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Zwölftes Kapitel

Auch eine Kilbe war's, doch sehr anders als der Pfeifertag zu Rappoltsweiler. Vielleicht mit einem halben Hundert von Häusern und Hütten streute das landher unzugängliche, »freie« Dorf Gersau, der kleinste Staat Europas, sich von den Bergwänden zum Seeufer herab und mochte zu gewöhnlicher Zeit kaum ein halbes Tausend von Einwohnern umschließen. Heut aber gab es mindestens der fünffachen Anzahl Unterkunft, die aus allen Richtungen zum jährlichen »Landtag« auf Barken und Böten übers Wasser herangeschwommen waren. Ein Kirmestreiben buntester und geräuschvollster Art füllte jeden Fußbreit der engen Felsspalte; mit den wundersamen Festgästen, welche das Jahr hindurch sich als Schmarotzer an die menschliche Ordnung klebten, hatten sich zahlreiche Zuzügler eingefunden, den günstigen Anlaß zu nutzen, um ihrerseits wieder sich jenen als Blutegel an den Leib und an den gefüllten Säckelgurt festzusaugen. Verkaufs- und Schenkbuden drängten sich aneinander, von wackelnden Lattengerüsten schrieen Theriakhändler, wandernde Komödianten niedrigster Gattung, Possenreißer, Schwertschlinger, Feuerfresser herunter. Schatzgräber und Teufelsbanner trieben sich mit lockenden Anerbietungen dazwischen herum, doch mehr zur eigenen Belustigung, als weil sie hier wie bei den tölpischen Bauern auf dem platten Lande und im Gebirge gutes Gehör und Verdienst zu finden hoffen konnten; manche der Vaganten führten ihre lebendigen Erwerbsmittel mit sich und ließen ihre Affen, Meerkatzen und Murmeltiere unentgeltlich tanzen, klettern und Künste üben. Sogar ein doppelhöckeriges Kamel ragte mit hagerem Hals über die Köpfe der Menge, und da und dort drehte sich ein Bär brummend am Stock; überall klangen grobe Späße, unflätige Witze und Zoten, und ein Beifallsgewieher, Gekreisch und Zurufe in unverständlichem Rotwelsch umgaben alles mit dem unablässigen Getöse eines wüsten Brandungsschwalles. So hatten es schon Jahrhunderte stets gleich an diesem Tage gehört und gesehen, seitdem die »Bruderschaft« der Bettler und Abenteurer in der freien Dorfschaft Gersau eine Schutzpatronin gefunden, um hier alljährlich auf der Gaunerkilt drei Tage und Nächte lang gemeinsam zu durchfressen und durchsaufen und sich dann wieder in alle Winde, hinter Busch und Stein, in Dörfer und Städte, nicht selten auch an Schandpfahl, Galgen und Rad zu zerstreuen.

Widerwillig schritt Guy Loder durch die häßlich brodelnde Masse hin, aus der oftmals ihm geltende Anrufe, vorwiegend von Weiberlippen: »Schöner Herr! Feins Junkerlein!« ihn an einen Kram- oder Schenktisch heranzuholen suchten. Er hatte den Sinn in Welf Siebalds Worten beim Anlanden nicht aufgefaßt und begriff nicht, zu welchem Zweck sie unter diese, jenem selbst Ekel regende Sippschaft hierhergekommen sein könnten. »Wo bleiben sie zusamt, wenn die Nacht kommt?« frug er; »mich däucht, sie haben in den wenigen Häusern nicht Platz.« Sein Begleiter versetzte lachend: »Platz genug unterm großen Dach; glaubst, daß sie heut nach anderem begehren? Sind gewöhnt, Spinnen und Kröten im Schlaf auf der Nase zu spüren und sich nasse Blätterdecke über den Leib zu scharren. Hab aber nicht Sorg, du sollst besseren Unterschlupf finden, der dirs Blut warm hält.«

Es war allgemach bereits Abend geworden, durch die Dunkelheit klang das tausendkehlige Gebrüll, Gelächter und Geschrei noch wie zehnfach verstärkt. Ab und zu loderte ein Pechkranz in die stille Luft und wies undeutlich lange Reihen von niedrigen Bretterbänken, auf denen dichtgedrängte Säufermassen von Männern und Weibern hockten, standen, rittlings mit den unsauberen Trinkgefäßen gegeneinander stießen, quäkten, johlten und lallten. Auftaumelnde stürzten nach einigen Schritten zu Boden und blieben unbeachtet liegen; nur wenn ein Fußtritt sie aus dem Schnarchen riß, stießen sie schwerzungig einen lästerlichen Fluch aus, den wieherndes Gelächter der Umsitzenden verschlang. Die allgemeine tierische Betrunkenheit nahm mit jedem Augenblick zu, aber man gewahrte, es war der Zweck eines jeden, den Vorangegangenen nachzufolgen und bewußtlos bis zum Morgen auf die Erde herunterzukollern.

Welf Siebald führte seinen Genossen nordwärts hinan, wo die Bergschlucht, sich verengend, zu den kargen Matten emporzog. Hier ward es nicht geräuschlos, doch stiller, vergleichsweise vornehmer. Da und dort leuchteten Fackeln in die Nacht und zeigten größere, roh überdachte Holzbuden; rechts hinüber, noch weiter zurück, schimmerte sogar die grauweiße Leinwand einer aufgeschlagenen Zeltreihe aus dem Dunkel. Auf den Eingang eines der ersteren Gelasse schritt der Führer Guys zu und blickte prüfenden Auges hinein. Bänke und Tische aus unbehobelten, auf eingerammte Pfähle gelegten Brettern füllten den Raum drinnen und erwiesen sich auch hier von Trinkenden und ersichtlich zum Teil bereits ziemlich weit in der Trunkenheit Vorgerückten besetzt. Noch war die Art derselben unverkennbar zumeist eine andere als draußen unter dem nächtlichen Sternenhimmel, und es fehlten die Weiber dazwischen, bis auf etliche locker gewandete oder vielmehr halb unbekleidete, frechmienige und blitzäugige Schenkdirnen, welche den Gästen gefüllte Krüge, Kannen, Humpen und Stiefel zubrachten und als Entgelt neben der klappernden Münze einen Armgriff um Hüften und Brust in Empfang nahmen. Junge und ältere Köpfe füllten nebeneinander die Sitze, doch alle mit trotzigen, vielfach durchnarbten, von Sonne und Regen verwetterten Gesichtern und mit Streitkolben, Schwertern oder sonstigen kurzen und langen Raufwaffen am Gurt. Manche trugen eisenbesteppten Koller und blecherne Kappe drüber auf dem Kopf, andere sahen bettlerhaft verlottert aus und regten unheimliches Gefühl, daß sie sich öfters nicht weitab von den Mordbrennern befunden haben möchten, die nicht selten in Rotten hier und dort über Land und Dörfer eines deutschen Gaues hereinbrachen. Alle aber boten das Gepräge aus Faustfehden und Kriegsläuften entlassener oder entlaufener Sold- und Landsknechte, die auf der Landstraße nach einem Trommelschlag herumhorchten, dessen Gewirbel rollende Würfel, klimpernde Batzen und durstlöschende Fässer verhieß.

Nun zog's einen Moment wunderlich vor Guy Loders Gesicht, als sein Gefährte, ihn an der Hand fassend, ins Innere der Schenkbude vorschritt. Mit so junkerhafter Manier in Haltung und Zügen, nachlässig und gewichtig zugleich, trat Welf Siebald hinein, als ob er aus der Halle einer vornehmen Ritterburg daherkomme, bot kurz höflichen, doch merklich herablassenden Gruß über die Anwesenden und fügte nickend hinterdrein: »Arme Hechte hie?« Es war absonderlich, wie bei dem Wort die Mehrzahl der Köpfe in die Höhe fuhr und in den Höhlen unter den buschigen Stirnknochen flüchtig ein Gefunkel wie aus vorstarrenden Geieraugen aufschlug; doch der Urheber desselben warf sich gleichgültig auf eine Bank, stemmte seine Hiebwaffe zwischen die Knie und sprach lachenden Mundes seine Bartzwickel kräuselnd: »Schlechte Zeit für gute Fäuste und trockene Kehlen; mich staunt's, daß es noch so lustig ist auf der Kilt. Du da, Jungfer, wenn du den Namen nicht übel aufnimmst, klopf den Zapfen in ein neues Spundloch; mein Durst zahlt's, und ist dein Faß ihm über, find't er am Tisch wohl verstaubte Gurgeln, die ihm helfen!«

»Euer Edlen zu Diensten,« antwortete nach kurz forschendem Blick die angerufene Schenkin und lief hurtig, den Auftrag zu vollziehen. Durch die Runde ging ein unwillkürlich hervorbrechendes Gemurmel, das die Verheißung freier Zeche willkommen hieß, doch die Augen der so unerwartet freigebig Bewirteten trachteten ebenfalls jetzt wieder einen gleichgültigen Ausdruck anzunehmen, nur ein achtsam lauerndes Aufhorchen des Ohres verriet sich dann und wann in den Mienen. Welf Siebald hob den ihm gebrachten Humpen und sprach: »Gut Kaiserlich alleweg! Drauf trink ich anerst,« und er leerte das große Gefäß, daß bei der Umstülpung desselben kein Tropfen auf den Daumennagel rann. Die anderen wiederholten den Spruch und taten gleichen Trunk. Darauf flocht er mit dem ihm zunächst Sitzenden, dem der störrische Bart schon sandfarbig über der Lippe zu starren begann, ein leutseliges Gespräch an: »War't auch bereits mit dem Connetable bei Sankt Jakob und halft Bauernstroh dreschen? Mich däucht, ich sah euch öfters, der Wind blies mir nur euren Namen von der Zunge.«

Staunend saß Guy daneben und sann, woher seinem Genossen die Barschaft zu so verschwenderischer Ausspendung gekommen und zu welchem Zweck die letztere dienen möge. Mit achtloser Miene hatte jener, als sei er täglich daran gewöhnt, einen Goldgulden zur Bezahlung hingeworfen, dem aus vielen Augwinkeln ein gieriger Seitenblick nachschoß; wechselnd redete er nun bald mit einem einzelnen, bald zu einer Anzahl dicht aneinander gedrückter Köpfe. Was er sprach, verstand Guy Loder zumeist nicht, doch es mußten Dinge sein, die den Hörern gefielen, denn allgemeiner Beifall, Gelächter und zustimmende Ausrufe begleiteten seine Worte. Bei allem aber behielt sein Wesen und Behaben den junkerhaften Anstrich, der unsichtbar, doch merklich stets einen gleichbleibenden Abstand zwischen ihm und seinen Trinkgenossen fühlen ließ. Auch Guy war von der langen Wasserfahrt des Tages durstig geworden und leerte häufiger als sonst seinen Becher. Dazwischen spannte er sein Gehör an, allein auch wenn dieses etwas deutlich aufzufassen vermochte, gab ihm nichts einen Anhalt über die Absicht, die Welf Siebald verfolgte. Nur einmal hörte er ihn, herüberdeutend, sagen: »Schaut's meinem Bruder wohl am Gesicht, daß er von edlem Blut stammt und zu anderer Stund silbernen Helm auf dem Scheitel trägt.« Da wandten die Köpfe sich spähend gegen ihn herum, daß er über die erlogene vornehme Abkunft, die Siebald ihm beigelegt, dunkel errötete und sein Antlitz hastig wieder hinter dem neugefüllten Zinnbecher verbarg. Doch zugleich kam ihm aus den Worten ein anderes ins Gedächtnis, dessen er bis heut nie mehr gedacht; seine Züge mußten wohl, wie Velten Stacher einmal flüchtig gesprochen, Ähnlichkeit mit denen Welf Siebalds aufweisen, da dieser ihn als seinen Bruder auszugeben vermochte und sichtbarlich nirgendwo auf Zweifel und Unglauben damit stieß.

So liefen etliche Stunden hin, dann stand Siebald auf und verabschiedete sich von den Insassen der Schenkbude. Er tat's mit einem Gemisch ritterbürtigen Standesbewußtseins und artiger Zurschaulegung, daß der Aufenthalt ihn wohl angesprochen habe. »Treffen noch wieder zusammen, denk ich,« sagte er laut; »wär's nicht, so könnt einer, der ein Anliegen an mich hätte oder etwa eine Fürsprache begehrte, mich leichtlich auffinden.« Damit schritt er nachlässig hinaus, legte draußen die Hand auf die Schulter Guys und raunte zufriedenen Tones: »Bist ein gutes Würmlein am Fischhaken gewesen, ihre Glotzaugen haben weidlich nach deiner Habichtsnas geschnappt. Merkst, daß man ein Junker ist, wenn man's will? Hast verdient, daß minder ungeschlachte Brauen nach dir gaffen und dieweil ich dich meinen Bruder geheißen, will ich dir auch eine Schwester schaffen, die sich auf guten Lohn versteht. Komm!«

Es war volle Nacht, doch nur drunten auf der Erde, in der Luft oben webte ein heller Schein, dessen Ursprung man nicht wahrnahm; er mußte vom Mond herstammen, den eine der hohen Felszacken noch verbarg. Welf Siebald führte seinen Genossen noch um etwas weiter gegen die Rücklehne der engen Talschlucht empor, dann standen sie am Beginn der weißen Zeltreihe, die zuvor, von Fackeln überhellt, aus dem Dunkel geschimmert. Jetzt lagen sie scheinbar licht- und lautlos. Guy fragte, wer sich in der allgemeinen Dürftigkeit umher solch besondere, kostspieligere Wohnstatt hier aufgeschlagen, und Siebald erwiderte: »Die ›Fahrenden‹, sie fahren nicht übler zu Gersau als in den hochbelobten Städten Nürnberg, Augsburg und Straßburg oder an ritterlichem und fürstlichem Hoflager.« – »Wer sind denn die ›Fahrenden‹?« entgegnete der Jüngling verwundert, und sein Begleiter lachte: »Hast noch die Eierschal auf dem Kamm, Hähnlein? Das wird ihnen Spaß bereiten. Sie hören's gern, wenn man sie mit morgenländischem Namen anspricht, und geben vor, als stammten sie dorther. Kannst sie aber auch mit schier gleichem Klang auf deutsch beheißen, denn zumeist haben sie landläufige Milch von ihren Müttern getrunken wie wir.«

Er schlug zu den letzten Worten den Vorhang des ersten, weitaus umfangreichsten Zeltes voneinander und sprach beim Eintreten: »Erschreckt nicht vor den späten Nachteulen, ihr Houris des Paradieses, doch ihr seid Schwestern der Barmherzigkeit und lasset durstige Brüder nicht schmachten, auch wenn sie euch den Schlaf vom Auge zu stehlen drohen.«

Guy Loder hatte noch nicht viel Prunk und Pracht im Leben gewahrt, aber um so staunender ruhte sein Blick, darauf, wie das Innere des Gezeltes ihm hier inmitten des vorher durchwanderten Schmutzes und der rohen Verkommenheit unerwarteten Reichtum, Glanz und Augenerfreuung aufschloß. Bläuliche, von Erzpfannen steigende Flammen erleuchteten den Raum und die mit Seide bekleideten Wände, an denen sich niedrige rote Ruhebänke entlang zogen. Darauf saßen mehrere in kostbare Gewänder eingehüllte weibliche Gestalten, schlank, jung und von blendender Schönheit der Gesichter und des halb entblößten Halses und Nackens; goldene Spangen umgleißten die Arme, und edelsteinglitzernde Gürtel hielten das lange, faltig aufbauschende Kleid. Eine hob sich vom Sitze empor und erwiderte herantretend und mit vornehmem Anstand den Kopf neigend: »Willkommen im Paradiese, vielwerte Herren! Ihr könnt uns nicht Furcht flößen, denn ihr schaut nicht wie Eulen, vielmehr gleich zwei Edelfalken aus. Lasset euch nieder; ob ihr spät kommt, werden wir gewißlich eure Lippen nicht dürsten lassen.«

Sie nahm Siebalds Hand und führte ihn artig an eine Ruhebank, eine andere tat Guy das Nämliche. Zugleich stand auf ihren Wink eine Wienerin mit zwei zum Rand gefüllten, kunstvollen Bronzeschalen vor ihnen. Auch der Jüngling erfaßte die ihm dargebotene, und ein Trunk heißen, süßen Weines rann ihm fremdartig über die Zunge. Ein zauberischer Gegensatz war's zu der plumpen Holzbude und den rohen Gesichtern darin, die er eben erst verlassen; noch mehr als dort erschien Welf Siebald ihm von angeborener Junkerart, so frei, kecklich und galant trat sein Behaben hervor, flogen ihm behend witzige Rede und Antwort vom Munde. Er mußte die Bewohnerinnen des Zeltes kennen und dies den Ankömmlingen die gastliche Aufnahme bei den schönen Frauen bereiten, nicht ihm allein, denn auch diejenige, welche sich Guy zur Seite gesetzt, sprach wie traulichbekannt mit ihm, füllte stets die kostbare Schale wieder und blickte ihn gar holdselig mit sanften Taubenaugen an. So anmutig war's, wenn sie sich aufhob und zurückkam, und so reizvoll bog sich ihr geschmeidiger Nacken, einem weißen Perlengeleucht gleich im bläulich rieselnden Licht; Guy bedünkte es, als sei er in eine traumhafte Märchenwelt entrückt. Welf Siebald hatte es ja auch gesprochen, sie befanden sich im Paradiese, und der feurige Wein, der ihm im Blut klopfte, beließ mehr und mehr kaum etwas Wundersames noch daran, daß dies Paradies inmitten der Gaunerkilt von Gersau stand. Es war friedlich, schön und beglückend darin gegen das ekle Getöse draußen; lieblich klang ihm die Stimme des schönen Weibes ins Ohr, scherzend und lächelnd; manchmal verstand er nicht, was ihre Worte gemeint, jedoch wenn er ungefähr nach seiner Vermutung darauf erwiderte, spielte das Lächeln noch schalkhafter als zuvor um ihre Lippen. Aber zuletzt war die Zunge ihm schwerer und Müdigkeit fiel ihm über Glieder und Sinne. Die Lider waren ihm niedergesunken, und wie im Traum hörte er die Stimme Welf Siebalds sprechen: »Mein Bruder schläft ein, bring ihn zu seinem Lager, schöne Houri!« Da öffnete Guy die Augen, doch er gewahrte nur undeutlich einige in trunkener Lustigkeit lachende Gesichter ihm nachwinken und fühlte eine weiche Hand, welche die seinige faßte. Von der ließ er sich führen; sie traten durch den Vorhang ins Freie, wo jetzt heller Mondglanz alles überfloß. Darin erkannte er, daß seine Begleiterin ihn an ein anderes, kleineres Zelt hinanzog; wie sie dies öffnete, sah er im einfallenden Licht, daß es kaum mehr Raum als den einer engen Kammer bot. Am Boden stand ein Lager aus weißen Linnen bereitet, das mußte für ihn zum Schlaf bestimmt sein, und er sagte halb stammelnd: »Habt Dank für eure reiche Freundlichkeit und ruhet auch gut.«

Nun fiel der Vorhang zu und es ward völlig lichtlos um ihn. Er empfand zum ersten Mal, daß ein Weinrausch ihm Sinne und Gedanken umdunkelte, und setzte sich tastend auf den Lagerrand, um sich hinzustrecken. Doch war's ihm nach einer flüchtigen Weile dabei, als ob die Hand von zuvor ihn noch halte, und auf einmal hörte er auch eine flüsternde Stimme, deren Hauch ihm die Schläfe berührte: »Stellst dich so müd, da will ich dir helfen,« und er fühlte, daß eine andere Hand ihm behend das Wamms über der Brust öffnete. Dazu raunte die Stimme wieder, doch heißeren Atems: »Bist ein feiner Knab, schier als hättst du noch keinen Jungfernmund geküßt; ich weiß, daß sie all mich neiden um dich und Gold dreingäben, könnten sie heut Nacht für mich hier sein. Klopft dein Herzlein auch so hurtig wie meins, mein Huldgesell?« Und mit dem Wort schlüpfte eine kleine Hand durch das aufgenestelte Kleid über seine Brust und tastete nach der Stelle, wo der Herzschlag ihm jählings mit lauter Heftigkeit an die Wandung anpochte; lachend indes fügten gleich die unsichtbaren Lippen hinterdrein: »Was herbergst denn Garstiges auf deinem Herzkämmerlein wie ein Amulettchen von dürrem Laubwerk, das der Wind dir hineingestreut?« und die gelenken Finger suchten etwas hervorzuziehen, das sie auf ihrem Wege angetroffen. Doch im selben Augenblick schoß es mit einem Blitz der Besinnung durch Guy Loders Leib und Herz und Seele. Er wußte nicht, was es war, nur daß die Hand ihn an diejenige Bettanes gemahnte, die ihm auch zu doppeltem Mal im Leben leise so über die Brust hingeglitten. Aber sie war sonnenlind, einem kaum fühlbaren Frühlingshauch gleich gewesen, und diese ringelte sich wie eine Schlange, doch nicht kalten Blutes, sondern sie brannte heiß, als seien ihre Finger aus glühenden Kohlen gebildet. Und mit einem Schauer durchrüttelte es ihn; sie trachteten die welke Rose von seiner Brust fortzureißen, die Bettane ihm beim Abschied wunderlich dorthin gelegt; dann liege sein Herz wehrlos, unbeschützt, die unheimlich brennende Hand fasse es und presse ihm alles bangende Hoffen, alles Sehnen, alle Schönheit des pochenden Schlages tot und qualvoll zusammen. Wie fortgepeitscht flog der Weinrausch aus seinem Kopf, ein einziger beherrschender Wille durchfuhr ihn vom Scheitel bis in die Zehen hinab, und wie plötzlich aus einer Betäubung aufwachend, stieß er das fremde Weib kraftvoll von sich, faßte im Dunkel den Vorhang des Zeltes und stürzte durch den knirschend unter seiner Hand zerreißenden ins Freie hinaus. Er vernahm einen Aufschrei des Erschreckens hinter sich, einen Moment blieb es still, dann scholl gedämpftes Rufen ihm nach, doch nicht zornig, sondern wie von ungläubigen Lippen, schmeichelnd, bittend, fast klagend: »Was hab ich dir getan? Komm doch, bleib, liebster Knabe! Warum läßt du mich allein? Ich will ja kein Gold von dir, nur dich selber – komm zurück – mich friert, wenn du gehst –«

Undeutlicher und auslöschend verklang es im Rücken des Jünglings durch die Nacht, denn er eilte, ohne anzuhalten, geradeaus weiter, bis die Bergwand ihm den Lauf hemmte. Noch ließ er den Drang seines Fußes dadurch nicht behindern, sondern kletterte hastig noch vorwärts, über hängendes Felsgeblöck und zackiges Geröll, das unter ihm wich und schollernd in die Tiefe hinabrollte. Atemlos und furchtlos schwang er sich empor, wohl turmeshoch, bis er eine moosüberdeckte Gesteinplatte fand, die ihm mit sanft abgeschrägtem Hang eine Raststatt darbot. Da hielt er und saß und blickte auf die beglänzte Welt unter sich hinunter.

Sie lag noch von demselben Mondlicht bestrahlt, das ihm vor wenigen Tagen erst an der Mauer von Sankt Pilt Velten Stacher gewiesen, wie er in heimlicher Laube den Arm um den Nacken einer jungen Maid geschlungen. Aber das war anders, süßselig zum Herzen hinandringend gewesen, gleichwie die Welt in jener Nacht auch noch umher gelegen. Dann hatte sie sich im Dusenbachtal jählings schreckvoll verwandelt, und so hatte sie es hier eben zum andern Mal getan. Er besaß keinen Namen dafür, nur ein ungestümes, zorniges Pochen in der Brust redete es ihm, und daß Welf Siebald die Schuld daran trage, der ihn gleichgültig in solche Gefahr hineingebracht. Es befiel Guy, wie schon dann und wann, mit einem Widerwillen und Grauen vor seinem Genossen und dem unverständlichen Tun und Treiben desselben; ein sehnsüchtiges Verlangen wuchs in ihm, weiter über die Berge allein sich einen Weg in die Ferne zu suchen. Doch wohin in der Fremde und mit welcher Beihülfe? Als Pfeifer ins Elsaß konnte er nicht zurückkehren – und was sonst? Tief gedankenvoll sah er in die Silberfunken aussprühende Nacht.

Die Welt war einmal so, und er mußte sich drein fügen, denn seine Kraft konnte sie nicht ändern. Aber er konnte in ihr dem Ziel seiner Sehnsucht entgegenzukommen trachten und doch der ewigen Sonnenmutter und ihrem Abbild in seinem Herzen Treue bewahren. Das überfloß ihn allgemach mit sanfter Beschwichtigung. Wenn er Welf Siebald verließ, zerrann jede Hoffnung, welche dieser ihm geweckt, in leeres Nichts; hülflos, verlassener als ein Bettler der Gaunerkilt drunten, stand er an der Straße. Er mußte blind und taub sein, um so knabentöricht zu handeln, und sein Herz schlug ihm, daß er vor einer Stunde noch ein törichter Knabe gewesen, doch er sei es nicht mehr. Eine neue Erkenntnis hatte ihm das innerste Sein zugleich abstoßend und verlockend durchschauert und gesellte seinen Empfindungen und Gedanken auch eine neue Fähigkeit seiner Seele: besonnene Klugheit, hinzu. Müde fielen ihm nach und nach die Lider zu, beinahe unbewußt streckte er sich zum Schlaf auf der moosigen Decke aus. Die Welt war so, und man konnte nicht allzeit mit freiem, geradem Wort durch sie hingehen; aber tröstlich blieb's, daß dort oben über dem glanzspiegelnden See im Mondlicht die weißen Zacken silberstrahlend, unverrückt in den Himmel stiegen, die er als Knabe schon so vom Abendsonnenrot vergoldet traumhaft am Rande der Welt gesehen. Die waren doch wandellos an ihr geblieben, und mit ihrem ruhevollem Bilde vor den Augen schlief Guy Loder auf seiner fremdartigen Lagerstatt ein. Doch war's eine kühle Nachtrast, von der Tau und Morgenwind vor der kommenden Sonne ihn frühzeitig wieder aufscheuchten; sein Antlitz redete noch davon, als er nach Stunden im Getümmel der neubelebten Kirmes mit Welf Siebald zusammentraf, denn dieser lachte: »Schaust mit struppigen Federn drein, Pfeifhähnlein, als hättst ein frostig Quartier gehabt; 's kommt wohl, wenn's Feuer ausgegangen, daß die Gänsehaut nachläuft. Denke, du rechnest mir's gut, daß ich dir den feinsten Kiltschatz belassen, der sich nicht ohne Fug Isolde beheißen. Blickt gar sanft nach ihrem Namen aus den Augen, aber die Katzen, die unschuldig tun, spielen am ärgsten mit dem Mäuslein, eh' sie ihm die Krallen ins Fleisch schlagen und sein Blut schlürfen. Trägst allerhand Nachtspur davon, bedäucht mich, an deiner Jungfernhaut und wirst's bald lernen, daß man gegen Männerfäuste bestehen kann, aber aus Weibernägeln und -zähnen nicht heil herauskommt.«

Er deutete unter spöttischem Mundverziehen auf mehrere kleine Risse und Schrammen, mit welchen Dorngerank und scharfkantiges Gestein dem Angesprochenen bei seinem nächtlichen Aufklimmen an der Bergwand Gesicht und Hände leicht verletzt hatten. Guy errötete, ein doppeltes Schamgefühl überkam ihn, daß er am Abend in so blöder Arglosigkeit zwischen den Seidenwänden des Zeltes gesessen und nachher einem aufgeschreckten Hasen gleich, scheu und mutlos aus dem Fanggarn eines Weibes davongelaufen war. Er hatte den Hohn seines Gefährten befürchtet, es beruhigte den in ihm erwachten männlichen Stolz, daß derselbe offenbar nichts davon ahnte, wo er die Nacht zugebracht, und mit vermindertem Zorn gedachte er der von jenem Isolde Benannten, da sie von seiner knabenhaften Feigheit und Besinnungslosigkeit geschwiegen und ihn nicht dem Gelächter preisgegeben. Wohl empfand er dabei, es sei unwürdig, den Spott darüber zu scheuen, daß er dem Gebot seines Inneren gehorcht und das Rechte getan; doch die täppische Art, wie er es vollbracht, erregte schon selbst seinen Unmut. Eins klang ihm als Wahrheit aus Welf Siebalds Munde, er hatte lernen müssen; jetzt war er gewappnet und wußte dem unbekannt gewesenen, holdumstrickenden Feinde mit lächelnder Ruhe zu begegnen. Gewandter, als er es gestern noch vermocht hätte, ablenkend, frug er nach anderem, und als der Abend zurückkam, offenbarte sich dem klüger geschärften Blick seines Geistes auch der Zweck, den Siebald zu Gersau und besonders in der wiederum aufgesuchten Schenkbude verfolgte. In einer scheinbar überaus nachlässigen Weise trachtete derselbe, zweifellos im Auftrage eines mächtigen Herrn, Soldknechte anzuwerben, und richtete sein Gebahren so ein, daß er sie dahinbrachte, sich selbst ihm unter den günstigsten Bedingungen anzubieten.

Von der Löhnung war wenig die Rede, doch reiche Beute verhieß er ihnen und nutzte seinen Begleiter dazu, durch den Hinweis auf die Erscheinung und hochadelige Abkunft desselben Glaubwürdigkeit für seine Versprechungen zu erwecken.

Mehr und mehr erkannte Guy den verschlagenen Sinn, die vielfältige scharfe Menschenkenntnis und zähe Willenskraft, mit denen Siebald unter halb ihm von der Natur mitgegebenem, halb klug berechnetem Junkerbehaben sein Ziel im Auge hielt und dies aufs vollständigste erreichte. Denn bevor noch die Gaunerkilt am dritten Tage ihr Ende genommen, hatte er unverkennbar ein halbes Hundert auserlesener, trotziger Raufgesellen mit Handpflicht seiner Werbung dienstbar gemacht, ihnen Weg, Ort und Zeit, wann sie an letzterem einzutreffen hätten, bedeutet und schiffte sich mit seinem Genossen in einem Boot von Gersau wieder westwärts gegen die Stadt Luzern ein. Im Moment aber, als das kleine Fahrzeug vom Ufer abstieß, kam suchenden Auges ein junges, reichgekleidetes Weib gelaufen und rief atemlos, mit flehender Gebärde die Hände nachstreckend: »Find ich dich endlich – nimm mich mit, du einzig Holder! Wohin gehst du? Ich will bei dir bleiben allüberall und dir treu sein wie ein Hund, ob du mich streichelst oder schlägst –«

Doch ein lautes Gelächter Welf Siebalds übertäubte ihr Bitten. »Hat er dir ein Angebind von der Gersauer Kilt hinterlassen, schöne Isolde? Behalt's, die hübschen Brüder und Schwestern dürfen nicht aussterben! Wir haben einstweil anderes zu schaffen, als uns mit Weibern zu kratzen; finden wir uns wieder im Paradies, da beißen wir in eure Schlangenäpfel, bis der Hahn kräht. Vorwärts, ihr Steckenknechte, braucht eure Entenbeine, daß sie unsere Ohren aus dem Geplärr herausplätschern. Wenn wir vor Nacht übers Wasser kommen, springt ein Batzen als Pflaster auf eure Schwielen!«


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