Jean Paul
Des Geburtshelfers Walther Vierneissel Nachtgedanken über seine verlorenen Fötus-Ideale
Jean Paul

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Jetzt, da ich die Ideale zu betrauern anfange, werde ich wohl nichts Neues mehr aus dem Alten schneiden, sondern bleibe – wie die 74 anatomischen Vorschneider der Physiologie den Menschen gut genug definieren – das einzige Tier, das ein paar Hinterwangen hat, worüber noch dazu ohne Not die Vorderbacken erröten wollenBekanntlich unterscheiden wir uns von den Affen nach den Naturforschern auf diese Weise von hinten..

O ihr edeln Jünglinge! Fahren und wachen eure Träume einer idealen Zukunft bloß zu einem prosaischen Gähnen der Gegenwart auf, so weinet mit mir und nehmt mein Schnupftuch; auch mir sind herrliche Träume zu Wasser worden, die ich als Fötus gehegt, und das Ende des längsten Schlafes war das Ende des schönsten Traumes gewesen.

Ich hatte so viele Gründe – als ich nachher angeben werde – zu träumen, was ich einst müßte in der Welt werden, wenn ich in sie käme durch die Geburtshelferinnen; nämlich auf dem Lande ein Jupiter, auf dem Meere ein Neptun, im Eden-Garten ein Gartengott, kurz, immer der Ortsgott, der Gott loci . . . . . den Geburtshelfer Vierneissel schreibe ich mich jetzt.

Noch dazu waren meine Träume mehr Schlüsse, und es muß, wenn ich fortfahre, was nur Fötus 75 gewesen, fast in Erstaunen setzen, über das Wenige, was man wird: aus einem Fötus etwa höchstens ein Schriftgelehrter oder ein Schriftsässiger – ein Oberbeichtvater oder ein Beichtsohn dessen – ein Feld- – ein Bartscherer – ein Ritt- – ein Deutsch- – ein Wildmeister – ein Fuhr- – ein Edelmann – ein Meß-, ein Geburtshelfer – kurz, jedenfalls ein Mensch.

Aber wie anders und größer sind die Aussichten eines Punctum saliens, Embryos, Fötus! – Ich mochte kaum zwölf Stunden alt sein vor meiner Geburt, als ich schon aus einem entschiedenen Nichts ein großer Kopf geworden war, und noch dazu ohne alles dumme hors d'oeuvre von Rumpf. Ich war ganz Kopf – und war, wie die Vollkommenheit und Ewigkeit sich abbildet, nämlich zirkelrund; dies ließ auf Zukunft schließen. Meine Mutter vergaß über mich (so sehr wußte meine Erscheinung sie einzunehmen) Essen und Mann, ja meine erste Gesellschaft machte ihr jede andere zum Ekel, und die erste Bewegung, die ich wie große Feldherrn auf dem Kontinente erregte, war die umgekehrt-peristaltische, die zum Übergeben zwingt.

76 Nach einigen Tagen stieß zum Kopf schon ein gutes Herz; – kein drittes Glied saß weiter an mir pium corpus – ich konnte folglich, wenn beide sich so fort ausdehnten, wie sie angefangen, ein Doppellauter von Enzyklopädisten und Madonna zugleich, ein Doppelchor von Argus und Engel werden, wenn nicht sechsmal mehr.

Ich staunte mich ganz an, als ich mich nach zwei Wochen schon so groß fand wie ein Hirsekorn und nach fünf gar wie eine Bohne; fährt diese seltene Streckbarkeit, sagte ich, nur erträglich fort (wie sie denn auch 9 Monate fortfuhr, indem ich von 1/100 000 Gran bis zu 500 000 Granen Gewicht aufwuchs), so stichst du einst mit dem Kopf über den Dunstkreis hinaus und hast den Wolkengürtel um den Magen als Pelzweste; der Riese Og müßte dann den Riesen Goliath ziemlich in die Höhe halten, wenn er, da er ein Zwerg ist, dir die Hand küssen wollte.

Mein Rekrutenmaß ist jetzt 4½ Fuß und 1 Strich.

Wenn nun gar, dichtete ich weiter, ein körperlicher Mikromegas deiner Art zugleich Titan an 77 Kopf und Herz ist, so wollte ich wetten, kann ein solches achtes Wunder der Welt Wunderwerke verrichten, alle Männer erleuchten, alle Weiber erwärmen und jeden, der es nicht haben will, tot treten. – – O Blütenträume der einzigen kurzen Fötuszeit, welche Schiller in seinen Gedanken über die verlorenen Ideale so blühend und blätternd besingt!

In der siebenten Woche stieß ich, nachdem ich lange danach gegriffen und gefußt, leicht zwei Arme und zwei Füße aus mir vor und konnte damit bequem nach fremden Dingen greifen und fußen.

In der neunten sah ich aus (die Vollkommenheitszirkel waren schon quadriert) wie ein Mensch im kleinsten und wie ein Mann dazu; ich schloß sofort auf Geschlecht überhaupt und auf meines partiell und beharrte nachher bei demselben. Himmel, bedenke ich, mit welchen langen Anstalten alles, was ich mir in der siebenten und neunten Woche mit kurzem angeschafft, auf der Erde wieder restauriert (ergänzt) wird, so habe ich in der Tat meine Gedanken darüber!

78 In diese Zeit mochte es fallen, daß sich mein Kopf umsah und vorfand, wie sich ein Rumpf, fast so groß wie er selber, unter ihm anschließe. Wahrlich, eine solche windige Wirklichkeit, wie jetzt wirklich um uns her in derselben existiert, daß der Rumpf sieben Kopflängen und der Kopf nicht mehr als seine eigene einzige mißt, dergleichen fällt keinem verständigen Fötus auch nur ein, der vielmehr vernünftig so schließt: »Ist jetzt am runden großen Menschenkopf der Leib nichts weiter als der dünne Stiel an einem wahren Reichs- und Schönheitsapfel, verhält sich vollends das Herz im ganzen wie 3 zu 2, so ist der Fötus ein Ausbund und kann Großes aus sich machen.«

Das Große sieht man, wenn man geboren wird und reift. Wägt nur das Herz eines erwachsenen Hundertpfünders wie ein vergrabenes Pfund Fleischgewicht, oder zählt dessen spätern Andanten-Schlag gegen das Fötus-Prestissimo – man nehme z. B. meines –: so ist leicht begreiflich (da das körperliche Herz die Kapsel des geistigen ist), wie ich jetzt imstande bin, gegen 79 ganze Menschen-Regimenter entschieden kühl zu sein – gegen einzelne Individuen mich zu erhitzen mit Zornfeuer – viele bei den Ohren zu nehmen, ja manche hinter solche zu schlagen. Ist dies aber das Herz, das sich ein Fötus verspricht?

Aber ordentlich, als sollte ein junger Mensch im Uterus überall zum lügenden Vor-Nativitätssteller seiner selber werden, nicht einmal als diseur de mauvaise avanture behält er recht, sondern weissagt, wie Jonas, Böses, ohne zu treffen. Ich halte mich hier nur an das bekannte tierische Schwänzchen, das ich, wie alle Menschen, in den ersten Monaten getragenAm Rückgrate des Fötus erscheint das Steißbein (os coccygisaus Mangel an Fleisch in der Gestalt eines kleinen Schweifs. und das man noch findet an mehr toten Exemplaren in Weingeist. Anfangs will ein solcher Exponent eines Tiers – gleichsam ein prophezeiender Schwanzsternschweif – einem gebildeten edlen Fötus mit Recht nicht in den Kopf; dadurch, durch den Schweif – so mutmaßt der Fötus vor der Hand 80 – hänge er ja ordentlich mit der geschwänzten Affen-Innung zusammen und es sei so viel, als hänge er das Schweifchen als Handwerks- und Handelszeichen von Tier & Cie. aus. Mich dünkt, der junge winzige Mensch kann, noch so unbelesen in der Naturgeschichte – von welcher er weniger ein Leser als Paragraphus ist – und bei ebenso kleiner Weltkenntnis wie großer Unschuld, aus dem Schwänzchen nie einen andern Schluß ziehen, als daß der tierische Umschweif oder Pavians-Namenszug nur gar zu klar seine Erdenzukunft gleichsam mit einer Titelblatt- oder Schlußvignette ansagen wolle. Ich sehe – sagt der stumme Fötus – daß ich diesen Endreim (bout rimé) hinter mir an mir habe, damit ich ihn ausfüllen soll mit passenden Gedanken nach meiner Geburt; und der Teufel hole es! Freilich nimmt später jeder sittliche Fötus – und wer von uns bleibt nicht einer nach der Geburt – das Rückgratschwänzchen als Unehren-Bogen zurück (wie der reifende Frosch das seinige in Hinterfüße verwandelt) und zieht dieses verhaßte Bierzeichen des Tiers, wie ein Mönchskloster, 81 ein und kleidet's in Fleisch. Wird also ein Mensch später, wenn er geboren ist, ein wahrer geschwänzter Pavian im Leben, so setzt er nur seine Unschuld fort, nicht die kindliche, sondern die embryonische.

Wir kehren aber lieber wieder in den Mutterleib zurück.

Bedenke ich nun, wie damals und allda meine Wohnung mit mir selber wuchs und wie schnell dazu – denn im ersten Monat bewohnte ich nur ein Grasmückenei, woraus ich mich im zweiten in ein Gansei erhob; bis ich im dritten ein Straußenei bezog –: so muß wohl ein Fötus, wenn er denken kann, sich in den Kopf setzen, er werde künftig von Luftschlössern in Luftschlösser und endlich in Ätherschlösser ziehen und von der Beckenhöhle in Didos Höhle, in Rosenmüllers Höhle bei Muggendorf und in der Höhle des Montesimos, wenn er nicht gar sich schmeichelt, als Weltseele das Orpheus-Ei der Welt zu beseelen. Ein Irrtum, der ebenso verzeihlich ist, wie wenn der Fötus voraussetzt, daß er einmal, weil er neun Monate lang Schwimmstunden nimmt, 82 als der ausgelernteste Schwimmer kursieren werde, und zwar zufolge des crescendo im Wachsen, als Walfisch.

– Im vierten Monat zahnte ich schon, – ob es mir gleich weder bei meiner flüssigen Kost, noch draußen auf der Welt viel half, weil die Zähne ihr eigenes Zahnfleisch zuerst käuen und zerreißen mußten. –

Auch mit Gehörknochen versah ich mich, wiewohl noch keine Kollegien zu hören waren; desgleichen mit einer großen Gallenblase, als hätte ich vorausgesehen, daß ich in eine Welt kommen würde, wo die Ergießung derselben noch zweckmäßiger ist als die des Herzens.

Indessen wurde meine Sehnsucht nach der dummen Erde, worauf man nur ein Köter oder Kotsasse des Universums ist, immer heftiger, so daß ichBekanntlich steht das Kind in den letzten Monaten vor der Geburt auf dem Kopfe. mich deshalb auf den Kopf stellte, teils um meine alten Verhältnisse mit dem H– anzusehen, teils um zu beweisen, daß ich auf meinem Kopfe (monatelang) bestehen könnte, teils 83 um der vornehmen Erdenwelt (wofür ich sie noch hielt) mich bei dem Eintritte von der höflichsten und wichtigsten Seite zu empfehlen, indem ich in den Gesellschaftssalon mit dem Kopf eintrete. In der Tat wird Fötibus, die der Welt aus Mangel an Welt zuerst den H– oder die Fersen weisen, die schlechte Lebensart schon von Hebammen, diesen Türsteherinnen des Lebens (portières), grob genug eingetränkt.

Ich tat natürlich, was ich konnte; die neue Welt, in die ich aus meiner Höllenfahrt wie VespuziusAmerigo Vespucci (geb. 9. 3. 1451 zu Florenz, gest. 22. 2. 1512 zu Sevilla) war ein italienischer Seefahrer, nach dem der Erdteil Amerika den Namen erhielt. Amerikus fahren wollte, schimmerte und spornte mich unglaublich an. – Ich durfte, wie gesagt, auf Progresse rechnen und zum wenigsten annehmen, ich würde dem Leibe nach so etwas von Heidelberger Faß und Erfurter Glocke im Kleinen und dem Geiste nach das große, den Seelentag regierende Licht und nachts eine lebendige Milchstraße. – Überdies wird wohl jedem Fötus, der keinen anderen Umgang hat 84 als seinen eigenen, am meisten die Zeit lang. Freilich Zwillinge, Drillinge, Vierlinge, die gleichsam schon wie Residenzstädter in Klubs und Kasinos leben, wissen davon nichts. Aber ein Kron- und Erbfötus, der drei Viertel des Jahres ohne Gesellschafts-Kavaliere und Ehrendamen im Uterus ausharren muß, lechzt nach seinem Hofe, daher ein solcher auch gewöhnlich seiner ersten Langweile mit solchen forcierten Eilmärschen entspringt, daß er oft halbtot und (wie jeder Fötus) atemlos und unbrauchbar anlangt.

Wir brauchen uns nicht zu übereilen im Beschreiben; – kein Lever, kein Eintritt bei Hofe ist so wichtig wie der in eine Erde, wo ja sämtliche Höfe und Vorhöfe wohnen. – Ich tue demnach lieber wieder hundert Schritte zurück, um mich und die Leser so lange im Uterus festzuhalten, bis wir die schafmäßigen Vorstellungen des Fötus von seiner Zukunft durchgegangen haben.

Wie gesagt, ich hatte da andere Hoffnungen, nämlich die allergrößten vom Erdenleben. Und warum nicht? – Ein Fötus wie ich oder der 85 Leser – im einzigen gesunden, warmen Klima ohne Wechsel der Jahres und der Tageszeit wohnend – ernährt wie ein Dorfbettler von seinem Wohnorte – teil an allem habend, was seine Landesmutter genoß – im eigentlichen Sinne von Liebe umfaßt, mit seinem Herz und Glück am Fremden hängend und liebend wie dieses von seinem – dabei ohne alle Nahrungssorge, außer etwa der, daß er zu dick würde, weil er ein solches indisches Vogelnest bewohnte und verzehrte als Mußteil, daß der nachherige Kindtaufschmaus nicht einmal als eine gute Henkermahlzeit ausfiel – – – ein Fötus, der dergleichen blühende Vorlenze erfährt, gerade im unbesonnensten und feurigsten Lebensalter (denn 15 Jahre später regiert natürlich ruhiger, kalter Verstand), der ist freilich nicht der Mann danach, von der künftigen Erdenschererei sich etwas träumen zu lassen. Aber völlig schnappt er über und sieht umgekehrt die leere Erdenbaßgeige für einen Himmel an, wenn er gar über seinem geistigen Wachstum etwas vermuten will. Schon vor neun Monaten mit einigen Sinnen 86 beschenkt, schließt er, was er vollends von künftigen 180 Monaten an Sinnen zu erben habe. Was hofft er nicht für Liebe von dem näheren Zusammenleben mit so viel tausend Seelen, an sie durch ein geistigeres Band geknüpft, als die jetzige Nabelschnur ist? Was verspricht er sich nicht für Kenntnisse von so unzähligen Predigten und Lehrstühlen, Musensitzen, Zenos-Gängen und klassischen Böden, diese verglichen gegen seine jetzige dunkle Delphische Höhle? – Ja, ein solcher dummer Fötus (ich verhehle meine Jugendsünden vor der Geburt nicht) folgert sogar, er müsse, wenn er schon als schwaches punctum saliens (Hüpfpunkt) seine billionenmal stärkere Mutter in seiner Gewalt gehabt, draußen noch großstämmiger als sie, in der Tat als Schwungbrett der Menschheit, als ein Mastbaum langer Staatsschiffe dahinziehen. – –

Nun, ob ich Mastbaum wurde, wird man messen, wenn ich erscheine! Denn endlich erscheine ich. Mit einem Worte, als ich fühlte, von welchem Gewicht ich wäre, nämlich von sieben Pfunden, betrieb ich viel ernstlicher die Sache – setzte 87 vorher die nötigsten Haare auf, um, so halb und halb von Natur frisiert, wenigstens nicht so scheitelkahl in die Welt zu laufen als künftig auf ihr – ich machte mich mobil zum Weltfeldzug – kurz, ich drückte ab zum Königsschusse meines Daseins . . .

Himmel und Hölle! Ich kam auf die Welt! Und zwar auf die jetzige hiesige!

Zum Teufel! Meinen Eltern wurde ein junger Vierneissel geschenkt!

Etwa dreißig oder vierzig Matrosenflüche hintereinander (denn diese sollten mein entsetzliches Geschrei vorstellen, weil ich noch nichts von der Landessprache der Erde innen hatte) stieß ich aus zum Exordium und Eintrittskompliment, sobald ich den hübschen Erd-Siechkobel nur in die Augen bekam, vor welchem ich so lange mit blühenden Hoffnungen antichambriert hatte; – nachher gähnte ich (wie jeder geborene Fötus) abscheulich lange über das Erdbodenleben; auch noch setze ich gelegentlich dieses Gähnen in größeren, feineren Zirkeln fort, um bei allem Schweigen doch offenherzig den Mund zu öffnen und offen zu sein.

88 »So, ihr Erwachsenen? (Dies wollten ungefähr meine Fraggedanken sagen) – und auf dieses Fegefeuerland sehe ich mich nach neun Honigmonaten ausgesetzt und wie ein junger Hund sofort mit einem dem Fötibus ganz fremden Elemente ersäuft, das ihr euere Lust benennt? – Die Mutter wird freilich entbunden, aber wie wird ein kleines Vierneisselchen eingebunden und in rauhe Kissenschollen eingesargt, und der Prophet Jonas wird ins Lustmeer geworfen, um das Schiff zu retten?« – Ohne weiteres drückte ich mir, aus Instinkt und ohne einen genossenen Bissen und Tropfen der Tölpelerde, Maul und Augen zu, vielleicht zum Selbstmord, um das künftige Paradies, oder zum Einschlaf, um durch Traum das Verlorene zu erobern. Ich wurde verflucht wild; ich konnte mir gar nicht denken – zumal da ich ohnehin nicht dachte – daß ich als ein gleich anfänglicher Wunderfötus nichts weniger werden sollte als das Lübecker Wunderkind, Christian Heinecken getauft, das schon im ersten Jahre mehr von der Bibel auswendig konnte, als andere Leute im letzten 89 übertreten oder vergessen haben. Man riß mir später das Maul auf, um mir den Kredenzbecher des Lebens (so wie es der Abschieds- und Nachtmahlskelch ist) zu reichen – das Arzneiglas, oder unseren ersten wie letzten – Löffel, den Medizinlöffel.

In einem Laxier- oder Kindersäftchen brachte ich den ersten Toast oder die Gesundheit aufs Leben aus.

Einige Tage darauf hatte ich eine neue Promotion und disputierte mich mit vielem Geschrei in der kalten Kirche zum Titularchristen Walther.

– – Ich wäre aber von Sinnen, führe ich so fort, nämlich nicht anders fort, da ja jeder, der es liest, selber am Leben ist und folglich dasselbe kennt und stündlich weiter erlebt. Genug, jeder weiß von selbst, daß meine Treibhaus-Existenz im Uterus nur, wie schnelles Steigen des Wetterglases, Unbestand und Regenwetter bedeutete. – Aus den ausgezogenen Fötusschuhen fuhr man in die Kinderschuhe. – Statt der oberen Glieder wuchsen auf dem Erdboden (nach allen Zergliederern und nach Martini) mehr die unteren bis ins 21. Jahr.

90 Auch von innen wollte der Kopf nicht erheblich schwellen; Jahrlängen hat man zum Erobern von Wissenschaften, z. B. der Geburtshilfe, nötig, die man nachher in einer Stunde überschauen und überlaufen kann, wenn man will. – Vom sittlichen Wachsen vollends schäme ich mich ordentlich nur zu sprechen, da es an dem sich immer krumm werfenden Menschenholze mehr als eine Evas-Schlangenlinie gibt, die ich ebensogut durch Schmerz und Erheben gerade ziehen und rektifizieren will als den Schwanz eines Hundes, wenn ich ihn daran emporhebe und wieder niederwerfe. Welcher Neun-Monats-Heiliger ist nicht jeder Leserfötus gewesen, als er im Uterus-Kloster Profeß getan und den Schleier genommen hatte! Hat wohl einer meiner Leser in dieser Frühkirche Ehebrüche, Einbrüche, Wortbrüche begangen oder da verleumdet, totgeschlagen, verschwendet? Fiel nicht alles erst vor, als er aus der Klausur getreten war in die freie Luft, wo, wie in der Amsterdamer, das reine helle Silber sofort schwarz anläuft? – Die stärksten peinlichen Gerichtsschranken eiserner Altargeländer, Galeerenketten 91 und Fußblöcke halten uns jetzt kaum zurück und fest, wenn wir ins Rennen und Toben geraten, und sind nur schwächliche Küstenbewahrer einer Unschuld, welche ein einziger Uterus ganz leicht bewacht. Welche ungeheure Mauern muß man nicht monatlich von Predigtbücherballen, Kansteinischen und Seilerschen Bibelanstalten und lateinischen Actis sanctorum aufführen, gleichsam als Licht- und Ofenschirme gegen die Höllenflammen, damit wir Teufelsfliegen nicht so lange diese immer näher umschwirren, bis wir mit abgebrannten Flügeln hineinfallen? – Rabelais ließ seinen jungen Pantagruel an cinquante-deux manières de se torcher le cul erfinden und angeben; eine bedeutende Zahl; aber welche Menge von geistigen Manieren oder von besonderen Methoden zu bekehren, mußte erfunden werden, welche Menge von Hirtenbriefen – von Ablaßbriefen – Beichtzetteln – Schmutztiteln von Predigtbüchern, um einen tragbaren und wandelnden Augiasstall im Kleinen, einen Erwachsenen von 5 Fuß zu reinigen?

Nur erst in neueren Zeiten wird uns das 92 Doppelleben, das wir zugleich für den Himmel (aus Angst vor der Hölle) und für die Hölle (aus Vorliebe für die Sinnenhimmel) leider zu führen haben, weniger sauer gemacht, indem wir durch Philosophie und Poesie das sog. Irdische und das Himmlische jetzt sanfter trennen und besser ineinander verflößen und vorzüglich der irdischen Lust und Sünde mehr himmlischen Anstrich von Stärke, Charakter, Lebensfülle, Poesie und dergleichen erteilen, so daß, da der Unterschied, folglich das Opfer und die Angst, kleiner geworden, es fast einerlei ist, was man tut, weil man immer zweierlei zugleich tut. Jener DoppelhaseUnterhaltungen aus der Naturgeschichte. Die Säugetiere, Bd. I (1792)., in Geutschens Garten bei Ulm gefangen – er kam nachher ins damalige königliche Kabinett zu Chantilly durch den Grafen Hanau – diese Mißgeburt setzte meinen Satz bildlich ins klare. Beide Hasen waren so mit ihren Rücken ineinander eingewachsen, daß der eine Haupt und Läufe gegen den Himmel strecken mußte, wenn der andere, auf dem er lag, mit 93 allem diesem über die Felder setzte und abfraß, und so umgekehrt, weil sie sich wechselseitig umkehrten; denn war der eine Hase des Laufens und der Äsung satt, so stülpte er sich mit allen Vieren gegen den Himmel, und nun konnte auch der Ferienhase auf der Erde laufen und äsen. Ein solcher Doppelhase (mehr wollte ich oben nicht sagen ohne Bild) ist nun der gute Jetzt-Mensch von Bildung; immer kehrt er vier Läufe und zwei Löffel nach oben, um seinen Wandel im Himmel zu führen, indes er mit den entgegenstehenden auf der Erde umhersetzt und satt wird.

Wir kehren wieder im Mutterleib zurück; ungeachtet dieser schönen Ähnlichkeit mit der Ulmer Mißgeburt bleibt man doch hienieden von entschiedenen Nichtswürdigkeiten nicht ganz frei, die kein rechtlicher Heiliger gern an sich hat und sieht. Unser unten auf der Erde laufender Hase sammelt, wie der Riese Antäus, gegen den anderen im Äther wackelnden Hasen und Herkules verdammte Kräfte ein und übertreibt es dann als Teufelsvorlauf in Sünden aller Art. Aber was ist denn allein Schuld? Bloß die so 94 unbesonnene Verlegung der Fötus-Residenz aus dem Uterus auf die Erde; sie erzeugt auffallend die Folgen, welche eine ähnliche Verlegung der Residenz aus Rom nach Konstantinopel gehabt, nämlich Verfall Roms (des Sitzes des heiligen Vaters) und seiner Herrschaft.

Ich stelle mir lebhaft jetzt das Erstaunen vor, in welches ich die Welt dadurch setze, daß ich mich dessen ungeachtet auf die Geburtshilfe gelegt und auf die nötigen Hilfswissenschaften dazu, wodurch alle zusammen auch eine Selbsthilfswissenschaft wurden. Aber die Welt soll hier hinter alles kommen. Die ersten Jugend- und vollends Fötus-Eindrücke haften; ich wollte für die guten Welt- und Uterus-Bürger, die nachher zu Erden- und Stadtbürgern heruntersinken, vorher mehr tun, als für mich niemand getan. »Denn warum soll,« fragte ich niemand als mich, doch ein so unschuldiges Wesen, insofern das Universum eigentlich die Stadt Gottes (civitas dei, nach Augustin) ist und nur unsere Erde darin die Pariser Rue des mauvais garçons - des mauvaises paroles - du 96 pet-au-diable - de la cochonnerie - oder das Wiener Hundsfott-Gäßchen vorstellt, warum soll ein armer unbekannter, unbenannter Teufel von Fötus erst durch eine solche Hundsgasse den Umweg nehmen nach einer herrlichen Rue de Rousseau, Rue de deux anges, Rue de la loi, Friedrichstraße, Markusplatz? Läßt sich nicht helfen?«

Wenigstens helfe ich bei Gelegenheit als Geburtshelfer und berufe mich auf Tatsachen.

Es ist hier nämlich bloß die große Frage, ob irgendein Fötus von Verstand, der auch nur den schlechtesten Geburtshelfer kennen lernte, je Unzufriedenheit darüber gezeigt, daß er von einem solchen durch gute Geburtszangen – durch die geraden und die krummen von Smell, von Beers, von Saxtorph – wie durch Hebel und Springstab aus der guten warmen Welt ohne weiteres über unsere naßkalte in einer Minute hinüber in jene beste gehoben worden, der wir als unserem Vaterlande und Kanaan 80 Jahre lang mit unseren sittlichen Silber- und Korkflotten zusteuern.

97 Allerdings ist das verdienstliche Werk dabei nicht groß; denn die besten Werkzeuge dazu, samt den nötigen Theorien, hat ein Geburtshelfer, der sich zum Wiedergeburtshelfer bilden will, ja frei und in der Hand, indes nur letzte in England und Deutschland den Wehmüttern als Müttern des langen Erdenwehs verstattet wird. Der gute, der rechte Akkoucheur (kein Wehvater) hält seine Geburtszange (es sei die krumme oder die gerade) und legt sie für den Fötus, wie der Pariser Savoyardenjunge sein armlanges Brückchen über eine Gasse so hin, daß der Fuß- oder Kopfgänger ohne weiteres über die Pfütze des Erdenlebens hinüber gelangt in die Jean-Jacques-Gasse oder in Voltaires Viertel im neuen Jerusalem. Und so zieht eine bloße Zange mehr Seelen und reine Jungfräulein in den Himmel als selbst ein Papstschlüssel. Langt gleichwohl zuweilen die Zange oder Gabel nicht aus, so hat der Wiedergeburtshelfer ja sein Impf- und Vorlegemesser des Himmels bei sich, womit er das höhere Erbvorschneideamt verwaltet, durch hiesiges Verkleinern der Geburt, welches durch den Geist überirdisches Vergrößern 98 wird. – Hier eben bei dieser Wetterscheide auf dem Kreuzwege zweier Welten muß der Geburtshelfer zeigen, ob sein Kunsteisen eine ableitende Wetterstange der hiesigen Gewitter ist und ob er Synthese und Indifferenzierung der Geburts- und der Sterbelisten in Gewalt hat oder ob er, erbärmlich genug, nur immer darauf losangelt, daß etwas soll getauft und folglich benannt werden (wiewohl noch dazu mit einem abgeborgten Namen); als ob es nicht hinreichend wäre, daß ein Wesen existiert hätte, und nicht schön wäre, daß es wie ein Wohltäter oder wie ein durchreisender Fürst anonym geblieben. Mehr als ein Heidenbekehrer prahlt mit bekehrten Christenseelen, die ihm künftig mit Frauenzimmer- und Spieß- und Treffdank für gerettetes Heil entgegenkommen; – ich schwacher Walther Vierneissel sehe mit hundert französischen Akkoucheurs, ja noch mit mehreren Wehmüttern, ähnlichen Danken für Rettung unbefleckter Empfängnis – entgegen. Hier ist kein König Pharao und Herodes, die beide etwas spät mit Wiedergeburt zu Hilfe kamen; – hier ist kein jetziger König 99 von England, der kein Todesurteil unterschreiben konnte, weil er toll war, so daß die größten Missetäter so lange am Leben und in Ketten blieben, bis er wieder zu sich kam und bis erst darauf die strangfähige Exspektantenbank an den Galgen kam; sondern hier ist von Geburtshelfern die Rede, welchen ein Britenkönig nur alsdann ähnlich wird, wenn er wieder bei Verstande ist und dadurch das Recht zurückbekommt, kleine Hinrichtungen, ja die größeren des Krieges, als ein Mitkämpfer um das volle heilige Grab der Menschheit zu unterzeichnen. Mit einem Worte: gute Geburtshelfer überheben den noch unbefleckten Fötus des hiesigen Prüfungsstandes und des tentamen und examen rigorosum des Lebens ganz und gar und stellen ihn sogleich auf seinem rechten höchsten Posten an, welcher nicht wohl anders als in der zweiten Welt sein kann. Denn diese sehen die Akkoucheurs für eine verbesserte, vermehrte Auflage der ersten an, so daß z. B. die hiesige kurze Bratwurst dort aufersteht als eine Königsberger 596 Ellen 100 langeIn Wagenseils Unterricht für einen Prinzen, woraus wieder Lichtenberg die Sache gezogen., 434 Pfund schwere und im Jahre 1583 aus 33 Schinken gemachte Wurst. So geben sie schon unter der Geburt dem Fötus voll Uterus-Ideale die beste Welt, anstatt unserer desperaten, sogleich in die Hand, so wie sonst deutsche Personen Wielands »Goldenen Spiegel« oder Lichtenbergs Taschenbuch sogleich in der freien französischen Übersetzung oder Verklärung lesen, ohne das rohe, deutsche Urbild nur vorher anzusehen . . .

Ich beschließe den Aufsatz und, wie ich hoffe, künftig auch das Leben, ein wahres Todsündenleben. Muß ich nicht, wenn ich als rechtschaffener Mann leben will, so manchem künftigen Gaudieb und seiner Gaudiebin meine Hand leihen, damit sie geboren werden und dann wieder für den Himmel Froschquappen von verklärten Fötussen erzeugen? – Zum Glück bricht mir ein Abend nach dem anderen am Leben, wie Raucher im Klub an einer holländischen Pfeife, ein ansteckendes Stückchen ab; fährt dies 101 (wie gewiß zu hoffen) so fort, so werde ich aus dem Pfeifenstummel endlich ganz Pfeifenkopf (so wie ich als Embryo nichts als Kopf gewesen); und so will ich mich denn jetzt mit schnelleren Schritten als sonst meiner eigenen Wiedergeburt nähern, indem ich täglich mehr durch die Jahre zu jenem Zweck im Kinde reise, von welchem zum zweiten Fötus und Uterus keine Sarglänge mehr weit sein kann. Dann aber müßte der Teufel sein Spiel von neuem treiben, wenn ich dort doch wieder nichts würde als ein Mensch und Geburtshelfer, namens

Walther Vierneissel
Accoucheur loci
       

 


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