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Da ich meiner Mutter einziges Kind war, und auch mein Onkel keine Kinder besaß, erlaubte mir meine Mutter, daß ich oft mit dem Sohn einer Eingeborenen aus Perales spielte. Mein Kamerad hieß Manuel und war bei allen im Hause beliebt und geschätzt, da er sich stets nützlich zu machen wußte und immer freundlich war.
Manuel war oft ganze Tage lang bei uns, manches Mal auch über Nacht. Fast täglich sattelten wir unsere Pferde und machten Streifzüge in den Wald. Bei einer dieser Entdeckungsfahrten 37 gerieten wir ins Espinal, einer Gegend, die früher voller Dorngesträuch gestanden haben muß und daher heute noch diesen Namen trägt. Dort fanden wir einen alten, verlassenen Meiler, von dem wir sofort genau so Besitz ergriffen, als ob er extra für uns da hingebaut worden wäre.
Dieser Meiler bestand nur noch aus der äußeren Erdhülle, mit der ursprünglich die Holzstücke abgedeckt worden waren. Durch ein Loch, in der Größe einer niedern Tür, hatten die Köhler den Inhalt herausgeholt. Zum Schutz gegen die Sonne war noch ein Strohdach über vier Pfähle gezogen. Nun benützte diesen Unterschlupf, wer gerade des Weges kam. Wer könnte sich eine idealere Indianerwohnung für unsere Knabenträume erdenken? Nie kam es uns in den Sinn, irgend ein Fremder könnte ihn für sich beanspruchen. Zwar fanden wir nach einer genauen Untersuchung seines Innenraumes, daß er unserer Vorstellung von einer Indianerwohnung doch nicht ganz entsprach, aber nachdem wir ihn regelrecht »ausgemistet«, einen wackeligen Tisch und eine Bank darin zurechtgebaut hatten, verbrachten wir bei Melonen, Butterbroten, Büchern und Friedenspfeifen manchen herrlichen Nachmittag unter seiner gewölbten Lehmhalle.
Einmal erschienen auch ein paar chilenische Rotos und behaupteten, der Meiler gehöre ihnen und wir möchten uns gefälligst verkrümmeln. Dieser Anrempelung folgte eine richtige Schlägerei, die dann aber in einer friedlichen Teilung unserer Eßvorräte mit 38 der feindlichen Partei endigte und zur Folge hatte, daß man uns von nun an in Ruhe ließ.
Als wir eines Nachmittags ziemlich spät aus unserem Waldidyll zurückkehrten, sahen wir zu unserer größten Überraschung dicht hinter dem Zaun, der unser Gut vom Bette des Aconcaguas trennte, ein fein gesatteltes, fremdes Pferd und einen Mann, der am Flusse lag und den rechten, bis zum Ellbogen entblößten Arm unter Wasser hielt. Als wir uns näherten, grüßte er und sagte, er sei auf dem Wege nach Casablanca, fühle sich aber wegen einer Wunde so schlecht, daß er nicht weiter könne. Da erst wurden wir 39 auf seinen Arm aufmerksam und sahen, daß er bös angeschwollen war. Auf mein Befragen nach der Ursache meinte er: »Wahrscheinlich . . . eine Infektion.« Dann aber, als ob er sich plötzlich an etwas erinnerte, oder als sei er erschrocken, streifte er blitzschnell den Ärmel herunter und stand auf.
Er war groß und schlank gewachsen, hatte ein gebräuntes, schmales Gesicht mit scharfen Zügen und durchdringenden schwarzen Augen. Er trug ein braunes, offenes Hemd, einen breiten, roten Gürtel, Reithosen und Ledergamaschen. Eine kurze Jacke, wie sie die Huasos tragen, hing am Zaun. Ich lud ihn ein, doch bei uns zu übernachten und das Pferd im Potrero zu lassen. Er dankte und erwiderte, er bedürfe nur ein paar Stunden Ruhe, dann wolle er weiter und möchte darum nicht ins Haus kommen.
Nicht weit von uns erhob sich eine Scheune und ein kleines Arbeiterhaus, das augenblicklich unbewohnt war, und in dem sich eine primitive Lagerstatt befand. Ich sagte ihm, vielleicht genüge ihm das, jedenfalls wolle ich schnell einmal mit meiner Mutter Rücksprache nehmen. Daraufhin ritten Manuel und ich im Galopp die Eukalyptusallee hinunter bis zu unserem Hause.
Dieser Fremde hatte es mir angetan. Ein seltsamer Reiz ging für mich von ihm aus, und mir war es, als sei er in Wirklichkeit mehr, als er vorstellte. Manuel dagegen war von dem Augenblick an, da er den Mann gesehen hatte, vollständig verstummt, und auch das, was er mir nun sagte, bevor ich ins Haus ging, schien er sich 40 geradezu mühsam abzuringen: »Du, laß den da unten doch laufen! Man weiß nie, was das für Leute sind.«
»Oha,« sagte ich erstaunt und schier beleidigt. »Das ist ein höchst anständiger Mensch, und ich helfe ihm auf jeden Fall.«
Manuel tat, als habe er nicht gehört, stieg vom Pferd, und ich ging zur Mutter. Auch sie hatte gar keine Bedenken, den Fremden aufzunehmen und schickte den Carmelo mit mir hinunter zum Fluß.
Dort sattelten wir das Pferd ab, brachten es auf die Wiese und luden den Fremden zum Essen ein. Der aber hatte sich scheinbar ganz erschöpft bereits in dem kleinen Hause niedergelegt und lehnte höflich, aber bestimmt jede weitere Hilfeleistung ab.
Am andern Morgen war ich schon in aller Frühe wach, und mein erster Gedanke galt dem Fremden. Ich wollte auf jeden Fall dabei sein, wenn er sich verabschiedete. Als ich auf den Hof hinaustrat, lag alles noch einsam und still im Dämmerschatten des kühlen Morgens da. Nur in der Küche hantierte die Delfina, und drüben in der Scheune sah ich zwischen den Bäumen den Carmelo.
Ich ging quer über den Hof und begegnete dem Manuel. Ich wußte, daß er in der vergangenen Nacht wieder einmal bei uns geschlafen hatte. Für gewöhnlich war er bei seiner Mutter im Nachbarhause. Jetzt kam er aus dem Hühnerstall, wo er die Gefäße gereinigt und frisches Wasser hingestellt hatte.
»Guten Morgen!« sagte ich. »Gehn wir hinunter zum Fluß und sehen wir, ob der Fremde schon auf ist?« 41
Er antwortete nicht, sondern machte sich eifrig an einem alten Schloß zu schaffen. Ich wiederholte meine Frage, und da sagte er denn endlich zögernd: »Meinetwegen.«
Nun gingen wir zusammen durch die Gärten. Ich fing immer wieder von dem Fremden zu sprechen an, aber Manuel ging nicht mit einem einzigen Worte darauf ein. Das fiel mir schließlich auf, und ich fragte: »Was hast du eigentlich gegen ihn? Ich finde ihn sehr interessant.« »Oh, nichts,« erwiderte er gedehnt und blickte geradeaus. »Dort ist er schon.«
Ich sah hinüber. Da stand das Pferd vor dem Scheunentor und war bereits gesattelt.
Wir traten auf den kleinen Hof vor der Scheune. In diesem Augenblicke kam auch der Fremde aus dem Haus, in dem er geschlafen hatte, grüßte und meinte, wir seien aber Frühaufsteher. Ich fragte ihn, wie er sich fühle, und er sagte, sehr ausgeruht, und er wolle, noch ehe die Sonne aufgehe, wegreiten, denn er habe einen langen Weg vor sich. Er legte dem Pferd den Zaum an und untersuchte die Riemen am Sattel.
Ich lehnte am Zaun und betrachtete bewundernd sein schönes Pferd. Manuel stand zwei Schritte von mir entfernt, hatte die beiden Ellbogen auf den Querbalken hinter sich gestützt, kaute an einem Grashalm und sah unverwandt auf den Mann. Und dann entspann sich plötzlich zwischen den beiden ein Gespräch, das so merkwürdig, ja so ungeheuerlich war, daß ich kaum zu atmen wagte. 42 Ich habe nie wieder in meinem Leben mit einer solchen Spannung und einem solchen Durcheinander von Gefühlen so wenigen Worten gelauscht wie diesen hier.
Wie zufällig blickte der Fremde auf und, den gespannten Ausdruck im Gesichte des Knaben wahrnehmend, fragte er verwundert und lächelnd: »Nun, Freundchen, was denkst du?«
Manuel antwortete nicht gleich. Sein Auge war groß und ernst auf den andern gerichtet. Schließlich sagte er langsam: »Ich weiß, wer du bist.«
Ein kurzer, prüfender Blick schoß über den Knaben hin. Dann meinte der Fremde leichthin: »Was du nicht sagst! Laß hören!« Er tat ganz harmlos, und ich ärgerte mich über das Benehmen von Manuel.
Der aber erwiderte in demselben Tone wie vorher: »Du bist der ›Machete‹, der gefährliche Anführer der Banditen, den die Polizei überall sucht.«
Mir rann ein kaltes Gruseln durch den Körper. War der Manuel verrückt geworden, oder war dieser Fremde wirklich . . .? Ich wagte nicht weiter zu denken.
Einen Augenblick sah der Mann mit einem unbeschreiblichen Ausdruck von Überraschung den Knaben an. Dann lachte er und höhnte: »Nein, was für ein kluger Junge du bist! Und aus welcher Quelle schöpfst du denn deine Weisheit, mein Söhnchen?«
Ohne sich irgendwie durch das Benehmen des andern beirren zu 43 lassen, antwortete Manuel: »Ich habe dich schon gestern abend an der Narbe auf deinem Arm erkannt.«
»Bah,« meinte der andere wegwerfend, »es gibt so viele Menschen auf der Welt, die Narben an den Armen haben.«
»Aber nicht in der Form eines Hufeisens wie du,« erwiderte Manuel.
Der Fremde hatte den letzten Riemen noch ein wenig fester angezogen. Er lachte nicht mehr, sondern betrachtete scheinbar aufmerksam das ganze Sattelzeug. Plötzlich aber sah er wieder zu Manuel hinüber und fragte: »Und wenn ich nun wirklich der ›Machete‹ wäre, und du mich gestern schon erkannt hast, warum hast du mich nicht angezeigt?«
»Weißt du denn, ob ich dich nicht angezeigt habe?« kam es zurück.
Nun lachte der Mann doch wieder: »Geh, Freundchen, dann wäre ich doch nicht mehr hier. Nein. Wirklich, warum hast du mich nicht angezeigt?«
Manuel sah zu Boden und erwiderte leise: »Du tatest mir leid, und ich bin auch kein Verräter.«
»Trotz des vielen Geldes, das du dir hättest verdienen können?«
»Trotz des vielen Geldes,« antwortete er still.
Da trat der Fremde zu ihm und sagte: »Ob ich nun der ›Machete‹ bin oder nicht, das ist ganz gleichgültig. Ein Andenken aber sollst du auf jeden Fall von mir haben, denn du bist wirklich 44 ein ganz seltener Bursche. Hier.« Er hielt ihm ein krummes Messer mit einem kunstvoll gearbeiteten Griff samt dem Lederschaft hin. Es war ein »Machete«, wie wir es alle kannten.
Manuel sah auf und sagte unbewegt: »Danke, ich mag das Ding nicht.«
Ein paar Sekunden lang versanken die Blicke des Mannes in denen des Knaben. Dann reichte er ihm die Hand. »Leb wohl, kleiner Freund,« sagte er ernst. Manuel legte seine Hand gleichgültig in die des andern und wandte sich ab.
Nun trat der Fremde mit ganz veränderter Haltung auf mich zu und sagte, ich sollte nur nicht etwa den Worten meines Freundes Glauben schenken. Der habe wahrscheinlich irgendeine Räubergeschichte gelesen und suche nun in jedem Fremden die Gestalt seines Helden. Er dankte mir mit freundlichen und wohlgesetzten Worten für die Gastfreundschaft und trug mir Grüße an die Mutter auf. Dann schwang er sich auf sein Pferd und ritt von dem Hof hinüber auf den Weg. Ich wollte die Tranca öffnen, aber er machte ein Zeichen der Abwehr, ritt ein Stück auf dem Weg zurück, drehte um, gab dem Pferde die Sporen, setzte mit einem tollkühnen Sprung über das Tor und war wie ein Spuk unseren Blicken entschwunden.
Einen Augenblick starrte ich wie gebannt auf die Stelle, wo eben der Fremde übergesetzt hatte, dann wandte ich mich zu Manuel, der wieder ruhig an einem Grashalm kaute. Ein wenig 45 unsicher begann ich: »Um Gottes willen, Manuel, war das wirklich der berüchtigte Bandit, oder hast du das alles nur geträumt?«
»Glaubst du es noch immer nicht?« gab er mit grenzenlosem Staunen zurück, und dann, als er merkte, daß ich wirklich von allem nichts begriff, erzählte er, was er davon wußte. Seit langer Zeit treibe sich eine gefährliche Räuberbande in der Provinz Santiago umher. Der Anführer sei ein kühner Kerl aus dem Süden, namens »Machete«, weil er keine andere Waffe bei sich trage als 46 ein krummes Messer, ein »Machete«. Die Polizei habe einen hohen Preis auf den Kopf dieses Banditen gesetzt, dessen einziges Erkennungszeichen eine Narbe in Form eines Hufeisens auf dem rechten Arm sei. Er habe dieses Merkmal gleich auf den ersten Blick entdeckt und gewußt, mit wem er es zu tun habe. Dann bat er mich so inständig, wie er mich noch nie um etwas gebeten hatte, weder seiner Mutter, noch meinem Onkel etwas von der Sache zu verraten. »Denn,« meinte er traurig, »die Mutter würde es mir bei unserer Armut nie verzeihen, daß ich uns dieses viele Geld entgehen ließ, und dein Onkel würde mich wahrscheinlich aus dem Hause jagen, wenn er erführe, daß ich wissentlich einen so gefährlichen Menschen eine Nacht lang auf dem Hofe ließ. Es hätte ja,« sagte er nachdenklich, »wirklich auch etwas geschehen können, darum habe ich gestern abend deine Mutter gebeten, mich bei euch schlafen zu lassen. Du mußt nämlich wissen, ich habe die ganze Nacht gewacht.«
Ich war innerlich aufgewühlt von dem, was ich in dieser vergangenen halben Stunde erfahren hatte. Freilich, der Gedanke, den gefährlichsten Räuber des Landes beherbergt und ihm sogar die Hand gegeben zu haben, war für einen zwölfjährigen Knaben, wie ich es war, auch nicht so einfach, und ich wälzte ihn noch lange in mir herum. Manuel aber habe ich damals tief in mein Herz geschlossen, denn wenn ich seine Handlungsweise vielleicht auch noch nicht so richtig verstand, gefühlt habe ich doch, daß dies ein Junge 47 war, dem man in allen Fällen des Lebens vertrauen durfte, ja, daß dies ein Freund sein konnte, der buchstäblich treu bis in den Tod war.
Nach diesem Ereignis war es selbstverständlich, daß wir eine Zeitlang noch eifrig die Berichte in den Zeitungen verfolgten, die Banditen trieben nach wie vor ihr Unwesen, aber den »Machete« fing niemand ein, was wir jeweilen mit Befriedigung feststellten.
Dann kam uns eines Tages wieder der ferne Meiler in den Sinn, und wir beschlossen, wie einst einen Nachmittag dort oben in der Einsamkeit zu verbringen. Da mein Pferd gerade zur Arbeit gebraucht wurde, erlaubte mir der Onkel ausnahmsweise auf einem seiner Füchse auszureiten, während der Manuel sich einen alten Gaul aus der Nachbarschaft holte. Im Espinal angekommen, stiegen wir ab, banden die Pferde abseits an einen Baum und besichtigten den Meiler. Es war darin alles noch genau so, wie wir es zurückgelassen hatten, aufgeräumt und die kleine Bank an dem wackeligen Tisch. Wir setzten uns und begannen von unserem Streit mit den fremden Knaben zu sprechen. Ringsum war es feierlich still. Nur die Bäume rauschten ein wenig im Winde, und uns gefiel es wieder genau so gut wie am ersten Tage, als wir diesen stillen, schönen Ort gefunden hatten.
Auf einmal aber fuhren wir zusammen. Im Gebüsch knackte es. Ein Mann jagte am Meiler vorbei, und ehe wir uns besannen, 48 hörten wir schon das Galoppieren eines Pferdes. Wir sprangen hinaus und zu unseren Tieren. Das Pferd meines Onkels war weg! Am Abhang drüben jenseits der Schlucht aber tauchte blitzartig ein Reiter auf und war dann ebenso schnell wieder verschwunden. »Manuel,« stotterte ich, »das Pferd meines Onkels . . .«
Manuel besann sich nicht eine Minute. »Hast du ihn erkannt?« stieß er aufgeregt hervor. »Es war der ›Machete‹.« Er schwang sich auf sein Pferd und schrie: »Sei nur ruhig! Den Gaul hol ich dir wieder, so wahr ich Manuel heiße,« und weg war er. 49
Ich aber stand da, als ob ich eben einem Weltuntergang beigewohnt hätte. Der Machete, der Bandit, das Pferd meines Onkels . . . Ich war wie betäubt. Die Gedanken jagten sich in meinem Gehirn: Nie würde Manuel den andern einholen, vorausgesetzt, daß der andere auch wirklich der »Machete« war, aber daran gab es doch kein Zweifeln mehr. Er war es, ich hatte ihn ja auch erkannt. Und er war wirklich ein Bandit. Immer noch hatte ich irgendwie nicht daran geglaubt. Aber nun war es klar. Gott, wenn es nur nicht gerade das Pferd meines Onkels gewesen wäre! Ach, ich wußte vor lauter Verzweiflung nicht aus, noch ein.
Da kam der Manuel zurück. Er war erhitzt, zerzaust und verärgert, wie ich ihn noch nie gesehen hatte.
»Fort?« fragte ich, und meine Stimme bebte vor Aufregung.
»Fort,« bestätigte er kurz. Dann fragte er: »Weißt du auch, warum er uns das Pferd gestohlen hat?« Ich schüttelte den Kopf. »Die Polizei ist ihm auf den Fersen. Ich habe von weitem Carabineros gesehen, aber,« er zuckte die Achseln, »diesen Banditen holt selbst der Teufel nicht ein.«
Nun ritten wir zu zweit auf dem alten Gaul nach Hause. Unterwegs dachte ich mir alles mögliche aus, wie ich das Schreckliche dem Onkel sagen wollte, aber als ich dann so grenzenlos schuldbewußt vor ihm stand, brachte ich kein einziges Wort hervor, und Manuel mußte allein berichten, wie es geschehen war.
Wenn mein Onkel einen großen Verlust erlitt, wurde er meist 50 still und in sich gekehrt. Mehr als das Wort »Trottel« bekam ich denn auch nicht zu hören, und das gänzliche Übersehen und Schweigen in der folgenden Zeit mußte eben ertragen werden.
Der Vorfall wurde bei der Polizei gemeldet, aber der Dieb war der »Machete«, und den fing nun einmal niemand.
Nach einiger Zeit hatte sich mein Onkel auch wieder beruhigt, und die Angelegenheit war bereits ein wenig in Vergessenheit geraten. Da hatten wir an einem Sonntagmorgen einen Ausflug geplant, und ich schlenderte in aller Frühe mit dem Lasso in der Hand hinunter an den Fluß, um mein Pferd einzufangen. Bei der Tranca blieb ich einen Augenblick stehen, und da geschah es, daß auf einmal alles, was ich mit dem »Machete« erlebt hatte, wie hergezaubert vor meiner Seele auftauchte: Der Tag, an dem wir ihn hier am Wasser getroffen hatten, das Gespräch zwischen ihm und Manuel am andern Morgen, sein Abschied, die Art, wie er über eben diese Tranca, an der ich lehnte, gesprungen war, und dann sein Erscheinen oben beim Meiler. So weit reihten sich die Bilder aneinander, dann aber war plötzlich alles wie ausgewischt. Das Blut stieg mir in den Kopf. Ich rieb mir die Augen, einmal, zweimal. Ich kletterte an der Tranca hoch, um besser unterscheiden zu können. Ach, das war doch Unsinn, was ich da zu sehen vermeinte. Mich äffte eine Vision, oder war das da drüben wirklich . . . Onkels Fuchs, den der »Machete« oben am Meiler gestohlen hatte. Wahrhaftig, er war es, nein, er war es nicht. Und er war 51 es doch. Sauber geputzt und in bestem Zustand weidete er dort unter den anderen Tieren wie immer.
Noch immer wollte ich es nicht glauben, ging staunend hinüber, und fing ihn ein.
Was nun folgt, klingt zwar fast wie ein Märchen, ist aber Wirklichkeit wie alles andere und hat in meinem jungen Herzen um die gefürchtete Persönlichkeit des Banditen »Machete« einen unauslöschlichen Zauber gewoben.
Also, in der Mähne des wiedergekehrten Tieres war ein Fetzen Papier verknotet, den ich mit bebenden Händen glättete und mit einem geradezu schauerlichen Wonnegefühl las:
Carlitos! Vielen Dank für Dein famoses Pferd! Es hat mir damals das Leben gerettet.
Dein Freund Machete.
Wie etwas ganz Kostbares faltete ich das schmutzige Blatt zusammen und steckte es in meine Tasche. Dann schwang ich mich auf den Fuchs und ritt mit einem fast grenzenlosen Gefühl innerer Genugtuung bis vor unser Haus.
Hei, machte der Onkel Augen, als er die Bescherung sah, strich um das Tier herum, betastete es von allen Seiten, als könne er es gar nicht fassen und sagte immerzu kopfschüttelnd: »Einfach unglaublich.«
Es war aber doch so, und niemand war darüber glücklicher als ich. Den Zettel habe ich aus verschiedenen Gründen außer dem 52 Manuel keinem Menschen gezeigt und ihn jahrelang wie ein kleines Heiligtum verwahrt.
Die Räuberbande schien sich bald aus der Gegend verzogen zu haben, wenigstens hörte man nichts mehr von ihr. Zwei Jahre später aber brachten die Zeitungen auf einmal wieder den Namen »Machete« und zwar mit der Meldung, daß der berüchtigte chilenische Bandit der Anführer einer gefürchteten Bande in Mexiko geworden sei, und daß man auch dort vergebens nach ihm fahnde. Bei diesen schrecklichen Nachrichten stieg aber nicht die Spur von Abscheu oder Grauen wegen des verruchten Treibens dieses Menschen in mir auf. Im Gegenteil, in meinem Herzen hatte er längst die Gestalt eines Helden angenommen, und die Tatsache, daß dieser verwegene Räuber sich einmal sogar mein »Freund« genannt hatte, lebte in mir noch lange Zeit wie etwas heimlich Beglückendes.