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Wer hat unsere Geschichte geschrieben? Ina Jens, eine Bündnerin, die seit Jahren in Südamerika, in Chile, lebt. Die Schriftstellerin hat sich durch ihre verschiedenen, prächtigen Bücher bereits eine stattliche Leserschar in der Schweiz erworben.
Ina Jens schrieb uns in einem Briefe:
Ich suche für meine Erzählungen immer eine wahre Begebenheit. Ihr bekommt also eine »wahre« Geschichte zu hören!
Meine Kinderzeit verbrachte ich in Valparaiso, wo mein Vater ein Geschäft besass und wo wir drei Brüder die Schule besuchten. Jedes Jahr aber im Dezember, gleich nach den Schlussprüfungen, fuhren wir nach dem Süden auf unseren Fundo. Darum waren die Wochen um Weihnachten herum für uns Kinder eine Zeit höchster Vorfreude; denn die zwei Ferienmonate auf dem Lande gestalteten sich immer so schön, dass wir uns den Himmel auf Erden ungefähr so wie unser Landgut im Süden vorstellten.
Alles schien uns dort verändert. Alles kam uns friedvoller und wie von einer unsichtbaren Sonne verklärt vor. Auch wir selbst waren anders als in der Stadt: gehorsamer, gefügiger und vernünftiger. Das machte der innige Verkehr mit der grossen und stillen Natur.
Besondere Dinge geschahen zwar auf unserem Fundo nicht. Das Leben verlief einfach und ruhig, und doch hat sich auch dort einmal etwas in das Gleichmass des Alltags geschoben, das mir heute noch so rätselhaft erscheint, dass ich es hier mit ein paar Worten festhalten möchte.
Unser Fundo hiess Santa Ines und war auf drei Seiten von gleich grossen Landgütern begrenzt. Auf der vierten Seite aber endigte er an einer Steilküste am Meere.
Auf dieser Seite war es, wo sich von Westen her zwischen uns und das Nachbargut ein kleines Stück Land schob, das einem alten Indianer 4 gehörte. Er hiess Ongolmo Quimen. Wir aber kannten ihn nur unter dem Namen »Pacheco«.
Er hatte eine grosse Bienenzucht eingerichtet, und darum war im Sommer beinah sein ganzes Feld mit Sonnenblumen bepflanzt. Vor seiner Ruca aber standen drei mächtige Weidenbäume, die dem kleinen Besitztum den Namen »Tres Sauces« eingetragen hatten.
Wir alle mochten den Pacheco gut leiden, besonders aber mein Vater. Ihm war es sehr angenehm, dass er da oben an der Grenze unseres Gutes wohnte und gewissermassen als Aufseher galt. Ausserdem beriet er mit ihm manches, was Aussaat und Vieh betraf, denn der Alte wusste in allem Bescheid und gab guten Rat.
Eines Tages hatten wir Besuch. Es war ein Gutsbesitzer aus der Nachbarschaft, der mit dem Pacheco ein Geschäft abschliessen wollte und sich bei unserem Vater über ihn erkundigte. Wir Kinder sassen bei Tisch, als die Herren über ihn sprachen und hörten bei dieser Gelegenheit allerlei, was uns interessierte, zum Beispiel, dass er mit seiner Bienenzucht ordentlich Geld verdiene, dass in »Tres Sauces« vor vielen Jahren einmal ein schrecklicher Mord begangen worden sei und dass der Pacheco als Abkömmling von einem Kaziken eine wertvolle Sammlung von silbernem Indianerschmuck besitze.
Letzteres liess mich hoch aufhorchen. Ich war selbst ein eifriger Sammler von allen möglichen Raritäten, besonders aber von alten Indianersachen. Ich besass zwar schon allerlei davon, aber das, was ich mir am meisten wünschte, fehlte mir noch, nämlich so ein kleiner indianischer Götze aus Silber, dem man Zauberkräfte zuschrieb.
In Valparaiso hatte ich oft welche in den Schaufenstern der Pfandhäuser gesehen, aber mir hatte stets das Geld gefehlt, um einen zu kaufen. Auch hätte ich lieber einen solchen direkt aus der Hand eines Indianers gehabt. Und nun! Mir schien eine Gelegenheit zu winken. Der Pacheco! Da musste ich doch mit ihm sprechen und zwar so bald wie möglich; denn die Ferien gingen ihrem Ende entgegen.
So machte ich mich denn gleich am folgenden Tage auf und ritt nach »Tres Sauces«. Der Pacheco sass auf der Bank vor seiner Ruca und flickte ein Netz. Er begrüsste mich freundlich, und ich setzte mich zu ihm.
Ausnahmsweise war er gesprächig. Er erzählte, wie fleissig die Bienen Honig eintrügen, dass die Sonnenblumen in diesem Jahre schöner denn je aufgeblüht seien, dass sein Schimmel sich einen Nagel in den Fuss getreten habe und nicht zu gebrauchen sei und noch vieles andere. Da schien mir der Augenblick gekommen, um mein Anliegen vorzubringen.
»Pacheco«, begann ich, »ist es wahr, dass du eine Menge schöner Indianersachen aus Silber hast?«
Er zögerte ein wenig mit der Antwort. Dann meinte er wegwerfend: »Was werde ich haben! Das sind lauter Lügen, was die Leute erzählen.« 5
»Wie schade!« sagte ich darauf. »Du hast also wirklich gar nichts?«
Ein kurzer Blick streifte mich. »Warum . . . schade? Wolltest du etwas haben?«
»Ja eben«, bestätigte ich. »So einen kleinen Götzen aus Silber . . . weiter nichts.«
Ich sah ihn erwartungsvoll an, aber ohne noch einmal von seiner Arbeit aufzublicken, antwortete er abschliessend: »Es tut mir leid . . .; aber ich habe nichts.«
Ich war fest überzeugt, dass er doch Schmuck besass, aber ebenso genau wusste ich auch, dass hier für mich nichts zu holen war, und da ich nicht zudringlich erscheinen wollte, sprach ich sofort von etwas anderem.
»Rauscht das Meer hier immer so schrecklich wie heute?« fragte ich. Er stand auf und sagte: »Nicht immer. Willst du einmal sehen, wie die Wellen da vorn an die Felsen schlagen?« Und er ging mir voran über den Platz vor seiner Ruca, wo Disteln und Sträucher wild durcheinander wuchsen.
Wir traten an den Rand heran, und ich sah zum ersten Male bewusst und aufmerksam, wie grossartig die Natur auf dieser Seite unseres Gutes war.
Da lag das weite Meer und schien trotz Sonnenschein in seinen Tiefen aufgewühlt. Gewaltige Wellenkämme rollten heran, überholten sich und zerschellten mit furchtbarem Donnern an den Felsen zu unseren Füssen. Der Gischt sprühte bis zu uns herauf, und ich fragte: »Hast du nicht Angst, dass dir das Meer eines Tages dein Haus wegreisst?«
Er verzog das Gesicht wie zu einem Lachen und meinte: »So weit kommt es nie. Sieh dir einmal diese Küste an! Wie eine eiserne Mauer steht sie da . . . schon seit Jahrhunderten, und so wird sie ewig stehen bleiben.«
Er hatte recht, nach Süden hin, so weit mein Auge reichte, war sie merkwürdig regelmässig gebildet, eine Felsenmauer, an der auch der stärkste Wogendrang zerbrach. Im Norden aber war sie eigenartig umgeformt. Die fast schnurgerade Wand bog sich zu einer kleinen halbkreisförmigen Bucht ins Land hinein. Dort, wo sie wieder ins Meer hinaustrat, hatte sie sich gespalten. Ein vollständig losgelöster Felskoloss stieg steil und schroff aus der Flut empor und zeigte von unten her bis zur Mitte eine gewaltige Höhlung, die in ihrer Form an das Tor eines Tempels erinnerte. Die Wellen rasten dort mit zornigem Gebrause hinein und schäumten zerstäubt wieder zurück, und darüber weg und um den Felsen herum flogen Hunderte von Möwen.
Eine ganze Weile war ich in dieses seltsame Bild versunken. Dann fragte ich den Pacheco, ob das eine vom Wasser gebildete Höhle oder ein von Menschenhand angefangenes und von der Natur zerstörtes Werk sei. Er legte seine Hand auf meine Schulter und erwiderte leise : »Wir nennen es das ›Geheimnis der Götter‹.«
Ich sah ihn an und lachte: »Wieso?« Ich hielt seine Antwort für einen Scherz, aber ich merkte bald, dass es ihm heiliger Ernst war.
»Dort wohnen unsere Götter, und es ist gefährlich, ihnen zu nahen. Komm!« sagte er kurz und wandte sich zum Gehen. 6
Nun war ich aber erst neugierig geworden und fragte: »Kann man diese Höhle nicht auch von innen besehen?«
»Nein«, sagte er streng, »die Götter erlauben das nicht.«
Ich lachte laut auf: »Oh, Pacheco, was redest du für Dummheiten! Ich kann dir heute schon sagen, dass ich diese Höhle ganz bestimmt auskundschaften werde.«
Da funkelten seine Augen mich böse an. »Sei nicht verwegen, Knabe! Auch nicht in Gedanken«, warnte er und liess mich kurzerhand stehen. So, nun hatte ich es mit ihm verdorben, eigentlich merkwürdig, denn wir waren doch sonst so gut miteinander ausgekommen. Nachdenklich bestieg ich mein Pferd und ritt langsam wieder nach Hause.
Das erste, was ich dort tat, war, dass ich meine Brüder, Fritz und Kurt, suchte und ihnen meine Unterredung mit dem Pacheco erzählte.
Es dauerte nicht lange, so stand unsere Phantasie durch das »Geheimnis der Götter« in hellen Flammen. Auch unsere Abenteuerlust brannte lichterloh, und wir beschlossen, schon am folgenden Tage die Höhle zu untersuchen. Die schreckliche Brandung schien uns dabei kaum ein Hindernis zu sein, denn Kurt sagte ganz richtig: »Das Meer hat doch nicht nur Flut, sondern auch Ebbe. Also warten wir die Ebbe ab und schwimmen dann hin. Der Pacheco braucht uns dabei nicht gerade zuzusehen.«
Am nächsten Morgen machten wir uns schon ziemlich früh auf den Weg. Die Luft war frisch und klar, und das Land leuchtete im hellen Morgensonnenglanze. Unsere Pferde holten tüchtig aus, und wir fühlten uns wie richtige Abenteurer.
Als wir den Wald hinter uns hatten, schwenkten wir unwillkürlich nach rechts ab und liessen »Tres Sauces« weit im Süden liegen. Dann 7 jagten wir wie auf Verabredung im Galopp über die Ebene dahin und auf ein paar Eukalyptusbäume zu. Dort banden wir die Pferde an und wechselten unsere Anzüge, sprangen ins Wasser hinunter und erreichten ohne allzu grosse Mühe die Höhle.
Sie glich einem kurzen Tunnel mit dem Eingang vom Meere her und dem Ausgang nach der Landseite zu, nur dass dieser Ausgang zur Hälfte mit gewaltigen, übereinandergetürmten Felsblöcken versperrt war.
Wir tappten überall herum, untersuchten jeden Winkel, betasteten jeden Stein in dem feuchten Loch und kletterten schliesslich auch auf die Felsblöcke im Hintergrunde.
Auf einmal stiess Kurt einen triumphierenden Schrei aus. Er hatte etwas gefunden. Wir liefen erregt hinzu. Eine wilde Freude erfasste uns, und unsere Herzen begannen fast hörbar zu klopfen. Zwischen zwei Felsblöcken eingeklemmt, lag eine alte Kiste mit verrostetem Eisenbeschlag und von dicken Stricken umschnürt.
»Das Geheimnis der Götter«, jubelte es in uns. »Das Geheimnis der Götter!« Mit fast andächtigem Staunen starrten wir auf das wunderliche Gerümpelstück . . .
Dann versuchten wir, das seltsame Ding herauszuheben, sahen aber bald ein, dass es unmöglich war. Da auch die Flut merklich zu steigen begann, beschlossen wir, am nächsten Tag mit Werkzeugen wiederzukommen, und sehr befriedigt traten wir den Rückweg an.
Als wir auf unsere Pferde zugingen, wartete unser eine neue Überraschung. Hoch zu Ross stand neben den Eukalyptusbäumen der Pacheco. Es war klar, dass er um unseren Einbruch in das »Geheimnis der Götter« wusste und uns zur Rede stellen wollte. Hastig und eindringlich stiess ich darum mit halblauter Stimme hervor: »Wir verraten nichts, absolut nichts.« Und meine Brüder bestätigten wie Verschwörer: »Nichts . . . absolut nichts.«
Der Pacheco kam uns entgegen, sah uns der Reihe nach an und fragte herrisch: »Was habt ihr in der Höhle gesucht?«
Fritz, der älteste von uns, wurde frech: »Wir haben uns gegenseitig gelobt, nichts zu verraten . . .«
Das Pferd des Alten bäumte sich ein wenig auf, aber er selbst blieb unbewegt. Nur seine Augen funkelten, und er drohte: »Wagt euch nicht zum zweiten Male dorthin!« Und dann schrie er: »Die Höhle gehört mir! Habt ihr mich verstanden?«
Jetzt wurde unser Jüngster hochnäsig. Obwohl er im Badeanzug einen recht bejammernswerten Eindruck machte und schrecklich zitterte, antwortete er überhebend: »So weit du hier siehst, gehört alles meinem Vater, also auch die Höhle!«
Der Pacheco kniff die Augen ein und sah über uns weg. Wahrscheinlich überlegte er, ob er den Frechdachs packen und verprügeln sollte, aber es geschah nichts. Stolz wie ein Spanier wandte er das Pferd und ritt langsam von uns weg über die Ebene zurück.
Wir sahen uns triumphierend an, und unter angeregten Gesprächen ritten wir heim. Den Eltern erzählten wir vorläufig nichts von unserem 8 Fund, aber am Nachmittag zogen wir uns in eine alte Scheune zurück und besprachen alles bis ins kleinste. Dabei liessen wir unsere Phantasie über erträumte Schätze bis in den Himmel steigen.
»Was machen wir bloss, wenn die Kiste nun wirklich mit Gold gefüllt ist?« Das war die Frage, die uns am meisten beschäftigte, denn nach unserer Ansicht unterlag es nicht dem geringsten Zweifel, dass die Kiste Schätze barg.
»Wir teilen brüderlich«, entschied Kurt, »und mir gebt ihr ein wenig mehr, weil ich den Schatz gefunden habe.«
»Sollst du haben«, bewilligte Fritz grossmütig, »wenn die Kiste voll Gold ist, kommt es auf eine Handvoll mehr oder weniger nicht an.«
»Aber was machen wir nachher mit dem Geld?« fragte Kurt, und seine Augen gingen wie im Traume über uns weg.
»Ja, was machen wir mit dem vielen Geld?« echote Fritz.
Wir berieten hin und her, und schliesslich hatten wir auch dieses Problem gelöst. Fritz würde sich ein Motorrad neuesten Modells kaufen, Kurt ein Auto und ich eine komplette, aber eine »ganz komplette« Sammlung von silbernem Indianerschmuck.
Am nächsten Tage zogen wir mit allen möglichen Werkzeugen versehen auf den Weg zum »Geheimnis der Götter«. Brechstange, Beil, Stemmeisen, Zange, Hammer . . . nichts fehlte. Auch ein Tau und ein Sack für das Gold wurden mitgenommen.
Als wir im Walde waren, begegneten wir dem Pacheco. »Hallo, wohin so früh?« rief er erstaunt. Wir nannten einen Ort, der in entgegengesetzter Richtung von »Tres Sauces« lag und ritten an ihm vorbei. »Wenn der wüsste, wohin wir gehen!«, sagte Kurt leise. Wir taten, als ob wir nichts gehört hätten. In einiger Entfernung aber rasten wir wie die Wilden davon.
Als wir an die Küste kamen, war hoher Wellengang auf dem Meere, und gewaltig umrauschte die Flut das »Geheimnis der Götter«. Es war ausgeschlossen, die Höhle schwimmend zu erreichen. Wir traten darum an die Spalte heran und prüften ihre Tiefe. Vielleicht acht Meter . . . Das war zu bewältigen. Wir hatten ja ein riesenlanges Tau mitgeschleppt. Also befestigten wir es oben an einem Felsblock und liessen uns der Reihe nach hinunter. Es gelang glatt und ohne jede Anstrengung.
Die Wasser drangen machtvoll in das Felsengewölbe hinein, aber noch erreichten sie uns nicht. Schweigend tappten wir zu dem Ort, wo die Kiste lag. Da . . . was war denn das? . . . Ein riesiger Steinblock war quer darüber gewälzt . . . Aha! . . . Nun . . . wir waren sofort im Bilde . . . Der Pacheco! . . . Wer sonst? . . .
Doch uns beirrte nichts, und mutig begannen wir unser Werk. Es war nicht leicht. Der Felsblock rührte sich nicht, liess sich von Kinderhänden überhaupt nicht bewegen. So versuchten wir denn, von untenher zu arbeiten. Stundenlang gruben und schlugen und stiessen wir zwischen den Felsen herum, schwitzten, obwohl der Gischt der Brandung uns regelmässig übergoss, ruhten ein wenig aus und arbeiteten wieder weiter. Die Kiste blieb, wo sie war, als ob überirdische Mächte sie da hingepflanzt 9 hätten. Aber etwas erreichten wir doch. Unter den andauernden Schlägen und Hieben mit Axt und Brecheisen gab eine Seitenwand nach.
Aufatmend hielten wir inne. Dann streckte Kurt seinen Arm bis zum Ellbogen hinein, zog ihn wieder heraus und erklärte bitter enttäuscht: »In der Kiste ist nichts.«
Das konnte doch nicht sein. Das glaubten wir einfach nicht.
Jetzt kam ich an die Reihe. Es stimmte . . . Die Kiste war leer . . . Nein, doch nicht . . . Da war doch etwas . . . Da auf dem Boden . . . Ich fasste einen schmalen Gegenstand und zog ihn heraus. Zwei Augenpaare waren in grenzenloser Erwartung auf ihn gerichtet . . . Und was war es? . . . Ein altes Messer, eigentlich ein Dolch mit verrostetem Griff und fleckiger Klinge. Das konnte aber doch nicht alles sein! Fritz untersuchte nun auch noch das Innere der Kiste . . . aber auch er musste zugeben, sie war hohl und leer.
Ja, was war da zu machen! Müde und niedergeschlagen wie wir waren, suchten wir betrübt die Werkzeuge zusammen und wandten uns dem Ausgang zu. Das Hinaufklettern an dem Tau war unvergleichlich schwieriger als das Hinuntergleiten.
Als wir uns schliesslich aber doch glücklich wieder auf dem Lande befanden, trat Kurt plötzlich auf mich zu und sagte böse: »Wirf doch dieses scheussliche Messer weg!« Da kam es mir erst zum Bewusstsein, dass ich das Messer ja immer noch in der Hand hielt. 10
Ich sah darauf nieder, und in der Helle der Sonne kam es mir auf einmal nicht mehr so unscheinbar vor wie im Dunkel der Höhle. »Vielleicht hat dieses Messer einmal einem Kaziken gehört«, dachte ich und steckte es in die Satteltasche.
Dann ritten wir missmutig und ziemlich schweigsam nach Hause.
Am Abend erzählten wir unseren Eltern mit einigen Abweichungen von unserem misslungenen Abenteuer in »Tres Sauces«. Ich zeigte meinem Vater das Messer und fragte ihn, ob es wohl eine alte Indianerwaffe sein könne. Er sagte, er wüsste es nicht, aber ich sollte den Pacheco fragen, der kenne sich in solchen Sachen gut aus.
Am andern Morgen sass ich auf der Bank vor dem Fenster meiner Schlafstube, die zu ebener Erde lag, und putzte das Messer. Es war Arbeit, aber es lohnte sich, und es freute mich, wie sauber es schliesslich aussah und wie gefällig es in der Form war. »Ein hübsches Stück für meine Sammlung«, überlegte ich, stieg zum Fenster hinein in mein Zimmer, schnitt zwei Lederstreifen, die ich wie Ösen an der Wand befestigte, und steckte das Messer dazwischen. Draussen ritt jemand vorüber . . . Mich störte es nicht . . . Dann aber wandte ich mich doch jäh herum und erschrak ein wenig über den, der da so unerwartet im Rahmen des Fensters stand. Ich fasste mich jedoch sofort.
»Guten Morgen, Pacheco!«, grüsste ich und trat zu ihn. »Reitest du zum Pueblo?«
Er antwortete nicht, aber er sah mir unverwandt ins Gesicht, und dann ging folgendes kurze Gespräch zwischen uns: »Wo hast du das Messer her, das da drüben hängt?«
»Das . . .?« Ich sah nach der Wand und dann wieder auf den Pacheco. »Das habe ich im ›Geheimnis der Götter‹ gefunden.« Ich lächelte, denn ich erinnerte mich an das, was er mir von der Höhle gesagt hatte.
»Du hast es fein geputzt«, lobte er, und sein Auge bohrte sich beinahe in die Wand.
»Ja«, sagte ich, »es war arg verrostet und auch sonst fleckig.«
»Wozu brauchst du dieses Messer?«, fragte er lauernd.
»Für meine Sammlung in Valparaiso . . . Ich mag solche alten Sachen furchtbar gern.«
»Was willst du dafür haben?«
Ich blickte erstaunt in sein Gesicht, aber ich verstand: Das Messer hatte Wert.
»Gar nichts«, erwiderte ich, »ich verkaufe es nicht.«
»Um keinen Preis?«
»Um keinen Preis.«
»Auch nicht um einen silbernen Götzen?«
»Nein . . .« Ich sah ihm betroffen in die Augen. Was kümmerte ihn dieses Messer?
»Auch nicht um einen silbernen Götzen«, beharrte ich jetzt ein wenig eigensinnig. 11
»Gut«, sagte er, stieg auf sein Pferd, grüsste, ohne mich anzusehen und ritt an unserem Hause vorbei.
Nachher erzählte ich meinem Vater die Unterredung mit dem Pacheco. Er lachte und meinte: »Der Pacheco ist ein Fuchs. Der weiss, was er will. Jetzt glaube ich beinahe auch, dass das Messer Sammlerwert hat.«
Eine Woche ging dahin, ohne dass ich den Pacheco wieder gesehen hatte. Der letzte Ferientag war da. Am Abend sprach man von nichts anderm als von der bevorstehenden Abreise, und wir waren alle in trauriger Stimmung.
Lange stand ich an diesem Abend noch am Fenster meines Zimmers und sah in das nächtliche Land hinaus. Meine Gedanken gingen den Weg entlang, der durch die Felder und weiterhin durch den Wald bis ans Meer führte. Das »Geheimnis der Götter« trat vor mein geistiges Auge, und eine kleine Freude wallte in mir auf, dass ich wenigstens ein Andenken von dort mitnehmen konnte . . . das Messer.
Dann ging ich zu Bett und blickte noch eine Weile versonnen durch das weit geöffnete Fenster in die dämmerige Helle hinaus. Der Mond warf einen breiten Lichtstreifen in meine Stube hinein, und feierliche Stille wogte nah und fern. Da schlief ich langsam ein.
Stunden mochten vergangen sein, als ich mit einem Male in einem unbeschreiblichen Schrecken aufwachte. In der Halle verklangen die Schläge der Uhr, aber das war es nicht, was mich geweckt hatte. Mein Körper wurde wie Eis . . . In der Ecke, meinem Bette gegenüber, hockte eine Gestalt . . . schattenhaft . . . regungslos . . . und die Einsamkeit wogte von draussen lähmend über meine Sinne.
Sollte ich schreien? Sollte ich um Hilfe rufen? Wenn ich wenigstens eine Waffe gehabt hätte! Mein Körper war wie gefesselt. Nur meine Augen bohrten sich in das Dunkel . . . Jetzt bewegte es sich, dort langsam und leise, schlich wie eine Katze die paar Schritte an der Wand entlang und war spukhaft zum Fenster hinaus.
Ich horchte mit angestrengten Sinnen . . . Ein Pferd galoppierte durch die Nacht . . . Und dann war wieder Totenstille . . . Da sprang ich aus dem Bett und rief laut um Hilfe. Es dauerte nicht lange, so waren sämtliche Hausbewohner in meinem Zimmer. Ich erzählte. Man untersuchte die Stube. Man ging ums Haus herum, aber nirgends war etwas Verdächtiges. Nichts fehlte. Alles war in bester Ordnung.
Die Köchin erklärte, dass seit zwanzig Jahren nie jemand in dieses Haus eingebrochen sei. Der Vater behauptete, ich hätte wohl schwer geträumt, und meine Brüder lachten mich unbändig aus.
Ich aber wusste ganz genau, was ich gesehen hatte, und war fest überzeugt, dass sich diese nächtliche Erscheinung auf irgend eine Weise schon noch aufklären würde.
Am andern Morgen, während ich noch im Bett lag und den Dingen der vergangenen Nacht nachsann, fiel mein Blick plötzlich auf die Wand, an der ich das Messer befestigt hatte . . . Und siehe! . . . Das Messer war weg! . . . Mit einem Male war mir alles klar. Ich sprang aus dem Bett. Na, warte, Pacheco! 12
Meinen Eltern erzählte ich nichts von meiner Entdeckung. Ich liess auch alle Neckereien wegen des vermeintlichen Einbruches über mich ergehen und sagte nur einmal so nebenbei: »Ihr werdet schon noch sehen . . .«
Den ganzen Morgen überlegte ich, was ich beginnen solle. Ich war empört. Ich liess mir doch nicht einfach eine Sache, die mir gehörte, stehlen. Fiel mir gar nicht ein. Ich musste handeln und zwar schnell, denn am Nachmittage wollten wir abreisen.
Gleich nach dem Mittagessen ging ich in den Garten hinaus. Der Rasen um den kleinen Weiher war frisch beschnitten. Die Farnkräuter neigten sich tief über das Wasser, und die Rosen standen in Blüte. Ich sah es kaum. Ich war wie losgelöst von allem, auch von denen im Hause. Ich hatte nur einen Gedanken, und der sass wie ein Bolzen in mir: »Ich gehe zum Pacheco. Ich sage ihm, er sei ein Dieb, und ich fordere von ihm das Messer.«
Ja, das würde ich tun. Ich überlegte: Der Zug, der nach dem Norden fuhr, hielt um acht Uhr im nächsten Pueblo. Wir würden also so um fünf herum von hier abfahren. Jetzt war es zwei. Den Weg zum Pacheco machte ich in ein und einer halben Stunde. Ich hatte also genügend Zeit.
Ohne mich umzusehen, ging ich durch den Garten auf den Hof und in die Scheune, holte mir einen Lasso und eilte in den Potrero wo ich mein Pferd, den »Clavel«, einfing und sattelte. Dann ritt ich, ohne von jemand beobachtet zu werden, auf die Felder hinaus.
Zuerst ging es im Galopp auf schmalem Wege zwischen Brombeerhecken, dann längs der grünen Weiden dahin. Alles lag so still und sonnengolden da. Die dunstumblauten Berge hoben sich nur wie Schatten vom tiefblauen Himmel ab, und mir kam es vor, als verliere sich das flimmernde Land in schimmernden Unendlichkeiten. Ich kam ins Nachdenken. Nur locker hielt die Hand den Zügel, und langsam trottete mein Pferd mit mir dem Walde zu.
Durch Schluchten und Dickicht ging es, und mir erschien alles schöner denn je, so als ob ich dieses Stückchen Welt zum ersten Male sähe. Und das war, weil ich wusste, dass heute der Abschied kam. Ein brennendes Weh sass mir im Herzen, und als ich auf eine Lichtung trat und ringsum die Pracht der blühenden Muermos sah, stiegen mir sogar ein paar Tränen in die Augen. Ich wischte sie mir mit dem Handrücken vom Gesicht, und da merkte ich erst, dass mein Pferd gemütlich an einem Strauche frass, und dass wir gar nicht weiterkamen und überlegte, dass schon unheimlich viel Zeit verstrichen sein musste, seit wir von Hause weggejagt waren.
Ich nahm mich zusammen, gab dem Pferde die Sporen und ritt davon. Weite Felder taten sich wieder vor mir auf. In der Ferne sah ich das Sonnenblumenfeld von »Tres Sauces« und das dunkle Dach der Ruca. 14
Mit knabenhaftem Ungestüm trieb ich den »Clavel« in gerader Richtung darauf zu.
Die Sonnenblumen leuchteten in voller Pracht und waren umschwirrt von den Bienen. In langen Reihen standen die grauen Bienenhäuschen jenseits des Feldes, und zwischen ihnen bewegte sich eine Gestalt. Es war der Pacheco, und ich freute mich, dass ich ihn traf.
Wahrscheinlich hatte er mich ebenfalls schon von weitem gesehen, denn als ich um die Ecke des Feldes ritt, kam er von der andern Seite des Feldes daher und begrüsste mich. Ich stieg vom Pferd und band es an den Balken, der zu diesem Zwecke unter den Weiden angebracht war.
Dann wandte ich mich zum Pacheco und sah ihn einen Augenblick wortlos an. Er hielt meinem Blicke ruhig stand. Sein Gesicht war braun und faltig und der Ausdruck darin steinerne Ruhe. Nur die Augen spähten wie die eines Raubtieres. Ich würde es mit dem nicht leicht haben, schoss es mir durch den Sinn. Die grosse Einsamkeit hier oben kam mir plötzlich zum Bewusstsein, aber keine Spur von Angst war in mir.
»Pacheco«, sagte ich, »ich muss mit dir sprechen.«
»Gut«, erwiderte er gleichmütig, aber ich wusste, er war zu jeder Gegenwehr bereit. »Setze dich, Knabe!« lud er ein.
Wir sassen auf der Holzbank vor seiner Ruca, und ich begann, indem ich geradewegs auf mein Ziel losging: »Pacheco, gib mir das Messer zurück!«
»Was für ein Messer?«, fragte er ruhig.
Ich wurde ärgerlich und sah ihn an: »Was für ein Messer? Das weisst du so gut wie ich. Das Messer, das ich dort unten fand und das du mir in der vergangenen Nacht wie ein Dieb aus meinem Zimmer gestohlen hast.«
Er blieb vollkommen beherrscht. Nur die Augen kniff er ein wenig ein, wie das so seine Gewohnheit war, und die knochige Hand, die ausgestreckt auf der Bank lag, zog sich langsam zur Faust zusammen. Dann antwortete er: »Ich habe dir kein Messer gestohlen, und ich bin kein Dieb, Knabe.«
»So?« höhnte ich. »Ist der etwa kein Dieb, der nachts in fremde Häuser schleicht und Sachen mitnimmt, die ihm nicht gehören!«
»Mag sein«, meinte er gleichmütig, »trotzdem bin ich kein Dieb, denn das Messer ist mein Eigentum.«
»Bah«, machte ich, »wie kann dir das Messer gehören, das vielleicht schon mehr als hundert Jahre dort unten gelegen hat!«
»Nicht ganz so lange, Knabe.« Ich sah ihn an, und mir schien es, als sitze ein grenzenloser Spott in seinem Gesicht.
»Was weisst du!« Ich wurde richtig böse. »Gib mir das Messer! Ich will es wieder haben.«
Da wandte er sich zum ersten Male ganz zu mir und sagte: »Was geht dich dieses Messer an! An diesem Messer klebt Blut, und es gehört nicht in deine Hand.«
Ich wurde ein klein wenig stutzig, aber ich beharrte immer noch auf meinem Willen und maulte weiter: »Jetzt fängst du auch noch mit Lügen 15 an! Nur damit du das Messer behalten kannst, weil du weisst, dass es wertvoll ist.«
Er sah über die Sträucher hinweg in die Ferne, wo das Meer als blauer Streifen sichtbar war und erwiderte: »Deine Eltern sind immer gut zu mir gewesen, und ich will nicht, dass du oder sie schlecht von mir denken. Darum will ich dir etwas erzählen, Knabe, obwohl es Dinge sind, die nicht vor deine Ohren gehören.«
Nun war ich doch nachdenklich geworden, und als er wieder in Schweigen versank, sagte ich: »Dann erzähle, aber schnell! Denn ich muss nach Hause. Du weisst ja, dass wir heute abreisen.«
Da begann er: »Einmal vor vielen Jahren war es hier anders als heute, nicht so einsam wie jetzt. Damals lebte unsere Familie zusammen, und bei uns war ein junges Mädchen, eine Verwandte, eine von unserem Stamme. Mein Bruder besass viel Land im Süden und wollte sie heiraten, aber sie liebte mich, und da hat er sie aus Eifersucht erstochen.«
Er hatte die Arme über der Brust gekreuzt und hielt inne. Die Brandung des Meeres donnerte zornig in das Schweigen, und die Einsamkeit um uns wurde mir unheimlich.
»Hier vor der Haustür fand ich sie in der Nacht . . . blutüberströmt . . . und tot . . . mit dem Messer in der Brust . . .«
»Schrecklich«, sagte ich, »und dein Bruder?«
»Der ist geflohen. Niemand weiss wohin. Niemand hat ihn wiedergesehen.«
»Und das Messer?« forschte ich. »Wie ist dieses Messer in die Höhle gekommen?«
»Nun, ich war damals nicht so ruhig wie heute, das kannst du dir denken. Ich habe der Toten das Messer aus der Brust gezogen und über meinem Lager in die Wand gestossen und geschworen, dass ich nicht eher ruhen wolle, als bis dasselbe Messer in der Brust des Mörders stecke. Wochenlang war ich wie ein Tier. Ich sah nichts als Blut vor den Augen und konnte nachts nicht mehr schlafen und am Tage nicht arbeiten. Schliesslich sprach mein Vater mit mir. Er sagte: »Mit diesem Messer vor den Augen kommst du dein Leben lang nicht zur Ruhe. Und was hilft's? Dein Bruder ist verschwunden. Du selbst gehst zugrunde und gewinnst nichts. Das Mädchen ist tot, und die Toten kehren nicht wieder. Aber die Götter sind mächtig. Die können Rache üben, sicherer als wir Menschen. Nimm das Messer und verbirg es in der Höhle! Lass es dort im Schutze höherer Mächte, und du wirst sehen, wie das Verbrechen geahndet wird.«
Mich durchfuhr es kalt. Das war ja eine schaurige Geschichte! Und ich hatte jene Mordwaffe als Kostbarkeit meinen Raritäten in Valparaiso einverleiben wollen!!
»Und dann hast du das Messer in die Höhle gebracht?« wollte ich wissen. Er nickte: »Ich habe es dort in einer alten Kiste aufbewahrt und geschworen, dass, falls der Mörder doch noch einmal zurückkehren sollte, ich es mir wieder holen und mich rächen würde.« 16
Lange war es still zwischen uns. Dann fragte er: »Glaubst du nun, dass das Messer mir gehört und dass ich es aus deinem Zimmer holen musste, weil du es mir doch nie freiwillig gegeben hättest?«
»Doch«, sagte ich, »ich hätte es dir bestimmt gegeben, wenn du mir die Geschichte vorher erzählt hättest.«
»Von solchen Dingen spricht man nicht, wenn man nicht muss«, meinte er darauf mit eigener Betonung.
»Und wo hast du das Messer jetzt gelassen?« fragte ich neugierig. Er machte mit dem Kopf eine Bewegung in der Richtung nach dem »Geheimnis der Götter«. »Das liegt gut verwahrt wieder in der Höhle.«
Da stand ich auf und reichte ihm die Hand: »Verzeih mir, Pacheco, was ich dir vorhin gesagt habe, und lebe wohl! Wenn ich im Dezember wiederkomme, bringe ich dir auch etwas Hübsches aus Valparaiso mit.«
»Einen Augenblick!« bat er und eilte in seine Behausung. Dann kam er mit einem kleinen Päckchen wieder zurück, drückte es mir in die Hand und scherzte: »Das schenke ich dir . . . für das Messer.«
»Oh, was ist es?« lachte ich. Eine Ahnung stieg in mir auf. Das Ding war schwer, und ich fühlte durch das Papier die Form einer menschlichen Figur.
Er nickte: »Du wolltest doch immer gerne so etwas haben.«
»Ja . . . aber Pacheco . . .« Ich hatte das Päckchen geöffnet und hielt einen vielleicht acht Zentimeter grossen silbernen Götzen in der Hand, genau so einen, wie ich ihn mir immer gewünscht hatte. Ich war verlegen. »Das ist zu viel, Pacheco. Schweres Silber . . . Bedenke doch! Das darf ich nicht annehmen.«
»Aber warum denn nicht? . . . Ich habe noch viele«, gestand er.
Ich hielt das rätselhafte Scheusal in der Hand und war überglücklich, und obwohl ich selber ganz genau um den Sinn des silbernen Männchens wusste, fragte ich doch: »Und was bedeutet diese Figur eigentlich?« Da trat er einen Schritt näher an mich heran und sagte leise, als ob er mir ein Geheimnis verriete: »Wir Indianer sagen, sie bringe Glück.« Das hatte ich ja nur hören wollen. Ich hielt den Götzen fest in der Hand, umarmte den alten Pacheco und dankte ihm herzlich. Dann schwang ich mich auf mein Pferd und ritt glücklich heimwärts, aber nicht im Galopp, sondern ruhig und langsam wie einer, der das Land, das sich um ihn breitet, auch geniessen will.
Ich umfasste den stillen Wald, die dunklen Wege, die Schluchten, die sonnenbeschienenen Felder und die fernen Berge noch einmal mit einer grossen Anhänglichkeit im Herzen. So schön wie hier war es doch nirgends auf der Welt, dachte ich auf dem langen Heimweg, und als ich schliesslich durch den Garten unserem Hause zuging, war eine grosse Freude in mir, dass ich den Weg zum Pacheco hinauf vor der Abreise noch einmal gemacht hatte.
Aber ach, diese Glücksstimmung war leider nur von kurzer Dauer. Kaum dass ich den Fuss auf die Treppe gesetzt hatte, die vom Garten ins Haus führte, kam mein Vater auf mich zu, packte mich an den Schultern, rüttelte und schüttelte mich, dass mir Hören und Sehen verging 17 und schrie mich an: »Wo bist du eigentlich gewesen? Du Lausbub!«
»Beim Pacheco«, erwiderte ich erschrocken und sah verständnislos in sein erregtes Gesicht. »So«, sagte er, »hier!« Er gab mir eine Ohrfeige von rechts, »für deinen Ungehorsam, und hier«, er gab mir eine Ohrfeige von links, »für deine Gedankenlosigkeit.«
Da bäumte es sich in mir auf. »Was habe ich denn getan?« schrie ich.
»Stell' keine albernen Fragen!« fuhr er mich an, »sondern geh zur Mutter, du Nichtsnutz!«
Ich wandte mich ab und trat langsam ins Haus, und da kam sie auch schon auf mich zu, die Mutter, und hatte ein ganz verweintes Gesicht, und ich sagte mir, dass ein grosses Unglück geschehen sein müsse.
»Um Gotteswillen, Kind! Wo hast du dich herumgetrieben?«, fragte sie. »Wusstest du denn nicht, dass wir um fünf Uhr im Pueblo sein wollten, und dass der Vater um zwei Uhr ein Auto bestellt hatte?«
»Aber Mutter«, begann ich, »der Zug nach dem Norden fährt doch erst um acht Uhr.«
»Rede keinen Unsinn!« fuhr sie auf, »der Zug um acht Uhr ist ein Lokalzug. Wir aber fahren mit dem Express.«
Ich wurde ganz still, denn nun ging mir wirklich ein Licht auf. Meinetwegen hatte der Vater für nichts und wieder nichts eine teure Autofahrt bezahlen müssen, und was vielleicht noch schlimmer war, die Abreise musste um einen Tag verschoben werden. Das kostete wieder ein paar Telegramme nach Valparaiso, wo wir uns angemeldet hatten und erwartet wurden . . . Weiss der Himmel, ich verstand meines Vaters Ärger.
Der Tag verlief begreiflicherweise in der Folge etwas ungemütlich, aber dann sassen wir am andern Nachmittage doch ganz vergnügt in 18 unserer Kutsche und fuhren der drei Stunden entfernten Eisenbahnstation zu.
Und nun kommt erst die Hauptsache meines Erlebnisses, nämlich die merkwürdige Tatsache, dass meine Verspätung zu einer ungeahnten Bedeutung für uns alle wurde.
Also: Unser Gepäck war glücklich in der Eisenbahn verstaut. Meine Mutter, meine Brüder und ich standen auf dem Bahnsteig und warteten auf den Vater, der die Fahrkarten löste. Merkwürdigerweise hielt er sich ungewöhnlich lange auf, und als ich nach ihm sah, fand ich ihn in einem scheinbar sehr ernsten Gespräch mit dem Stationsvorsteher.
Schliesslich kam er doch, aber wie sah er aus! Ganz grau und verfallen, und er sagte mit tonloser Stimme: »Das Auto, das ich gestern bestellt hatte, ist auf der Rückfahrt von Santa Ines zur Station von Banditen überfallen worden. Den Führer haben sie ermordet, und dann sind sie mit dem Auto geflohen.«
Mein Bruder sagte darauf sofort: »Sicher wollten sie uns überfallen.«
Der Vater legte ihm die Hand auf die Schulter und nickte: »So ist es . . . Ein Unbekannter hat sich gestern morgen hier auf der Station ganz genau nach unserer Abreise erkundigt.«
Sehr still stiegen wir in die Eisenbahn. Erst als der Zug sich in Bewegung setzte und wir eng nebeneinander sassen, erfassten wir die Tragweite des Geschehens. Wir waren vor einem entsetzlichen Unglück bewahrt worden. Das fühlten wir alle. In mir aber war noch ein anderer Gedanke, der mich wie ein heisser Strom durchflutete und mein Herz laut schlagen liess: »Was für ein Glück, dass ich zum Pacheco gegangen bin! . . . Was für ein Glück! . . . was für ein Glück!«
Während meine Brüder allerlei grausige Dinge erwogen und sich in schrecklichen Vorstellungen ergingen, sass ich wie unter einem seligen Banne neben meinem Vater. Auf einmal nahm er meine Hand in seine und meinte: »So ist es im Leben. Gott wählt oft wunderliche Wege, um uns zu beschützen, nur dass wir es manchmal nicht gleich erfassen.« Und die Mutter fügte mit Tränen in den Augen hinzu: »Du hast uns allen das Leben gerettet.« Nun, es war so und auch wieder nicht. Ich selber fühlte das am tiefsten.
Dann kam der Abend. Unsere Betten wurden aufgeschlagen, und wir legten uns zum Schlafen hin. Ich hatte die Gardinen zugezogen und lag sinnend da.
Ich war kein Kind, das über ernste Dinge leicht hinwegkam, und darum fand ich denn auch in dieser Nacht keine Ruhe. Zu viel war in den letzten vierundzwanzig Stunden auf mich eingestürmt, und das Bewusstsein, dass der Zug mich immer weiter von dem schönen Ort entfernte, wo wir so glückliche Ferien verlebt hatten, schmerzte mich.
Ich schob das Fenster hoch und starrte in die Nacht hinaus. Weithin dehnte sich die dämmerige Ebene, und über allem lag wie silberner Dunst das Licht des Mondes. Ein merkwürdiger Zustand kam über mich. Meine Augen sahen bewusst und erschauernd die stillen Weiten, die traumhaft an mir vorüberflogen, aber vor meiner Seele standen 19 gleichzeitig ganz andere Bilder. Ich war in Santa Ines. Grüne Potreros mit weidenden Herden, bewaldete Berge, das weite Meer, die Sonnenblumen von »Tres Sauces« und . . . der Pacheco tauchten vor mir auf und hielten mich wie mit Zaubergewalt fest, und da kam mir auf einmal etwas in den Sinn.
Ich zog das Fenster herunter und drehte das Licht an. Dann tastete ich nach meinem Rock, und . . . hatte auch schon, was ich suchte . . . den kleinen Götzen. Ich hielt ihn in die Helle des Lichtes und betrachtete ihn lange und nachdenklich. Er war hässlich, plump, ausdruckslos . . . aber . . . aber . . . »Wir Indianer sagen, er bringe Glück . . .« Ich lauschte erschrocken . . . Hatte jemand aus der Dunkelheit zu mir gesprochen? . . . Nein, das war Unsinn! Aber der Pacheco hatte es zu mir gesagt oben vor seiner Ruca, und ich wollte es in meinem ganzen Leben nicht vergessen . . .
Ich war ein Kind, und Kinder mögen ja so gerne an sichtbare Dinge glauben, und so gewährte mir der Gedanke, dass ich einen unvergänglichen, aus Silber gefertigten Talisman besass, der mir möglicherweise Glück brachte und mich in den Gefahren dieses Lebens behütete, eine tiefe Befriedigung.
Und warum auch nicht? Für mich war das Erlebnis dieses Tages wunderbar genug, um fest daran zu glauben, dass unsere Errettung irgendwie mit dem Indianergötzen zusammenhing, und ganz beruhigt und kindlich vertrauend auf jene Mächte, die zu den »Geheimnissen der Götter« gehören, schlief ich endlich ein und fuhr traumlos dem Norden zu.