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Seine Kindheitsgeschichte ist bald erzählt.
Unter einem Busch, in ärmliche Decken gehüllt, hatten sie ihn gefunden. Kein Mensch wußte, wer seine Eltern waren. Da man ihn nicht verkommen lassen konnte, taufte man ihn und übergab ihn einer Alten, die für seine Pflege etliche Lire von der Gemeinde erhielt.
In seinen ersten Lebensjahren lag er halbnackt, wenig beaufsichtigt auf dem Anger hinten im Dorfe und ließ sich von der Sonne bescheinen. Tag für Tag ruhte sie auf ihm mit brütender Wärme, bis sein kleiner Leib die gesunde Farbe bräunlichen Goldes angenommen hatte und seine Augen und Lippen vor Leben brannten. Da begann er Purzelbäume zu schlagen und zu kreischen vor Lust.
»Das Tier,« sagte der Gemeindeälteste, nahm ihn dem alten Weibe weg und gab ihn zu einem Steinklopfer in die Kost.
Er war unbändiger als die bösen Rangen seines Ziehvaters und lag sich mit ihnen beständig in den Haaren. Trotzdem er so viel Prügel erhielt, daß seine geraden Glieder wie ein Wunder erschienen, entfaltete er sich von Tag zu Tag blühender.
Sobald er soweit herangewachsen war, gab man ihn in die Schule. Er lernte nichts, stahl aber wie eine Elster.
Manchmal verschenkte er von dem Gestohlenen, denn er war gutherzig; nur liebte er es, sich satt zu essen und hie und da ein Spielzeug zu besitzen.
In der Religionsstunde benahm er sich frech und zeigte vor dem Erhabensten keinen Respekt. Wenn von den Foltern der Heiligen die Rede war, von den Bußen und Geißelungen, denen sie sich Christus zuliebe unterzogen, lachten seine sonnentrunkenen Augen: Pazzi! Und wenn man das Leiden des Herrn schilderte, verzogen sich seine Lippen verächtlich und zeigten die weißen, nach der derben Kost des Diesseits begierigen Zähne.
Je mehr Prügel er von seinen Lehrern erhielt, je mehr Hunger er litt – der Steinklopfer bedachte zuerst die eigenen Kinder mit den kargen Bissen, die er zu verteilen hatte – um so lauter und lärmender wurde er. Als er zum erstenmal im Beichtstuhl kniete und ohne Spur von Reue seine Sünden bekannte, flüsterte der Pfarrer:
»Sag, Gaetano, wirst du immer so schlecht bleiben oder wirft du endlich anfangen, ein braver Junge zu werden?«
Da stieß der Junge die Zähne zusammen.
»Das ist für des Syndacos Antonio oder die jungen Conti Calvo.« Und der Pfarrer schauderte und dachte: In Grund und Boden verdorben. Da ist nichts mehr zu bessern.
Gaetano verließ mit seiner mißhandelten Seele so trostlos die Kirche wie er sie betreten hatte. Draußen warf er mit Steinen nach einem Vogelnest und trottete nach Hause.
Als er lesen und seinen Namen schreiben konnte, nahmen sie ihn aus der Schule.
Nun saß er neben seinem Pflegevater auf der Straße und zerkleinerte Steine. Sie hatten ein Fläschchen Wasser und etliche Stücke Polenta neben sich. Es war eine heiße, staubige Straße, auf der sie arbeiteten. In schroffen Serpentinen führte sie empor zu einem vornehmen Hotel, dann weiter durch Wälder und Täler, durch elende Dörfer mit gelben, halbzerfallenen Hütten. In der entgegengesetzten Richtung zog sie sich nach Bozen hinab, wo die dicken Pfirsiche und die tropfenden Trauben in den Gärten gediehen, wo die feinen Wirtshäuser mit den schwellenden Betten standen, in denen die Trägheit reisender Prasser die herrlichen Sommermorgen verschlief. Wenn Gaetano nichts zu tun hatte, an Sonn- oder Feiertagen, lief er über den Berg hinab nach Bozen, stellte sich vor einem dieser Gasthöfe auf und betrachtete, die Hände in den Taschen seiner zerrissenen Jacke, die Aus- und Eingehenden. Und er sog den Bratenduft ein, der herausströmte, und sah den Gästen zu, die zwischen Oleanderbäumen vor dem Hause saßen und viertelstundenlang auf der Speisekarte suchten, bis sie gnädig sich für ein Gericht entschieden.
An einem solchen Sommersonntag – sie hatten in der vorhergehenden Woche nichts verdient, weil der Regen in Strömen gefallen war – stand er mit einem Magen, der vor Hunger wie eine junge Katze winselte, vor dem »Greifen«.
Eben als er sich an die Mauer neben dem Eingang lehnt, weil ihn schwindelt, kommt ein Herr in hellem Sommeranzug heraus. Sein Gesicht glüht noch von der genossenen Mahlzeit. Er stochert in den Zähnen, zündet sich eine Zigarre an und winkt träge einen Fiaker herbei. Im Augenblick, als er in den Wagen steigen will, sieht er das schmale Knabengesicht dicht vor sich, zwei Augen, die ihn in finsterem Hasse anstarren.
Unwillkürlich zuckt er zusammen.
»Was hast du mir Grimassen zu schneiden, Tier?« Er nähert sich drohend dem Jungen.
Der Knabe erblaßt. »Ich ... Grimassen? Ihr irrt Euch.«
Der Dicke gibt ihm eins hinters Ohr und fährt ab. Unter der Tür wird die derbe Gestalt des Hausknechts sichtbar.
Gaetano ist wie der Wind verschwunden. – –
Eines Tages hatte die Zia, die kränkelnde, verrunzelte Frau des Steinklopfers, die Kühnheit, sich hinzulegen und zu sterben. Gaetano mußte jetzt Mutter spielen. Er blieb oft zu Hause und kochte oder er schleppte das kleinste Kind auf den Armen herum und sang dazu Lieder.
Die andern hängten sich dann an seine Beine und wendeten seine Taschen um, um darin ein Krümchen oder ein Spielzeug zu finden. Die große, schwarze, viereckige Kammer, die sie bewohnten, mit ihrem Lehmboden und den Maisstrohbündeln in den Ecken: ihren Betten, war für den Jungen ein trostloser Aufenthaltsort. Lieber noch arbeitete er draußen in der sengenden Mittagsluft. Da sah er die ganze Herrlichkeit Gottes um sich gebreitet.
All die wunderbaren in goldenem Violett schimmernden Berge, die Seen mit ihrem halbversteckten Flimmer, die Täler mit ihren gelben Hütten, ihren üppigen Kastanienwäldern. Oft entfiel der wuchtige Hammer seinen Händen, und er starrte mit angehaltenem Atem hinaus. Es war ein seliges Untertauchen, ein weiches Zuhüllen seines Jammers, eine Zärtlichkeit, die da seinen Blicken begegnete.
Dann fühlte er plötzlich eine Faust im Nacken. »Hundejunge, du faulenzt schon wieder!«
Und er spie verächtlich aus und klopfte weiter die heißen Steine ...
Eines Tages, als sie auf der Straße saßen, es war gegen Abend, kamen ihnen zwei Personen entgegen, der Arzt von S. Zeno und dessen Tochter.
Der alte Mann nickte freundlich.
»Na, Paolo, du hast schöne Hoffnungen für drüben, da du hier soviel Hitze ausstehen mußt.«
Der Steinklopfer blies sich den Staub von den Händen.
»Grazie, Signoria, grazie! Ich hoffe auch auf die ewige Seligkeit, aber, sagt selbst, könnte der gute Gott uns nicht ein wenig, ein ganz klein wenig Vorgeschmack schon hier zuteil werden lassen?«
Der Alte lächelte.
»Hm, hm, hast nicht unrecht. Sei versichert, wenn ich da oben eine Stimme hätte, ich spräche ein gutes Wort für dich.«
»Eure Polenta ist euch wohl sauer geworden, wie?« wandte er sich an Gaetano, der die ganze Zeit über stumm weitergeklopft hatte. Der Junge hob den Kopf.
»Ich weiß nicht, Herr.«
In diesem Augenblick gewahrte er das Mädchengesicht vor sich. Es hatte die Farbe einer blassen Rose, und zwei blaue Augen, blau wie der italische Himmel, blickten aus ihm.
»Poverino!« sagte sie leise, und strich sich die dunkelblonden Locken aus der Stirn. Gaetano sah sie an.
Sie war längst mit ihrem Vater den absteigenden Pfad nach Kaltern hinab verschwunden, und noch immer sah er sie an der Stelle, auf der sie gestanden.
Poverino! Poverino!
Er ließ sich ganz sacht auf den Rücken gleiten und blickte über sich ins Blaue.
Poverino!
War es möglich, daß ihm jemand ein gutes Wort gesagt hatte? Und die! Sie war aus dem Nachbarort, aber er hatte sie noch nie gesehen. Er vermied es, in die Gesichter der ihm Begegnenden zu blicken. Gewöhnlich entdeckte er da einen Ausdruck, der ihn nicht erfreute. »Du Ausbund, du Gassenjunge,« las er in ihnen. Oder bei jungen Mädchen die Furcht vor ihm. Hatte er doch schon mehr als einer einen boshaften Schabernack gespielt, ihnen ein Stück Zopf abgeschnitten oder ein häßliches Insekt in den Nacken gesteckt.
Poverino!
Und auf einmal schrie etwas heiß und wild in ihm auf. Er schleuderte den Hammer beiseite, lief davon und legte sich im Wald aufs Gesicht. Als er am Abend heimkehrte, schlug ihn der Alte.
»Verdammter Tunichtgut! ich werde dir geben, wegzurennen, und dich schlafen zu legen. Essen ja, aber arbeiten, nein. Wart Bursche.«
Gaetano reckte sich auf, und als ihm die Schläge zu toll wurden, umschlang er Paolo mit seinen beiden jungen sehnigen Armen und drückte ihn in eine Ecke. Vor den Kindern tat er's. Sie schrien Zeter und Mordio, denn sie glaubten, er würde den Vater töten. Natürlich war seines Bleibens im Hause nicht mehr. Er ging noch in dieser Nacht fort. Er schlief in den Weingärten und nährte sich von gestohlenem Obst. So trieb er's einige Zeit. Dann wurde ihm das beständige Sichverstecken langweilig. Er ging nach S. Zeno. Nicht weit von der schönen alten Villa, in der sie mit ihrem Vater wohnte, stand eine Schmiede. Hier verdingte er sich.
»Ich kann den Hammer schwingen,« sagte er, und seine Augen funkelten im Bewußtsein seiner jungen Kraft. Der Meister, ein alter, prächtiger Weißkopf, dem die freie Art des Burschen gefiel, behielt ihn. Er arbeitete nur mit einem alten mürrischen Gesellen und erfrischte sich an der Lebendigkeit des Jungen. »Wenn du nur nicht so faul wärest, Kreatur,« sagte er oft in gutmütigem Zorn, seine Hand in Gaetanos Lockenmähne vergrabend.
Ist sie nicht wie eine weiße, schlanke Kerze, die goldenes Licht ausströmt? flüsterte Gaetano, als Margherita vorüberschritt. Ob sie wieder: Poverino sagt?
Und er warf den Hammer weg und lief auf die Straße, ihr nach.
» Bona sera,« stotterte er.
Sie nickte leicht und blickte gleichgültig an ihm vorüber.
Sie erkennt mich nicht mehr, jammerte es in ihm.
Dann kehrte er in die Schmiede zurück und brüllte ein wildes ausgelassenes Lied. Aber sooft sie vorüberkam, wurde er still, und über sein Angesicht flog ein feines Blaß. Dann mochte er stundenlang nichts tun. Und seine Wange in die rußige Hand lehnend, setzte er sich auf die Schwelle und starrte hinaus.
Einmal stellte sich Christophoro, der Schmied, breit vor ihn hin.
»Was meinst du wohl eigentlich von mir? Ich halte dich nur um dich zu füttern, eh? Du Narr, du! Könntest hier Brot und ein Dach haben dein Lebelang, denn ich bin dir nicht gram, aber bei deiner verdammten Faulheit –«
»Ihr seid mir nicht gram? Ha ha ha, Ihr seid mir nicht gram! Weil ich einen besseren Hammer schwinge als Pietro, der Alte, weil meine Lieder Euer Podagra verscheuchen, deshalb seid Ihr mir nicht gram!«
Er verließ auch den Schmied.
Tag und Nacht strich er in der Nähe umher. Und wenn es ihm glückte und er sie sah, vergaß er Hunger und Glut und alle Unbilden und jubelte wie ein vom Christ beschenktes Kind.
Am besten gefiel sie ihm, wenn sie ihr weißes Kleid trug. Wenn der Wind ihr goldenes Haar lockerte und ihre Gewänder an den schlanken Leib schmiegte, daß dessen reine, edle Linien sichtbar wurden. Gaetano spürte bei ihrem Anblick leise, süße Musik durch sich gehen; was die bedeutete, war ihm nicht klar. Er grüßte Margherita, wenn er ihr begegnete, und sie dankte mit ihrem gleichgültigen, zerstreuten Nicken, wobei sie ihn eigentlich gar nicht ansah.
Dieses Leben mit seinen langen, blauen, unausgefüllten Tagen begünstigte seine Träumerei. Er lag irgendwo in der Nähe ihrer Villa im Schatten und starrte auf ihr Fenster. Er sah sie im weißen Linnenkleide, das feine, blonde Haar aufgelöst, die Hände über die Brust gefaltet, wie eine Immaculata. Und dann sah er seinen schwarzen, verwilderten Lockenkopf in ihren Schoß sich schmiegen, und fühlte laue, große Tränen aus ihren Augen auf sich herabrieseln. – Mehr träumte er nicht.
Und da geschah die große Sünde, das Unerwartete, das in jedes Jünglings Leben sich ereignet: die weiße Jungfrau, um die seine anbetende Seele Schleier und Aureolen gewoben hatte, stieg in den Staub der Alltäglichkeit und wurde ein Weib wie andere.
Und der arme Junge sah sich plötzlich vor einem leeren Altar knien. – –
Eines Abends, als sie ausging, um frische Luft zu schöpfen, schritt ein Mann neben ihr. Er war dunkel und sonnenverbrannt, und die Leute sagten, er sei ein Vetter von ihr, der sich lange Jahre auf fernen Meeren herumgetrieben hätte.
Borromeo war schön und hatte etwas Gnädiges an sich, wie reiche Leute, die sich ihres Gutes bewußt sind. Gaetano haßte ihn vom ersten Blick an. Und er sah, wie sie vertraulich ihren Arm in den seinen legte und süß zu ihm redete. Und er sah sie, wie sie beide in ihres Vaters Haus verschwanden. Er raufte sich die Haare vor Elend und Ohnmacht.
Und jetzt auf einmal, da er einen Mann in ihre Aureole greifen sah, erwachten in ihm heiße, wahnsinnige Empfindungen für sie. Jetzt auf einmal wurde vieles klar in ihm, was ihm früher undeutlich war.
»Er ist wohl ihr Bräutigam,« sagte er einmal zu dem Diener ihres Hauses.
Beppo nickte. »Sie werden eben aufgeboten, dann heiraten sie und ziehen von hier fort.«
Sie wurden aufgeboten! Warum nahm sie den? Was hatte er um ihretwillen getan? Hatte er für sie gehungert und auf ein festes Dach über dem Haupte verzichtet, wie er? Lag er Tag und Nacht auf der Lauer vor ihrer Schwelle, um ihren Schatten zu begrüßen, wenn er sich auf den Vorhängen ihres Fensters abhob? Lief er für sie Gefahr, von Karabinieri als Unterstandsloser aufgefangen zu werden? O, dieser gleichgültige, gewöhnliche Mensch, der, ohne zu opfern, zu lieben glaubte, und einfach genoß, wo ein anderer aus Anbetung sich zu Tode hungerte.
Wenn ich ein reicher Mann wäre und vornehme Verwandte hätte, könnte ich auch um sie freien. Und eine feurige Blutwelle stieg Gaetano zu Kopfe. Wie konnte er sich schnell in den Besitz von Geld setzen? Irgendeinem der reichen Müßiggänger das Lebenslicht ausblasen? Ha, das ging! Aber dann war noch immer der andere da.
Der andere! Sollte er gleich zwei Verbrechen auf seine Seele laden?
Und am Ende, wenn er es getan hätte, wenn er seiner Seelen Seligkeit für sie verkauft hätte, wollte sie ihn gar nicht! Ha ha ha!
Die Bauern von Kaltern kamen herauf, spannten ihre Zelte in den Bergwiesen auf und begannen ihre Sommerkampagne, uraltem Gebrauch zufolge, im Freien zu feiern. Gaetano wich ihnen aus. Ihm war alles lästig, was ihn in seinen unablässig auf das Eine gerichteten Gedanken störte. Er fühlte wilde Kräfte in seinen Fingerspitzen glühen, und die friedlichen Bauern mit ihren frommen Gesängen am Abend verbitterten ihn noch mehr.
Diese sanften Gesänge, die Männer und Frauen, um ihre Feuer gelagert, in die tauigen Wiesen hinausklingen ließen, machten ihm das Bild seiner großen, todöden Einsamkeit um so deutlicher. Und er war doch so genügsam! Er beanspruchte nichts weiter, als vor einem Heiligenbild auf den Knien liegen zu dürfen. Aber selbst dieses bescheidene Glück sollte ihm geraubt werden.
Diese aufwühlenden, weich machenden Weisen! Er warf sich auf die feuchte, sommersatte Erde und drückte den Kopf ins Moos. Er zerbiß die Gräser mit seinen weißen, hungrigen Zähnen. Und dann fühlte er wieder das heiße Zittern in seinen sich spreizenden Händen.
Ein Mann sucht immer seine Mutter im Weibe; selbst in den heißesten erotischen Momenten ist er das Kind, das an ihrer Brust ruhend, nach Stillung schreit. Gaetano krankte vor Sehnsucht nach weichen, beruhigenden Händen, nach einem Kleidsaum, auf den er seine ersten heißen Tränen tropfen lassen durfte. Und weil er so wild und verkommen, so ungeliebt und gehetzt war, hatte er sich die Sanfteste, Reinste, Geliebteste, Behütetste ausgesucht – die Lichteste, er der Dunkle.
Du sollst nicht sein werden, sein, des Diebes, der hierherkam, dich zu stehlen, ächzte er.
Als der Augustmond voll und überströmend vor Glanz über die heuduftigen Wiesen zog, verließ er sein Versteck und näherte sich ihrem Hause. Dort kauerte er sich nieder.
Gegen Morgen kam Beppo heraus, eine Laterne in der Hand, und schritt nach dem neben dem Wohnhaus liegenden Stall. Gaetanos Augen begannen zu glühen. Wer ging da fort?
Er vielleicht. Er umschlich den Stall und horchte. Beppo fütterte die Pferde und schob dann das Wäglein aus der Remise. Gaetano steckte sein verzerrtes Gesicht durch die Spalte der angelehnten Tür.
»Ist's Borromeo, der abfährt?«
Der Diener schreckte zusammen, dann einen Fluch über den Eindringling unterdrückend, sagte er rauh:
»Und wenn er's wäre, was ging's dich an, Wegelagerer?«
O, mehr wollte Gaetano ja nicht hören. Er stieß einen heiseren Laut der Freude aus und war plötzlich im Dämmerlicht verschwunden.
Ein Reiter oder Wagenlenker brauchte von hier aus ungefähr zwei Stunden, bis er zur Landstraße kam, die in starken Serpentinen nach unten führte. Der Abfahrende konnte keinen anderen als diesen Weg wählen, da die Straße nach der anderen Richtung hin sich bereits nach kurzem verengte. Gaetano beflügelte seine Schritte. Wenn er bei der ersten Serpentine Borromeo an sich vorbeifahren ließ, war er Herr über dessen Leben und Tod.
Auf der Bergstraße, die erst jüngst vollendet worden war, lagen noch aufgeschichtete Steine. Gaetano verstand gut zu zielen. Ein Granitbrocken genügte, um den Schädel des süßen Borromeo zu zertrümmern.
Den Boden kaum mit den Füßen berührend, flog er dahin, um dem andern zuvorzukommen. Alle Gewalten des Bösen waren in ihm losgebrochen; er ließ sich treiben von ihnen, von dem Blutrausch, dem uralten Erbe seiner Vorfahren in fernen Jahrhunderten.
Einige draußen nächtigende Kühe flohen erschreckt, als der Aufgeregte an ihnen vorbeistürmte. Ein alter Schäfer schlug bestürzt das Kreuz.
Drüben am Horizont, der über den Trienter Bergen voll dunkel geballter Wolken hing, schlich ein fahles Rot hervor und warf seinen ungewissen Schimmer in die Abgründe und Schluchten, an denen Gaetano vorbeikam. Mehrere Male war ihm, als höre er dicht hinter sich Pferdegetrappel. Er sah sich um und rannte weiter. Und plötzlich atmete er auf; er war am Ziel. Da unten beginnt die erste Serpentine, da ist das Lärchenwäldchen, in dem er sich versteckt halten wird.
Sollte sein erster Wurf mißlingen, so läuft er oberhalb der Straße am Felsenkamm weiter, und schleudert so lange, bis er trifft. Der Untenfahrende ist ganz in seiner Gewalt, denn die andere Seite der Straße fällt fast senkrecht hinab. Kein Mensch, viel weniger ein Wagen kann sich dort hinab retten. Vielleicht nur jemand, dem wie ihm ein Würzelchen genug Raum bietet, um daran hängend Tod zu säen. Er wirft sich auf die Erde und lauscht. Da rollt es im Boden, die Zweige über ihm beginnen zu zittern, der Wagen naht ...
Gaetano erhebt sich, eilt die gebüschbewachsene Böschung hinab, erfaßt einen wuchtigen Stein und schleudert.
Das Gespann jagt weiter.
Er hat also das Ziel verfehlt. Im Nu gleitet er über die Felsmauer, überquert die Straße, sieht unter sich auf der zweiten Serpentine die Pferde heranstürmen und wiederholt seinen tödlichen Wurf. Da, ein Krach, ein Knirschen, Schnauben, ein dumpfes Rollen, dann alles still. Die scheuenden Tiere sind in der Tiefe verschwunden. Die Tat ist geschehen ...
* * *
Hinter den Trienter Bergen flammt das Rot auf, und übergießt die Landschaft, die Felsen, Täler und Seen mit Blutschein. Ein fernes Gewitterrollen dringt herüber. Kein Blatt bewegt sich. Gaetano ist wie ein scheugewordenes Tier in wilden Sprüngen nach unten geeilt und zusammengebrochen. Die Ahnung dessen, was er getan hat, dämmert in ihm auf. Er hat getötet. Er hat seine Seligkeit für immer verscherzt. Er ist ein Verfluchter, ein Kain.
Er hat einen Unschuldigen ermordet. Einen, der von ihr geliebt wurde. Traf er sie nicht in ihm, da die sich lieben, eins sind? Vergoß er nicht ihr Blut mit dem seinen, ihrs, ihrs? Er wirft sich in den Staub der Straße.
Verfluchter, Verfluchter! –
Da hört er Stimmen hinter sich.
Um die Biegung des Weges, von oben her, kommen zwei Gestalten. Zwei hohe, schlanke Gestalten, eine Frau und ein Mann. Sie ist weiß gekleidet; blondes Haar fällt ihr über die Hüften; in ihren Händen wiegt sich ein Strauß hochstieliger Blüten. Der Mann an ihrer Seite ist bleich, doch gefaßt ...
Gaetano starrt und starrt.
Dann rutscht er ihnen auf den Knien entgegen:
»Heilige Margherita, bitte für mich! ich habe dich getötet, dich in ihm; eure heiligen Seelen kommen mir entgegen, Rechenschaft zu fordern!«
Borromeo neigt sich forschend zu dem Stammelnden. »Der Schrecken hat ihn verwirrt, die Pferde scheinen ihn verletzt zu haben. Er blutet.«
Margherita zieht ihr weißes Tüchlein aus der Brust und reicht es ihrem Begleiter. Er faßt Gaetanos Hände.
»Komm zu dir, junger Freund, wir sind ja alle drei heil. Du wirst es auch bald sein. Es war kein Teufelsspuk, siehe, wir wollten nach Bozen hinab; an der ersten Wegbiegung scheuten die Pferde, wir stürzten aus dem Wagen, aber Gott hat uns beschützt. Also erhol dich!«
Der Jüngling, noch immer auf den Knien, starrt beide an.
»Ich hätte euch nicht getötet? Ich wäre kein Mörder? ihr lebtet wirklich?«
Er betastet Margheritas weißen Kleidsaum.
Die beiden sehen sich an.
»Es ist nur eine augenblickliche Verwirrung,« flüstert Borromeo, und dann:
»Nein, du hast uns nicht getötet, Freund. Sieh, wir sind ganz heil, nur ihre Flechten haben sich gelöst.« Seine Blicke gleiten voll Liebe über die Jungfrau. »Selbst die Blumen, die sie der Madonna bringen will, sind unversehrt geblieben.«
»Heilige Margherita,« schluchzt der Kniende, und während die Tränen in siedender Fülle über seine Wangen stürzen, breitet er die Arme nach ihr empor. Da neigt sie sich von himmlischer Barmherzigkeit fortgerissen zu ihm nieder, umfaßt seinen Kopf und drückt ihre jungfräulichen Lippen auf seine Stirn ...