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Sechstes Kapitel

Das Gymnasium, in dem wir nach der oftmaligen Versicherung unserer Lehrer »vitae, non cholae« zu lernen angehalten wurden, war eine der merkwürdigsten und an sich schon lehrreichsten Baulichkeiten der Stadt, ich möchte glauben des Erdrunds. Es lag in einer engen, von stätem Bleilicht überdachten Gasse, deren Pflasterpodium mir einige Schwierigkeit betreffs Auseinanderhaltung von Ursache und Wirkung bereitet, da ich nicht anzugeben vermag, ob die Straße täglich in gleicher Weise unsere Stiefel, oder unsere zahlreichen Füße die Straße schmutzig machten.

Das Schulhaus war einstöckig langgestreckt, von der Farbe einer durch Hochsommerhitze ausgedörrten, rissig-zerbröckelten Lehmgrube; ein Flur führte hinein, dessen rote Ziegelsteine in den Zwischenpausen von den Patriziergeschlechtern der Lehrer ausgewandelt worden, während als Analogon die Plebejerschar der Lernenden im Lauf einiger Jahrhunderte die Stufen der wackelnden Holztreppen ausgetreten sive ausgetrampelt hatte. Der letztere Vorgang erzeugte nach dem Schluß der Klassen stets ein donnerartiges Gepolter, das vermutlich in der ganzen Umgegend als eine Art Erdbeben empfunden, nach den Regeln der Gewohnheit jedoch ebenso wenig mehr beachtet wurde, wie das Poltern und Dröhnen in den Eingeweiden des Vesuv von den Neapolitanern.

Es lag eine hübsche Klimax darin, daß je mehr jemand durch die Klassenerfolge in das erhöht konzentrierte Licht der philologischen Wissenschaft aufrückte, desto bleierner sich auch das gemeine Tageslicht um ihn her verdunkelte, so daß die Brillen in der Tertia begannen, in der Secunda sich zur zweiten Potenz erhoben und in der Prima zur ordnungsmäßigen Regel ausbildeten. Bei der innigen Wechselwirkung, die zwischen Körper und Geist besteht, wurde dadurch unfraglich auch der geistige Blick für dunkle Stellen des Aeschylus, Herodot und Horaz geschärft, und die scharfsinnigen Analysen, Interpretationen und Conjecturen in Bezug auf mutmaßlich corrumpirte Textworte traten auf's Glänzendste in Gegensatz zu dem Dämmerschein, der den eigentlichen Inhalt der klassischen Schriftwerke verhüllte. Die Jahresdurchschnitts-Temperatur in den Schulräumen entsprach auf's Vollkommenste jeder sanitätlichen Anforderung. Wenn schwül erdrückende Hitze ab und zu schlaganfallartige Bewußtlosigkeit erzeugte, so geschah dies, weil die Sommersonne in niedrigen Zimmern höhere Grade zu entwickeln Pflegt, als in freier Luft, und es konnte dem Winter nicht zum Vorwurf gereichen, daß er diesen Wärme-Ueberschuß in entgegengesetzter Richtung auszugleichen bestrebt war. Da Kindern der Wert der Sparsamkeit nicht früh genug in succum et sanguinem eingeprägt werden kann, ließen die Oefen sämtlicher Klassen den darin Befindlichen gemeiniglich vom November an das Blut in den Adern erstarren, und die Lehrer nutzten gleichzeitig diesen Anlaß mit zweckdienlichster Pädagogik aus, die Jugend zur Abhärtung und Entsagung zu erziehen, indem sie selbst sich in ihre Oberröcke und Pelze einwickelten, dagegen die Schüler auf's Strengste vor einer Nachahmung ihres Tuns abhielten, die eine nützliche Maßregel zu einem Verweichlichungsversuch umgestaltet haben würde.

Nach den Krankheiten zu urteilen, die zu jeder Jahreszeit die Zahl der Lernbegierigen im günstigsten Falle dezimierten, mochte das physische Fundament des Gymnasiums auf etwas ungesundem, vermutlich sumpfigem Boden ruhen, aber es litt keinen Zweifel, daß die psychischen und moralischen Grundmauern dafür unerschütterlich auf dem Felsen des Glaubens errichtet waren. Wenn der altgriechische Dichter in heidnischer Verblendung die Behauptung aufstellte: »Aus Zeus ist Alles,« so behielt der ethisch vorgeschrittene Geist unserer Schule die klassische Form bei, doch füllte sie mit dem gereinigten Inhalt: »Aus Christo ist Alles,« und christliche Frömmigkeit durchdrang als Sauerteig sogar die unregelmäßigen Konjugationen wie die regelrechten Beweise der Planimetrie. Darum besaß, nach dem Vorbild des Evangeliums, das Wissen an sich keinen Wert vor dem Urteil der Richtenden, und es ereignete sich nicht selten, daß die Offenbarung positiver Kenntnisse mit der schlechtesten Zensur belegt ward, während der zu Tag geförderte Mangel banalen Wissens sich die befriedigendste Anerkennung eintrug. Wenn wir uns nach dem Grunde solcher unerwarteten Preiserteilung befrugen und uns nicht in hartnäckiger Verblendung der richtigen Einsicht verschlossen, erkannten wir dann jedesmal, daß der Lehrer den Fundamentalsatz unserer Religion angewendet: »Dein Glaube hat Dir geholfen,« und es legte ein rühmliches Zeugnis für den gläubigen Eifer der Betroffenen ab, wenn sie es niemals versäumten, sich für diese Hilfe in demütigster Weise dankbar zu erzeigen. Da sie, den veränderten Kultur- und Bekleidungszuständen gemäß, dies nicht wohl nach Art Maria Magdalenas durch Fußwaschung und Salbung mit köstlichen Narden zum Ausdruck zu bringen vermochten, so legten sie ihr gefühlvolles Verständniß ab und zu durch Überreichung von Geschenken an den Tag, und es war eine erfreuliche Beobachtung, wahrzunehmen, wie die Lehrer keine Mühe scheuten, solche Schüler in ihrer vortrefflichen Gemütsrichtung zu bestärken und mit ihnen in steter, fördernder Wechselwirkung zu verbleiben.

Dieser christlichen Ordnung der ganzen Schulgemeinde entsprechend, ließen sich der Rektor, Konrektor, Subrektor und Kollaborator in einem Bilde, das kaum mehr ein Gleichnis, sondern vollste Wirklichkeit darstellte, als Papst, Kardinal, Bischof und Pfarr-Priester bezeichnen. Untergeordnete Funktionare der Hierarchie, die in die Künste des christlichen Rechnens, Schreibens und Handzeichnens einweihten, mochten in Parallele mit dem Vikar Meßner und Chordiener zu bringen sein; außerdem befand sich noch eine Persönlichkeit unter den Oberen, von der sich nicht bestimmen ließ, auf welche Sprosse der Stufenleiter sie einzureihen sei. Es war dies der Lehrer der naturwissenschaftlichen Fächer, Dr. Unger, ein noch junger Mann. Zweifellos gehörte er dem bildlichen Kirchenvorstande mit an und nahm Sitz und Stimme in dem Plenarkollegium desselben ein. Doch sowohl sein Aeußeres entbehrte eines sonst von allen übrigen beredt zur Schau getragenen Tonsur-Analogons, wie auch sein Wesen noch einen Mangel an esoterischem Verständnis für die, ihm durch seine Stellung auf- und eingeprägte Würde bekundete. Man konnte ihm deshalb nur den Ehrennamen eines Weltgeistlichen im allgemeinen zusprechen und mußte sich der Hoffnung hingeben, daß ihm das tägliche Musterbeispiel seiner Kollegen zum Sporn dienen werde, durch wirkliche Verdienste auf der Skala der Hierarchie zu einem anerkennungswerten Mitgliede emporzurücken.

Als letzter schloß das Regiment der alte Pedell, namens Kähler. Er war nach seinem Aussehen und verbreiteter Ansicht – denn er selbst besaß keine sichere Anschauung darüber – fast neunzigjährig, sein Kopf kahl gleich einer gebeizten Ahornplatte und sein fußlanger Bart weiß wie der Schnee Rußlands, durch den er mit der großen Armee Napoleons nach Moskau gezogen. In Wintertagen, wenn bei unserm Eintritt ins Klassenzimmer volle Nacht noch kaum die Bänke und Tische unterscheiden ließ, hockte er manchmal fröstelnd an der Seite des von ihm geheizten Ofens und erzählte mit dünner Stimme und zugedrückten verrunzelten Augen, wie er im Schnee liegen geblieben und nicht wisse, auf welche Weise er wieder herausgekommen sei. Mir war's oft, wenn seine Hände zitternd dabei herumtasteten, als halte er sich eigentlich für gestorben und noch unter der weißen Decke begraben, aber wir waren alle zufrieden damit, daß er wieder draus hervorgekrochen, denn so furchtbar er dereinst den russischen Vaterlandsverteidigern erschienen sein mochte, so wenig natürliche Befürchtungen flößte er uns ein, selbst wenn er in hochfeierlichen Momenten mit seinem Lictor-Attribut, dem Rohrstock, auf dem Forum des Konferenz-Zimmers erschien.

*

Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben, und wer singend am Morgen aus dem Bette springt, legt sich weinend wieder hinein. Die Spruchweisheit des Volkes geht selten fehl und besitzt ihre Vollgültigkeit sowohl für die Jugend wie für das Alter. Ich erinnere mich, daß Tante Dorthe sich an dem Morgen, der mir beide Sprüche bewahrheitete, offenbar auf's äußerste anstrengte, aus dem Winkel ihres freundlichen Auges einen strengen Seitenblick über mich hinstreifen zu lassen, und sie reichte mir das Frühstück mit den Worten: »Diesmal hättest Du eigentlich wahrhaft verdient, nichts zu bekommen, Reinold.« Mit einiger Verwunderung hörte und sah ich sie an, denn im Grunde befand sich mein Gewissen – von seiner allgemeinen stetigen Anklage gegen meine Existenz überhaupt abgesehen – gerade heut in einem ungewöhnlichen Zustande von Seelenruhe. Ich wußte meine Arbeiten für den ganzen Tag in vollster Ordnung, hatte mich ausreichend präpariert und konnte die großen und kleinen Propheten ohne zu stocken an den Fingern herzählen. Deshalb fragte ich höchlich erstaunt und zugleich mit einer siegeszuversichtlichen Furchtlosigkeit: »Aber warum denn nicht, Tante Dorthe?«

»Ich bin nicht Deine Tante Dorthe, ich heiße Mamsell Dorothea,« versetzte die Alte mit fremdartig gemessenem Ton. »Für jemanden, der sich mit solchen Geschöpfen einläßt, bin ich's nicht, such' Du Dir eine Tante bei Deinen – o Kind, Kind, wie kann man nur so sündhaft – ich meine, so tollköpfig – ich wollte sagen, so unvorsichtig sein! Du hast's am Ende gar nicht bedacht, und nun werden sie Dich um das abscheuliche Ding –«

Tante Dorthe stockte, denn sie wischte mit der einen Hand eine Träne von der Backe und strich mit der andern die Butter doppelt so dick als sonst auf die für mich bestimmte Brotschnitte. Dazu schüttelte sie den Kopf auf meine wiederholte Frage, und es war nicht mehr Zeit, weiter in sie zu dringen, denn wir hatten uns verspätet, mußten aufbrechen und den Schluß unseres Frühstücks auf dem Schulweg besorgen. Das taten wir mit zufriedener Emsigkeit; als ich fertig war, fragte ich Imhof, ob er eine Ahnung davon habe, was Tante Dorthes rätselhafte Worte bedeuteten. Doch er war nicht klüger als ich, Fritz Hornung dagegen sagte, noch mit beiden Backen kauend: »Ich weiß es auch nicht, aber ich hörte gestern abend, daß Doktor Pomarius mit dem Superintendenten redete, und daß Dein Name dabei vorkam. Und nachher fragte der Superintendet: »Wenn man so etwas gegen Christen mit Leuten, die den Heiland gekreuzigt haben, tut, ist das nicht, als ob man unfern Erlöser auf's neue wieder an's Kreuz schlüge?« – »Ganz richtig, mein lieber Eugen, völlig wahr,« antwortete Doktor Pomarius ihm; »es ist das und die Tat Kains gegen seinen Bruder zugleich.« – »Aber was es bedeutete, hab' ich nicht begriffen.«

So gelangten wir in die Quarta und schlugenden Cornelius Nepos auf, bei dessen Erläuterung uns der Klassenlehrer und Kollaborator Aberell die Bedeutung des Wortes Nepotismus auseinandersetzte. Er sagte, es liege darin eine ungerechte Begünstigung, Bevorzugung solcher Persönlichkeiten enthalten, die keinerlei Verdienst-Anrecht darauf besäßen, und der Nepotismus sei ein heidnischer Brauch gewesen, der gottlob mit der Einführung christlicher Ordnung vollkommen aufgehört. Die mathematische Stunde, welche sich daran reihte, erteilte der Konrektor Schachzabel. Er bewies uns die mathematische Unmöglichkeit, daß eine gedachte Linie irgendwo anfangen und irgendwo enden könne, und fragte: »Hat jemand es nicht gefaßt?«

Fritz Hornung hob die Hand.

»Was hast Du nicht begriffen, Hornung?«

»Wenn der liebe Gott sich nun eine Linie dächte, könnte er sich da auch Anfang und Ende nicht vorstellen?«

»Gott ist selbst unendlich, also Deine Frage eine höchst unpassende, zumal da sie nicht in den mathematischen Unterricht gehört.«

»Aber in der Bibel steht, Gott sei Alles möglich. Kann die Mathematik denn mehr als er?« murmelte Fritz Hornung.

»Du bist ein dummer Junge und sitzest eine Stunde nach, um über den Unterschied zwischen mathematischen und Religionslehren nachzudenken. Was Gott nicht will, kann er selbstverständlich auch nicht, und da seine Güte nicht gewollt hat, daß ein planimetrisches Axiom anders sei, als es ist, liegt der logische Beweis für die Unumstößlichkeit desselben auch theologisch erbracht vor. Nachher kommst Du zu mir in meine Wohnung und teilst mir das Resultat Deines Nachdenkens mit, Hornung.«

In der eintretenden viertelstündlichen Vormittagspause stieg Fritz Hornung nach dem Fortgehen des Lehrers auf den Kathedersitz, schlug seinen Nepos auf, rief: »Stille!« und fügte mit der Stimme des Kollaborators Aberell hinterdrein: »Hat Einer von Euch noch nicht begriffen, was Nepotismus ist?«

Mehrere hoben, ihren Pausenschmaus zwischen den Zähnen verarbeitend, zum Spaß die Hand, und Fritz Hornung fuhr fort:

»Wenn Eugen Bruma so gefragt hätte, wie ich's getan, so würde er die Antwort bekommen haben: Da stellst Du eine sehr tiefsinnige Frage, mein lieber junger Freund, die das glänzendste Zeugnis für Deine Gediegenheit und die Unermüdlichkeit Deines Forschungseifers ablegt. Sie allein zeigt, daß Du es verdienst, um eine Bank weiter aufzurücken; tu's und besuche mich zum Kaffee heut' in meinem Hause, damit ich Deinen edlen und unbezwinglichen Wissensdrang befriedige.«

Es entstand ein Gelächter unter den Hörern, Fritz Hornung rief dazwischen:

»Ich meine nur – das ist natürlich nichts als Einbildung von mir, zu der ich gar keinen Grund habe, denn so etwas hat gottlob mit der Einführung christlicher Ordnung vollkommen aufgehört.«

Unter noch lauterem Gelächter sprang er, selbst lachend, noch grade rechtzeitig vom Katheder, um nicht von dem Subrektor Beireis überrascht zu werden, und die Geschichtsstunde nahm ihren Anfang. Wir standen vor dem Beginn des peloponnesischen Krieges, und der Lehrer entwickelte uns in begeisterter Schilderung die niemals wieder erreichte Stufe menschlicher Kultur, zu der griechische Kunst und Bildung jene glückselige Zeit, das historische goldene Zeitalter der Menschheit emporgehoben. Welcher Politiker wäre Perikles vergleichbar? Welcher Redner Demosthenes? Gibt es jemanden, der neben Sophokles noch Anspruch auf den Namen eines dramatischen Dichters hätte? Wer verdiente mit Phidias zusammen genannt zu werden? Wer mit Appeles? Hat ein erhabnerer Geist die Weltbühne überschritten, als Platon? Ein größerer Philosoph als Sokrates? Und für alle diese riesenhaften Erscheinungen, meine jungen Freunde, besitzen wir aus der nämlichen Zeit einen Maßstab, der uns genau ihre Größe bemessen läßt, wie eine ärmliche Hütte neben dem Kirchturm deutlichere Vorstellung von der Höhe des letzteren erregt. Während der Blütezeit Griechenlands lebte unfern in räumlicher Beziehung ein anderes Volk, dessen Namen wir um mehr denn zwei Jahrtausende früher in der Geschichte auftauchen sehen, doch von seinem Beginn bis zu seinem Ausgang in gleich rohem Zustande verharrend, bedeutungslos für die Entwicklung, den Fortschritt der Menschheit, ohne Kunst, ohne Dichtung, ohne Staatsmänner und Feldherrn; ein trauriges, seines späteren Unterganges würdiges Volk. »Was für Volk war das, Hornung?«

Fritz Hornung ließ ein Taschenmesser auf seine Knie fallen, mit dem er an der Ausarbeitung eines Schnitzkunstwerkes aus dem rohen Holzmaterial seines Tischanteils beschäftigt gewesen, hob den Kopf und antwortete sogleich mit einer Zuversicht, die keinen Zweifel an seiner sicheren Beherrschung des einschlägigen Gegenstandes verstattete:

»Die Hottentotten!«

Ein verhaltenes Lachen durchlief nicht, aber ging in der Art des sprichwörtlichen gesellschaftlichen Engels durch die Klasse, während der Subrektor Beireis die flachsblonden Augenbrauen bedrohlich zusammenzog und mit dem Fingerknöchel auf den Kathedertisch klopfend erwiderte:

»Will Er sich etwa mit mir, den griechischen Heroen und der Weltgeschichte zugleich einen faulen Jungenswitz erlauben? Er sitzt eine Stunde nach und kommt dann in meine Wohnung, um mir Beweis dafür zu bringen, daß Seine geographisch-ethnologischen Begriffe sich geklärt haben.«

Um Fritz Hornung's Mundwinkel ging ein kaum wahrnehmbares philosophisches Lächeln, um das Platon und Sokrates zusammen ihn beneidet haben würden, und er hatte bereits in der Verborgenheit künstlerischen Schaffens seine plastische Tätigkeit wieder aufgenommen, als der Subrektor Beireis mit veränderter Stimme auf's Neue anhub:

»Dies erbärmliche Volk, das den Gegensatz zu der Hoheit griechischer Kulturgröße bildete, waren natürlich die Juden, meine jungen Freunde, die uns kein Denkmal der Bildung, Kunst und Wissenschaft auf irgend einem Gebiete hinterlassen haben, sondern in alter und neuer Zeit die nämlichen geblieben sind, wie wir sie denn auch schon in den Anfängen der germanischen Geschichte unverändert in den römischen Kolonien auf deutschem Boden gewahren.«

Mir war, als ob der Blick des Sprechers sich unter den Flachsbrauen hervor aus der allgemeinen Abscheuwürdigkeit des berührten Gegenstandes noch mit einem Ausdruck konkreter Verachtung auf mich gerichtet habe. Eine dämmernde Ahnung verflocht mir diesen Blick mit den rätselhaften Frühstücksworten Dorthe's, und ich war froh, daß die Uhr vom Turm draußen die elfte Stunde schlug und der Subrektor Beireis Katheder und Zimmer verließ, um den Geschichtsunterricht durch den der Religion ablösen zu lassen. Den letzteren erteilte in allen Klassen der Rektor, Professor Tix eigenhändig, konnte man sagen, denn er pflegte jeden Satz durch eine ausdrucksvolle Bewegung seiner Hände zu unterstützen, die in kollegialischer Gemeinschaft mit den Füßen sich anschaulicher durch das allgemeine Begriffswort Gliedmaßen bezeichnen ließen. Sie hatten in der Form wie in der Art ihrer auf- und niederklappenden Regsamkeit etwas von Biberschwänzen und man vernahm ihren Aufschlag auf eine Tischplatte, sowie den Tritt der kollegialischen Füße auch ungefähr in der nämlichen Entfernung, welche den nordamerikanischen Biberfänger von der Anwesenheit seines Jagdobjekts zu unterrichten pflegt. Draußen im Korridor erscholl nun von weitem der Tritt, doch Fritz Hornung benutzte noch das eingetretene flüchtige Interregnum, indem er aufstand und fragte:

»Wißt ihr schon den neuesten Satz aus der Regel-de-tri, den ich entdeckt habe?«

»Nein, was ist's, Fritz?«

»Zweimal eins macht eins,« lachte er, »und dreimal eins würde auch dasselbe Facit ergeben.«

Die Tür ging auf und Professor Tix erschien. Er war sehr lang, sehr mager und sehr strubbelköpfig, das Haar dunkel, aber nicht recht schwarz, und von anderer Farbe untermischt, aber nicht recht grau. Er ging weniger, als daß er nach dem klassischen Vorbild des homerischen Helden das Knie dem Knie vorbeischob und so nach physikalischen Grundsätzen eine Abreibung der Bekleidung jener verursachte, die sich in der Erscheinung wechselnder Glanzlichter an den Tag legte. Um den obern Teil des Körpers trug er einen, je nach dem Faltenwurf da oder dort das Spiegelbild der Umgebung zurückwerfenden Schniepel, der in gleicher Weise von figürlicher, wie von physischer Anhänglichkeit redete und zur noch deutlicheren Kennzeichnung der letzteren stets die für den Wandhaken bestimmte Schlinge im Nacken des Trägers über die schwarze Alterskravatte hinaufschob. Dagegen schien es nach physikalischen Regeln unbegreiflich, auf welche Weise das Straußenei durch den Flaschenhals, oder vielmehr die Hände durch die Rockärmel hindurchgelangt seien, und es gab unter uns eine dem Wunderglauben abholde rationalistische Erklärungspartei, welche die Behauptung verfocht, daß der Schneider ursprünglich in corpore vili gearbeitet, das heißt, den Aermel um den Arm her verfertigt habe. Professor Tix' Zunge beging bei jedem Satze, den sie bildete, eine Sammlung, da sie nach einer Anzahl von Worten innezuhalten und eine aus zwei verschiedenartigen Tonäußerungen zusammengesetzte Interlocution – »Hm-abera« – einzuschalten pflegte. Damit eröffnete er auch jetzt die Stunde, indem er recapitulirend begann:

»Wir sagten gestern – hm-abera – daß, wie kein Haus, keine Kirche sich erbauen läßt ohne ein Fundament aus Felsgestein – abera – das in den brüchigen Boden eingesenkt worden – hm-abera – ja, daß so auch unsere christliche Religion auf einer unverrückbaren Basis fuße – abera – welche der Schöpfer und Erhalter Himmels und der Erde – hm-abera – Jahrtausende zuvor in die Herzen eines anderen, kleinen, doch in seiner gereinigten Erkenntnis einzig erhaben dastehenden Volkes eingesenkt – abera. Dieses Volk benennen wir das auserwählte Volk, das Volk Gottes – hm-abera – das inmitten heidnischer Verderbtheit, eitlen Scheines, Götzendienstes und abscheulichster Laster, wie das räumlich unfern auftretende Griechentum sie repräsentiert – hm-abera – dem Glauben an den Herrn anhing – abera – und so zum Mittelpunkte des Erdballs, zum wichtigsten, erleuchtetsten Volke der Menschheit wurde – hm-abera – auf dessen Erkenntnisstamm erst als ein veredeltes Reis unsere heilige Lehre sich pfropfen ließ – abera. Dieses Volk, das wir im Altertum vor allen bewundern und verehren müssen, weil es von Gott als das Felsfundament seiner Offenbarungen auch für uns auserkoren worden – hm-abera – wie benennt es sich – abera – Keßler?«

Ich hörte, daß Fritz Hornung halb vernehmlich brummte: »Diesmal sind's doch gewiß die Hottentotten,« über meine unklare Gemütsstimmung aber ergoß sich aus der Frage eine Art Beruhigung und ich antwortete: »Die Juden.«

Dennoch mußte im Ton meiner Entgegnung ein leiser Zweifel an ihrer Richtigkeit gelegen haben, denn Professor Tix erwiderte:

»Eine unrichtige Namensbezeichnung – abera – für das israelitische Volk – abera. Unter dem Worte Juden verstehen wir etwas durchaus Anderes – hm-abera – als das auserwählte Volk Gottes, von dem Deine Antwort in Frage zu ziehen scheint – abera – ob Du es als die verehrungswürdige Basis unserer christlichen Religion betrachten sollst – abera. Wir waren gestern zu den sogenannten kleinen Propheten des alten Testamentes vorgerückt – hm-abera – zähle mir ihre Namen auf, Keßler – abera.«

»Hosea, Joel, Amos, Obadja –« ich stockte.

Professor Tix schlug mit der rechtsseitigen Biberplatte auf den Tisch und wiederholte: »Obadja – abera –«

Am Morgen hatte ich sie noch gewußt wie das Abc, aber aus dem eigentümlich auf mich gerichteten Blick des Rektors tanzten jetzt lauter tolle Buchstaben mir vor den Augen und im Gehirn – ich begegnete dem mir ebenfalls zugewendeten Blick Fritz Hornungs und plötzlich sagte dieser laut:

»Abera –«

Professor Tix sah ihn erstaunt an: »Du bist nicht gefragt, Hornung. Aber wer ist der kleine Prophet Abera – abera?«

»Sie sagten es eben selbst, Herr Professor,« entgegnete Fritz Hornung seelenruhig, »Obadja, Abera.«

»Hm-abera« – und Professor Tix lenkte seinen unheimlichen Blick von mir ab – »wir glauben, Hornung –«

»An Gott den Vater, den Sohn, den heiligen Geist,« ergänzte Fritz Hornung zuversichtlich.

»Nein, wir glauben – abera – es ist Jemand hier toll geworden.«

»Das würde ich ganz gut begreifen, Herr Professor, denn der Herr Subrektor hat uns eben in der Geschichtsstunde gesagt, die Griechen wären das edelste von allen Völkern und die Juden das erbärmlichste gewesen.«

Fritz Hornung gab diese Antwort durchaus naiv-gemütlich, mit einem gewissen dumm-aufklärungsbegierigen Anstrich in seinen Zügen, daß Professor Tix einige Augenblicke nur sprachlos in wechselndem Takt mit beiden Biberschwänzen auf den Tisch schlug. Dann verzog seine Miene sich jedoch, wie es manchmal geschah, zu einem ironischen Ausdruck und er erwiderte:

»Tibi impera – abera – difficile est, satiram non dicere, Hornunge – m-abera. Du bist me hercule, einfältiger, als es für einen Quartaner erlaubt ist, und kannst heut' Mittag eine Stunde nachsitzen, um über den Unterschied zwischen Geschichts- und Religionsstunde nachzudenken – abera. Im Uebrigen, wollen wir Dir sine urbana dissimulatione gesagt haben, bist Du ein unverschämter Bengel – abera – der eine ganz andere Strafe verdient hätte.«

Fritz Hornung senkte überzeugt und schwer betroffen den Kopf, während er unter dem Tisch mir zugewandt drei Finger der rechten Hand und einen der linken in die Höh' streckte und ein Multiplikationszeichen dazu machte, welches wie ein ›Lied ohne Worte,‹ doch als ein äußerst humoristisches, deutlich besagte: »Dreimal eins ist auch eins«. Mir ward erst jetzt klar, daß er, um mir aus der Not zu helfen, eine Variation seines vorherigen Themas aus der Regel-de-tri gespielt hatte, und ich warf ihm einen dankbaren Blick zu, denn Professor Tix hatte in der Tat über dem Propheten Abera die übrigen und mich mit ihnen vergessen. Die Stunde ging fort, dann schlug die Uhr, der Schniepel glänzte vom Katheder auf und der Inhaber beider sagte:

»Also Hornung sitzt nach – abera – und Reinold Keßler wartet hier, bis er gerufen wird – hm-abera.«

Ich konnte nicht sagen, daß ich nach dem Verlauf des Vormittags eine viel günstigere Erwartung mehr gehegt hatte.

*

»Siehst Du, daß dreimal eins eins macht,« lachte Fritz Hornung, als wir uns unter vier Augen in der verlassenen Quarta befanden. »Es tut mir nur leid, daß ich mich wahrend des Nepotismus so vorzüglich betragen habe, daß auch viermal eins für einen geschickten Rechenmeister dasselbe Facit gibt. Nun gehe ich nachher erst zum Subrektor und sage ihm, ich hätte es jetzt vom Herrn Professor Tix selbst gehört, die Juden waren die ausgezeichnetsten Menschen von der Welt und die Griechen ganz erbärmliche Kerle gewesen, und dann gehe ich zum Konrektor und sage ihm, ich hatte furchtbar nachgedacht – abera – aber was hast Du denn eigentlich so Furchtbares verbrochen, Reinold?« »Ich habe –«

Es kam mir unwillkürlich auf die Zunge, doch im selben Augenblick sah ich Lea in ihrem gelben Kleide vor mir stehen und mit dem Kopf zugleich das schwarze Haar schütteln, und ich schloß den angefangenen Satz mit »Nichts – ich weiß nichts –«

»Du hast gar keine Vermutung?«

Ich schwieg, und Fritz Hornung fuhr fort:

»Weißt Du, so etwas wie eine Vermutung habe ich meistens, eine Art von Ahnung, daß ich ziemlich hoch darauf wetten würde, es läuft auf dies oder das hinaus. Aber bei Dir kann ich auch nachgrade nichts recht mehr vermuten, denn wir kriegen Dich ja kaum noch zu sehen, als hier bei der Tinte oder zu Haus' bei der nämlichen Flüssigkeit, die Doktor Pomarius uns übrigens, glaube ich, am Liebsten zum Frühstück, als Suppe und zum Abendbrot geben würde. Steckst Du denn immer mit dem Doktor Billrod zusammen?«

»Oft – meistens, Fritz,« erwiderte ich, über den mir dargebotenen Ausweg erfreut.

»Wartet er denn irgendwo im Feld auf Dich? Ich sehe fast jeden Tag, daß Du allein über die Wiese hinter unserm Garten fortläufst.«

»Ja, zuweilen – das heißt, sehr selten – ich erinnere mich eigentlich nicht.«

»Ich glaube, Du erinnerst Dich an gar nichts und weißt kaum mehr, wer Du selber bist,« lachte Fritz Hornung.

Er hatte einen Federhalter in's Tintenfaß getaucht und malte damit die Silhouette des Rektors Tix auf den Tisch, sah dann auf und fragte: »Er ist ähnlich – hm-abera – nicht wahr? Der reinste Prophet – abera. Weißt Du auch nicht, was man sagt, wer Doktor Billrod eigentlich ist?«

Ich schüttelte den Kopf. »Wer sollte er denn anders sein, als er ist?«

»Die Leute sagen, er wäre eigentlich Dein Vater.«

»Eigentlich?« Trotz dem, was mir bevorstand, mußte ich doch auflachen. »Du, Fritz, ich glaube, der Alte hat eigentlich Recht.«

»Womit?«

»Daß Du für einen Quartaner mehr als erlaubt ist, ein –«

Ich brach ab, denn mir lag eine Frage auf den Lippen, für deren Beantwortung ich Fritz Hornung nicht verstimmen wollte, und ich ergänzte:

»Sag' 'mal, hältst Du die Juden auch für die abscheulichsten Geschöpfe, wie der Subrektor?«

Er sah mir verwundert in's Gesicht. »Was kümmert denn Dich das? Das kommt darauf an, ob man sie aus der Geschichtsstunde oder Religionsstunde –«

»Nein, ich meine, in Wirklichkeit.«

»Da kenne ich nur Einen, der hinkt, schleppt einen Sack auf dem Rücken, sammelt altes Eisen, Knochen und Lumpen aus dem Kehricht, heißt Aaron und wohnt drüben in der Dorfgasse. Schön ist er nicht, aber ich glaube auch nicht, daß er beißt, denn er hat nicht viel Zähne mehr im Mund, wie ein Hund, als hätt' er sie an seinen aufgesammelten Knochen abgenagt.«

»Würdest Du ihm denn Böses antun, Fritz?«

»Warum? Er tut mir ja nichts.«

»Ich meine, wenn nun Einer mit Steinen nach ihm würfe?«

»Dann würde ich Dem wünschen und was ich könnte, dazu tun, daß er dabei in einen Graben fiele und sich die Nase entzwei schlüge.«

»Auch wenn es eine Jüdin wäre?«

Fritz Hornung tippte sich mit dem noch tintenassen Federhalter einen schwarzen Fleck vor den Kopf und antwortete mit weit aufgesperrten Augen:

»Du, es ist nicht richtig in Deinem da! Gibt es Jüdinnen? Ich habe noch nie eine gesehen, ich bin wohl, wie Du vorher sagen wolltest, für einen Quartaner zu einfältig dazu –«

Die Klassentüre ging auf, der alte Pedell guckte über die Schwelle und sagte aus seinem Schneebart hervor mit dünner Stimme:

»Keßler, Du sollst in das Konferenzzimmer kommen.«

Fritz Hornung gab mir gerührt seine tintenkleckrige Hand. »Es tut mir leid, denn man muß wahrhaftig nachsitzen, um einmal ordentlich wieder mit Dir zusammen zu sein, Reinold. Moriturus me salutas – das ist eine feine Wendung – abera.«

Ich ging, doch an der Tür kam er mir nochmals nach und wisperte: »Du, Kähler hat seines Urgroßvaters schwarzen Rock an, das ist ein omen sinistrum. Aber schlimmsten Falls macht auch bei ihm zwölfmal eins noch nicht einmal eins.«

Diesmal verstand ich den neuesten Satz aus Fritz Hornungs Regel-de-tri nicht, dachte indes auch nicht darüber nach, sondern folgte dem schlarrenden Schritt des Alten, der durch tiefen Schnee zu gehen schien, über den Korridor.

*

Das Konferenzzimmer nahm an der allgemeinen Lichtlosigkeit des interessanten Gebäudes bevorzugten Anteil, und im ersten Moment des Eintretens ward es mir schwer, etwas Anderes als einen mit dunkelgrüner Decke überspreiteten Tisch und eine Zahl gelblich-schweigsamer Gesichter um ihn her zu unterscheiden. Dann erkannte ich die gesamte Hierarchie höheren Grades bis zum Doktor Unger hinunter, von dem es nicht deutlich sichtbar war, ob er sich noch auf der eigentlichen Stufenleiter mit befand, oder auf einer ausrangierten Sprosse daneben saß; außerdem zählte Doktor Pomarius zu den Anwesenden, und auf einer Seitenbank hockten zwei Buben, deren vorderster eine etwas aufgeschwollene Nase zeigte, während der andere sein Gesicht mit einem abgebrauchten seidenen Tuch umwickelt hielt.

»Der Quartaner Keßler,« sagte der alte Kähler, und mir ging ein Summen im Ohr, als hätte er hinzugefügt: »Wie Eure Heiligkeit befohlen.« Er blieb wie ein Schneemann, dem das Tauwetter die Rippen einzudrücken begonnen, neben der Tür stehen, und es blieb eine Minute lang so still im Zimmer, wie die Griechen es sich am Eingang in die Unterwelt vor der Halle der Hadesrichter vorstellten, dann wiederholte eine andere Stimme aus der stygischen Beleuchtung:

»Der Quartaner Keßler – hm-abera – ein sehr schwerer Fall – abera. Herr Kollege Aberell – abera – er betrifft Ihre Klasse, und Ihnen ist die Anzeige des begangenen Verbrechens gemacht worden – hm-abera – wollen Sie die Güte haben, uns noch einmal über die Tatsachen Bericht zu erstatten – abera.«

Es war der Kollaborator Aberell, der sich von seinem Sitz erhob und mit traurig bewegter Stimme erwiderte:

»Ich habe Manches in meiner reichbewegten Lehrerlaufbahn erfahren, aber ich muß es mit schmerzlichem Nachdruck aussprechen, daß eine solche an die Zeiten des Wandalismus erinnernde Roheit, die bei einem in den Bund des Christentums aufgenommenen Wesen nur der tiefsten sittlichen Entartung zu entspringen vermag – mores agrestes, turpes, depravatiques, sola ex turpitudine animi repitendi, wie unser leuchtendes Vorbild der Klassizität und philosophischen Pflichtbewußtseins sich ausdrücken würde – mir – ich danke der Güte des Schöpfers dafür – bis heut' noch nicht begegnet ist. Dieser Mißratene, der hier, des strengsten Urteils gewärtig, sich uns mit der Miene eines Lammes darstellt, von dem ich leider nicht abzuleugnen vermag, daß er der meiner besonderen Obhut vertrauten Herde angehörig ist – er hat zwei friedliche Knaben, Söhne ehrenwertester Eltern, die auf den Schutz der Gesetze, der Bildung, was sage ich, der ihnen eingeborenen Nächstenliebe, wie drücke ich es am Höchsten aus, der Vorschriften unserer Religion der Liebe und Barmherzigkeit bauend, sich in kindlicher Harmlosigkeit in der freien Gottesnatur ergingen – diese hat er in der stillen Freudigkeit ihrer Betrachtungen, sicut belua silvestris, mit der Faust angefallen, überwältigt, dem Freunde, der nach heiligem Gesetz der Menschlichkeit mit tapferer Unerschrockenheit dem Freunde zu Hülfe zu kommen trachtete, einen Stein des Feldes in's Antlitz geschleudert, daß er blutend, ein Bildnis des Entsetzens zu seinen verzweifelten Eltern in's Haus kehrte. So gewahren wir die beiden schreckensvoll entstellten Zeugen der blutigen Untat hier an unserer Seite. Unglaublich aber fast erscheint es – incredibile horribilique dictu – daß der Täter von seiner frühesten Kindheit auf des Segens teilhaftig geworden, im Hause eines der würdigsten, gottesfürchtigsten und hochverehrtesten Männer unserer Stadt, den wir hier mit tiefer Anteilnahme heiße Tränen über die Verworfenheit seines Mündels vergießen sehen, aufzuwachsen, sich des täglichen Umgangs, der Belehrung und des moralischen Ausblicks an einem solchen Manne empor zu erfreuen, und dennoch sich der zügellosen Schändlichkeit seiner Gemütsverwilderung nicht zu entschlagen. Welche Strafe wäre ausreichend, ein Aequivalent, nicht für seine Tat, sondern für die innere Verderbnis, von der sie Zeugnis ablegt? Dieses Geschöpf ist ein verlorenes, würde die Gerechtigkeit sagen, welche Gott in die Hände der Obrigkeit gelegt, und sie würde ihn abscheiden fortan von allen guten Gliedern der Menschheit, ihn einem bösen Tiere gleich unschädlich machen, indem sie ihn sein Leben im Zuchthause beenden ließe. Das geschähe, wenn das Strafgesetz nicht um seines Alters willen eine Ausnahme mit ihm verstattete und die Vergeltung seines Verbrechens nicht noch einem anderen Hause der Zucht anheimstellte, demjenigen, in welchem wir uns hier versammelt befinden, das auch an ihm sein wohltätiges Erbarmen bekundet und an Stelle der kalten Strafe des Richters die einer warmen, schmerzlich bewegten väterlichen Pflichterfüllung über ihn verhängt.« Der Kollaborator Aberell verstummte und setzte sich. »Zuchthaus – Haus der Zucht – hm-abera – annominatio eximia, Kollege Aberell – abera,« sagte Professor Tix, sich zu ihm wendend. »Ein anerkennenswerter Vortrag, von ungewöhnlicher oratorischer und pädagogischer Befähigung Zeugnis ablegend – abera.«

Der Kollaborator erhob sich halb vom Sitz und verneigte den Oberkörper dankend gegen den Sprecher; mir rannen mehrere Bilder undeutlich vor dem Blick durcheinander. Ich sah Doktor Pomarius, den auf ihn, bezüglichen Passus des vernommenen Vortrags bewahrheitend, mit einem Zipfel seines Taschentuchs am rechten Augenwinkel vorübergleiten und zugleich gewahrte ich die »friedlichen Söhne ehrenwertester Eltern« mit äußerst stier-verwunderten Augen dreinblicken, als gäben sie sich einem gewissen Zweifel darüber hin, ob sie unter den »in kindlicher Harmlosigkeit« Lustwandelnden sich zu verstehen hätten. Es kam plötzlich mit einer sonderbaren Phantasmagorie über mich, einer Vortäuschung, daß ich meinte, ich hätte mich mit den beiden gemeinschaftlich ihrer »stillen Freudigkeit der Betrachtung der freien Gottesnatur« hingegeben und sei deshalb des entsittlichenden Umgangs mit den Kindern ›ordinärer Leute‹ angeklagt – dann weckte mich Professor Tix aus dieser, die Unzurechnungsfähigkeit meines Verstandes bloslegenden Täuschung, indem er den Kopf gegen mich herumdrehend sagte:

»Wie Du gesündigt hast, spricht das Evangelium, sollst Du gestraft werden – hm-abera – das heißt, nicht mit Stein, sondern mit Holz – abera. Die Konferenz hat Dir einstimmig von Seiten der Schule fünfundzwanzig Stockschläge zuerkannt und die weitere Bestrafung der häuslichen Zucht und dem pädagogischen Bemessen Deines Wohltäters und Vormundes anheimgegeben – hm-abera – Kähler!«

»Herr Direktor,« ertönte die Stimme des Alten, als sei sie eingefroren und mache nur mühsam einen Teil von sich aus den aufgestauten Eismassen los.

»Fünfund – abera – was wollen Sie bemerken, Herr Kollege – abera?«

Dr. Unger hatte die Unterbrechung veranlaßt und erwiderte mit einem Ton, der weder recht zur physischen Beleuchtung noch zur geistigen Stimmung in das Konferenzzimmer paßte:

»Erstens, Herr Direktor, muß ich mich gegen die Einstimmigkeit des Strafvotums verwahren und sodann bemerken, daß in der Rechtswelt der Grundsatz gebräuchlich ist – um mich in der hier, wie es scheint, auch bei solchen Angelegenheiten für passend erachteten Sprache auszudrücken –: Audiatur et altera pars

»Hm-abera – ein klassischer Grundsatz, aber ein unnötiger für den Klarsehenden – abera. Ueberdies hat der Angeklagte seine Schuld nicht abgeleugnet – abera.«

»Es gibt Gemüter so verblendeter Art,« versetzte Dr. Unger gelassen, »welche sich nicht verteidigen, weil sie in dem unbegreiflichen Wahn befangen sind, jeder Versuch in dieser Richtung werde nur eine Erschwerung der für sie vorausbestimmten Strafe, eine Belastung mit neuer Schuld nach sich ziehen. Ich weiß nicht, ob ein solcher Fall hier vorliegt, er würde jedenfalls eine an sich schon äußerst strafwürdige Ungerechtigkeit gegen das anwesende Spruchkollegium enthalten, aber durch meine Fachwissenschaft bin ich mehr als Sie, meine Herren Kollegen, darauf hingewiesen, physische Wahrscheinlichkeiten und Unwahrscheinlichkeiten in Betracht zu nehmen, und ihnen gemäß will es mir nicht völlig glaubhaft vorkommen, daß der Angeklagte in der so vortrefflich vom Herrn Kollegen Aberell dargestellten Weise einen Angriff auf die beiden Beschädigten unternommen habe, von denen der Augenschein lehrt, daß jeder einzelne derselben ihm an Körperkraft überlegen ist. Es widerstreitet das sowohl psychologischer wie physischer Annahme und ich muß als Mitglied der Konferenz das Recht beanspruchen, an den Beklagten eine darauf bezügliche Frage zu richten.«

»Hm-abera,« versetzte Professor Tix, beide Hände schaufelartig durch die Luft bewegend, »es ist in der Tat –«

»Möglich, daß meine verhältnismäßige Unerfahrenheit es mir erschwert, die Verantwortung einer solchen Sentenz in der erprobten Art der Herrn Kollegen auf mich zu nehmen,« fiel Dr. Unger ein, und gegen mich vorschreitend fragte er:

»Hast Du die Tat, deren Du beschuldigt bist, so wie sie dargestellt wird, begangen, Keßler?«

»Nein.« – Es flog mir heraus; jedem andern gegenüber wäre ich entschlossen gewesen, mit Ja zu antworten, nur dem Fragsteller gegenüber war mir eine Lüge, selbst aus Kosten, daß mein Verkehr mit Lea entdeckt würde, unmöglich.

Dr. Unger sah mich mit aufmunternd freundlichen Augen an, nickte bestätigend und erwiderte:

»So erzähle mir« – er betonte das Pronomen – »wie die Sache sich zugetragen.«

»Die beiden wollten – ich hörte –« antwortete ich; doch plötzlich stand Lea wieder den Kopf schüttelnd vor mir, und ich stotterte, stockte und schwieg.

Statt dessen nahm eine andere Stimme meine Worte auf. Es war die des Doktor Pomarius, der mit dem Tuch nochmals an den Augen vorüberglitt und verhalten-schluchzend äußerte:

»Womit habe ich Beklagenswerter es verdient, daß diese junge Schlange, die ich mit dem Herzblut meiner Liebe an meinem Busen aufgezogen habe, mich nötigt, die ganze, noch weit größere Abscheulichkeit des in Rede stehenden Vorganges zu offenbaren? Ich wollte schweigen, aus väterlicher Schwäche, ich gestehe es, doch der Mißratene zwingt mich, alles rückhaltslos auszusprechen. Diese beiden Knaben christlicher Eltern fanden auf ihrem Abendwege ein junges Geschöpf weiblichen Geschlechtes aus jenem fluchwürdigen Volksstamm, der nicht allein die Erbsünde über die ganze Menschheit gebracht, sondern im Beginn unserer Geschichte den Heiland und Erlöser des ganzen Weltalls ans Kreuz geschlagen. Es ist ein Jammer, daß die Obrigkeit den Aufenthalt dieser vom Fluche des Herrn Betroffenen in unserem christlichen Lande verstattet, die von ihrer Kindheit an unterrichtet werden, unsere Rechtschaffenheit und gläubige Ehrlichkeit zu betrügen, uns den irdischen Segen, den Gott dem Verdienste der Seinen verheißen, zu stehlen, unsere Söhne durch die Verführung schändlicher Sinnenlust – ich kann vor den Ohren der Jugend hier das Ruchlose nicht beenden. So schlich sich das genannte häßliche Geschöpf in der Dämmerung gleich einer Fledermaus, einem Vampyr hinaus, um über den neusten Betrug nachzusinnen, den sie verüben wollte, als die beiden wackeren Knaben ihrer ansichtig wurden und mit dem ihnen im frommen Elternhause eingeprägten Abscheu die schöne Gottesnatur von der Berührung und Vergiftung durch das jugendliche moralische Ungeheuer zu befreien trachteten. Sie aber, statt sich in den schmutzigen Wänden ihres von allen Rechtschaffenen gemiedenen zu verbergen, setzte sich frech zur Wehre und nahm höhnisch einen Platz in einem Gebüsche ein, von dem aus sie der berechtigten Aufforderung, spottete, wie ein Tier aus sicherem Versteck die Zähne fletscht. Da entbrannte der heilige Zorn dieser christlichen Jugend, welche der Verhöhnung gedachte, mit welchem einst die Voreltern des Judenkindes unsern Herrn auf seinem Leidensgange begleitet, und sie suchten die garstige Enkeltochter jener Uebeltäter durch passende Mittel zu veranlassen, aus ihrem Schlupfwinkel hervorzukriechen. Doch in demselben Augenblicke kam dieser, den ich hinfort nicht mehr wie meinen eignen Sohn betrachten kann, hinzu und anstatt sich als Christ mit seinen Glaubensbrüdern zu vereinigen, stürzte er den einen von ihnen hinterrücks zu Boden, während die Judendirne aus dem Busch hervorsprang und den andern, der ahnungslos heranwandelte, einen Feldstein ins Gesicht schleuderte –«

»Hm-abera – quod quis per alium fecit, id ipse fecisse putatur,« schaltete Professor Tix ein. »In Gemeinschaft mit einer Judendirne – abera – nullum hujus facti simile – hm – unerhört für den Zögling einer christlichen Schule – abera.«

»So,« fuhr Doktor Pomarius fort, »vollzog sich der Vorgang, über den ich, seit mir Mitteilung von ihm geworden, nicht aufgehört habe, zu wei –«

Es war eine naturwissenschaftliche Rücksichtslosigkeit Dr. Ungers, daß dieser sowohl das letzte Wort des Sprechers, als eine dasselbe betätigende Aufwärtsbewegung des Taschentuches mit der plötzlich an mich gerichteten Anfrage unterbrach:

»Bestanden die passenden Mittel, mit welchen der heilige Zorn dieser christlichen Jugend das Judenmädchen zu veranlassen suchte, aus ihrem Zufluchtsort hervorzukommen, vielleicht aus Steinwürfen, Keßler?«

Das Unerwartete dieser von einem unmutigen Räuspern des kritischen Kollegiums kommentierten Hypothese überraschte mich und ließ mich nickend ein einsilbiges Ja hervorbringen, auf das hin Dr. Unger sich rasch gegen die Zeugenbank umwandte:

»Und ihr beiden elenden Burschen habt die Frechheit, euch über das Recht, das euch widerfahren ist, zu beklagen, jemanden anzuklagen, der zur rechten Zeit hinzugekommen, um die Ausführung eurer Bosheit und erbärmlichen Feigheit an einem armen hilflosen Mädchen zu verhindern? Zeigt wenigstens so viel Schamgefühl, daß ihr euch im Augenblick von hier fortmacht und nicht durch eure scheinheilige Heuchelei die Gerechtigkeit herausfordert, die zu geringe Züchtigung, welche euch betroffen, in voll verdienter Weise nachzuholen.«

Der Sprecher hatte in unverkennbarer Andeutung die Hand gehoben, die beiden Söhne ehrenwertester Eltern schielten einen Moment aus dem Augenwinkel zu ihm auf, sprangen dann gleichzeitig lautlos von der Bank und suchten den Ausgang zu gewinnen; doch Professor Tix' Hände streckten sich noch gewaltiger als je aus der Enge der Schniepelärmel nach ihnen aus, zogen sie mit einem milden Ruck, gleich wie ein Anwalt und Fürsorger zweier verlassener Waisen von der Tür zurück, und den Oberkörper nicht unbeträchtlich nach hinten überbeugend, sagte er sanftstimmig beginnend:

»Bleibet, meine Lieben, und entschlaget euch eurer kindlichen Furchtsamkeit – hm-abera – es hat niemand hier die Befugnis euch gehen zu heißen – abera – als ich. Frechheit –? hm – scheinheilige Heuchelei? – abera. Es mögen das naturwissenschaftliche Anschauungen der Neuzeit sein, Herr Doktor Unger – hm-abera – physikalische Fiktionen – abera – chemische Reagentien auf das ungestörte menschliche Gehirn, junger Mann – abera – aber christliche Grundsätze, wie sie gottlob in diesem Hause noch herrschen und unter meiner Führung zum Heile der Verirrten fortherrschen werden, sind das nicht – hm-abera – abera. Christlicher Grundsatz ist nach dem Gebote des Heilandes, daß der die linke Backe darreiche – abera – den auf die rechte ein Streich getroffen, und wer sich also am Worte Gottes versündigt und die Jugend dadurch zu entsittlichen trachtet – hm-abera – daß er sie nicht zu christlicher Vergebung, sondern zur Gewalttätigkeit heidnischer Rache anstachelt – hm-abera – der hat an dieser Stätte der Gerechtigkeit nicht zu sprechen: Sorgt, daß ihr euch fortmacht! – abera – sondern ihm wird gesprochen, Herr Doktor Unger – hm-abera –«

Der Redner hielt einen Augenblick inne und füllte diesen durch ein paar Zugluft erregende Ruderschläge seiner Handgelenke aus. »Ich verstehe, Herr Direktor,« fiel Doktor Unger, mit einer leichten Verbeugung nach seinem Hut greifend, ein, »dem wird gesprochen, daß er an dieser Stätte der Gerechtigkeit nur eine profane Stimme besitzt und, nachdem er dieselbe zu Protokoll gegeben, im Schoße des heiligen Inquisitionstribunals nichts mehr zu suchen hat. Es ist überdies zum letztenmal von mir geschehen, und ich werde keine Reagentien auf das zerstörte menschliche oder vielmehr unmenschliche Gehirn mehr anwenden. Ich empfehle mich den Herrn Kollegen.«

Doktor Unger verließ, noch mit einem profan-bedauerlichen Blick über mein Gesicht hinstreifend, das Konferenz-Zimmer, Professor Tix sah ihm nach und rezitierte halblaut: »Hm-abera – odi profanum vulgus et arceo – abera; es sind das die unheilvollen antichristlichen Einwirkungen der Naturwissenschaft auf das menschliche Gemüt – abera – ein neuer Fingerzeig, daß man sie gänzlich aus dem Bereich einer christlichen Schule verbannen sollte – und wir werden wohl Fürsorge zu treffen haben, meine Herrn Kollegen, daß dieser junge Mann recht gesprochen – abera es sei dies zum letztenmal hier von ihm geschehen – abera.«

Er hielt einen Moment inne, drehte mir den Kopf zu und fuhr fort:

»Obwohl – hm – ja, obwohl wir nach dem Licht, das dieser würdige Freund uns gespendet – abera – nicht umhin können, noch eine ungemeine Erschwerung des betrübenden Falles zu erkennen – hm-abera – da das ausgeübte Verbrechen nicht allein gegen christliche Kinder, sondern gradeswegs im Verbündnis mit den Erzfeinden unserer Religion – abera – wider den christlichen Glauben selber begangen worden – hm-abera – so wollen wir doch in unserer väterlichen Barmherzigkeit – abera – für diesmal keine Erhöhung des Strafmaßes daraus folgern, sondern hoffen – hm-abera – daß die junge Seele auch bei so geringer Heimsuchung ihrer Sünden sich in ihrer Zerknirschung winden wird – abera – und deshalb – Kähler – abera – soll es nur bei den fünfundzwanzig verbleiben – hm-abera. Fangen Sie an, Kähler, ich werde zählen – abera.«

»Herr Direktor befehlen,« antwortete die Stimme des Alten, wie aus der Entfernung einiger hundert Meilen, und er faßte nach dem an der Wand bereit lehnenden Rohrstock. »Stelle Dich grad', Keßler.«

»Jawohl, stelle Dich grad', Keßler – hm-abera – und halte Dir Deine Sündhaftigkeit vor Augen – abera!«

»Amen,« sagte Doktor Pomarius leise.

Ich versuchte, der Aufforderung Folge zu leisten, aber es wollte mir nicht gelingen. Die Herzensverstocktheit in mir benutzte offenbar grade diesen feierlichen und heilsamen Augenblick, sich zu unseliger Herrschaft in mir aufzuringen und mir einzuflüstern, daß ich lieber auf die Tür zuspringen und gradaus in die Welt hineinlaufen, verhungern und umkommen solle, als mit schweigender Zustimmung die mir zugemessene Strafe auf mich nehmen. Es zuckte mir im Fuß, und er löste sich zum Aufsprung vom Boden, da fiel plötzlich mein Blick durch das Fenster hinaus, und vor mir, von heller, mittägiger Frühlingssonne übergossen, stand der alte grüne Kirchturm, sah mir in's Gesicht und schüttelte ruhig, fast wie freundlich lächelnd seinen goldenen Knauf. Und in der nächsten Sekunde setzte meine Fußsohle sich auf den Boden zurück – dann war's mir, als hätte jemand mir aus weiter Ferne einen Schneeball auf den Rücken geworfen – noch einen – und in langsamen Pausen ein Dutzend hinterdrein –

»Siebenzehn – abera,« zählte Professor Tix. Auf dem grünen Turm und vor meinen Augen lag der goldhelle Frühling – ich dachte kaum an den müden, kraftlosen Winter hinter mir. Doch beinah hätte ich auflachen müssen, denn mir kam auf einmal das Gedächtnis an Fritz Hornungs neuartige Regel-de-tri, und ich erweiterte seinen letzten Satz aus ihr dahin, daß unter Umständen auch fünfundzwanzigmal eins noch nicht einmal eins mache.

»Fünfundzwanzig – abera,« sagte Professor Tix. »Es ist gut, Kähler – abera.«

»Wenn ich mir die Gegenbemerkung erlauben darf, Herr Direktor,« hob der Kollaborator Aberell die Stimme, »so ist es das Schmerzlichste, was mir in meiner reichbewegten Lehrerlaufbahn begegnet, daß diese Züchtigung dem jugendlichen Bösewicht, der unter der erdrückenden Last seines Schuldbewußtseins hätte zusammenbrechen müssen, nicht einmal eine Träne reuiger Zerknirschung zu entpressen imstande ist.«

Ich glaube, mir wäre im nächsten Augenblick als Antwort entflogen: »Weint man denn, wenn man geschneeballt wird?« Doch Doktor Pomarius' rechtzeitige väterliche Fürsorge hielt mich schirmend vor diesem Sacrileg zurück, denn er stand von seinem Sitz auf und sprach bewegt:

»Meine hochverehrten Herren, ich danke Ihnen mit tief ergriffenem Herzen für die Unterstützung meiner Pflichten, für die Gerechtigkeit der Schule, welcher hier Genüge geschehen; das weitere wird die christliche Zucht des Hauses im Geiste des Herrn zu liebevoller Vollendung bringen. Geh' nach Hause, Reinold Keßler, und sage Mamsell Dorothea, daß Du von heute an vierzehn Tage lang nicht an dem Mittagessen teilnehmen wirst und Dein Frühstück und Deine Abendmahlzeit aus Wasser und trockenem Brot zu bestehen habe. Vielleicht wird das wenigstens die Verstocktheit Deines Gemütes zermalmen und Dir eine Träne der Reue entlocken, an der die Güte Deines Schöpfers Wohlgefallen empfinden kann.«


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