bei ihm sich freilich in der Jugend nicht gezeigt, sondern erst nach der zweiten Rückkehr von seinen Reisen zum Ausbruch gekommen. Dann aber steigerte dieser Anreiz sich rasch in ihm, und sein einziges Trachten ging auf die Jagd hinaus, mit Vorliebe in Mondnächten, die er häufig bis zum Morgen im Wald verbrachte, sich den Tag über zum Schlafen zu legen. Die von Nathan Aronsohn auf ihn angewandte Nimrodvergleichung traf zu, eine im Schloß schon vorhanden gewesene alte Waffensammlung vermehrte er stets noch. Der Wald zog sich, mit Lichtungen durchsetzt, wildreich weit landein, bot ihm ein großes Revier zum Umschweifen, doch nützte er es lediglich gegen Osten, ging westwärts nie bis an den offenen Heiderand hinaus. Er wich dem Anblick des Wassers aus; die erfindungsreiche Fama hatte sich wieder eine Geschichte zurechtgemacht, daß er doch einmal im Süden eine Liebschaft gehabt, die in irgendeiner tragischen Weise auf dem Mittelländischen Meer ihr Ende genommen. Die Leute vermochten nicht für wahr zu halten, er sei nie von einer Leidenschaft entflammt gewesen, denn Frostigkeit nach dieser Richtung lag gleichfalls nicht im Alfslebenschen Blut, dem man in der Gegend aus früherer Zeit manch wildtolle Dinge nachredete. Doch der wirkliche Grund, der ihn vom Waldrand im Westen zurückhielt, war, daß er die Nordsee vermied, sie nicht sehen konnte, weil Meinolf Rhade in ihr ertrunken lag; noch heute nicht, wie seit achtzehn Jahren. Sein Kopf, obwohl erst kaum der eines Vierzigers, ward von vollständig grauem haar überdeckt, nach seinem Anblick hätte man ihn auf zwanzig Jahre mehr schätzen können. Auch sonst täuschte sein Aussehen in manchem; hinter der düsteren Miene barg sich keine ihr ähnliche finstere und bösartige Gesinnung. Seine Untergebenen und Gutsangehörigen fürchteten ihn nicht; ein Gefühl persönlicher menschlicher Zuneigung zu ihm konnte zwar nicht in ihnen rege werden, da er kaum je ein Wort an sie richtete, aber sie hatten sämtlich Anlaß, Dankbarkeit für ihn in sich zu hegen. Er war selbstsuchtslos bedacht, ihre Lage zu verbessern, sie günstiger als auf anderen Gütern zu stellen; nicht nur solche allgemeine und offenbare, auch heimliche Wohltaten gingen von ihm aus, in Not- und Unglücksfällen zu helfen. Ein Physiognomiker hätte diese Sinnesbeschaffenheit nicht hinter seinem verdüsterten Ausdruck, sondern bei dem breit gutmütigen des fast immer von einem Anflug zum Lachen überlagerten Gesichts seines nördlichen Gutsnachbars Friedrich von Brookwald gesucht, doch wäre dabei ebenso, nur in umgekehrter Richtung, einer Täuschung unterlegen. Denn die Züge des letzteren spiegelten gleichfalls nicht sein inneres Wesen zurück; er besaß eine karg zumessende, am liebsten sich schließende Hand, und diese war's gewesen, die dem linken Bein Nathan Aronsohns das dauernde Gedächtnis an einen übelgelaunten Tag hinterlassen hatte.
Von Anfang an war Meinolf Alfsleben der Fürsorge einer Wartefrau anheimgegeben gewesen. In den ersten Jahren bedurfte er naturgemäß weiblicher Pflege, und während der zweimaligen langen Reiseabwesenheit seines Vaters konnte sich daran nichts ändern. Doch auch nach der letzten Rückkunft bekümmerte sich Dietrich Alfsleben kaum um den inzwischen fünfjährig gewordenen Knaben. Das Kind einer Frau war's, die er nicht geliebt, nur als Zwang und Last empfunden hatte, und er trug kein väterliches Gefühl in sich, kein Bedürfnis, den Kleinen um sich zu haben, sich mit ihm M beschäftigen. Es war gesorgt, daß es diesem an nichts mangelte, weiter ging die Anteilnahme des Vaters nicht. Niemals rief oder benannte er den Knaben bei seinem Namen, es schien, daß er bereute, ihm den immer die Erinnerung aufweckenden seines verunglückten Freundes gegeben zu haben. Gegen den sonstigen Brauch auf den adeligen Gütern stellte er, als die Unterrichtszeit herangekommen, keinen Hauslehrer für Meinolf an, sondern schickte ihn gleich aufs Gymnasium in einer ziemlich entfernten Stadt unter Obhut und Erziehung von seiten eines der oberen Klassenvorsteher. Von dort kam der Schüler nur ein paarmal im Jahr für die Ferienzeit nach Ekenwart, kurze Wochen hindurch, in denen er kein häusliches Heimatsgefühl gewinnen konnte, und gleicherweise setzte sich's fort, als er, um Jurisprudenz zu studieren, die Universität bezog. Noch weniger entstand ein Zugehörigkeitsverhältnis zwischen ihm und seinem Vater, der für ihn lediglich ein stets aufs reichhaltigste freigebiger Ausspender von Geldmitteln war. So kam's im Fortgang der Zeit dahin, daß Meinolf sich eigentlich vor dem Aufenthalt in Ekenwart scheute, wo nur das Wiederfinden aus der Kindheit vertrauter Plätze und die See ihm Freude verhießen. Das Haus mit seinen weiten toten Räumen umgab ihn trüb-unfreudig, um so mehr als er im Innern heimlich an seinem Vater hing. Von lebhaft erregbarer, leicht ungestümer, sogar etwas wilder Knabennatur, trug er daneben ein bedürftiges Herz in sich, das bei seinen Universitätsgenossen wenig Nahrung fand und, begehrlich verlangend, für den ihm im Leben am nächsten Gestellten Liebe aufwachsen ließ. Aber sie blieb ohne Erwiderung, ihre tastenden Versuche trafen stets auf Ablehnung, und sie zog sich in scheue Schweigsamkeit zurück; Dietrich Alfsleben erschien keines väterlichen Gefühles fähig. So schreckte Meinolf immer mehr vor einem Nebeneinandersein mit ihm, das kein Zusammenleben bildete, zurück; in den letzten dritthalb Jahren war er auch während der Ferien nicht mehr nach Haus gekommen, sondern unter bereitwilliger Zustimmung seines Vaters zu seiner Ausbildung, die jedoch für ihn selbst nie einen Vorwand abgegeben, bald hierhin, bald dorthin auf weite Reisen gegangen. Nun indes hatte er sein juristisches Examen vortrefflich bestanden und eine unbezwinglich angestiegene, namenlose Sehnsucht hatte ihn wieder hergebracht. Ihm war's gewesen, ein sonnenhaftes Glück, eine volle Darbietung alles dessen, was er bisher entbehrt, warte seiner hier. Doch nach der langen Zwischenzeit war der Empfang gestern nur ein treuliches Abbild jedes früheren geblieben. Kühl hatte sein Vater ihm die Hand gereicht, mit einigen Worten sich über eine vorteilhafte äußere Veränderung des Ankömmlings ausgesprochen, doch gleichgültig, ohne einen Klang innerer Teilnahme. Wie ein frostiger Winterschatten war's auf den Herzenstrieb, die lebensfreudige Jugend und Hoffnung Meinolfs gefallen.
Nun hatte in anderer Weise heute das nachmittägige Einfallen der grauen Luft ihm die Erwartung, die er auf seinen Ausritt gesetzt, vereitelt, so daß auch dieser Tag wiederum eine Enttäuschung für ihn mit sich gebracht. Wie er im ersten Dämmerungsbeginn zum Schluß zurückkam, gewahrte er in einiger Entfernung seinen Vater, der, vom Förster und mehreren Teckelhunden begleitet, mit übergehängter Jagdflinte davonging. Meinolf hätte ihn noch erreichen können, er hatte eben auf dem Heimwege den Vorsatz gefaßt, einmal geradezu einen Schritt zu offenem Aussprechen zu unternehmen. Doch die Mitanwesenheit eines Dritten trat gegenwärtig dazwischen, und er begab sich in das einsame, große Wohngemach des Herrenhauses.
Der augenblickliche Begleiter Dietrich Alfslebens ließ im Äußeren erkennen, daß er diesen erheblich an Jahren übertreffe; sein Haar zeigte gleiche Farbe, wie sein völlig weißer, ihm bis auf die Brust fallender Vollbart, doch sein Ausschreiten und seine Bewegungen sprachen nicht von Alter, vielmehr noch von kraftvoller Rüstigkeit. Er befand sich erst seit einem halben Jahr auf Ekenwart, wohin er an einem stürmischen Novembertag gekommen, sich um die erledigte Stelle des mit dem Tode abgegangenen Gutsförsters zu bewerben; sein Name war Dirk Westerholz. Mit guten Zeugnissen seiner Fachtüchtigkeit versehen, hatte er durch wortkarge, zurückhaltende Art das Gefallen Alfslebens erweckt; trotz dem Standes- und Bildungsunterschiede boten beide Männer in ihrem Wesen eine gewisse Ähnlichkeit. Daß der Bewerber sich als leidenschaftlicher Jäger kundtat und ein ausgezeichneter Schütze war, nahm den Freiherrn noch mehr für ihn ein, so daß ihm nach kurzer Rede und Antwort die Försterstelle zuteil ward. Westerholz war ein Landessohn, vom Osten her, doch als er im Anfang der Vierziger gestanden, über den Atlantischen Ozean fortgegangen, sich am Missouri im Urwalde als Farmer anzusiedeln. Von dort war er erst im letzten Herbst in die Heimat zurückgekommen, nicht ohne Ertrag seiner Arbeit und Mühe, daß er davon zu leben vermocht hätte. Aber es duldete ihn nicht in untätiger Ruhe, er mußte ein Revier unter sich haben und jagen können; so hatte er sich, da er von dem freigewordenen Posten vernommen, für diesen gemeldet und Alfsleben sich seitdem bald gewöhnt, seine Jagdgänge nicht mehr allein zu machen, sondern Dirk Westerholz bei sich haben zu wollen. Sie sprachen fast nie anderes miteinander, als das Notwendigste, auf ihren Zweck Bezügliche, doch verstanden sie sich an hingeworfenen Worten. Heute nachmittag hatte der Förster den Gutsherrn benachrichtigt, daß er etwas Seltenes in der Gegend, einen Dachsbau, entdeckt habe, dessen Insasse vermutlich mit Eintritt der Nacht seinen Stollen verlasse und schußrecht werde. Helles Mondlicht stand zu erwarten; so waren beide, die Teckel statt eines Spürhundes mitnehmend, aufgebrochen. Auch die Dachshunde gaben keinen Laut von sich; was sich um Dietrich Alfsleben befand, war an schweigsames Verhalten gewöhnt.
Nun dämmerte es rasch unter dem zwar noch unbelaubten, doch von braunen Knospen verdichteten Gezweigdach der alten Buchen; wortlos zwischen diesen schritten die Jagdgenossen fort, Westerholz führte. Es sollte wieder heller werden, aber die Voraussicht traf nicht zu, der Mond mußte hinter schweren Wolken stehen. Mit knisterndem Ton schlugen einzelne Tropfen durch die dumpf murrenden Baumkronen, wie etwas greifbar Anrückendes wuchs die Dunkelheit. Der Förster hielt einmal an, und Alfsleben fragte: »Was ist, Dirk?« – »Zu wenig Licht, Herr Baron, die Stämme sind sich gleich. Ich verließ mich auf den Himmel.«
»Besser auf eine Leuchte. Aber laßt's Euch um mich nicht kümmern,«
Aus der Antwort des Freiherrn klang's hervor, nicht an der Jagdbeute sei's ihm gelegen, mehr am nächtlichen Streifen im Wald; besser in diesem umherzuirren, als die Stunden im Schloß zuzubringen. Sie suchten die Richtung nach ihrem Ziel, doch vergeblich, gerieten in dichtes, dornverranktes Unterholz. Ohne weitere Worte zu tauschen, arbeiteten sie sich durch, aber offenbar wußte auch der Spürsinn des Försters nicht mehr, wohin sie sich halten sollten.
Dann fuhr unerwartet einmal pfeifender Windstoß ihnen ins Gesicht, sie mußten auf eine Lichtung ins Freie heraustreten; unterscheiden ließ sich nichts mehr: gleichmäßig lag alles rundum in Finsternis. »Wißt Ihr, wo wir sind?« fragte Alfsleben. Kaum gewahrten sie sich noch wechselseitig.
»Nein. Aus dem Wald.«
Westerholz schien noch etwas nachfügen zu wollen. doch Plötzliches schnitt es ihm am Mund ab. Nathan Aronsohns Bein hatte richtig vorausgesagt, ein erstes Gewitter des Jahres schloß den sonnigen Frühlingstag. Jäh schoß ein blendend funkelnder Blitz herunter, im gleichen Augenblick schmetternd krachenden Donner mit sich niederreißend. Taghell überflammt lag für einen Moment dürrbraunes Heideland umher, und an seinem Rand, weit im Halbbogen gestreckt, hob etwas Graues sich herauf, geisterhaft wie mit dem Weiß leerer Augen ansehend; die sturmgepeitschte, hohe Schaumwogen ans Ufer rollende Nordsee war's. Nun fragte der Förster in dem polternd verrollenden Donner: »Was ist, Herr Baron?«
Eine Hand hatte nach seinem Arm gegriffen, fest die Finger in ihn eindrückend, als ob sie sich an ihm halte; ein Rütteln durchlief sie. Westerholz gab selbst auf seine Frage Antwort: »Ja, das ging dicht an uns vorbei – da schießt's auf.«
Nicht weiter als hundert Schritte seitwärts von ihnen mußte der Blitz am Waldesrand in einen Baum gefahren sein und gezündet haben; eine Flamme loderte empor. Zugleich jetzt begann schwerer Wassersturz aus den Wolken zu prasseln. »Wir müssen unterducken«, sagte der Förster.
»Ja – in den Wald zurück.«
»Der deckt noch nicht, aber da ist ein Dach.«
Die Lichtflamme hatte es auch gezeigt, eine der mit Heidebulten zugedeckten Unterschlupfhütten, aus alten Bretterabfällen zusammengenagelt, und der brennende Baum ließ sie wieder gewahren, nach drei Seiten gegen den Wind geschlossen, die vierte offen, Alfsleben ging hastig darauf zu und setzte sich in eine Ecke auf eine Ballenbank, das nämliche tat sein Begleiter ihm gegenüber; in dem kleinen Raum lag Halbhelle, der flackernde Brandschein fiel nicht durch die Öffnung herein, doch an ihren Rand. Der Förster stand wieder auf und sagte ausblickend: »Der lodert nieder wie ein Strohdachhaus, aber auf die andern gießen die Wolkenkühe ihre Milch, und weiter greift's nicht.«
Kurz sprach er noch die draußen vor der Hütte in die Lohe starrenden Dachshunde an: »Duckt euch auch vorm Wasser, ihr Narren!« trat zurück und setzte sich wieder. In seinen Augen glimmerte es, als spiegele noch ein Abglanz der Flammen aus ihnen, doch war's Täuschung, sie fielen nicht mehr hinein. Vor sich hin wiederholte er mit anderen Worten: »Der Regen hütet den Wald; wär's dürr, würd' ein gutes Stück von ihm zu Asche.«
Der Freiherr hatte schweigend gesessen, doch ließ sich's merken, die Stille in der Hütte sei ihm zuwider, er wünsche, den Stimmenfang in ihr fortzuhören. Aufblickend fragte er: »Habt Ihr einmal in Amerika einen Waldbrand gesehen, Dirk?«
»Drüben? Nein.« Der Erwidernde brach ab und fügte nach: »Ich wußte nicht, daß Sie Gewitterfurcht hätten, Herr Baron, sonst hätt' ich Ihnen vom Fang heut abgeraten.«
»Gewitterfurcht? Ihr schwatzt in den Tag.«
Auch Alfsleben brach ab. »Ich sah einmal einen Waldbrand.«
»Ich auch.«
»So erzählt mir's! Kam er vom Blitz, wie der? Das Licht ist gut, davon zu hören.«
»Ja, das Licht ist gut, davon zu sprechen.«
Dirk Westerholz gab's zurück, doch verstummte danach, bis der Freiherr kurz äußerte:
»Wollen Sie's hören, Herr Baron? Ich sprach's noch keinem.«
Im Ton des Försters klang etwas, daß ihn's von innen dränge zu sprechen. Er schickte hinterdrein:
»Töricht war's von mir. Ich bin dann wohl Förster auf Ekenwart gewesen,«
»Warum?«
»Weil ich unvorsichtig war und gezeigt, daß ich nicht dazu tauge.«
»Mich wird's nicht kümmern.«
»Auch nicht, wenn – wenn Ihr Förster einmal seine Kugel statt einem Wild einem Menschengeschöpf in den Leib gejagt?«
Der Hörer machte eine jäh-zuckende Bewegung, mit der er seinen Kopf gegen den Sprecher vorrückte, »Ihr? Drüben – einem Wilden?«
»Nein, Auch keine Kugel war's. Nur etwas zu große Wärme –«
Westerholz hielt nochmals an, eh' er fortfuhr: »Der Baum da hat's mir lebendig gemacht, als sollt's sein. Es ist lang, ich will's kurz sagen. Wenn Sie morgen zur Stadt fahren wollen, Herr Baron, an die richtige Tür, um es weiter zu erzählen, mir tut's nichts an.«
Dietrich Alfsleben entgegnete nichts und doch war's, als komme eine Antwort aus seinem Schweigen; noch um etwas weiter bog seine Stirn sich vor. Nun hatte der Förster sich zu weit forttreiben lassen, um einen Rückweg einschlagen zu können. Doch er suchte auch nach keinem, hörbar lag ihm nichts an irgendwelchen Folgen seines Redens, und er sprach:
»Ich hatte Glück, Herr Baron, daß ich mir jung ein junges Weib nehmen konnte. Wir lebten da hinüber, wo die Sonne aufgeht, weit von hier; als Förster stand ich im Dienst eines großen Grundherrn, eines sehr hohen Herrn. Der Hausname meiner Frau war Zurhaiden, Swenna Zurhaiden, ich führ's an, weil sie nach ihm aussah. Nicht wie die Heide jetzt, sondern im Hochsommer, wenn sie rosenrot steht, die Sonne drüber, Blau und möwenweiße Wolken. Sie machte mich sehr glücklich und stolz, denn wer sie sah, tat's mit meinen Augen und neidete mich. Auch der hohe Herr war gnädig gegen sie, wie gegen mich und guter Laune, wenn er mit mir sprach; mir gab er wichtigen Auftrag nach Schweden hinüber, dort seltene Bäume für den Schloßpark zu wählen und mit dem Wurzelreich heimzuschaffen; große Kosten machte es, aber er sah nicht drauf und ließ mir volle freie Hand. Und noch glücklicher sollte ich werden, im nächsten Frühling, denn ich bekam eine Tochter. Die wuchs fröhlich heran, man sah's bald, sie trug's in sich, an Schönheit mit ihrer Mutter zu wetten. Nur – ich weiß nicht was es war, Herr Baron – wenn des Glücks zu viel wird, hält der Mensch wohl nicht mit seinen Sinnen dawider Stand. Zum mindesten konnt' ich's nicht mit meinen; wann's zuerst so gekommen und wie, kann ich nicht sagen, aber es war da und ging nicht wieder fort. In den Augen lag's, die nicht mehr so sahen wie vordem und sie machten's wohl, daß ich auch meinen Dienst nicht mehr wie früher versah. Der hohe Herr konnte mich nicht drin belassen, aber er entließ mich nicht in Ungnaden, sondern als einen, mit dem er zufrieden gewesen, denn zum Abschied gab er mir einen Verdienstorden mit. Nicht auf der Brust, der hätte mir nicht viel genutzt, ich hätte davon nicht mit Frau und Kind essen und leben können. Ein großer Orden war's, in dem wir zu dritt Platz fanden, ein hübsches Häuschen mit einem Gärtchen dran und dann Wald dicht umher, wie's ein Förster gern hat. Das alles schenkte mir die Gnade meines hohen Herrn zum Eigentum, weil er merkte, daß ich unfähig geworden und es nicht mehr gut tat, mich länger in meiner Stellung zu lassen. So kam ich, weit fort von ihm, in diese Gegend her, darin mein schönes, geschenktes Häuschen lag.«
Der Freiherr hob den Kopf mit einem kurzen Ruck auf. »Hierher? In unsere Gegend? Wohin?«
Der Befragte streckte flüchtig den Arm aus. »Da drüben: ein halb Dutzend Meilen ins Land. Wald und Haus gehörten dem hochgnädigsten, von einer Erbschaft glaub' ich. Ich hatte das Revier unter mir zur Aufsicht, auch jagen und schießen durft' ich drin nach Gefallen, Einsam und unbewohnt war's weitum, da hatt's nicht viel Gefahr, daß einer, dem's nicht ganz richtig im Kopf ist, sich einmal versehen könnt', einen Menschen für einen Fuchs halten und auf ihn anlegen. Sie wollten's hören, Herr Baron, aber ich will Sie nicht langweilen, denn das müßt's tun, wollt' ich Ihnen vorerzählen, was die Tage und Jahre in dem hübschen Haus aus mir machten. Der Schnee lag draußen, und was meine Frau im Garten gepflanzt, ward grün und blühte, oft, ich weiß nicht, wie vielmal. Meine Tochter wuchs auf wie die Blumen, und wenn einmal jemand von außen her sie sah, da sagte er, glaub' ich, sie werde schöner, als die schönste von ihnen. Mir war's wie durch Nebel, denn es ging abwärts mit meinem Verstand, immer weiter. Sie können's draus abnehmen, Herr Baron, ich hatte im Wald ein Vogelnest aufgefunden; drauf verstand ich mich von Kindesbeinen an und wußte an der Art, Grasmücken hätten's gebaut. Unnötige Wissenschaft war's zudem, denn ich sah die Alten heranfliegen, im grauen Federwerk, ein Junges drin zu füttern. Aber von Tag zu Tag – oder war's von Jahr zu Jahr – sah ich's und erkannt' ich's deutlicher, es bekam keine grauen Federn, sondern sie fingen an, ihm goldfarbig an der Kehle zu schimmern. Darüber brütete ich nach; wie kam ein Pirol in das Grasmückennest? Denn das ward's und war's, immer klarer ließ es am Kopf und Gefieder keinen Zweifel mehr, ich kannte die Pirolart genau. Wenn einer über so etwas zu brüten angefangen hat und es sich ihm im Hirn runddreht, Herr Baron, da ist's ein Zeichen, daß es nicht anders ausgehen kann, als mit Verrücktheit. Wen hätt' ich fragen sollen, wie's so wider die Natur geraten sei? Die Grasmücke? Von der hätt' ich nicht Antwort bekommen; die Weibchen sind stumm, geben keinen Laut, Und der junge Pirol? Er wußt's selbst nicht, daß er's sei; Nestvögel sind einfältig, er hielt sich für eine Grasmücke. Aber herausbringen mußt' ich's, denn wie ein böser Schwamm an einem Baumast saß es mir auf der Brust, wuchs nach innen, ich konnte nicht mehr Luft bekommen. Da kam mir ein Gedanke, an einem Maimorgen war's, am Tag, an dem vor neunzehn Jahren meine Hochzeit gewesen –«
Von der anderen Bank der Hütte klang's nachgesprochen herüber: »An einem Maimorgen?« Und Dietrich Alfsleben fügte nach: »So lange hattet Ihr's getragen?«
Der Förster nickte. »Wenn Sie's tragen nennen wollen, Herr Baron, aber ich trug's nicht mehr; zuletzt bricht die Schulter und der Kopf. Lange trocken war es in dem Frühjahr gewesen, wie seit Menschenerinnern kaum, selbst das Gras stand gelb und dürr. Da kam der Gedanke mir – einem, den der Wahnwitz am Gehirn riß, Herr Baron –«
Da Dirk Westerholz anhielt, fragte Alfsleben: »Was für ein Gedanke?«
»Das Nest war mein, ich konnt' mit ihm tun, was ich wollte, für gut hielt. Und ich fand für gut, damit ich nicht mehr darüber zu brüten brauchte, es von der Erde wegzuschaffen, in die Luft fort, als Rauch, fliegende Asche –«
Ein augenblickskurzer, jäh herausgeflogener Stimmenton schnitt dem Sprecher das letzte Wort vom Mund. Ein Laut war's gewesen, wie der einer durch Sturmwind fortschießenden Möwe, halb Schrei, halb Lachen; dann sagte Dietrich Alfsleben:
»Was heißt das? Heißt's, Ihr zündete an dem Maimorgen Euer Haus an?«
»Da Sie's wissen, Herr Baron, muß ich's schon verständlich gesagt haben. Es gehörte mir, mit dem was drin war; zu Bett war ich in der Nacht nicht gegangen, denn ich schlief doch nicht, seit lange nie mehr. Dafür tat ich anderes, häufte in meiner Kammer unterm Strohdach Reisig und Späne, und die Läden an den Fenstern rundum schloß ich von außen gut mit Nägeln und Klammern. Noch sehr früh am Tag war's, eh' die Sonne kam, ich hatte ein Licht nötig zu meiner Arbeit. Doch danach nicht mehr, so daß ich's in der Kammer stehen ließ, als ich hinunterging, durch die Haustür und sie hinter mir schloß. Ein Brunnen war daneben, sein Wasser klatschte, denn ich warf den Schlüssel hinein; er rostet wohl heut' noch drin.«
Dem Freiherrn flog vom Mund: »Ihr tatet's, Dirk? Ihr setztet das Haus in Flammen?«
Die beiden Fragen zeugten hörbar von einer inneren Erregung des Sprechers. Sie konnten nichts anderes wollen, als Ungläubigkeit oder Schreck über die Tat des Försters ausdrücken, doch sie taten's mit unrichtiger Betonung, denn beidemal legten sie diese auf das Anredewort »Ihr«. Westerholz entgegnete:
»Ich weiß nicht, was es getan, Herr Baron, wie's so geschehen, nur daß eine Flamme aus dem Dach schlug, als ich mich umsah. Aber wenn's mich nicht kümmerte, ging's keinen sonst an. Denn das Haus gehörte mir mit dem, was drin war.«
»Ich denke, der Pirol nicht. An ihn hattet Ihr kein Recht.«
»Das hat der Verstand der klügeren Leute ausgefunden, Herr Baron. Was ist Recht für einen, der seine Sinne nicht beisammen hat? Doch der Golddrossel waren Flügel gewachsen. Ich habe wohl gedacht, sie könne auf ihnen davonfliegen, wenn's ihr im Rauch nicht gefalle.«
»Die Golddrossel muß noch einen anderen Namen gehabt haben. Wie hieß sie sich selbst?«
»Wenn Sie's zu hören wünschen, Vorschrift ist's, daß ein Kind den Namen führt, den seine Mutter bei der Hochzeit bekommen; wie hätte sie's anders sollen? Nur hieß ich mich damals anders als jetzt, und so nannte sie sich Eduv Nordwalt.«
»Eduv Nordwalt«
Der Freiherr Dietrich von Alfsleben sprach den Namen nach, stand auf, trat an den offenen Rand der Heidehütte und blickte nach dem brennenden Baume hinüber. Etwa eine Minute lang, dann kehrte er zurück und sagte:
»Ihr hattet recht, er zündet nicht weiter und lischt von selbst aus. Aber Euer Haus – das brannte nieder?«
Aus den Worten klang kein Ton der Entrüstung oder Verurteilung. Es machte den Eindruck, der Freiherr habe bei seinem Verweilen und Hinausblicken nach der verglühenden Buche sich die Tat seines Försters abgewogen. Dieser versetzte kurz:
»Ich vermute es. Ich sah's nicht mehr.«
»Und Eure Frau und – ihre Tochter?«
»Ich weiß es nicht, Herr Baron. Mein Hochzeitstag war's und im Rückgedenken an ihn ging ich davon. Nur aus der Weite zeigte zu breitgestreckter Rauch mir, daß ich mich als ein unvorsichtiger Förster benommen. Zu lang war's dürr gewesen und der Wald in Brand geraten.«
Alfsleben nickte. »Mir kommt's ins Gedächtnis, einmal davon gehört zu haben. Der Brand dehnte sich weit; durch eines Försters Unbehutsamkeit, hieß es, sei's geschehen, und er habe sich ertränkt.«
»Er hätt's wohl besser getan, aber er ging nur aufs Wasser und drüberhin.«
»Mit anderem Namen. Wie sagtet Ihr? Nordwalt?«
»In den Wald im Westen ging ich, danach nannte ich mich. Ein neuer Mensch brauchte einen neuen Namen, und er paßte mir, wie ein umgewendeter Rock. Seit bald zwanzig Jahren hab' ich des alten nicht mehr gedacht. Der Waldbrand da weckte ihn auf, und Sie haben's gewollt, Herr Baron. Fahren Sie morgen in die Stadt, dem Richter anzuzeigen, Dirk Nordwalt, der Mordbrenner, sei wieder hier, damit der Hanf ihm in der Luft nachholt, was das Wasser nicht getan.«
Der Feuerschein draußen hatte sich rasch abgeschwächt, in der Hütte war's dunkel geworden, kaum ließ sich etwas unterscheiden. Nach einem Schweigen scholl die Stimme des Freiherrn: »Ich danke Euch, Dirk, für Eure Unterhaltung. Ihr versteht Euch nach Försterbrauch auf Jagdgeschichten. Oder war ich hier in der Ecke eingeschlafen und habe geträumt, Ihr erzähltet etwas? Dem Dachs kommen wir heute nicht mehr bei. Wir wollen nach Hause gehen.«
Er setzte den Schritt vor, Dirk Westerholz folgte; der Regen hatte nach kurzem heftigem Niedersturz aufgehört, durch die sich verdünnende Wolkendecke kam jetzt ein mattes Licht der falben Mondscheibe und ermöglichte das Einschlagen des richtigen Wegs. Bis sie den Waldrand wieder erreicht, hielt Alfsleben das Gesicht von der Seeseite abgewandt, er ging wortlos, erst vorm Schloßtor sagte er: »Gute Nacht, Dirk. Wenn es morgen abend heller ist, wollen wir versuchen, ob wir besseres Glück haben.«
Ein Lichtschein vom Hause her ließ gewahren, er streckte dazu dem Förster die Hand hin. Das hatte er noch nie getan, und merklich war's einem unbedachten Impuls entsprungen. Denn wie er auf die entgegengehobene Hand dessen traf, der sich ihm selbst Mordbrenner benannt, zog er, sie kaum fassend, die seinige rasch zurück, wiederholte nochmals kurz: »Gute Nacht« und trat ins Schloß, dessen Uhr aus der Höhe grade die elfte Vollstunde herabschlug. Er begab sich ins große, hellerleuchtete Wohnzimmer des Erdgeschosses, mehrere Lampen und Armleuchterkerzen brannten, es mußte nach seiner Vorschrift bis in jeden Winkel hell sein, wenn er sich abends drin aufhielt. Bei seinem Eintritt hob sich, ein Buch zur Seite legend, Meinolf aus einem Sessel auf; die Bewegung ließ den Freiherrn zurückstutzen, ungewiß sah er einen Augenblick lang in das Gesicht seines Sohnes. Dann sagte er:
»Du? Ich hatte vergessen – es ist erst seit gestern und ich bin nicht gewöhnt, jemand hier anzutreffen. Hast du den Nachmittag gut zugebracht? Ich glaube, du rittest aus.«
Über die Züge des jungen Mannes ging ein schmerzlicher Ausdruck; er antwortete: »Ja – als ich zurückkam, sah ich dich zur Jagd fortgehen. Ich wäre dir gern nachgegangen, aber –«
Meinolf hielt zögernd an, sein Vater fragte: »Was aber – ?«
»Du warst nicht allein, mit dem Förster.«
»Warum hielt der dich ab?«
»Weil ich dir etwas unter unseren vier Augen sprechen wollte.«
»Hast du große Schulden?«
Der Erwidernde setzte den Fuß vor, es erregte den Eindruck, er beabsichtige, sich zu einer Kasse zu begeben, Meinolf das Erforderliche auszuhändigen. Doch der letztere faßte haltend mit der Hand ihm nach dem Arm:
»Vater –«
»Was hast du?«
»Ich nicht – du hast Schulden, Vater, lang angehäufte – eine große Schuld –«
Der Freiherr fuhr mit dem Arm zurück, sein Mund stieß hervor:
»Du? Was, will deine Hand? Will sie –?«
»Dich halten, Vater – einmal – heut' – eh' es zu spät ist. Du sagtest es, du hattest vergessen, daß ich hier war – mein Leben lang hast du's vergessen, daß ich dein Sohn bin. Ich weiß nicht, ich hab's gehört – nicht von dir, von fremden Leuten – daß meine Mutter dir nicht lieb gewesen – und ich weiß auch nicht, ob es ihre Schuld war, die du mich bis heute zahlen ließest. Aber mein Herz klagt gegen dich, Vater, daß du dir eine Schuld an mir angehäuft hast, denn es suchte nach deinem, immer wenn ich hierherkam. Doch sein Verlangen, seine Liebe fand dich nicht – niemals – auch gestern nicht, als ich fast drei Jahre fern gewesen – und heute fragst du, ob ich Geld gebrauche. Ist's denn wahr, wie sie sagen, daß dein Herz keine Liebe kennt und nach keiner auf der Welt je verlangt hat?«
In heftiger Gemütsbewegung, ungestüm, mehr fordernd als bittend, hatte Meinolf es herausgerungen, doch an den Wimpern glänzten ihm Tränen. Sein Vater stand mit starr aufgeweiteten Lidern; etwas irr Flackerndes, das bei seiner letzten Entgegnung ihm durch die Augen gegangen, war aus ihnen weggeschwunden, ein weich aus ihrer Tiefe aufquellender Glanz hatte sie angefüllt. Seinen Körper durchlief ein Rütteln, mühsam, nur halbverständlich brachte er von zitternden Lippen:
»Du –? Du liebst mich –?«
Staunen und Glückseligkeit malte sich in den Zügen des Befragten, der mit dem Blick am verwandelten Gesicht seines Vaters wie an einem noch nie gesehenen hing. Ein jubelnder Ton durchklang seine Stimme:
»Fühlst du's zum erstenmal? Ich wußte es, du bist gut und warm – meine Augen sehen es. Laß mich's auch hören, gib mir den Namen, mit dem mich niemand auf der Welt nennt, mit dem du mich nie benannt – zum erstenmal, Vater!« »Meinolf – mein lieber Sohn.«
»Mein lieber Vater! Hab' Dank – das ist ein Name, von dem ich weiß, daß du ihn geliebt hast, der mir sagt, daß du lieben konntest. Du gabst ihn mir wie ein Kleinod, als einen Schlüssel zu deinem Herzen, und heute hat sich's ihm geöffnet. Was ist dir, Vater.?«
»Nichts – es kam mir zu unerwartet.«
Dietrich Alfsleben hatte die Hände auf die Schultern seines Sohnes gelegt, ein Zeichen seines Gefühls, ein väterliches Erfassen war's gewesen. Doch sie begannen schwerer zu lasten, man sah, er hielt sich mit ihnen an einer Stütze aufrecht. Seine Knie trugen ihn nicht, zurückschwankend ließ er sich auf einen Sessel herunter, schloß die Augen, wie von einem Schwindel befallen. Halblaut, als Bitte kam ihm vom Mund: »Bleib' bei mir!« Meinolf kniete vor ihn hin, und sein Vater legte ihm die Hände aufs Haar. Wo sie die Stirn und Schläfe streifend berührten, fühlten sie sich kalt, wie leblos an.
Beide waren von tiefer Erschütterung bewältigt und die Schwäche, die den Freiherrn überkommen, wohl begreiflich. Nach zwanzig Jahren plötzlich hatte er einen Sohn gefunden; er mußte mit diesem im gleichen Wahn gelebt haben, daß kein Band des Herzens zwischen ihnen vorhanden sei. Aber diese Stunde bewies, er habe die nämliche Sehnsucht nach Liebe in sich getragen, und zurückgezwungen, gezagt und gebangt, sie zu offenbaren, als ob er ihre Erwiderung unmöglich gehalten, sich vor einem Erbteil in der Brust Meinolfs gefürchtet. Was sein Verhalten gegen die Gutsangehörigen kundtat, war hier deutlich vor Augen getreten. Seinem düsteren Äußern entgegen hatte die Natur ihn im Innern nicht hart gepanzert; er besaß ein weiches, jäh zu ergreifendes und ihn überwältigendes Herz.
Beide verharrten eine Weile schweigend in ihrer Stellung, Dann fand die Jugend zuerst die Sprache wieder, das letztgesprochene Wort aufnehmend:
»Ich soll bei dir bleiben – wie in dieser Stunde möcht ich's – lange. Willst du mich den ganzen Sommer behalten, Vater?«
Die Hände Dietrich Alfslebens preßten sich um den Kopf des Sohnes. »Ja, bleibe bei mir – immer. Komm, steh auf! Du sollst nicht vor mir knien – mir kam's zu vor dir, dir zu danken.«
Nun saßen sie beisammen, miteinander redend, wie sie's noch nie im Leben getan. Die hohe Flut der Empfindung, von der sie sich entgegengeführt worden, beschwichtigte sich, der Mannesnatur gemäß, doch von der Zunge Meinolfs klangen auch die gewöhnlichen Worte fort wie in einem Freudenrausch gesprochen, und die Augen seines Vaters, ihnen fremdartig folgend, erhellte ein Glück. Der erstere erzählte von seinem Leben, seinen Reisen, seinen Zukunftsplänen; dieser gedachte er mit lachendem Munde. Sie lagen ihm von der letzten Stunde fern in die Weite entrückt; was er wie ein Traumgefühl in sich getragen, daß etwas Sonnenhaftes hier auf ihn warte, hatte sich doch heute erfüllt, und nur die schöne Gegenwart hielt ihn umfangen, der Gedanke an den Sommer im heimatlich gewordenen Haus. »Frau Themis wird sich trösten, wenn sie noch darauf warten muß, daß ich mich ihr als Staatsanwalt vorstelle.«
Dann und wann war ein Glockenklang von der Schloßuhr gekommen, jetzt schlug es langandauernd langsam Mitternacht. »Die Geisterstunde,« lächelte Meinolf; »hier findet sie gute Geister aufgeweckt. Aber du bist müde von deinem Jagdgang, lieber Vater, und ich bin's vom Glück; zum ersten Male lern' ich's, daß es sich auch auf die Augen legt. Hast du gute Beute heimgebracht?«
Er war aufgestanden, sein Vater tat das gleiche. »Ja, unerwartete,« erwiderte er, und fügte nach: »das heißt, nicht wirklich. Wir gingen auf etwas Seltenes bei uns aus, einen Wachs, doch wir fanden ihn nicht.« »Das freut mich für ihn,« flog's Meinolf heiter vom Mund, »denn ich fühle heut', wie schön es ist, zu leben.« Zufällig ging sein Blick seitwärts, und er streckte die Hand nach dem Tisch, an dem er gesessen. »Ich habe dafür etwas gefunden, eigentlich nicht ich, sondern Nathan Aronsohn, der Jude, der's irgendwo am Strand aus dem Sande gescharrt und in seinen Sack gesteckt. Aber ich hab's ihm abgehandelt für deine Sammlung, wenn's dir einen Platz drin wert ist. Das Ding scheint nach dem Rost lang im Wasser gelegen zu haben, bis eine Sturmflut es herausgeworfen.«
Der Freiherr nahm die Pistole. »Ich danke dir, daß du schon an diesem Abend an mich gedacht hast; das gibt ihr Wert für mich, sonst hat sie freilich wohl keinen besonderen.«
»Wenigstens spannen läßt sie sich nicht mehr,« lachte der junge Mann, »oder ich verstand mich nicht darauf,«
Er fügte das letztere hinzu, denn sein Vater hatte den Daumen auf den verrosteten Hahn gelegt und ihn mit geübter Hand doch in Bewegung versetzt, daß er sich vom Piston aushob; nun knackte er und stand. Dietrich Alfsleben bog den Zeigefinger um den Drücker und sagte, die kleine Feuerwaffe näher an eine Lampe haltend: »Sie ist einmal von nicht schlechter Art gewesen, auf dem Kolben scheint etwas eingelegt.« Das Licht ließ jetzt die von Nathan Aronsohn einigermaßen wieder herausgeputzten silbernen Arabesken am Griff unterscheiden, doch im selben Augenblick erfolgte ein scharf klappernder Ton, und ein anderer, schreckhafter flog dem Freiherr« vom Mund. Sein Finger hatte eine Rückbewegung gemacht, und der Hahn war niedergeschlagen; Meinolf stieß unwillkürlich aus: »Was hast du, Vater? Warum?«
»Nichts – ich war ungeschickt. Ein Eisensplitter scheint abgesprungen und mir in die Hand. Man muß sich mit solchem alten Plunder vorsehen. Der Jude hat dir natürlich das unnütze Ding für guten Preis angehängt.«
Alfsleben legte geringschätzig die Pistole auf den Tisch zurück und schloß ans letzte Wort: »Nu hast recht, es ist spät und Schlafzeit. Laß uns geh'n!«
Sie stiegen zusammen die Treppe zum oberen Stockwerk hinauf; vor der Schlafzimmertür des Freiherrn hielt Meinolf, seine Rechte ausstreckend, an. »Gute Nacht, lieber Vater. Schlafe gut!«
»Gute Nacht.«
Der Antwortende versetzte es kurz, seine linke Hand nahm die des Sohnes, der verwundert fragte: »Warum gibst du mir die?«
»Die andere kann ich dir nicht geben – sie tut weh –«
»Dann ist der Splitter wohl noch drin, ich will nachsehen.«
»Nein,« Alfsleben öffnete seine Tür. »Es schmerzt nur noch nach, morgen wird's vorüber sein. Schlafe du gut, mein Sohn! Deine Jugend bedarf des Wunsches nicht.«
Er trat rasch ein, und Meinolf begab sich durch den alten gewölbten Gang weiter nach seinem Schlafgemach. Dasselbe war's, das er von Kindheit auf innegehabt, wenn er in den Ferien hier gewesen, wie alle Räume des Schlosses groß und hoch, alte Bilder sahen von den Wänden. Es hatte nie Trauliches für ihn besessen, manchmal sogar beim Zubettgehen ihn mit einer Scheu überkommen; heut' zum erstenmal fühlte er sich drin in seiner Heimat. Er war sehr glücklich, kehrte sehr anders in den Raum zurück, als er am Nachmittag zu hoffen gewagt, daß er ihn wieder betreten werde. Betrachtend stand er vor einem der Porträtgemälde, das seine Mutter als junges Mädchen darstellte, mit ihr hierher und nach ihrem Tode in dies Zimmer gekommen war. Die Züge besaßen Unschönes, Hartes, ließen begreifen, daß sein Vater sie nicht geliebt hatte. Meinolf selbst sah das Bild als das einer Fremden an, mit der ihn kein Zusammenhang verknüpfte. Sein weiches Gefühl regte sich, ihm aus diesem Empfindungsmangel einen Vorwurf zu machen, doch er konnte sich nicht wider seine Natur zwingen. Die seines Vaters lebte in ihm, und dies Gesicht hatte ihm auch nicht Liebe einzuflößen vermocht. Freilich hatte noch keines je solche in ihm geweckt; er wandte sich ab, trat an ein Fenster, öffnete es und blickte in die Nacht hinaus.
Es hatte wieder zu regnen begonnen, doch in eigener Art. Sacht durch linde, stillgewordene Luft kam's herab, nichts regte sich, das Ohr vernahm nur ein gleichmäßiges Rauschen. Darin lag etwas Melodisches, dem sich harmonisch eine zwiefache Lichthelle gesellte. Die eine war bleibend, entstammte fraglos dem selbst nicht sichtbaren Mond, der hochher mit einem Schimmer den nur mehr dünnen Gewölkschleier durchdrang. Am Horizont dagegen lag noch dichtere Wolkenmasse, aus der ab und zu ein Blitzschein aufflog. Noch ohne nachfolgenden Donner, kein Gewitter mehr war's, nur ein Geleucht blauer, spielender Flammen. Wie ein plötzlich auftauchender und wieder verschwindender zauberischer Vorhang erschien's, hinter dem sich die Aufführung eines märchenhaften Schauspiels bereite. Das Gefühl sprach auch davon, was es sei: der Einzug des Frühlings im wallenden Mantel des warmen Regens. Doch es ließ nicht Zweifel, wenn der Morgen komme, werde er das graue nächtliche Kleid mit einem Goldgewand vertauschen, sich in leuchtender Herrlichkeit zu zeigen. Und auch ein Musikklang kündigte jetzt die Eröffnung des freudigen Spieles an, aus einem Busch in der Parkferne her schlug eine Nachtigall. Sie mußte zugleich mit Meinolf, als eine nicht wahrgenommene Reisegenossin, vom Süden eingetroffen sein, tat ihre Ankunft zum erstenmal kund.
Geraume Weile hatte der junge Mann sich aus dem Fenster gelehnt und mit tiefen Zügen die köstliche Luft eingeatmet, denn der Halbschlag der Schloßuhr tönte. Nun wandte er sich zurück, allein die Müdigkeit war ihm vergangen, er fühlte, daß er noch nicht schlafen werde. Nach kurzem Besinnen nahm er seine Kerze, sich von unten das Buch heraufzuholen, in dem er am Abend gelesen. Der Gang und das ganze Haus lagen dunkel, die Dienerschaft hatte alle Lichter gelöscht, und am Fuß der Treppe blies unvorhergesehene Zugluft von einem offenstehenden Flurfenster her ihm auch das seinige aus. Doch er kannte jeden Schritt im Hause, bedurfte der Kerze nicht, sondern fand die Wohnzimmertür und tastete sich dem Tisch zu; der war's, auf den sein Vater die rostige Pistole zurückgelegt, daneben mußte das aufgeschlagene Buch sich befinden. So verhielt sich's auch, der Himmel kam ihm zu Hilfe und goß kurz einen blauen Wetterschein durch die Stube, bei dem er die weißen Blätter wahrnahm und gleich darauf mit der Hand gefaßt hielt. Um ihn war's wieder finster; hatte er sich doch vielleicht geirrt, ein anderes Buch von einem anderen Tisch genommen? Die Empfindung überkam ihn, er wußte zuerst nicht, weshalb; dann erklärte sie sich ihm daraus, daß er bei dem flüchtigen Aufleuchten nur das Buch, doch nicht die Pistole daneben gesehen. Seine Hand tastete über den Tisch, aber dieser war leer. Meinolf dachte einen Augenblick nach, erinnerte sich indes nicht, daß irgendwo ein anderes aufgeschlagenes Buch gelegen; er mußte das gesuchte in der Hand halten, der Diener beim Auslöschen der Lampen die alte Schußwaffe beiseite geräumt haben. Wie er in sein Zimmer zurückkam, zeigte sich auch, daß er das richtige mitgebracht; ein Döbereinersches Platin-Feuerzeug ermöglichte ihm, seine Kerze wieder anzuzünden. Aber jetzt hatte die Müdigkeit sich seiner aufs neue voll bemächtigt, er las doch nicht mehr, stand nur noch einmal auf, das Fenster wieder zu öffnen. Leise rauschte der Frühlingsregen; mit geschlossenen Augen sprach Meinolf Ulfsleben ein paar ihm besonders liebe Verse eines altrömischen Dichters vor sich hin:
»
Quam juvat, inmites ventorum audire susurros,
Et dulces somnos imbre juvante sequi.«
Schon in halbem Traum kam's ihm von den Lippen, und auf den Schlag der näher ans Schloß herangekommenen Nachtigall hörend, fiel er in Schlaf.