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Ein einfach ausgestattetes Arbeitszimmer beim Baumeister Solneß.
*
Eine Flügelthür an der Wand links führt zum Vorzimmer. Rechts ist die Thür zu den inneren Räumen des Hauses. An der Hinterwand eine offene Thür zum Zeichenzimmer. Im Vordergrund links ein Pult mit Büchern, Briefschaften und Schreibmaterialien. Oberhalb der Thür ein Ofen. In der Ecke rechts ein Sofa mit Tisch und ein paar Stühlen; auf dem Tische Wasserkaraffe und Glas. Ein kleinerer Tisch mit Schaukelstuhl und Lehnstuhl im Vordergrund rechts. Angezündete Arbeitslampen auf dem Tische im Zeichenzimmer, auf dem Tische in der Ecke und auf dem Pulte.
*
Rechts und links vom Schauspieler.
Knut Brovik und sein Sohn Ragnar sitzen im Zeichenzimmer mit Konstruktionen und Berechnungen beschäftigt. Knut Brovik ist ein schmächtiger alter Mann mit weißem Haar und Bart; er trägt einen etwas fadenscheinigen, aber sauber gehaltenen schwarzen Rock, eine Brille und eine weiße, etwas vergilbte Halsbinde. Ragnar Brovik ist in den dreißiger Jahren, gutgekleidet, blond, mit leicht vornüber gebeugter Haltung. Kaja Fosli, steht im Arbeitszimmer am Pulte, im Hauptbuche eintragend; sie ist ein zart gebautes junges Mädchen von einigen zwanzig Jahren, aber von kränklichem Aussehen; ein grüner Schirm schützt ihre Augen. Alle drei arbeiten eine Weile schweigend.
Knut Brovik (erhebt sich plötzlich, wie von Angst getrieben, vom Zeichentische, atmet tief und mit Mühe, indem er zur Thüröffnung vorgeht). Nein, jetzt halt ich es bald nicht länger aus.
Kaja (geht zu ihm hin). Es ist dir gewiß recht schlecht heut Abend, Onkel?
Brovik. Ach, mir scheint, es wird schlimmer von Tag zu Tag.
Ragnar (hat sich erhoben und kommt näher). Du solltest lieber heimgehen, Vater. Versuchen ein wenig zu schlafen –
Brovik (ungeduldig). Zu Bett gehen vielleicht? Willst du denn, daß ich rein ersticke!
Kaja. Aber dann mach doch einen kleinen Spaziergang.
Ragnar. Ja, thu das. Ich begleite dich.
Brovik (heftig). Ich geh nicht, ehe er kommt! Heut Abend red ich grad heraus mit – (in verbissener Wut) mit ihm – dem Prinzipal.
Kaja (angstvoll). Ach nein, Onkel – warte doch ja damit!
Ragnar. Ja, lieber warten, Vater.
Brovik (holt mühsam Atem). Ha – ha –! Ich hab wohl keine Zeit, recht lange zu warten.
Kaja (horchend). Still! Da hör ich ihn unten auf der Treppe!
Alle Drei (gehen wieder an ihre Arbeit).
(Kurze Pause.)
Baumeister Halvard Solneß (tritt durch die Vorzimmerthür ein; er ist ein etwas älterer Mann, gesund und kräftig, mit kurzgehaltenem, krausem Haar, dunklem Schnurrbart und dunkeln dichten Augenbrauen, trägt eine graugrüne zugeknöpfte Jacke mit Stehkragen und breiten Aufschlägen, einen weichen grauen Filzhut und unter dem Arme ein paar Mappen).
Die Vorigen. Solneß.
Baumeister Solneß (an der Thür, weist gegen das Zeichenzimmer hin und fragt flüsternd). Sind sie fort?
Kaja (leise, schüttelt den Kopf). Nein. (Sie legt den Augenschirm ab.)
Solneß (geht durchs Zimmer, wirft seinen Hut auf einen Stuhl, legt die Mappen auf den Sofatisch und nähert sich dann wieder dem Pulte).
Kaja (schreibt ununterbrochen, scheint aber nervös und unruhig).
Solneß (laut). Was tragen Sie denn da ein, Fräulein?
Kaja (zusammenfahrend). O es ist nur etwas, das –
Solneß. Lassen Sie mich sehen, Fräulein. (Er beugt sich über sie, thut, als ob er im Hauptbuche nachsähe und flüstert:) Kaja?
Kaja (schreibend, leise). Ja?
Solneß. Warum nehmen Sie denn immer den Schirm da ab, wenn ich komme?
Kaja (wie oben). Ich sehe ja so häßlich aus damit.
Solneß (lächelnd). Und das wollen Sie nicht, Kaja?
Kaja (blickt halb zu ihm auf). Nicht um alles in der Welt. Nicht in Ihren Augen.
Solneß (fährt ihr leicht über das Haar). Arme, arme kleine Kaja –
Kaja (senkt den Kopf). Still – sie könnten Sie hören!
Solneß (geht nachlässigen Schrittes nach rechts, kehrt um und bleibt an der Thür des Zeichenzimmers stehen). War jemand da, der nach mir gefragt hat?
Ragnar (erhebt sich). Ja, die jungen Leute, die die Villa gebaut haben wollen draußen bei Lövstrand.
Solneß (brummend). Ach die? Ja, die müssen warten. Ich bin mit mir selber noch nicht im Reinen über den Plan.
Ragnar (näher, etwas zögernd). Es wäre ihnen so sehr daran gelegen, die Zeichnungen bald zu bekommen.
Solneß (wie oben). Ja, das versteht sich – das wollen sie ja alle miteinander!
Krovik (aufblickend). Sie sehnten sich nämlich so über alle Maßen danach, ihr eigenes Haus zu beziehen, sagten sie.
Solneß. Jawohl, jawohl! Man kennt das! Und dann nehmen sie's so, wie es sich gerade trifft. Schaffen sich so'ne – 'ne Wohnung. Eine Art von Zufluchtsort bloß. Aber kein Heim. Nein, ich danke! Mögen sie sich dann lieber an einen andern wenden. Sagen Sie ihnen das, wenn sie wiederkommen.
Krovik. (schiebt die Brille auf die Stirn hinauf und sieht ihn stutzend an). An einen andern? Würden Sie die Arbeit abgeben?
Solneß (ungeduldig). Ja, ja doch, zum Teufel! Wenn's durchaus sein muß, dann – Lieber das, als so ins Blaue hineinbauen. (Herausplatzend.) Denn ich kenne ja die Leute noch so wenig!
Krovik. Die Leute sind solid genug. Ragnar kennt sie. Er geht mit der Familie um. Sehr solide Leute.
Solneß. Ach, solid – solid! Das ist's ja gar nicht, was ich meine. Du lieber Gott – verstehen auch Sie mich jetzt nicht mehr? (Heftig.) Ich will mit den fremden Menschen nichts zu schaffen haben. Mögen sie sich meinetwegen wenden, an wen sie wollen.
Brovik (erhebt sich). Ist das Ihr Ernst?
Solneß (mürrisch). Jawohl. – Für dies eine Mal. (Er geht durchs Zimmer.)
Brovik (wechselt einen Blick mit Ragnar).
Ragnar (macht eine warnende Gebärde).
Brovik (geht ins Vorderzimmer hinein). Gestatten Sie mir, ein paar Worte mit Ihnen zu reden?
Solneß Sehr gern.
Brovik (zu Kaja). Geh da hinein derweile, du.
Kaja (unruhig). Ach, aber Onkel –
Brovik. Thu wie ich dir sage, Kind. Und schließ die Thüre hinter Dir zu.
Kaja (geht zögernd ins Zeichenzimmer hinein, wirft verstohlen Solneß einen ängstlich bittenden Blick zu und schließt die Thür).
Brovik (etwas gedämpft). Ich will nicht, daß die armen Kinder erfahren, wie schlecht es mit mir steht.
Solneß. Sie sehen auch wirklich recht elend aus in diesen Tagen.
Brovik. Mit mir ist's bald vorbei. Die Kräfte nehmen ab – von einem Tag zum andern.
Solneß. Setzen Sie sich ein wenig.
Brovik. Wenn Sie erlauben?
Solneß (rückt den Lehnstuhl ein wenig zurecht). Da, bitte. – Nun?
Brovik (hat mit Mühe Platz genommen). Ja, es handelt sich also um das da mit Ragnar. Das ist das allerschwerste. Was soll mit ihm werden?
Solneß. Ihr Sohn, der bleibt natürlich hier bei mir, so lange er nur will.
Brovik. Aber das ist's ja eben, was er nicht will. Nicht so recht mehr kann – wie ihm scheint.
Solneß. Nun, er wird denn doch ganz gut bezahlt, sollt ich meinen. Sollte er aber mehr verlangen, wäre ich nicht abgeneigt, ihm –
Brovik. Nein, nein! Das ist's durchaus nicht. (Ungeduldig.) Aber er muß doch auch einmal Gelegenheit bekommen, auf eigene Hand zu arbeiten.
Solneß (ohne ihn anzusehen). Glauben Sie, daß Ragnar dazu alle die rechten Anlagen hat?
Brovik. Nein, sehen Sie, das ist ja eben das Entsetzliche, daß ich angefangen habe, an dem Jungen zu zweifeln. Denn Sie sagten ja nie soviel wie – wie ein ermunterndes Wort über ihn. Aber dann scheint's mir wieder, es ist unmöglich anders. Er muß die Anlagen haben.
Solneß. Nun ja, er hat aber doch nichts gelernt – recht gründlich. Außer dem Zeichnen, versteht sich.
Brovik (blickt ihn mit geheimem Hasse an und sagt mit heiserer Stimme): Sie hatten auch nicht recht viel vom Fach gelernt, damals, als Sie bei mir im Dienste standen. Aber Sie machten sich dennoch auf den Weg. (Er holt mühselig Atem.) Und kamen vorwärts. Und überholten sowohl mich wie – wie so viele andere.
Solneß. Ja, sehen Sie, das fügte sich nun so für mich.
Brovik. Darin haben Sie recht. Alles fügte sich für Sie. Dann können Sie's aber auch nicht übers Herz bringen, mich ins Grab gehen zu lassen – ehe ich sehe, wozu Ragnar taugt. Und dann möchte ich die zwei ja auch gern verheiratet sehen – ehe ich scheide.
Solneß. (unwirsch). Ist sie es, die's so haben will?
Brovik. Kaja nicht so sehr. Aber Ragnar geht herum und redet jeden Tag davon. (Bittend.) Sie müssen – Sie müssen ihm jetzt zu irgend einer selbständigen Arbeit verhelfen. Ich muß etwas zu sehen bekommen, was der Junge gemacht hat. Hören Sie?
Solneß. (gereizt). Aber ich kann doch, zum Teufel, keine Bestellungen für ihn vom Mond herunterholen!
Brovik. Er kann eine hübsche Bestellung bekommen, gerade jetzt. Eine große Arbeit.
Solneß. (unruhig, stutzend). Er?
Brovik. Wenn Sie Ihre Zustimmung geben wollten.
Solneß. Was ist denn das für eine Arbeit?
Brovik. (etwas zögernd). Er könnte die Villa zu bauen bekommen draußen bei Lövstrand.
Solneß. Die! Aber die soll ich ja selber bauen!
Brovik. Ach, Sie haben ja keine besondere Lust dazu.
Solneß. (auffahrend). Keine Lust! Ich! Wer darf das sagen?
Brovik. Das sagten Sie ja selbst in diesem Augenblicke.
Solneß. Ach was, achten Sie nie auf das, was ich so – sage. – Kann Ragnar die Villa zu bauen bekommen?
Brovik. Jawohl. Er kennt ja die Familie. Und dann hat er – nur so zum Spaß – Zeichnungen gemacht und Überschläge und alles miteinander –
Solneß. Und die Zeichnungen, mit denen sind sie zufrieden? Die Leute, die da wohnen sollen?
Brovik. Gewiß. Wenn bloß Sie sie durchsehen wollten und sie gutheißen, dann –
Solneß. Dann würden sie Ragnar ihr Heim bauen lassen?
Brovik. Es gefiel ihnen so ausnehmend gut, das, was er draus machen wollte. Es schiene ihnen so etwas durchaus neues, sagten sie.
Solneß. Aha! Neues! Kein so altmodischer Plunder, wie ich ihn zu bauen pflege!
Brovik. Es schien ihnen etwas anderes.
Solneß (in unterdrückter Erbitterung). Ragnar war's also, zu dem sie kamen, hier – während ich fort war!
Brovik. Sie kamen, um Sie zu sprechen. Und dann um zu fragen, ob Sie vielleicht geneigt wären zurückzutreten –
Solneß. Zurücktreten! Ich!
Brovik. Im Falle Sie fänden, daß Ragnars Zeichnungen –
Solneß. Ich! Zurücktreten vor Ihrem Sohn!
Brovik. Von der Verabredung zurücktreten, meinten sie.
Solneß. Ach was, das kommt ja auf eins hinaus. (Er lacht erbittert.) So, so! Halvard Solneß – der soll jetzt anfangen zurückzutreten! Platz machen denen, die da jünger sind. Den Allerjüngsten vielleicht! Nur Platz machen! Platz! Platz!
Brovik. Du lieber Gott, da ist doch wohl Platz genug für mehr als einen Einzigen.
Solneß. O so reichlicher Platz ist denn doch nicht da. Na, dem mag nun sein wie ihm will. Aber ich trete niemals zurück! Weiche niemals vor irgend jemand! Niemals freiwillig! Niemals bei meinen Lebzeiten thu ich so 'was!
Brovik (erhebt sich mühsam). Soll ich denn aus dem Leben gehen ohne Zuversicht? Ohne Freude? Ohne Glauben und Vertrauen in Ragnar? Ohne ein einziges Werk von ihm zu sehen? Soll ich das?
Solneß (wendet sich halb zur Seite und murmelt). Hm – fragen Sie doch jetzt nicht mehr.
Brovik. Doch. Antworten Sie mir darauf. Soll ich so ganz in Armut aus dem Leben gehen?
Solneß (scheint mit sich selbst zu kämpfen; endlich sagt er mit gedämpfter, aber fester Stimme). Sie müssen aus dem Leben gehen, wie Sie's am besten wissen und können.
Brovik. Mag's denn so sein. (Er geht durchs Zimmer.)
Solneß (ihm nachgehend, halb verzweifelt). Ja, ich kann ja doch nicht anders, verstehen Sie! Ja bin nun einmal so, wie ich bin! Und umschaffen kann ich mich doch auch nicht!
Brovik. Nein, nein – das können Sie wohl nicht. (Er schwankt und bleibt am Sofatisch stehen.) Gestatten Sie, daß ich ein Glas Wasser trinke?
Solneß. Bitte sehr. (Er schenkt ein und reicht ihm das Glas.)
Brovik. Ich danke. (Er trinkt und stellt das Glas wieder hin.)
Solneß (geht zur Thüre de» Zeichenzimmers und öffnet sie). Ragnar – Sie müssen Ihren Vater nach Hause begleiten.
Ragnar (erhebt sich rasch).
Ragnar und Kaja (gehen ins Arbeitszimmer).
Ragnar. Was giebt's, Vater?
Brovik. Reich mir den Arm. Und jetzt gehen wir.
Ragnar. Jawohl. Mach du dich auch fertig, Kaja.
Solneß. Fräulein Fosli muß zurückbleiben. Nur einen kleinen Augenblick. Ich habe einen Brief, der geschrieben werden muß.
Brovik (mit einem Blick auf Solneß). Gute Nacht. Schlafen Sie wohl – wenn Sie können.
Solneß. Gute Nacht.
Brovik und Ragnar (ab durch die Vorzimmerthüre).
Solneß. Kaja.
Kaja (geht an das Pult hin).
Solneß (steht mit gesenktem Kopf rechts am Lehnstuhl).
Kaja (unsicher). Ist's ein Brief?
Solneß (kurz). Ach, keine Spur. (Er blickt sie rauh an.) Kaja!
Kaja (angstvoll, leise). Ja?
Solneß (weist befehlend mit dem Finger auf den Fußboden). Herkommen! Gleich!
Kaja (zögernd). Ja.
Solneß (wie oben). Näher!
Kaja (gehorcht). Was wollen Sie von mir?
Solneß (blickt sie eine Weile an). Sind Sie's, der ich die Geschichte zu verdanken habe?
Kaja. Nein, nein, glauben Sie das ja nicht!
Solneß. Aber heiraten – das wollen Sie ja jetzt.
Kaja (leise). Ragnar und ich sind schon vier – fünf Jahre verlobt, und da –
Solneß. Und da meinen Sie, es muß ein Ende nehmen. Ist's nicht so?
Kaja. Ragnar und der Onkel sagen, ich soll. Und da muß ich mich ja fügen.
Solneß (in sanfterem Tone). Kaja, sind Sie nicht auch, im Grunde genommen, Ragnar ein bißchen gut?
Kaja. Ich war Ragnar sehr, sehr gut – einmal. – Ehe ich hierher kam zu Ihnen.
Solneß. Aber jetzt nicht mehr? Gar nicht mehr?
Kaja (leidenschaftlich, faltet die Hände gegen ihn). Ach, Sie wissen es ja, jetzt bin ich bloß einem einzigen gut! Keinem andern in der ganzen Welt! Kann nie einem andern gut werden!
Solneß. Ja, so sagen Sie. Und da gehen Sie trotzdem von mir fort. Lassen mich hier mit allem allein.
Kaja. Aber dürfte ich denn nicht bei Ihnen bleiben, wenn auch Ragnar –?
Solneß (abweisend). Nein, nein, das läßt sich durchaus nicht machen. Geht Ragnar weg und fängt er an, auf eigene Hand zu arbeiten, dann hat er Sie ja selber nötig.
Kaja (ringt die Hände). Ach, mir kommt's vor, ich kann mich von Ihnen nicht trennen! Das ist doch so rein, rein unmöglich, kommt's mir vor!
Solneß. Dann sehen Sie zu, daß Sie Ragnar die dummen Einfälle da aus dem Kopfe bringen. Heiraten Sie ihn, soviel Sie wollen – (Er verändert den Ton.) Ja, das heißt – reden Sie ihm zu, daß er hier bleibt in seiner guten Stellung bei mir. Dann kann ich ja auch Sie behalten, liebe Kaja.
Kaja Ach ja, wie wunderschön wär's, wenn sich's so machen ließe!
Solneß (legt ihr beide Hände um den Kopf und flüstert). Denn ich kann's ohne Sie nicht aushalten, begreifen Sie. Ich muß Sie um mich haben, Tag aus, Tag ein.
Kaja (nervös hingerissen). Ach Gott! Ach Gott!
Solneß (drückt ihr einen Kuß aufs Haar). Kaja – Kaja!
Kaja (sinkt vor ihm nieder). O wie gut sind Sie gegen mich! Wie unsäglich gut sind Sie!
Solneß (heftig). Stehen Sie auf! So stehen Sie doch auf, zum –! Mir scheint, ich höre jemand! (Er hilft ihr auf.)
Kaja (wankt ans Pult hin).
Frau Solneß (erscheint in der Thüre rechts; sie ist mager und sieht abgehärmt aus, zeigt aber Spuren einstiger Schönheit; sie trägt blonde Hängelocken, ist elegant, vollständig schwarz gekleidet; sie spricht etwas langsam und mit klagender Stimme).
Die Vorigen. Frau Solneß.
Frau Solneß (in der Thüröffnung). Halvard!
Solneß (dreht sich um). Ach, du bist's, liebe –?
Frau Solneß (mit einem Blick auf Kaja). Ich komme gewiß recht ungelegen, kann ich mir denken.
Solneß. Durchaus nicht. Fräulein Fosli hat nur einen kleinen Brief zu schreiben.
Frau Solneß. Jawohl, das sehe ich.
Solneß. Was wolltest du denn von mir, Aline?
Frau Solneß. Ich wollte nur sagen, daß Doktor Herdal im Eckzimmer drinnen ist. Kommst du vielleicht auch herein, Halvard?
Solneß (blickt sie mißtrauisch an). Hm – muß mich denn der Doktor so notwendig sprechen?
Frau Solneß. Nein, so notwendig gerade nicht. Er kam, mir einen Besuch zu machen. Und dann möchte er natürlich dich auch begrüßen.
Solneß (lacht leise). Kann mir's denken, jawohl. Na, dann mußt du ihn bitten, sich ein wenig zu gedulden.
Frau Solneß. So kommst du also zu ihm herein nachher?
Solneß. Vielleicht. Nachher – nachher, liebe Aline. Nach einer kleinen Weile.
Frau Solneß (wieder mit einem Blick auf Kaja). Gut, vergiß es aber ja nicht, Halvard. (Sie zieht sich zurück und schließt die Thüre.)
Solneß. Kaja.
Kaja (leise). Ach Gott, ach Gott – die gnädige Frau denkt gewiß etwas schlechtes von mir!
Solneß. Ach was, keinen Schein. Nicht mehr als gewöhnlich wenigstens. Es ist aber doch am besten, wenn Sie jetzt gehen, Kaja.
Kaja. Ja, ja, jetzt muß ich gehen.
Solneß (streng). Und dann bringen Sie also die andere Geschichte da in Ordnung für mich. Hören Sie!
Kaja. Ach, gebe Gott, daß es nur auf mich ankäme, dann –
Solneß. Ich will's geordnet wissen, sage ich! Und morgen soll's geschehen!
Kaja (angstvoll). Geht's auf andere Weise nicht, will ich gern mit ihm ein Ende machen.
Solneß (auffahrend). Ein Ende machen! Sind Sie rein toll geworden! Wollen Sie ein Ende machen?
Kaja (verzweifelt). Lieber noch das. Denn ich muß – ich muß bei Ihnen bleiben dürfen! Ich kann nicht von Ihnen gehen! Es wäre ja rein – rein unmöglich!
Solneß (platzt heraus). Aber zum Teufel – was wird's mit Ragnar! Es ist ja eben Ragnar, den ich –
Kaja (sieht ihn mit erschreckten Augen an). Ist's hauptsächlich wegen Ragnar, daß – daß Sie –?
Solneß (faßt sich). Ach nein, keine Spur, gewiß nicht! Sie begreifen aber auch gar nichts. (Sanft und leise.) Sie sind's natürlich, die ich dahaben will. Allererst Sie, Kaja. Aber gerade darum müssen Sie Ragnar zureden, daß er auch in seiner Stellung bleibt. Na, lassen Sie es gut sein – und jetzt gehen Sie nach Hause.
Kaja. Nun ja, gute Nacht also.
Solneß. Gute Nacht. (Indem sie sich zum Gehen anschickt.) Ach, hören Sie mal! Sind Ragnars Zeichnungen drinnen?
Kaja. Ich glaube. Wenigstens bemerkte ich nicht, daß er sie mitnahm.
Solneß. Dann gehen Sie hinein – und holen Sie sie mir. Ich könnte Sie vielleicht doch ein bißchen ansehen.
Kaja (erfreut). Ach, thun Sie das doch ja!
Solneß. Um Ihretwillen, liebe Kaja. Na, holen Sie sie mir also geschwind, hören Sie!
Kaja (eilt ins Zeichenzimmer hinein, wühlt ängstlich in der Schublade herum, holt eine Mappe hervor und bringt sie). Da sind alle die Zeichnungen.
Solneß. Schön. Legen Sie sie dorthin auf den Tisch.
Kaja (legt die Mappe von sich). Gute Nacht also (bittend) und denken Sie gut und lieb von mir.
Solneß. Ach, das thue ich ja immer. Gute Nacht, liebe kleine Kaja. (Er blickt verstohlen nach rechts.) So gehen Sie doch!
Frau Solneß und Doktor Herdal (kommen durch die Thür rechts; Herdal ist ein älterer, wohlbeleibter Herr mit rundem, zufriedenem Gesicht, bartlos, hat dünnes helles Haar und trägt eine goldene Brille).
Die Vorigen. Frau Solneß. Doktor Herdal.
Frau Solneß (noch in der Thüröffnung). Halvard, jetzt kann ich den Doktor nicht länger halten.
Solneß. Na, kommen Sie nur herein.
Frau Solneß (zu Kaja). Schon fertig mit dem Brief, Fräulein?
Kaja (welche die Pultlampe herunterschraubt, verwirrt). Der Brief –?
Solneß. Es war nur ein ganz kurzer Brief.
Frau Solneß. Recht kurz muß er gewesen sein.
Solneß. Bitte, gehen Sie nur, Fräulein Fosli. Und dann sind Sie morgen zu rechter Zeit wieder da.
Kaja. Gewiß. – Gute Nacht, gnädige Frau. (Ab durch die Vorzimmerthür.)
Frau Solneß. Du kannst recht froh sein, Halvard, daß du das Fräulein da bekommen hast.
Solneß. Ja freilich. Die läßt sich zu vielerlei Dingen verwenden.
Frau Solneß. Es scheint so. Herdal. Tüchtig in der Buchführung nebenbei?
Solneß. Na – einige Übung hat sie sich immerhin angeeignet in den zwei Jahren. Und dann ist sie gutmütig und willig zu allem, was man von ihr verlangt.
Frau Solneß. Das muß allerdings eine große Annehmlichkeit sein –
Solneß. Das ist's auch. Besonders wenn man nicht verwöhnt ist in dieser Beziehung.
Frau Solneß (mit mildem Vorwurf). Kannst du das behaupten, Halvard?
Solneß. Ach nein, nein, liebe Aline. Ich bitte um Verzeihung.
Frau Solneß. Keine Ursache. – Also Doktor, Sie kommen nachher wieder und trinken den Thee mit uns?
Herdal. Sobald ich den Krankenbesuch da gemacht habe, komme ich.
Frau Solneß. Sehr liebenswürdig. (Ab durch die Thüre rechts.)
Solneß. Doktor Herdal.
Solneß. Haben Sie Eile, Doktor?
Herdal. Durchaus nicht.
Solneß. Wir können also ein wenig miteinander plaudern?
Herdal. Wird mir sehr angenehm sein.
Solneß. Dann setzen wir uns. (Er weist dem Doktor den Platz im Schaukelstuhl an und setzt sich selbst in den Lehnstuhl; mit einem forschenden Blick.) Sagen Sie mir – merkten Sie Aline etwas an?
Herdal. Soeben, während sie hier war, meinen Sie?
Solneß. Ja. Mir gegenüber. Merkten Sie etwas?
Herdal (lächelnd). Na, hören Sie mal – das mußte man ja wohl merken, daß Ihre Frau – hm –
Solneß. Nun?
Herdal. Daß Ihre Frau keine besondere Vorliebe hat für dieses Fräulein Fosli.
Solneß. Weiter nichts? Das habe ich schon selber bemerkt.
Herdal. Und ein Wunder ist es ja eigentlich nicht.
Herdal. Daß sie es nicht gerade gern sieht, wenn Sie da tagtäglich ein anderes Frauenzimmer um sich haben.
Solneß. Nun, darin können Sie recht haben. Und Aline auch. Aber das – das kann nun einmal nicht anders sein.
Herdal. Könnten Sie sich denn nicht einen Buchhalter anschaffen?
Solneß. Den ersten besten Kerl? Nein, da dank' ich – damit ist mir nicht gedient.
Herdal. Aber wenn nun Ihre Frau –? So schwach, wie sie ist – Wenn sie's nun nicht aushält, die Sache mitanzusehen?
Solneß. Na, dann mag's in Gottes Namen so sein – hätt' ich beinahe gesagt. Ich muß Kaja Fosli behalten. Kann niemand anderen brauchen als gerade die.
Herdal. Niemand anderen?
Solneß. Nein, niemand anderen.
Herdal (seinen Stuhl näher rückend). Jetzt hören Sie mal, lieber Herr Solneß. Erlauben Sie mir eine Frage ganz im Vertrauen?
Solneß. Bitte.
Herdal. Frauenzimmer, sehen Sie – die haben in gewissen Dingen einen verflucht feinen Spürsinn –
Solneß. Den haben sie. Das ist so wahr wie nur irgend etwas. Aber –?
Herdal. Nun gut. Hören Sie weiter. Wenn nun Ihre Frau diese Kaja Fosli schlechterdings nicht ausstehen kann –?
Solneß. Nun, was dann?
Herdal. Hat sie dann nicht so 'nen – 'nen ganz winzig kleinen Grund zu dieser unwillkürlichen Abneigung?
Solneß (blickt ihn an und erhebt sich). Oho!
Herdal. Nehmen Sie mir's nicht übel. Aber hat sie das nicht?
Solneß (kurz und bestimmt). Nein.
Herdal. Nicht den allermindesten Grund also?
Solneß. Keinen anderen Grund als ihr eigenes Mißtrauen.
Herdal. Ich weiß, daß Sie in Ihrem Leben verschiedene Frauen gekannt haben.
Solneß. Das leugne ich nicht.
Herdal. Und auch, daß Sie einzelne davon ganz gern gehabt haben.
Solneß. O ja, das auch.
Herdal. Aber in dieser Sache mit Fräulein Fosli –? Hier ist also nichts derartiges mit im Spiele?
Solneß. Nein. Absolut nichts – meinerseits.
Herdal. Aber von der andern Seite?
Solneß. Danach, scheint mir, haben Sie kein Recht zu fragen, Doktor.
Herdal. Es war der Spürsinn Ihrer Frau, von dem wir ausgingen.
Solneß. Richtig. Und insofern – (Er senkt die Stimme.) Alines Spürsinn, wie Sie's nennen – der hat sich denn auch gewissermaßen erprobt.
Herdal. Na – sehen Sie wohl!
Solneß (setzt sich). Doktor Herdal – jetzt will ich Ihnen eine sonderbare Geschichte erzählen. Wenn Sie sie anhören wollen, heißt das.
Herdal. Sonderbare Geschichten höre ich immer gern.
Solneß. Nun gut. Sie entsinnen sich jedenfalls, daß ich Knut Brovik und seinen Sohn in meinen Dienst nahm – damals, als es mit dem Alten so sehr bergab gegangen war.
Herdal. Das ist mir so ziemlich bekannt, jawohl.
Solneß. Denn sie sind im Grunde ein paar tüchtige Kerle, die beiden, wissen Sie. Sie haben Anlagen, jeder auf seine Art. Da bekam aber der Sohn den Einfall, sich zu verloben. Und nun, natürlich, wollte er auch heiraten – und anfangen selber zu baumeistern. Denn alle miteinander denken sie nun einmal an solche Geschichten, die jungen Leute.
Herdal (lachend). Sie haben in der That die üble Gewohnheit, daß sie gern einander kriegen wollen.
Solneß. Gut. Damit konnte aber mir nicht gedient sein. Denn Ragnar hatte ich ja selber nötig. Und den Alten auch. Der ist nämlich ausgezeichnet zu verwenden bei Berechnungen von Tragfähigkeit und Kubikinhalt – und all dem Teufelszeug, wissen Sie.
Herdal. Nun ja, das gehört wohl auch mit dazu.
Solneß. Allerdings. Aber Ragnar, der wollte auf eigene Hand beginnen um jeden Preis. Da war alles Reden umsonst.
Herdal. Dann blieb er ja aber trotzdem bei Ihnen.
Solneß. Jetzt passen Sie nur auf. Eines Tages also, da kommt diese Kaja Fosli zu ihnen herauf, um etwas auszurichten. War früher nie hier gewesen. Und als ich sah, wie herzlich die zwei ineinander vergafft waren, da kam mir plötzlich der Gedanke: hätte ich nur das Mädchen hier im Bureau, dann bliebe vielleicht Ragnar auch bei mir sitzen.
Herdal. Das war ein ganz erklärlicher Gedanke.
Solneß. Gewiß. Damals aber ließ ich keine Silbe von so etwas fallen. Ich stand nur da und sah sie an – und wünschte so recht beharrlich, ich hätte sie hier. Dann sagte ich ihr ein paar freundliche Worte – sprach von ganz gleichgültigen Dingen. Und darauf ging sie.
Herdal. Nun?
Solneß. Den nächsten Tag aber, zur Abendzeit, als der alte Brovik und Ragnar heimgegangen waren, da kam sie wieder her zu mir und benahm sich, als hätte ich mit ihr eine Abrede getroffen.
Herdal. Eine Abrede? Worüber?
Solneß. Genau über das, was ich mir nur so gewünscht hatte. Wovon mir aber kein einziges Wort entschlüpft war.
Herdal. Das war recht merkwürdig.
Solneß. Ja, nicht wahr? Und nun wollte sie wissen, was sie hier zu thun bekäme. Ob sie den folgenden Morgen gleich anfangen dürfte. Und dergleichen mehr.
Herdal. Glauben Sie nicht, daß sie es that, um mit ihrem Bräutigam beisammen zu sein?
Solneß. Anfangs war das auch meine Idee. Aber nein, so verhielt sich's nicht. Ihm entglitt sie, sozusagen vollständig – als sie erst hierher gekommen war zu mir.
Herdal. Da glitt sie wohl zu Ihnen hinüber?
Solneß. Ganz und gar. Ich merke, daß sie es fühlt, wenn ich hinter ihr bin und sie ansehe. Sie bebt und sie zittert, so oft ich nur in ihre Nähe komme. Was halten Sie davon?
Herdal. Hm – das läßt sich schon erklären.
Solneß. Nun gut, aber dann das andere? Daß sie glaubte, ich hätte ihr gesagt, was ich bloß gewünscht und gewollt hatte – so in aller Stille. Inwendig. Ganz für mich. Was sagen Sie dazu? Können Sie mir so etwas erklären, Herr Doktor?
Herdal. Nein, darauf lasse ich mich nicht ein.
Solneß. Das dachte ich mir im voraus. Darum habe ich bisher auch nie davon reden wollen. Aber auf die Dauer fällt mir die Sache verdammt lästig, begreifen Sie wohl. Da muß ich tagtäglich herumgehen und thun, als ob ich – Und es ist ja eine Sünde gegen das arme Ding. (Heftig.) Aber ich kann nicht anders. Denn rennt sie von mir fort – so macht sich auch Ragnar auf den Weg.
Herdal. Und Ihrer Frau haben Sie diesen ganzen Zusammenhang nie erzählt?
Solneß. Nein.
Herdal. Du lieber Gott, warum thun Sie denn das nicht?
Solneß (sieht ihn fest an und sagt gedämpft). Weil's mir vorkommt wie – wie so eine Art wohlthuende Selbstquälerei, wenn ich mir von Aline Unrecht geschehen lasse.
Herdal (schüttelt den Kopf). Davon verstehe ich kein Sterbenswörtchen.
Solneß. Ja, sehen Sie – so trage ich doch gleichsam ein bißchen ab von einer bodenlosen, ungeheuern Schuld –
Herdal. Ihrer Frau gegenüber?
Solneß. Jawohl. Und das erleichtert ja immerhin das Gemüt ein wenig. Dann kann man eine Weile freier aufatmen, wissen Sie.
Herdal. Nein, da begreif' ich, weiß Gott, kein Wort –
Solneß (kurz abbrechend, indem er sich aufs neue erhebt). Schon gut – reden wir nicht mehr davon. (Er geht nachlässigen Schrittes durchs Zimmer, kehrt um, bleibt am Tische stehen und blickt den Doktor mit einem launigen Lächeln an.) Jetzt, Doktor, meinen Sie wohl, daß Sie mich recht schön aufs Glatteis geführt haben?
Herdal (etwas ärgerlich). Aufs Glatteis? Davon fasse ich auch nicht ein Tüpfelchen, Herr Solneß.
Solneß. Ach, sagen Sie's nur rein heraus. Ich hab's ja doch sehr wohl bemerkt, hören Sie!
Herdal. Was haben Sie bemerkt?
Solneß (gedämpft, langsam). Daß Sie da so ganz harmlos herumgehen und mich im Auge behalten.
Herdal. Ich thäte das! Du lieber Himmel, warum sollte ich denn das thun?
Solneß. Weil Sie glauben, daß ich – (Aufbrausend.) Na, zum Teufel – weil Sie von mir dasselbe glauben, was Aline glaubt!
Herdal. Und was glaubt denn Ihre Frau von Ihnen?
Solneß (sich wieder beherrschend). Sie hat angefangen, zu glauben, ich wäre so – wie soll ich sagen – krank.
Herdal. Krank! Sie! Davon hat sie mir nie eine Silbe gesagt. Und was sollte Ihnen denn fehlen, bester Herr Solneß?
Solneß (beugt sich über die Stuhllehne und flüstert). Aline geht mit der Idee herum, ich wäre verrückt. Das ist's, was sie glaubt.
Herdal. Aber liebster, bester Herr Solneß – !
Solneß. So wahr ich lebe, sie thut's – ! So ist es. Und das hat sie auch Ihnen eingeredet. O ich versichere Sie, Doktor – ich merke es Ihnen nur zu deutlich an. Ich laß mich nämlich nicht so leicht hinters Licht führen, will ich Ihnen sagen.
Herdal (ihn verwundert anblickend). Niemals, Herr Solneß, – niemals ist mir der leiseste Gedanke an so etwas gekommen.
Solneß (mit einem ungläubigen Lächeln). So? Wirklich nicht?
Herdal. Nein, niemals! Und Ihrer Frau gewiß auch nie. Darauf, glaub ich, könnte ich getrost einen Eid ablegen.
Solneß. Na, das sollen Sie doch lieber bleiben lassen. Denn gewissermaßen, sehen Sie, da – da könnte sie wohl auch Grund haben, so was zu denken.
Herdal. Nein, da muß ich gestehen – !
Solneß (ihn unterbrechend, macht eine Handbewegung). Schon gut, lieber Doktor – gehen wir auf die Sache nicht näher ein. Mag jeder seine Ansicht für sich behalten. (Er geht zu einer stillen Leutseligkeit über.) Aber hören Sie mal, Doktor – hm –
Herdal. Nun?
Solneß. Wenn Sie nun also nicht glauben, daß ich – so – krank bin – und verrückt – und toll und so weiter –
Herdal. Was dann, meinen Sie?
Solneß. Dann bilden Sie sich natürlich ein, ich wäre ein außerordentlich glücklicher Mann?
Herdal. Sollte das nur eine Einbildung sein?
Solneß (lachend). I Gott bewahre, wo wollen Sie denn hin! Denken Sie nur – der Baumeister Solneß zu sein! Halvard Solneß! Alle Achtung!
Herdal. Nun, ich muß gestehen, mir kommt's vor, als hätten Sie ganz unglaubliches Glück gehabt.
Solneß (unterdrückt ein schwermütiges Lächeln). Das hab' ich auch. In der Beziehung kann ich mich nicht beklagen.
Herdal. Gleich anfangs, da brannte Ihnen ja die garstige alte Räuberburg nieder. Und das war doch wirklich eine große Chance.
Solneß (ernst). Es war Alines Elternhaus, das da niederbrannte. Vergessen Sie das nicht.
Herdal. Für Ihre Frau muß es allerdings recht traurig gewesen sein.
Solneß. Sie hat's heute noch nicht verwunden. In all' den dreizehn, vierzehn Jahren nicht.
Herdal. Das, was hinterher kam, das war wohl der schwerste Schlag für sie.
Solneß. Beides miteinander.
Herdal. Aber Sie – Sie selbst – Sie schwangen sich dabei empor. Da hatten Sie angefangen wie ein armer Bursch vom Lande – und jetzt stehen Sie da als der erste in Ihrem Fach. Wissen Sie was, Herr Solneß, Sie haben wahrhaftig Glück gehabt.
Solneß (mit einem scheuen Blick auf ihn). Jawohl, aber das ist's ja eben, wovor mir so entsetzlich graut.
Herdal. Es graut Ihnen? Darum, weil Sie Glück haben?
Solneß. Früh und spät ist mir angst und bang. Denn einmal muß doch wohl der Umschwung kommen, verstehen Sie.
Herdal. Ach was! Woher sollte der Umschwung kommen?
Solneß (fest und sicher). Der kommt von der Jugend.
Herdal. Pah! Die Jugend! Sie sind doch wohl nicht abgenutzt, sollt ich meinen. O nein – Sie stehen jetzt so festgemauert da, wie vielleicht niemals zuvor.
Solneß. Der Umschwung kommt. Ich ahne ihn. Und ich fühle, daß er naher rückt. Irgend einer drängt sich heran mit der Forderung: Tritt zurück vor mir! Und alle die andern stürmen ihm nach und drohen und schreien: Platz gemacht – Platz – Platz! Jawohl, passen Sie nur auf, Doktor. Eines Tages, da kommt die Jugend hierher und klopft an die Thür –
Herdal (lachend). Na, du lieber Gott, was dann?
Solneß. Was dann? Ja, dann ist's aus mit dem Baumeister Solneß.
(Es klopft an die Thüre links.)
Solneß (zusammenfahrend). Was ist denn das? Hörten Sie etwas?
Herdal. Es klopfte jemand.
Solneß (laut). Herein!
Hilde Wangel (tritt durch die Vorzimmerthüre ein; sie ist von mittlerer Größe, geschmeidig, fein gebaut, von der Sonne ein wenig gebräunt; Touristenanzug, das Kleid ein bißchen aufgeschürzt, umgeschlagenen Matrosenkragen, ein Seemannshütchen auf den Kopf, Ranzen auf dem Rücken, Plaid in einem Riemen, und mit einem langen Bergstock).
Die Vorigen. Hilde Wangel.
Hilde Wangel (geht mit freudefunkelnden Augen auf Solneß zu). Guten Abend!
Solneß (sieht sie ungewiß an). Guten Abend –
Hilde (lachend). Ich glaube fast, Sie erkennen mich nicht wieder!
Solneß. Ich muß allerdings gestehen – so im Augenblick –
Herdal (nähert sich). Aber ich erkenne Sie wieder, Fräulein –
Hilde (vergnügt). Ach, Sie sind's – !
Herdal. Ja freilich bin ich's. (Zu Solneß.) Wir trafen uns diesen Sommer im Hochgebirge. (Zu Hilde.) Was wurde denn später aus den übrigen Damen?
Hilde. Ach die, die gingen nachher westwärts.
Herdal. Denen war's gewiß nicht recht, daß wir abends den vielen Unsinn trieben.
Hilde. Nein, recht wird's ihnen kaum gewesen sein.
Herdal (mit dem Finger drohend). Und leugnen können Sie's auch nicht, daß Sie ein bißchen mit uns kokettierten.
Hilde. Das war doch wohl amüsanter als dazusitzen und Strümpfe zu stricken mit all' den Weibern.
Herdal (lachend). Darin bin ich mit Ihnen vollkommen einig.
Solneß. Sind Sie diesen Abend angekommen?
Hilde. Jawohl, soeben kam ich an.
Herdal. Ganz allein, Fräulein Wangel?
Hilde. Gewiß.
Solneß. Wangel? Heißen Sie Wangel?
Hilde (sieht ihn lustig-verwundert an). Ja freilich thu' ich das.
Solneß. Dann sind Sie vielleicht eine Tochter vom Bezirksarzt oben in Lysanger?
Hilde (wie oben). Ja, von wem sollte ich denn sonst die Tochter sein?
Solneß. Nun, dann haben wir uns also da oben getroffen. Im Sommer, als ich dort war und den Turm baute für die alte Kirche.
Hilde (etwas ernster). Ja freilich war's damals.
Solneß. Nun, das ist lange her.
Hilde (sieht ihn fest an). Genau zehn Jahre ist's her.
Solneß. Und damals waren Sie wohl ein reines Kind, mein' ich.
Hilde (leicht hinwerfend). Immerhin so zwölf, dreizehn Jahre alt.
Herdal. Ist's das erste Mal, daß Sie hier in der Stadt sind, Fräulein Wangel?
Hilde. Jawohl.
Solneß. Und Sie kennen vielleicht niemand hier?
Hilde. Niemand außer Ihnen. Und dann Ihre Frau.
Solneß. So, die kennen Sie auch?
Hilde. Ein klein wenig nur. Wir waren einige Tage zusammen im Kurort –
Solneß. Ach, im Hochgebirge.
Hilde. Sie sagte, ich könnte sie besuchen, wenn ich einmal nach der Stadt käme. (Lächelnd). Das hätte sie übrigens nicht nötig gehabt.
Solneß. Daß sie davon gar nicht gesprochen hat –
Hilde (stellt den Bergstock an den Ofen hin, schnallt den Ranzen ab und legt ihn mit dem Plaid aufs Sofa).
Herdal (will ihr behilflich sein).
Solneß (steht da und sieht sie an).
Hilde (auf ihn zugehend). Nun, da bitt' ich also darum, diese Nacht hier bleiben zu dürfen.
Solneß. Das läßt sich gewiß sehr wohl machen.
Hilde. Ich habe nämlich keine anderen Kleider, als die, in denen ich gehe. Das heißt, etwas Wäsche im Ranzen habe ich auch. Die muß aber gewaschen werden; denn sie ist so sehr schmutzig.
Solneß. Ach, da kann schon Abhilfe geschafft werden. Jetzt will ich nur gleich meiner Frau –
Herdal. Dann mache ich meinen Krankenbesuch derweile.
Solneß. Thun Sie das. Und später kommen Sie doch wieder.
Herdal (lustig, mit einem Blick auf Hilde). Na, darauf können Sie Ihren Kopf zum Pfand geben! (Lachend.) Sie prophezeiten dennoch richtig, Herr Solneß!
Solneß. Wie so!
Herdal. Die Jugend kam also doch und klopfte bei Ihnen an.
Solneß (aufgeräumt). Aber freilich auf andere Art.
Herbal. Allerdings. Ist nicht zu leugnen! (Ab durch die Vorzimmerthüre.)
Solneß. Hilde. Dann Frau Solneß.
Solneß (öffnet die Thüre rechts und spricht ins Seitenzimmer hinein). Aline! Sei so gut und komm' herein. Es ist ein Fräulein Wangel da, die du kennst.
Frau Solneß (erscheint in der Thüröffnung). Wer ist da, sagst du? (Sie erblickt Hilde.) Ach, Sie sind es, Fräulein? (Sie nähert sich und reicht ihr die Hand.) So sind Sie dennoch nach der Stadt gekommen.
Solneß. Fräulein Wangel ist soeben angekommen. Und da möchte sie gern die Nacht über hierbleiben.
Frau Solneß. Hier bei uns? Mit Vergnügen.
Solneß. Um Ihre Sachen ein wenig auszubessern, verstehst du.
Frau Solneß. Ich werde mich Ihrer annehmen, so gut ich kann. Das ist ja nur meine Pflicht. Ihr Koffer kommt wohl nach?
Hilde. Ich habe keinen Koffer.
Frau Solneß. Nun, das läßt sich schon ordnen, will ich hoffen. Jetzt müssen Sie aber hier bei meinem Mann vorlieb nehmen solange. Dann sorge ich inzwischen dafür, daß Ihnen ein Zimmer etwas behaglich hergerichtet wird.
Solneß. Könnten wir nicht eine von den Kinderstuben nehmen? Die sind ja vollständig bereit.
Frau Solneß. Das ginge wohl an. Dort haben wir mehr als genug Platz. (Zu Hilde.) Setzen Sie sich doch und ruhen Sie sich ein bißchen aus. (Ab nach rechts.)
Solneß. Hilde Wangel.
Hilde (schlendert, die Hände auf dem Rücken, im Zimmer herum und sieht bald dieses, bald jenes an).
Solneß (steht vorn am Tisch, ebenfalls die Hände auf dem Rücken, und folgt ihr mit den Augen).
Hilde (bleibt stehen und sieht ihn an). Haben denn Sie mehrere Kinderstuben?
Solneß. Drei Kinderstuben sind im Hause.
Hilde. Ist's möglich? Dann haben Sie wohl schrecklich viele Kinder?
Solneß. Nein. Wir haben keine Kinder. Aber jetzt können ja Sie hier das Kind sein einstweilen.
Hilde. Für diese Nacht, ja. Ich werde nicht schreien. Ich will versuchen zu schlafen wie ein Stein.
Solneß. Sie müssen in der That sehr müde sein, denk ich mir.
Hilde. O nein! Aber trotzdem – Es ist nämlich so furchtbar schön, so dazuliegen und zu träumen.
Solneß. Träumen Sie oft so in der Nacht?
Hilde. Jawohl! Fast immer.
Solneß. Wovon träumen Sie denn meistens?
Hilde. Das sag ich heut Abend nicht. Ein anderes Mal – vielleicht. (Sie schlendert wieder durchs Zimmer, bleibt am Pulte stehen und wühlt ein wenig in den Büchern und Papieren herum.)
Solneß (nähert sich). Suchen Sie etwas?
Hilde. Nein, ich sehe mir nur das alles an. (Sie dreht sich um). Es ist vielleicht nicht erlaubt?
Hilde. Sind Sie's, der in dem großen Protokollbuch schreibt?
Solneß. Nein, das thut die Buchhalterin.
Hilde. Ein Frauenzimmer?
Solneß. (lächelnd). Ja freilich.
Hilde. So eine, die Sie hier bei sich haben?
Solneß. Gewiß.
Hilde. Ist die verheiratet?
Solneß. Nein, es ist ein Fräulein.
Hilde. Ah so.
Solneß. Aber jetzt heiratet sie wahrscheinlich bald.
Hilde. Um so besser für das Fräulein.
Solneß. Aber nicht eigentlich für mich. Dann hab ich nämlich niemand da, um mir zu helfen.
Hilde. Könnten Sie denn keine andere finden, die ebenso gut wäre.
Solneß. Vielleicht möchten Sie hier bleiben und – und ins Protokollbuch schreiben?
Hilde (sieht ihn von oben bis unten an). Da kommen Sie schön an! Nein, ich danke – davon wollen wir nichts wissen. (Sie schlendert wieder durchs Zimmer und setzt sich in den Schaukelstuhl.)
Solneß. (geht ebenfalls an den Tisch heran).
Hilde (gleichsam fortfahrend). Denn hier kann man sich wohl auf andere Art zu schaffen machen, als mit so etwas. (Sie sieht ihn lächelnd an). Meinen Sie nicht auch?
Solneß. Versteht sich. Vor allem da wollen Sie natürlich Einkäufe machen und sich recht schön herausputzen.
Hilde (lustig). Nein, das, glaub ich, laß ich lieber bleiben.
Solneß. So?
Hilde. Jawohl; ich habe nämlich mein ganzes Geld durchgebracht, müssen Sie wissen.
Solneß. (lachend). Weder Koffer noch Geld also!
Hilde. Keines von beiden. Aber ich pfeif drauf – mir kann's jetzt gleich sein.
Solneß. Sehen Sie, das gefällt mir so recht an Ihnen.
Hilde. Nur das?
Solneß. Das eine mit dem andern. (Er setzt sich in den Lehnstuhl!.) Lebt Ihr Vater noch?
Hilde. Jawohl, der Vater lebt.
Solneß. Und jetzt gedenken Sie vielleicht hier zu studieren?
Hilde. Nein, die Idee ist mir nicht gekommen.
Solneß. Aber Sie bleiben doch hier einige Zeit, hoffe ich?
Hilde. Das hängt von den Umständen ab. (Sie sitzt eine Weile da und blickt ihn, während sie sich schaukelt, halb ernsthaft, halb mit unterdrücktem Lächeln an; darauf nimmt sie den Hut ab und legt ihn vor sich auf den Tisch.) Baumeister?
Solneß. Ja?
Hilde. Sind etwa Sie sehr vergeßlich?
Solneß. Vergeßlich? Nicht daß ich wüßte.
Hilde. Aber wollen Sie denn gar nicht mit mir reden von dem, was da droben vorfiel?
Solneß (einen Augenblick stutzig). Da droben in Lysanger? (Gleichgültig.) Nun, darüber ist doch nicht viel zu reden, scheint mir.
Hilde (sieht ihn vorwurfsvoll an). Wie können Sie nur so was sagen!
Solneß. Nun, dann reden Sie zu mir darüber.
Hilde. Als der Turm fertig war, da hatten wir eine große Feier in der Stadt.
Solneß. Ja, den Tag vergesse ich nicht so leicht.
Hilde (lächelnd). Nicht? Das ist aber schön von Ihnen!
Solneß. Schön?
Hilde. Auf dem Kirchhof gab's Musik. Und viele, viele hundert Menschen. Wir Schulmädchen waren weiß gekleidet. Und alle miteinander hatten wir Fahnen.
Solneß. Ach ja, die Fahnen – deren erinnere ich mich nur zu gut!
Hilde. Dann stiegen Sie geradeswegs am Gerüst empor. Direkt hinauf bis zur allerobersten Stelle. Und einen großen Kranz hatten Sie mit. Und den hängten Sie auf ganz oben am Wetterhahn.
Solneß (kurz abbrechend). Ich war's damals so gewohnt. Das ist nämlich ein alter Brauch.
Hilde. Es war so wundervoll spannend, da unten zu stehen und zu Ihnen hinaufzublicken. Denkt nur, wenn er jetzt abstürzte! Er – der Baumeister selber!
Solneß (gleichsam ablenkend). Na, das hätte auch leicht geschehen können. Denn eine von den weißgekleideten Teufelsmädchen da – die gebärdete sich so wild und schrie so zu mir hinauf –
Hilde (freudestrahlend). »Es lebe der Baumeister Solneß!« Jawohl!
Solneß. Und schwenkte ihre Fahne so unsinnig hin und her – daß mir ganz wirr im Kopfe wurde vom Ansehen.
Hilde (leiser, ernsthaft). Das Teufelsmädel – das war ich!
Solneß (richtet die Augen starr auf sie). Davon bin ich jetzt überzeugt. Das müssen Sie gewesen sein.
Hilde (wieder lebhaft). Es war ja so entsetzlich schön und spannend. Ich konnte mir nicht denken, daß es in der ganzen Welt einen Baumeister gebe, der einen so ungeheuer hohen Turm bauen könnte. Und dann, daß Sie selber droben standen, an der allerobersten Spitze! Ein wirklicher lebendiger Mensch! Und daß Ihnen gar nicht ein bißchen schwindlig wurde! Das war's eigentlich, wovor einem am allermeisten – so – schwindelte.
Solneß. Woher wußten Sie denn so sicher, daß mir nicht –
Hilde (abwehrend). O nein! Pfui! Das sagte mir mein Inneres. Denn sonst hätten Sie ja oben nicht singen können.
Solneß (sie verwundert anblickend). Singen? Ich hätte gesungen?
Hilde. Ja, das thaten sie doch wirklich.
Solneß (schüttelt den Kopf). Ich habe nie einen Ton gesungen in meinem Leben.
Hilde. Doch. Damals sangen Sie. Es hörte sich an wie Harfen hoch oben.
Solneß (gedankenvoll). Es ist doch etwas recht wunderliches – diese ganze Geschichte.
Hilde (schweigt eine Weile, sieht ihn an und sagt gedämpft). Aber dann – nachher – da kam ja das richtige.
Solneß. Das richtige?
Hilde (funkelnd lebhaft). Ja, daran brauch ich Sie wohl nicht zu erinnern?
Solneß. O doch, erinnern Sie mich daran auch ein wenig.
Hilde. Entsinnen Sie sich nicht, daß für Sie ein großes Diner war im Klub?
Solneß. Gewiß. Das muß denselben Nachmittag gewesen sein. Denn den Morgen darauf reiste ich ab.
Hilde. Und vom Klub her waren Sie zu uns für den Abend geladen.
Solneß. Das ist ganz richtig, Fräulein Wangel. Merkwürdig, wie gut Sie sich alle die Kleinigkeiten eingeprägt haben.
Hilde. Kleinigkeiten! Sie sind aber köstlich! War das auch vielleicht eine Kleinigkeit, daß ich allein war in der Stube, als Sie kamen?
Solneß. Waren Sie das also?
Hilde (ohne ihm zu antworten). Damals nannten Sie mich nicht Teufelsmädel.
Solneß. Nein, das that ich hoffentlich nicht.
Hilde. Sie sagten, ich wäre wunderschön in dem weißen Kleide. Und daß ich aussähe wie eine kleine Prinzessin.
Solneß. Das thaten Sie gewiß auch, Fräulein Wangel. Und nebenbei – so leicht und frei, wie ich mich an dem Tage fühlte –
Hilde. Und dann sagten Sie, wenn ich erst groß wäre, sollte ich Ihre Prinzessin sein.
Solneß (lacht ein wenig). Ei, ei – sagte ich das auch?
Hilde. Jawohl, das thaten sie. Und als ich dann fragte, wie lange ich warten sollte, da sagten Sie, Sie kämen in zehn Jahren wieder – wie ein Unhold – und entführten mich. Nach Spanien oder irgend so einem Lande. Und dort würden Sie mir ein Königreich kaufen, versprachen Sie.
Solneß (wie oben). Ja, nach einem guten Diner geht man immer sehr flott mit dem Gelde um. Aber sagte ich denn das alles?
Hilde (lacht leise). Freilich. Und Sie sagten auch, wie das Königreich heißen sollte.
Solneß. Nun –?
Hilde. Es sollte das Königreich Apfelsinia heißen.
Solneß. Nun, das war ja ein appetitlicher Name.
Hilde. Mir gefiel er aber gar nicht. Denn es war ja, als ob Sie sich über mich lustig machen wollten.
Solneß. Das war aber doch gewiß nicht meine Absicht.
Hilde. Nein, das war ja allerdings auch nicht anzunehmen. Nach dem, was Sie darauf thaten, da –
Solneß. Was um Himmels willen that ich denn darauf?
Hilde. Na, das fehlte gerade, daß Sie das auch vergessen hätten! Denn so etwas muß einer doch behalten, sollt ich meinen.
Solneß. Bringen Sie mich nur ein wenig darauf, dann wird's vielleicht – Nun?
Hilde (blickt ihn fest an). Sie küßten mich, Baumeister!
Solneß (erhebt sich mit offenem Munde). Ich that das?
Hilde. Jawohl, das thaten Sie. Sie faßten mich mit beiden Armen und bogen mir den Kopf zurück und küßten mich. Vielmal nacheinander.
Solneß. Aber ich bitte Sie, Fräulein Wangel –!
Hilde (erhebt sich). Sie wollen es doch nicht leugnen?
Solneß. Doch – das leugne ich entschieden!
Hilde (sieht ihn geringschätzig an). Ah so! (Sie dreht sich um und geht langsamen Schrittes dicht an den Ofen hin; dort bleibt sie stehen, den Blick abgewandt, regungslos, die Hände auf dem Rücken.)
(Kurze Pause.)
Solneß (nähert sich behutsam und bleibt hinter ihr stehen). Fräulein Wangel –?
Hilde (schweigt, rührt sich nicht).
Solneß. Stehen Sie doch nicht da wie eine Salzsäule. Was Sie da erzählten, das muß Ihnen geträumt haben. (Er legt die Hand auf ihren Arm). Hören Sie nur –
Hilde (macht mit dem Arm eine ungeduldige Bewegung).
Solneß (als ob ein Gedanke in ihm aufblitze). Oder sollte –! Warten Sie ein wenig –! Da steckt etwas tieferes dahinter, glauben Sie mir!
Hilde (rührt sich nicht).
Solneß (gedämpft, aber mit Nachdruck). Ich muß an das alles gedacht haben. Ich muß es gewollt haben. Es gewünscht, dazu Lust gehabt. Und da – Sollte es nicht so zusammenhängen?
Hilde (schweigt noch immer).
Solneß (ungeduldig). Na ja, zum Kuckuck – dann hab ich's gethan!
Hilde (dreht den Kopf ein wenig zur Seite, jedoch ohne ihn anzusehen). Sie gestehen also?
Solneß. Jawohl. Alles, was Sie wollen.
Hilde. Daß Sie die Arme um mich schlangen?
Solneß. Jawohl!
Hilde. Und mir den Kopf zurückbogen?
Solneß. Sehr weit zurück.
Hilde. Und mich küßten?
Solneß. Ja, das that ich.
Hilde. Vielmal nacheinander?
Solneß. So viel Sie nur wollen.
Hilde (dreht sich rasch zu ihm um und hat von neuem den freudenfunkelnden Ausdruck in den Augen). Nun, sehen Sie, da hab ich's doch aus Ihnen herausgelockt!
Solneß (verzieht den Mund zu einem kleinen Lächeln). Ja, denken Sie nur – daß ich so was vergessen konnte.
Hilde (wieder ein wenig schmollend, geht von ihm weg). Ach, Sie haben wohl so viele in Ihrem Leben geküßt, kann ich mir vorstellen.
Solneß. Nein, das müssen Sie doch nicht von mir glauben.
Hilde (setzt sich in den Lehnstuhl).
Solneß (bleibt stehen, indem er sich auf den Schaukelstuhl stützt und blickt sie spähend an). Fräulein Wangel?
Hilde. Ja?
Solneß. Wie war das doch? Was geschah denn weiter – zwischen uns beiden, mein ich?
Hilde. Da geschah ja gar nichts mehr. Das wissen Sie doch wohl. Denn dann kamen ja die andern Fremden, und dann – prost Mahlzeit!
Solneß. Richtig! Die andern kamen. Daß ich auch das vergessen konnte.
Hilde. Ach, Sie haben wahrhaftig nichts vergessen. Sie haben sich nur ein bißchen geschämt. So was vergißt einer doch nicht, sollt' ich meinen.
Solneß. Nein, das sollte man ja annehmen.
Hilde (wieder lebhaft, sieht ihn an). Oder haben Sie etwa auch vergessen, an welchem Tag es war?
Solneß. An welchem Tag –?
Hilde. Jawohl. An welchem Tag hängten Sie den Kranz auf den Turm? Nun? Sagen Sie's gleich!
Solneß. Hm – das Datum hab' ich weiß Gott vergessen.
Ich kann nur sagen, daß es vor zehn Jahren war. So zur Herbstzeit.
Hilde (nickt mehrmals langsam mit dem Kopf). Es war vor zehn Jahren. Am neunzehnten September.
Solneß. Das wird's gewesen sein. So – so, das haben Sie auch noch behalten! (Er hält inne.) Aber warten Sie ein wenig –! Gewiß – heute haben wir auch den neunzehnten September.
Hilde. Jawohl. Und die zehn Jahre sind um. Und Sie kamen nicht – wie Sie mir's versprochen hatten.
Solneß. Versprochen? Womit ich Ihnen Angst gemacht hatte, meinen Sie wohl?
Hilde. Es scheint mir nicht, daß das etwas zum Angstmachen war.
Solneß. Nun, dann war's also etwas, womit ich mich lustig machte?
Hilde. Nur das wollten Sie? Sich über mich lustig machen?
Solneß. Na, oder sagen wir: ein wenig mit Ihnen scherzen. Ich weiß es, Gott verzeih mir, nicht mehr. Aber irgend so was ist es wohl gewesen. Denn Sie waren ja nur ein Kind damals.
Hilde. O ein pures Kind war ich denn doch nicht. Nicht so ein angehender Backfisch, wie Sie glauben.
Solneß (sieht sie forschend an). Haben Sie die ganze Zeit wirklich in vollem Ernst gedacht, ich würde wiederkommen.
Hilde (verhehlt ein halb neckisches Lächeln). Freilich! Das hatte ich mir von Ihnen erwartet.
Solneß. Daß ich ins Haus kommen würde zu den Ihrigen und Sie mitnehmen?
Hilde. Genau wie ein Unhold, jawohl.
Solneß. Und Sie zur Prinzessin machen?
Hilde. Das versprachen Sie mir ja.
Solneß. Und Ihnen ein Königreich geben noch dazu?
Hilde (blickt zur Decke empor). Warum denn nicht? Es brauchte ja nicht gerade so ein gewöhnliches richtiges Königreich zu sein.
Solneß. Aber etwas anderes, was ebensogut wäre?
Hilde. Mindestens ebensogut. (Sie sieht ihn ein wenig an.) Konnten Sie die höchsten Kirchtürme der Welt bauen, da mußten Sie wohl auch für so was wie ein Königreich Rat schaffen können – dachte ich mir.
Solneß (schüttelt den Kopf). Ich kann aus Ihnen nicht recht klug werden, Fräulein Wangel.
Hilde. Nicht? Mir kommt das Ding so einfach vor.
Solneß. Nein, ich kann nicht herausbringen, ob Sie das alles meinen, was Sie sagen. Oder ob Sie nur dasitzen und Unsinn treiben –
Hilde (lächelnd). Mich lustig machen etwa? Wie damals Sie?
Solneß. Ganz recht. Daß Sie sich lustig machen. Über uns beide. (Mit einem Blick auf sie.) Haben Sie lange gewußt, daß ich verheiratet bin?
Hilde. Freilich, das habe ich die ganze Zeit gewußt. Warum fragen Sie danach?
Solneß (leicht hinwerfend). Ach, es fiel mir nur so ein. (Er sieht sie ernst an und sagt gedämpft.) Warum sind Sie hergekommen?
Hilde. Weil ich mein Königreich haben will. Jetzt ist ja die Frist um.
Solneß (lacht unwillkürlich). Sie sind kostbar!
Hilde (lustig). Heraus mit meinem Königreich, Baumeister! (Mit dem Finger klopfend.) Das Königreich auf den Tisch!
Solneß (rückt den Schaukelstuhl näher und setzt sich). Ernsthaft gesprochen – warum sind Sie hergekommen? Was wollen Sie eigentlich hier thun?
Hilde. Nun, fürs erste will ich herumgehen und mir alles ansehen, was Sie gebaut haben.
Solneß. Da können Sie lange herumlaufen.
Hilde. Freilich, Sie haben ja so furchtbar viel gebaut.
Solneß. Das hab' ich. Meist in den letzten Jahren.
Hilde. Viele Kirchtürme auch? Solche ungeheuer hohe?
Solneß. Nein. Ich baue jetzt keine Kirchtürme mehr. Und auch keine Kirchen.
Hilde. Was bauen Sie denn jetzt?
Solneß. Heimstätten für Menschen.
Hilde (nachdenklich). Könnten Sie nicht auch über den Heimstätten da so'n wenig – so Kirchtürme machen?
Solneß (stutzt). Was meinen Sie damit? Hilde. Ich meine – etwas, was emporzeigt – frei in die Luft hinauf. Mit dem Wetterhahn in schwindelnder Höhe.
Solneß (grübelt ein wenig). Merkwürdig genug, daß Sie das sagen. Denn das ist's ja eben, was ich am allerliebsten möchte.
Hilde (ungeduldig). Aber warum thun Sie's dann nicht?
Solneß (schüttelt den Kopf). Die Menschen wollen's nicht so haben.
Hilde. Denken Sie nur – daß die das nicht wollen!
Solneß (in leichterem Ton). Jetzt baue ich mir aber ein neues Heim. Hier gerade gegenüber.
Hilde. Für Sie selber?
Solneß. Jawohl. Es ist beinahe fertig. Und auf dem ist ein Turm.
Hilde. Ein hoher Turm?
Solneß. Jawohl.
Hilde. Sehr hoch?
Solneß. Die Leute werden gewiß sagen, daß er zu hoch ist. Für ein Wohnhaus wenigstens.
Hilde. Den Turm da will ich mir ansehen, gleich morgen früh.
Solneß (sitzt da, das Kinn auf die Hand gestützt, und starrt sie an). Sagen Sie mir, Fräulein Wangel – wie heißen Sie? Mit dem Vornamen, meine ich.
Hilde. Ich heiße ja Hilde.
Solneß (wie oben). Hilde? So?
Hilde. Haben Sie denn das nicht behalten? Sie nannten mich ja selber Hilde. Den Tag, da Sie ungezogen waren.
Solneß. Das that ich auch?
Hilde. Damals sagten Sie aber: kleine Hilde. Und das gefiel mir nicht.
Solneß. So, das gefiel Ihnen nicht, Fräulein Hilde?
Hilde. Nein. Bei der Gelegenheit nicht. Übrigens – »Prinzessin Hilde« – Das wird sich ganz gut ausnehmen, scheint mir.
Solneß. Gewiß. Prinzessin Hilde von – von – Wie hieß nur gleich das Königreich?
Hilde. Ach was! Von dem dummen Königreich will ich nichts wissen. Ich wünsche mir ein ganz anderes!
Solneß (hat sich zurückgelehnt und blickt sie immer noch unverwandt an). Ist's nicht sonderbar –? Je mehr ich jetzt darüber nachdenke – da kommt's mir vor, als wäre ich lange Jahre herumgegangen und hätte mich damit abgequält – hm –
Hilde. Womit?
Solneß. Auf etwas zu kommen – so etwas Erlebtes, von dem ich meinte, ich müßte es vergessen haben. Aber nie fand ich heraus, was das sein könnte.
Hilde. Sie hätten einen Knoten ins Taschentuch machen sollen, Baumeister.
Solneß. Dann hätte ich nur daran herumgegrübelt, was wohl der Knoten zu bedeuten hätte.
Hilde. Ja ja, es giebt wohl auch solche Unholde in der Welt.
Solneß (steht langsam auf). Es war ein großes Glück, daß Sie jetzt kamen.
Hilde (blickt ihn tief an). War's ein Glück?
Solneß. Denn ich saß hier so allein. Und starrte so ganz hilflos auf alle die Dinge. (Leiser.) Ich will Ihnen sagen – ich habe angefangen solche Angst zu bekommen – so entsetzliche Angst vor der Jugend.
Hilde (wegwerfend). Pah – vor der Jugend brauchen Sie doch keine Angst zu haben!
Solneß. Doch; gerade vor der. Darum hab' ich mich auch eingeschlossen und eingeriegelt. (Geheimnisvoll.) Sie müssen nämlich wissen, daß die Jugend herkommen wird und an die Thüre donnern. Daß sie zu mir hereinstürmen wird.
Hilde. Dann, meine ich, sollten Sie einfach hinausgehen und der Jugend aufmachen.
Solneß. Aufmachen?
Hilde. Freilich. So daß die Jugend zu Ihnen hineindürfte. So in aller Güte.
Solneß. Nein, nein! Die Jugend – sehen Sie – die ist die Wiedervergeltung. Sie geht dem Umschwung voran. Wie unter einer neuen Fahne.
Hilde (erhebt sich, blickt ihn an und sagt, indem es um ihre Mundwinkel zuckt). Können Sie mich zu etwas brauchen, Baumeister?
Solneß. Ja, jetzt kann ich's wahrhaftig! Denn Sie kommen auch – gleichsam unter einer neuen Fahne, scheint es mir. Jugend gegen Jugend also –!
Doktor Herdal (kommt durch die Vorzimmerthüre herein).
Die Vorigen. Doktor Herdal.
Herdal. Nun – Sie und das Fräulein sind noch immer hier?
Solneß. Wir beide haben vielerlei zu reden gehabt.
Hilde. Altes und neues.
Herdal. Wirklich?
Hilde. O das ist sehr amüsant gewesen. Der Baumeister – der hat nämlich ein ganz unglaubliches Gedächtnis. Alle möglichen Kleinigkeiten, deren entsinnt er sich auf der Stelle.
Frau Solneß (kommt durch die Thüre rechts herein).
Die Vorigen. Frau Solneß.
Frau Solneß. So, Fräulein Wangel, jetzt ist das Zimmer für Sie in Ordnung.
Hilde. Ach, wie lieb Sie gegen mich sind!
Solneß (zu seiner Frau). Die Kinderstube?
Frau Solneß. Jawohl, die mittlere. Aber zuerst wollen wir wohl zu Tisch gehen.
Solneß (nickt Hilde zu). Hilde, die soll in der Kinderstube schlafen.
Frau Solneß (sieht ihn an). Hilde?
Solneß. Fräulein Wangel heißt nämlich Hilde. Ich habe sie gekannt, als sie noch ein Kind war.
Frau Solneß. Ei, was du sagst, Halvard. Also bitte, meine Herrschaften. Der Tisch ist gedeckt. (Sie nimmt den Arm des Doktors und geht mit ihm nach rechts hinaus).
Hilde (hat inzwischen ihre Reiseeffekten zusammengerafft; leise und schnell zu Solneß). Ist das wahr, was sie da sagten? Können Sie mich zu etwas brauchen?
Solneß (nimmt ihr die Sachen weg). Sie sind die, die ich am schwersten vermißt habe.
Hilde (blickt ihn mit froh erstaunten Augen an und schlägt die Hände zusammen). Aber mein Gott –!
Solneß (gespannt). Nun?
Hilde. Dann hab ich ja das Königreich!
Solneß (unwillkürlich). Hilde –!
Hilde (indem es wieder um ihre Mundwinkel zuckt). Beinahe – hätt ich fast gesagt. (Sie geht nach rechts hinaus.)
Solneß (folgt ihr).