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Die großen Deckenlichter erloschen, die Wandarmleuchter schwanden in Finsternis, und mit leisem Surren richtete die Scheinwerfermaschine zartgrüne und goldige Lichtbreiten auf die umfangreiche Bühne, deren Kulisse eine Art Traumlandschaft darstellte.

Man sah, offenbar durch Spiegelung hervorgerufen, in der Tiefe der Auen die Elfen tanzen zu einer zarten, sehnsuchtsvollen Melodie, die aus der versenkten Kapelle tönte.

Und auf einmal, von einem starken, silbernen Licht empfangen, glitt eine Gestalt auf die Bühne, ein herrlich gewachsenes Mädchen, nackt, nur mit einem Gewirr goldglitzernder Bänder umgürtet. Während sie langsam hin zur Mitte schwebte, kam von der anderen Seite die Partnerin, nackt, wie die erste, doch von einer schwarzen Crepewoge überflossen, auch das Gesicht von dunklem Schleier verhüllt.

Die beiden tanzten, die Lichtblonde, Goldflimmernde, die das Leben darstellte, und die dunkelhaarige, Schwarzverschleierte, die den Tod bedeutete. Sie suchten sich, und sie flohen einander, sie umschlangen sich wie in heißester Leidenschaft, und dann riß sich die Lichte aus den Armen der Dunklen wie in namenlosem Entsetzen. Ein Gaukelspiel zwischen dem gleißenden Tageslicht und der schwermütigen Nacht, das der surrende Zauber von der Decke her mit bunten Blitzen und schattenhaften Tinten malte. Zuletzt ein rasender Tanz der Leidenschaft, in dem das Leben den Tod zu besiegen schien und der doch zuletzt die süße Blonde niedersinken ließ, von den Armen der Schwarzverhüllten trauervoll umschlungen.

Jener Beifall, der, durch nichts als durch die Leistung hervorgerufen, den Theaterraum wie knatternde Salven durchrollt, belohnte die beiden schönen Geschöpfe, die, als die Sterne des Abends, immer wieder von den tausend Besuchern des Varietés umjubelt, hervorkommen mußten.

Bis das Gebrüll der Löwen hörbar ward, die ihr Bändiger schon aus den Käfigen trieb.

Um den Clown im weißen Pierrotkittel, der in drolligem Schreck, wie vom Staunen über die Anmut der beiden Tänzerinnen auf den Boden geworfen, noch immer in der Mitte der blendend hellen Bühne saß, um den bauten jetzt blausilberne Livreen mit fabelhafter Geschwindigkeit den Riesenkäfig für die Bestien. Und der verdutzt Dasitzende konnte unter Verlust seines spitzen Hütchens noch eben zwischen der letzten Gitterverschraubung hindurchwischen, als die ersten gelben Großkatzen vor den knallenden Peitschenschlägen des Dompteurs hereingaloppierten. Der arme Weißgeschminkte rannte mit offenem Munde, wie in toller Furcht, außen um die Gitterstäbe herum und verschwand, von dem Gebrüll der Löwen und dem kreischenden Gelächter der Galerie verfolgt, hinter der Bühne.

Im Gang, der zu den Garderoben führte, erreichte der Clown, mit seinen grell ummalten Augen immer vorausspähend, noch die schwarzlockige Tänzerin, die in ihren pelzbesetzten Brokatmantel gehüllt, zwischen den Zwergen stand, die, schon in ihrem Hochzeitsstaat, nachher eine Pantomime aufführen sollten. Diese kleinen, lächerlichen Menschen, mit ihrer nachgemachten Würde doch albern und kindisch, drängten und sprachen mit quietschender Stimme auf die schöne Eva Sarranski ein, die mit einem holden Lächeln den Täppischen wehrte, die hinter ihrer Kindergestalt die Dreistigkeit Erwachsener verbargen.

»Aber Fräulein Maron, wie können Sie nur solange hier auf dem zugigen Gang bleiben, erhitzt wie Sie sind!« Er schob die Pygmäen, es waren zwölf an der Zahl, mit weitem Armschwung zur Seite, »weg da, ihr Kroppzeug!«

Sofort kam die eigentliche Natur der Krüppelhaften zum Vorschein. Sie zischten und zeterten, und widrige Worte flogen den beiden nach, die schnell den langen Gang zur Garderobentreppe hingingen.

Das Mädchen, das sich in all der bunten Lüge des Varietés, in der selbstsüchtigen Roheit dieser wirbelnden Scheinwelt ihre heitere helle Seele bewahrt hatte, plauderte mit dem Bajazzo, der so ungeschickt und hilflos komisch neben der wie auf Federn gehenden Schönheit aussah. Einmal sah sie ihn an mit ihren dunklen Sternen und traf den Liebesblick des von ihrem Reiz berauschten. Sie lächelte, wußte als Weib wohl, daß er sie liebte, ahnte aber kaum, welch' eine verzehrende Leidenschaft im Herzen dieses armen Jungen für sie brannte.

»Halt, Mr. Flic-Flac!« sie verhielt am Fuß der Treppe, die zu den Garderoben führte, den Schritt, »mit herauf dürfen Sie nicht! … Also auf Wiedersehen!«

Er nahm ihre zartgeformte Rechte in seine beiden Hände, die klein und für einen Mann zu zierlich waren; er beugte sich, seine Lippen auf den Schmelz ihrer Haut zu drücken; aber dann: »Ich bin ja noch geschminkt« murmelnd, hob er den Kopf wieder, sah der Schönen mit einer wehmütigen Bitte um Vergebung in die Augen und ging schnell zurück.

Langsam die Treppe hinaufsteigend, dachte sie an ihn. Sie gehörte nicht zu den Frauen, denen es Freude macht, Männer, soviel als sie können, in sich verliebt zu machen. Die bloß Begehrlichen sah sie nicht, und, wenn einer wirklich verliebt war, so tat er ihr von Herzen leid, weil sie noch keinen fand, den sie hätte lieben können – bis auf den einen, dessen Bild aus ihrer Kindheit heraufdämmerte, nach dem ihr Herz verlangte mit einer unbeschreiblichen Sehnsucht; den ihr die Phantasie als den Liebsten, den Besten, den Schönsten zeichnete und den nichts ihr ersetzen, nichts aus ihrem Herzen verdrängen konnte – ihren Vater.

In diesen Tagen kam er zurück! Er, der sein Leben für seine Ideen geopfert, der aus Gründen der Politik an einer Verschwörung teilgenommen und zu langjähriger Gefängnisstrafe verurteilt war, er wurde frei und kehrte heim zu seinem Kinde, zu seiner Eva! … Wie hätte sie ihn nicht lieben sollen? Sie küßte ihn jeden Abend, ehe sie schlafen ging. Im Bilde nur, aber für sie, für ihr zärtliches Kinderherz war er lebend! War schöner als alle Männer, die sie kannte! Und so gut, so gut! … Nicht zwölf Jahre war sie alt, als er fort mußte!

Sie lebte damals in Dresden; Maria, die Mutterstelle an ihr vertreten hatte, und sie. Der Vater war immer auf Reisen. Aber seine Heimkehr war jedesmal ein Glückstag, ein Fest. Er schenkte ihr fast zu viel. Wenn er sie in seine Arme nahm und an seine Brust hob, dann waren ihre Augen immer voll Tränen. Damals schon und später noch häufiger dachte sie, ob es natürlich wäre, einen Vater so zu lieben? … Aber sie hatte ja keinen Menschen sonst auf der Welt! Maria, ja gewiß! Doch die gehörte zu ihr, wie ihre Wohnung, wie die Wärme und das Licht des hübschen Häuschens, das sie draußen im Vorort bewohnten. Ihrer Mutter konnte sich Eva nicht entsinnen. Später hatte sie andere Frauen an des Vaters Seite gesehen. Aber sie waren wohl nicht gut zu ihm gewesen. Warum hätte er sonst bei keiner bleiben können?! Eva dachte nicht an sie. Wollte auch nichts davon wissen! Darin war sie seltsam: häßliche und widerwärtige Dinge vermied sie mit sicherm Instinkt. Ihr klares und reines Fühlen glich einer gläsernen Wand, das Menschen, die nicht zu ihr gehörten, abhielt, ihr nahe zu kommen. So war ihre feine und lautere Seele nicht zag, aber scheu und flüchtete, wie der Vogel in seinen lichten Wipfel, immer wieder zu dem einzigen, der sie ganz erfüllte. Als kleines Kind hatte sie ihn »Mappa« genannt, hatte so in ihrer Kinderzärtlichkeit den Mutternamen mit dem des Vaters vereinigt. Und jetzt, da er nach so langem Fortsein endlich heimkehren sollte, jetzt jubelte ihre Liebe, ihr Glück ihm, nur ihm entgegen!

So, ganz fern der Gegenwart mit ihren Gedanken und Sehnsüchten, stieg Eva die eiserne Wendeltreppe hinauf und ging nach der Garderobe, in der sie sich mit Madeleine, ihrer Partnerin, umkleidete. Ein Gefühl des Unbehagens beschlich sie, als sie drinnen Männerstimmen hörte. Zögernd klopfte sie.

Die Tür ging sogleich auf, ein älterer Herr im Abendanzug, ein großes Monokel im hakennasigen Gesicht, stand vor ihr und lächelte sie an. Ein anderer Kavalier kniete vor Madeleine, die halb liegend auf dem Kanapee saß, und löste ihr mit feierlicher Bewegung die goldenen Bänder, die von den glitzernden Schuhen herauf ihre schlanken Beine umwanden. Das schöne Mädchen, dem das aschblonde Haar, schon entfesselt, um die weißen Schultern floß, war noch im Kostüm ihres letzten Tanzes. Und da die Goldbänder des Hüftenschurzes auseinanderfielen, so lag die Tänzerin nur mit dem Trikot bekleidet, das oberhalb der Knie aufhörte, in einer verführerischen Pose unter den Augen des Mannes, der eben einen Kuß auf das helle Knie drückte.

Eva stand, ohne den sie begrüßenden Kavalier zu beachten, in ihrem Brokatmantel wortlos an der Tür. Dann ging sie um den Herrn herum an ihren Toilettentisch, setzte sich und sagte, geradeaus blickend, mit harter Stimme:

»Ich möchte mich umziehen!«

Der Kavalier vor Madeleine erhob sich, und diese selbst richtete sich, etwas verlegen, in die Höhe, während der ältere Herr eine leichte Verbeugung nach dem Spiegelbilde der Schwarzlockigen hin machte.

»Das heißt, wir sollen das Feld räumen, Gnädigste?«

Eva antwortete ihm nicht. Sie wandte sich wieder an die Blonde:

»Du weißt doch, Madeleine, daß es streng verboten ist, in der Garderobe Herrenbesuch zu haben!«

Madeleine hatte ihre Keckheit wiedergewonnen:

»Für die Statistinnen, ja … wir machen uns unsere Vorschriften selber!«

Eva erwiderte nichts. Sie zog den Mantel fester um die Schulter und blieb still sitzen.

»Gestatten Sie also, daß wir uns empfehlen!« Der Jüngere der Kavaliere folgte dem anderen. Sie sagten einander mit leisem Lächeln etwas und schlossen die Tür hinter sich.

Nun warf Madeleine ihren Goldschurz ab und befreite den Körper, der ganz Zartheit und Grazie war, vom Trikot. Dann rieb sie die blendende Haut, warf ihr Spitzenhemd über und sagte, die vollen Lippen schürzend:

»Du bist doch 'ne rechte Zierliese, Eva!«

Die Schwarzlockige hatte begonnen sich abzuschminken. Sie wandte sich zu ihrer Freundin:

»Aber Madeleine, du kennst mich ja! Auch wenn es nicht verboten wäre, ich kann mich nicht umziehen, wenn jemand im Zimmer ist!«

»Ach was, wir sind doch auch so auf der Bühne!«

»Ja, beim Tanzen, das ist ganz was anderes, da sieht uns das Publikum aus der Ferne, als Bild. Wenn ich in demselben Kostüm in einem Zimmer zwischen fremden Menschen tanzen sollte, das brächt' ich nicht fertig!«

»Du bist eben ein Dummchen! Übrigens wir sind eingeladen, beide … Graf Sterneich feiert seinen Namenstag im »Bristol« heute abend.«

Eva schüttelte ihren Lockenkopf.

»Da wirst du schon allein hingehen müssen. Du weißt ja, ich erwarte meinen Vater.«

»Aber er soll doch erst morgen kommen?«

»Vielleicht schon heute nacht … und wenn auch, ich habe keine Ruhe … denke doch, beinah' sieben Jahre sind es her! Ich weiß ja gar nicht mehr, wie er aussieht!«

»Du hast doch sein Bild …«

»Ja, aber … das ist so komisch … ich erkenn' ihn wohl, aber er ist es doch nicht … mir ist, als wär' das 'n ganz anderer, ich glaube, mein Papa ist viel schöner und größer …«

»Natürlich muß er viel größer sein, als das Bild.«

»Ach, du willst mich nicht verstehen, Madeleine … denkst du denn nie an deine Eltern?«

Madeleine Brixon streifte eben über das weißseidene Unterkleid eine seegrüne Robe aus Seidenkrepp, die, glatt gearbeitet, um die schlanken Hüften von einem Gürtel aus blitzendem Straß gehalten wurde. Und ihr schmales Gesicht mit den dunkelblauen Augen, die noch leuchtender schienen unter dem matten Hellblond des kurzgeschnittenen Haares, sah ganz unbewegt zu der Freundin herüber:

»Meine Familie läßt mich sehr kalt. Wenn ich nicht zufällig mein Talent hätte, wer weiß, wo ich dann schon wäre.«

»Das begreif ich nicht, Leni!«

Die Blonde hob mit dem Aufwerfen ihrer rotgeschminkten Lippen die schmalen Schultern. –. Ihr schönes Gesicht bekam einen fremden, fast abstoßenden Zug, und für Augenblicke zeigte sich ihre kalte, egoistische Seele in einem höhnischen Lächeln:

»Meine Mutter war eine Puppe und mein Vater ein Spieler. Er hat mich ja lieb gehabt, hat mich auch was lernen lassen … Vielleicht wär' manches anders gekommen, wenn er nicht so früh hätte weg müssen …«

»Ja, du hast mir's erzählt, er ist im Duell gefallen, nicht wahr?«

Die Blonde nickte, ihr Antlitz verriet keine Spur von Schmerz und Trauer:

»Es werden jetzt drei Jahre … Und meine Frau Mama hat sich sofort wieder verheiratet. Der Mann ist Beamter, irgendein hohes Tier, unsere Beziehungen haben seitdem überhaupt aufgehört.«

»Und dein Bruder? der hält doch zu dir?«

Mit einem heiteren Lachen, das wie ein voller Sonnenstrahl alles Trübe aus diesen reizvollen Zügen fortwischte, hatte Madeleine ihre nackten Arme erhoben und sich im Tanzschritt ein paarmal hin- und hergedreht, ehe sie antwortete:

»Mein Bruder, der liebe Junge! Aber der studiert doch noch! Wenn ich ihm nicht gelegentlich helfen würde, dann läg' er längst auf der Nase! Aber das ist ja auch alles egal! Das Leben ist doch so wunderschön! Für mich liegt all der Jammer tief unten! Und ich bin oben! Oben auf der Spitze! Ich sehe das gar nicht mehr! Ach, Eva, komm' doch mit heut' abend! Du bist der einzige Mensch, der mir wirklich fehlt, wenn du mal nicht da bist!«

Sie umschlang die Freundin, die jetzt auch mit ihrem Anzug fertig war und in dem schwarzen, schmelzbestickten Taffetkleid wie eine Südländerin aussah, und küßte sie zärtlich auf die dunkeltonigen Augenlider.

Aber Eva entschlüpfte ihr und lächelte:

»Ich kann nicht, Madeleine, wahrhaftig nicht … Mit meinen Gedanken bin ich ja doch ganz wo anders! Ich würde die Gesellschaft bloß langweilen!«

»Also, wie du willst!«

Sie zogen beide ihre Pelzmäntel an – der Maulwurf an Madeleines Kragen hatte einen kleinen Riß, den Eva ihr noch schnell zusteckte – und verließen die Garderobe.

*

»Ich soll Sie noch mal bei Herrn Direktor vorführen, er will Ihn' wohl noch 'ne Abschiedsrede halten!«

Der Strafgefangene Nr. 212 war damit beschäftigt gewesen, vor einem kleinen Spiegel, den ihm Aufseher Wildrich geborgt hatte, sein leicht ergrauendes, dunkelblondes Haar zu scheiteln, das noch dicht und voll den schmalen, gut geformten Schädel deckte. Er hatte einige Mühe damit; in den sechs Jahren, die er in diesem stillen Hause zugebracht, hatte er mit der Zeit allen Eitelkeiten Valet gesagt. Die Tage kamen und gingen hier, nur bestimmt durch Arbeit, Essen und Schlaf, wozu lauter Glockenschlag rief. Was, karg genug, an Zeit blieb, das füllte die Lektüre aus, die Lektüre der Bücher jener umfangreichen Anstaltsbibliothek, die die große Doppelzelle Stanislaus Sarranskis bis unter die geweißte Decke, in schmucklose Regale geordnet, füllte.

Er sah, da er jetzt mit seinem Kopf fertig war, verlorenen Blickes darüber hin. Mit den meisten dieser Werke war er bekannt geworden, hatte sie oft und oft in Händen gehabt bei dem wöchentlich stattfindenden Bibliothekswechsel, wenn die Kalfaktoren die Bücher in vollen Körben durch die Zellengänge schleppten, um sie durch die »Futterklappen« der Zellentüren den gespannt aufhorchenden Gefangenen hineinzureichen.

»Ja, denn komm' Se man,« meinte der Aufseher, »ich halte ja nich viel von solche Predigten … jebessert wird dadurch selten mal einer … und Sie …« Der alte Mann verstummte und sah den Gefangenen, dem weder die lange Strafe, noch seine fünfzig Jahre die schlanke, elegante Gestalt hatten beugen können, mit einem halb spöttischen, halb wehmütigen Ausdruck an: »Sie sind ja doch klüger, als wir alle, Sarranski … un haben nu auch all die furchtbar vielen Bücher da gelesen … na, mich soll's doch wundern … aber … Sie haben mir ja keine so 'ne Mühe jemacht, wie manche von die andern, und waren immer orntlich un anständig … ja, das waren Sie und hab' ich auch schon zu Herrn Direktor jesagt … und wenn Sie Ihr Weg mal da raus führt … ich meine, nach meine Wohnung, un woll'n mal 'ne Tasse Kaffee bei mir trinken … meine Frau fragt schon immer nach Ihnen … ich hab' ihr doch erzählt … solche wie Sie haben mir doch hier nicht oft … Denn die meisten, das sind wirklich große Hallunken und Strolche und verdienen auch gar nichts Besseres … aber ich meine: lieber will ich Sie überhaupt nie nich mehr zu sehen kriegen, als daß Sie hier wieder herkommen, Sarranski! …«

Da richtete sich der Gefangene Nr. 212 hoch auf, sah den viel kleineren Aufseher mit seinen langbewimperten, so eigentümlich strahlenden Augen voll an:

»Sie dürfen fest versichert sein, Papa Wildrich, ich komme nicht wieder hier her!«

»Wenn's man wahr is! Ja, wenn Sie noch zum erstenmal drin wären … aber Sie gehören doch zu die Rückfälligen!«

Der Gefangene sah einen Augenblick in das vor dem hochgelegenen Gitterfenster wirbelnde Flockentreiben, dann glitt sein Auge über den feinen, hellen Frühjahrsanzug, mit dem er soeben die Anstaltskleidung vertauscht hatte und der zu dem Winterwetter draußen gar nicht passen wollte, und dachte ein wenig nach. Langsam, wie aus einem wohlüberlegten Entschluß, kam es von seinen Lippen:

»Als ich hierher kam, hatte ich keine Ahnung, was sechs Jahre Gefängnis bedeuten. Meine längste Strafe war vorher ein halbes Jahr gewesen. Und sehen Sie, Papa Wildrich, ich bin das, was man eine sanguinische Natur nennt … Ich bewahre mir immer noch eine Hoffnung … das heißt, solange wie ein vernünftiger Mensch eben noch hoffen kann. Ich habe mir auch ausgerechnet, daß ich mit fünfzig Jahren frei komme. Und da kann man bei meiner Konstitution sein Leben immer noch einmal beginnen … aber heute, wenn ich das noch einmal durchleben sollte, nochmal sechs Jahre oder auch bloß drei – – nein, das nicht … auf keinen Fall!«

»Na, ich will's hoffen, Sarranski … ja, komm' Se man … der Herr Direktor wartet doch auf Ihnen.«

Und er ließ den Gefangenen nach alter Gewohnheit vor sich her aus der Zelle treten, in deren großen und blankgeputzten Stahlschloß er den Schlüssel drehte. Dann gingen sie beide, einer hinter dem anderen, den sauber gescheuerten Eisengang hinauf.

Vor der Wendeltreppe klopfte Wildrich mit seinem Schlüssel an das Geländer zum Zeichen, daß nun der Aufseher von Station II den aus der obersten Etage herabsteigenden Gefangenen übernehmen sollte. Da aber dort sich niemand aufhielt, ging Sarranski, wie schon häufig, über die eisernen Treppen und Galerien durch das ganze, im Stil des Observationssystems erbaute Gebäude bis ins Parterre, wo im »Zentral«, dem Schneidepunkt der auseinandergehenden Zellengänge, der Oberaufseher Munter stand. Bei dem meldete er sich, und der ging selbst mit ihm bis an das mächtige Doppelgitter, das das Gefängnis gegen die Büros der Beamten abschloß.

Dort in dem langen, etwas dämmrigen Gang, der sein Licht nur von vornher aus den vergitterten Fenstern des Eingangstores erhielt, hatte der Gefangene Nr. 212 manchesmal gestanden. Wenn er sich zum Arzt vormeldete oder zum Geistlichen wollte, oder damals, als er – was nur ein einziges Mal in den langen Jahren passiert war – beim Oberinspektor zur Bestrafung gemeldet wurde.

Ganz im Anfang seiner Zeit war es gewesen. Der damalige Aufseher, ein roher, ungebildeter Mensch, der ihn seiner sauberen Gewohnheiten, seines ganzen besser gearteten Wesens halber nicht leiden mochte, hatte ihn mehrmals dabei abgefaßt, daß Sarranski seinen Schemel unter das hochliegende Fenster stellte und hinausblickte … Man sah da ein Stück Heide, gelben Sand und ein paar Kiefern … Ach, was wissen die Menschen, die draußen sind, was so eine dunkelgrüne Kiefer dem bedeutet, der in fünf Schritten seinen Lebensraum durchmißt, dem jahrelang Luft und Licht durch dieses unerträgliche Gitter filtriert zukommen?!

Dann, als er bei jener Strafmeldung mit einem Verweis davongekommen, hatte sich Sarranski diesen letzten, zitternden Sehnsuchtsblick auf die in Himmelsbläue gewiegten oder vom Sturm gepeitschten Wipfel auch abgewöhnt. Die eiserne Konsequenz, mit der er einer Idee nachhing, gab ihm die Kraft, alles zu meiden, was die Anstaltsleitung mißbilligte. Und schon nach einem halben Jahr fiel ihm die Frucht seiner Mäßigung in den Schoß: er hatte nicht mehr nötig, früh morgens zu den Gemeinsamen in den Arbeitssaal zu gehen, um dort Glasballons mit weißen Weidenruten zu beflechten. Der Posten des Bibliothekars war erledigt, man stellte diesen ruhigen, korrekten und auch nicht mehr zu jungen Mann, der sich überall beliebt machte, mit Vergnügen ein.

Sarranski hatte auch damals keinerlei Bewegung gezeigt. Sein heißes, leidenschaftliches Temperament mit der undurchsichtigsten Gleichmut zu überziehen, das war das Studium und die Mühe seiner Jahre. Und doch wich mit dem Morgen, dessen Erwachen ihn in der hohen, luftigen Bibliothekzelle fand, die graue Verzweiflung, die ihm schon an Hirn und Herz zu saugen begann. Er brauchte nicht mehr neben dem Gesindel zu hocken, er war allein und doch beisammen mit den feinsten, klügsten Menschen, die alle zu ihm redeten, die ihn oft frei und hoch aus Zellenwand und Gitter davontrugen, in das heißersehnte Leben hinaus.

Dafür war Stanislaus Sarranski dem Direktor dankbar.

Als er jetzt zu dem Beherrscher des Gefängnisses ins Zimmer geführt wurde, saß Direktor Starenkamp eifrig arbeitend an seinem Schreibtisch. Er blickte flüchtig auf:

»Aufseher Breidel, Sie können gehen! … Sarranski, setzen Sie sich dahin!«

Dann schrieb er mit großem Eifer und ganzer Hingebung an seiner Arbeit weiter, wohl zehn Minuten noch. Plötzlich fuhr er empor, sah den Gefangenen an und sagte, laut sprechend, denn er hörte schwer und setzte das unbewußt auch bei den anderen voraus:

»Wann sind Sie damals eingeliefert worden, Sarranski?«

»Die Uhr schlug zwölf, als wir im Gefängnishof aus dem Wagen kletterten, Herr Direktor.« Sarranski sprach ebenfalls mit erhobener Stimme.

Ein rascher Blick zu dem Regulator hinauf, der über dem Schreibtisch hing:

»Mensch, dann sind Sie ja schon eine Viertelstunde zu lange hier! Ich habe nicht mehr das Recht, Sie länger da zu halten.«

»Herr Direktor haben sich jedes Recht an mir und meinem Leben durch Ihre große Güte erworben … Ihnen, Herr Direktor, verdanke ich es, daß ich heute noch lebe.«

Dr. Starenkamp schüttelte den feinen Gelehrtenkopf mit den schmalen Lippen, um die ein rötlicher Bart, wenig gepflegt, wucherte:

»Unsinn, Sarranski! Sie haben sich gut geführt. Sonst wären Sie nicht Bibliothekar geworden …«

Er sah einen Augenblick auf sein Manuskript:

»Es ist doch alles Ursache und Wirkung. Sie sind ein gutes Studienobjekt für mich gewesen. Wer zerstört denn sein Steckenpferd mutwillig? … Ja, also, da wir gerade dabei sind … das heißt, ich meine mich … oder meine Arbeit … Sehen Sie, ich bin hier Direktor und geb' mir Mühe, etwas herauszubringen für Sie … für die Gefangenen … Wir haben ja schon darüber gesprochen. Das Leben kehrt sich nicht an die, die gerade da sind … Im besten Falle erreicht man etwas für die Kommenden.«

Er dachte wieder nach und sprach im Grübeln, stockend fast, wie zu sich selber:

»Das Schwerste ist und vielleicht gelingt es niemals, die Menschheit von ihrer eigenen Ohnmacht zu überzeugen … und nicht einmal die Dümmsten sind es, die glauben, daß mit dieser Erkenntnis die Anarchie beginnt … Also Sarranski, ich will Ihre Lebensgeschichte hören, wenn Sie noch so viel Zeit haben, heißt es … Erzählen Sie mir alles, von Anfang an, der Wahrheit entsprechend oder so, wie Sie, als pathologischer Lügner, der Sie ja doch zu sein glauben, sich die Sache vorstellen.«

*

Oberregierungsrat Dr. Weber, der Dirigent der Kriminalabteilung, sah ein dickes Polizeiaktenstück ein, während der Kriminaloberinspektor Bernsdorf, der auf der anderen Seite des Schreibtisches ihm gegenüber saß, sich Notizen in sein Taschenbuch machte.

»Scheint doch ein ganz gerissener Kunde zu sein, dieser Sarranski … sechs Jahre hat er gehabt … und wird heute entlassen?«

»Um zwölf Uhr«, nickte der Oberinspektor, der das Betrugsdezernat verwaltete.

»Jetzt ist es genau halb zehn,« Dr. Weber ließ seine goldene Savonettuhr klingend die Zeit angeben, wie er gern tat, wenn ihn eine Sache sehr beschäftigte, »wir dürfen den Mann nicht aus den Augen lassen während der ersten Tage, lieber Herr Bernsdorf!«

Der nickte.

»Ich habe das Nötige angeordnet, Herr Oberregierungsrat. Er wird, sowie er aus dem Gefängnistor tritt, von zweien beobachtet, meine besten Leute habe ich dafür eingesetzt … er kann uns kaum auskommen.«

»Das Wichtigste ist, daß wir ihm seinen Raub wieder abnehmen … fünfzigtausend Mark waren es, nicht wahr? … aber …« Der nicht große, doch gedrungene Mann sprang von seinem Stuhl auf, »das Geld ist doch, wie alles andere längst entwertet!«

Über das flächige, gesund rosige Gesicht des Oberinspektors, das ein wenig an einen wohlgenährten Priester erinnerte, glitt ein bewußtes Lächeln:

»Der gute Sarranski … oder vielmehr wir haben Glück gehabt. Es hat sich nämlich gleich nach seiner Verurteilung jemand bei uns gemeldet, ein gewisser Herr Bialla aus Tschernowitz. Den hat Sarranski zum Schluß auch noch reingelegt. Er hat nämlich von ihm für die fünfzigtausend Mark englische Goldpfunde gekauft. Es war neunzehnhundertsechzehn, das Gold fing damals schon an, sehr rar zu werden. Der Galizier hatte ihm zweitausend Pfund gegeben dafür und glaubte, ein gutes Geschäft gemacht zu haben. Wie er aber zu Hause sein Geld noch einmal nachzählte, waren es tatsächlich nur vierzigtausend Mark, aber doch der reelle Wert. Damit fiel für Bialla der Klagegrund weg. Und außerdem war der Goldverkauf und besonders das Geschäftemachen in feindlicher Münze damals verboten. Herr Bialla hat denn auch von einer Anzeige abgesehen.«

»Aber wo Sarranski das Geld gelassen hat, davon haben Sie keine Ahnung?«

Der Oberinspektor hob die massigen Schultern, er konnte seinem Vorgesetzten nicht gut sagen, daß diese Frage eigentlich überflüssig war. Aber der »Ober« merkte es selbst:

»Natürlich, sonst brauchten wir ja jetzt nicht hinter ihm herlaufen! … Hat er denn gar keine Verwandte, der Sarranski?«

»Eine Schwester, die in Hamburg lebt. Sie war vor anderthalb Jahren in eine Kuppeleisache verwickelt und mehrere Monate in Untersuchung. Leider versagten in der Hauptverhandlung die Zeugen, sonst säße sie wahrscheinlich jetzt noch.«

»Na, und in Hamburg, was macht sie da?«

Wieder das leichte Heben der breiten Schultern und das halb spöttische, halb nachsichtige Lächeln auf dem feisten Gesicht des Untergebenen.

Der Oberregierungsrat nickte:

»Sie haben recht! Das Geschäft ist zu einträglich, um es wegen ein paar Monate Kittchen aufzugeben … Aber wissen Sie, lieber Bernsdorf, ich habe solchen Animus, als wenn wir das Geld von Sarranski auch nicht kriegen werden.«

Er blätterte in den Akten, »hier les' ich: er ist erst eine Woche später verhaftet, nachdem er seinem Onkel die Summe abgeknöpft hat.«

»Sonst hätte er ja die Transaktion mit Herrn Bialla nicht machen können.«

Der »Ober« sah seinen Untergebenen, von dem Aktenfaszikel aufblickend, etwas indigniert an:

»Sie haben so 'ne komische Art und Weise, lieber Herr Bernsdorf.«

Das Antlitz des Oberinspektors war ganz unerschütterlicher Ernst. Ja, er sah fast dumm aus, als er sagte:

»Darf ich fragen, wie Herr Oberregierungsrat das meinen?«

»Na ich … is ja auch ganz egal! Wir sind jedenfalls im Bilde!« Der hohe Beamte ließ seine Uhr wieder spielen, »dreiviertel auf zehn! … Die höchste Zeit, mein Lieber, wenn Sie den Kerl fassen wollen!«

Der Oberinspektor war aufgestanden. Er nahm die ihm von Dr. Weber hingereichten Akten und verabschiedete sich mit tiefer Verbeugung. In der Tür stieß er auf Regierungsrat v. Martini, den Vertreter des Dirigenten, der eben anklopfte.

»Morgen, Herr Bernsdorf!«

»Ihr Diener, Herr Regierungsrat!«

Während der Oberinspektor verschwand, eilte der flinke, ein wenig zu zierliche Herr an den Schreibtisch des Chefs.

»Guten Morgen, Herr Oberregierungsrat, darf ich mich von meiner Reise zurückmelden.«

»Angenehm, mein lieber Herr v. Martini!« Der »Ober« strich mit der kräftigen Hand über sein bartloses, mit vielen Schmissen geziertes Gesicht, »sehr angenehm, besonders nach dem Besuch eben!«

»Von dem Oberinspektor Bernsdorf? … Wieso? … hatte er etwas Unangenehmes?«

»Das nicht, er arbeitet in der Sarranskischen Angelegenheit.«

»Ach so … ja …« der Regierungsrat hatte keine Ahnung, um was es sich handelte. Aber es gehörte zu seinem Wesen, sich niemals unwissend zu geben. Als geschickter Diplomat, fand er immer noch zur rechten Zeit den Faden, der ihn in das Wissensgebiet des anderen hineinleitete. Der andere tat ihm auch gleich den Willen:

»Es handelt sich um den Kerl, den Sarranski, der doch damals seinen Onkel, den Freiherrn von Brandhausen, um fünfzigtausend Mark beschwindelt hat.«

Herr v. Martini nickte eifrig.

»Und die woll'n wir ihm wieder abknöpfen jetzt, wo er entlassen wird … Aber wissen Sie, liebster Martini, der Bernsdorf … jewiß, er is ja tüchtig und arbeit't ausjezeichnet, aber er is doch 'n unangenehmer Mensch!«

*

Draußen auf dem breiten, hellen Korridor des Polizeipräsidiums traf Herr Bernsdorf den unter ihm arbeitenden Kommissar Tettenborn.

Sie begrüßten sich. Dann winkte der Oberinspektor mit seinem großen glattrasierten Kopf nach dem Zimmer des Chefs hin:

»War eben drin beim »Ober« wegen Sarranski …«

Der Kommissar nickte:

»Was sagt er denn?«

Der Oberinspektor, etwas größer von Wuchs, beugte sich zu dem Untergebenen und flüsterte. Der nickte, leise lachend. Und dann gingen sie beide voller Laune ihre Bemerkungen austauschend weiter, die Treppe hinauf in den zweiten Stock, wo der Oberinspektor residierte.

Vor der Tür des Zimmers 222 warteten die beiden Kriminalassistenten Pfannschmidt und Zeige.

»Immer 'rein in die gute Stube!«

Der Oberinspektor schloß seine Zimmertür auf und ging voran. Dann kam, den Rangverhältnissen entsprechend, der Kommissar, nach diesem der Dienstälteste, Assistent Pfannschmidt, der hin und wieder schon Kommissardienste tun durfte, zum Schluß Zeige, der noch der zehnten Gehaltsklasse angehörte, und der das in vielen Selbstgesprächen »eine blödsinnige Ungerechtigkeit« nannte.

»Also Kinder!« der Oberinspektor ließ sich auf seinen Schreibstuhl nieder, winkte dem Kommissar, der sich ebenfalls setzte, während die Assistenten stehen durften, »ihr wißt doch, wie ich meine Leute hochhalte und bei jeder Gelegenheit für sie eintrete … warum lächeln Sie da, Pfannschmidt?«

»Aus Dankbarkeit, Herr Oberinspektor, nur aus Dankbarkeit!«

»Na, das wollt' ich Ihnen auch geraten haben! … Also ja, wo war ich … richtig … bloß eins, das vertrag ich nicht, das kann ich absolut nicht leiden bei meinen Leuten … nämlich Dummheit! Wer dumm ist, der schaltet für mich aus! Der ist für mich erledigt! Schlimm genug, wenn man sich damit bei den Herren Vorgesetzten 'rumärgern muß!«

Kommissar Tettenborn nickte eifrig.

Der Oberinspektor sah ihn scharf an.

Die Assistenten grinsten.

»Sie haben's nötig, Tettenborn!«

»Wieso, Herr Oberinspektor?«

»Fragen Sie nicht so dumm … das Pulver habt ihr alle nicht erfunden!«

»Verzeihen Sie gütigst Herr Oberinspektor, aber um derartige Erfindungen zu machen, dazu reichen unsere Bezüge wirklich nicht aus!«

»Bravo! Im übrigen sind wir hier kein sozialdemokratischer Diskutierklub. Es handelt sich vielmehr um Herrn Stanislaus Sarranski, Honourable Esquire, Ritter hoher Orden pp. Der Herr wird punkt zwölf Uhr vor dem Gefängnistor von Tegel erscheinen. Er ist alsdann – unbemerkt natürlich – liebevoll zu beaufsichtigen, mit dem Ziel der Kapitalsauffindung. Das heißt, man darf ihn nicht einen Augenblick aus den Augen lassen. Solange, bis er die fünfzigtausend Mark, die er irgendwo kabore gelegt hat, freundlichst wieder ausspuckt. Mit der ehrenvollen Aufgabe, ihm das tunlichst zu erleichtern, hab' ich Sie, meine Herren, betraut. Wie Sie das machen, ist Ihre Sache! Guten Morgen, meine Herren!«

Der Oberinspektor nahm seine Akten vor und blickte hinein. Die drei Beamten dachten aber noch nicht daran, diesem Abschiedswink Folge zu leisten.

Bernsdorf blickte auf:

»Na, und –«

Der Kommissar verbeugte sich ein wenig:

»Darf ich fragen, Herr Oberinspektor, wie es mit den Bewegungsmitteln steht?«

Bernsdorf lächelte fromm:

»Mein Auftrag, lieber Herr Tettenborn, hat zum Ziel eine Kapitalsauffindung, nicht eine Abfindung für Sie und Ihre Beamten! Das vorausgeschickt, bin ich nicht abgeneigt, Ihnen eine gewisse Spesensumme, im Rahmen des dienstlichen Etats natürlich, anweisen zu lassen. Was brauchen Sie?«

»Wir sind zu drei, Herr Oberinspektor, wir müssen mit Autofahrten, auch mit sonstigen Ausgaben rechnen.«

»Zum Beispiel: Frühstück, Restaurant, Kneipe mit Damenbedienung, nicht wahr?«

Tettenborn hob die Schultern, als wollte er sagen: in die Zukunft blicken kann niemand!

»Ich werde Ihnen fünfzig Mark gratifizieren.«

»Ausgeschlossen, Herr Oberinspektor!«

»Sie berauben den Staat!«

Der Kommissar hob abwehrend die Arme.

»Also hundert! Kein Wort! Abtreten!«

Die Beamten empfahlen sich.

Draußen sagte Pfannschmidt zu Tettenborn:

»Er ist doch zu ulkig, der Herr Oberinspektor!«

»Ja, er hätte Komiker werden sollen! … Ich muß noch mal in mein Zimmer. Erwarten Sie mich vor dem Alexanderportal!«

Der Kommissar war kaum außer Hörweite, da stieß Zeige den Pfannschmidt in die Rippen:

»Was sagste zu dem alten Baldower! Paß auf, der fährt bei seine Stiefliebste, und wir dürfen hinter Sarranski herrennen … und mit die Spesen …«

»Das überlaß mir man!« Pfannschmidt klopfte dem anderen auf die Schulter, »ich bin für gerechte Verteilung. Nicht, daß einer die Sorgen und der andere das Geld hat!«

Zeige nickte. Aber in seinem Herzen beschloß er, gut achtzugeben, damit dieser edle Grundsatz auch auf ihn selbst Anwendung finde.

*

Stanislaus Sarranski hatte sich, vom Direktor aufgefordert, in den bequemen Sessel neben dem Schreibtisch gesetzt. Seine schlanke, kräftige Rechte hielt die Zigarre, die Dr. Starenkamp ihm angeboten hatte. Und sein kluges, rassiges Gesicht, dessen schmale, leicht gekrümmte Nase über dem breiten, kraftvollen Mund den aristokratischen Einschlag seines Blutes verriet, leuchtete vor Spott und Selbstironie bei mancher Phase seiner Geschichte.

»... daß meine Mutter, diese kühle, norddeutsche Adlige sich so blind in den polnischen Virtuosen vergaffte, das läßt sich begreifen; daß sie später, als er sie gern und auf alle Weise los werden wollte, sich wie eine Klette an ihn hängte, daß sie sich demütigen ließ von ihm, wie nur je ein Weib vom Manne, ja daß nicht einmal sein offen zur Schau getragenes Verhältnis zu einer Dienstmagd im eigenen Hause meine Mutter veranlaßte, von ihm zu gehen – das läßt sich nur damit erklären, daß sie wahrscheinlich eine jener Schwerbelasteten war, deren vererbte Hysterie sie mit einer manischen Zähigkeit an dem einmal erwählten Gegenstande ihrer Neigung festhalten ließ … Ich kann mich ziemlich weit in meine Kindheit zurückerinnern, und ich sehe heute noch den eigensinnigen Schmerzenszug um den feinen, roten Mund, mit dem die arme Frau ihr tiefes Leid in sich verbiß … Sie hatte auch die typische Launenhaftigkeit solcher Wesen und bekam es fertig, mitten in einem wütenden Zank mit dem Vater, beim Eintreten eines Gastes, in ihr Schlafzimmer zu flüchten und nach wenigen Minuten strahlend, in rosigster Stimmung sich am Gespräch zu beteiligen. Als sie starb, war meine Schwester Aline fünf und ich sechs Jahre alt.

Der Vater war gerade auf einer Konzerttournee, von der er übrigens niemals Geld schickte oder nach Hause brachte. Und doch war er, ganz abgesehen von seinem Talent, das ihn zu einem der gefeiertsten Geigenspieler machte, ein entzückender Mensch. Wir beide, Aline und ich, wir liebten ihn abgöttisch; die bittersten Anklagen der Mutter, die wir jeden Tag zu hören bekamen, konnten daran nichts ändern.

Nur trank er, wie ich Ihnen schon früher sagte, Herr Direktor. Er trank nicht immer, aber periodisch war er ausgesprochener Säufer. Wenn es seine Kasse erlaubte, Wein und Sekt und, wenn nichts da war, den ordinärsten Fusel. Seine Selbstvorwürfe in den Perioden der Nüchternheit waren entsetzlich. Und auch er, von demselben Haß beseelt, der die beiden einte und schied, machte für sein Unglück nur die Frau verantwortlich. Zweifellos mit Unrecht. Wie ich später erfahren habe, war schon sein Vater Morphinist und Alkoholiker gewesen. Über meine Großmutter väterlicherseits kann ich nichts Bestimmtes sagen. Übrigens starb mein Vater kurze Zeit nach dem Tode meiner Mutter, er ist in einer obskuren Kneipe Londons erstochen worden.«

Der Erzählende sah den Direktor der Gefangenenanstalt an, der leicht die Hand erhoben hatte.

»Bis hierher haben Sie sich jeder Ausschmückung enthalten, lieber Sarranski … Ihre Daten stimmen mit meinen Erkundigungen genau überein … darf ich das für ein erfreuliches Zeichen Ihrer Besserung nehmen?«

Der Befreite nickte lächelnd:

»Ich will ehrlich gestehen, daß ich das vorausgesetzt habe, Herr Direktor, und das Bewußtsein der Kontrolle wirkt stets regulierend auf meine Phantasie … Ich habe nebenbei Ihnen gegenüber auch die Absicht, wahr zu sein. Aber das, was man gemeiniglich Lüge nennt, tropft doch wie aus einer unauffindbaren Quelle in all mein inneres Erleben … Ich kämpfe dagegen, solange ich sie selbst sehe; schließlich plätschere ich drin umher, wie in meinem ureigensten Element.«

»Und verlieren dann selbst die Unterscheidung für das, was wirklich und erfunden ist?«

»Ja … ich empfinde auch Freude daran, wenn ich lüge … Ich hätte vielleicht Schriftsteller werden können, wenn man mich rechtzeitig dazu erzogen hätte …«

»Vielleicht,« der Direktor lächelte seinerseits, »aber erzählen Sie weiter!«

»Ich muß nun«, fuhr Sarranski fort, »meine mütterlichen Verwandten ein bißchen streifen. Zu Gesicht bekommen habe ich nur den alten Freiherrn von Brandhausen, den Bruder meiner Mutter, und zwar bei Gelegenheit meiner letzten Affäre. Er ist dabei um etwa fünfzigtausend Mark ärmer geworden. Aber das wissen Sie aus den Akten, Herr Direktor. Ergänzen will ich nur, daß mir jede Absicht, zu betrügen ferngelegen hat. Ich hätte das Gut, als dessen Käufer ich natürlich unter angenommenem Namen auftrat – denn wenn ich als Stanislaus Sarranski gekommen wäre, so hätte er mich überhaupt nicht empfangen – ich hätte das Gut, sage ich, mit Vorteil weiterverkauft und ihm dann das Seinige nicht vorenthalten.«

Der Direktor unterbrach ihn:

»Richtig, lieber Sarranski! Es hat noch keinen Betrüger oder Bankerotteur gegeben, dem Polizei und Gericht nicht durch seine Festnahme die Möglichkeit entzogen haben, seine Geschäfte mit Profit und zur Zufriedenheit der Geschädigten abzuwickeln.«

Der Freigewordene zuckte leicht die Achseln, als wollte er sagen: darüber ist jeder Streit müßig und zwecklos. Und von gewissen Dingen sind die ehrlichen Leute eben nicht zu überzeugen.

Der Direktor sagte:

»Wenn ich nicht irre, Sarranski, war es doch gerade der Freiherr, der die Mittel hergegeben und Sie und Ihre Schwester hat standesgemäß erziehen lassen?«

»Ja, das hat er getan. Aber zweifellos nur deshalb, weil es ihm peinlich war, Menschen, zu denen er doch immerhin in einem verwandtschaftlichen Verhältnis stand, ins Proletariat sinken zu sehen.«

»Sie meinen, daß nicht das Andenken an seine Schwester –«

»– ihn dazu bewogen hat? Nein, ebensowenig wie irgendwelche Gefühle für mich und die arme Aline da mitgesprochen haben … Er haßt uns geradezu! … Ich habe das aus der Art gesehen, wie er mich im Prozeß auf alle nur erdenkliche Weise reinzureißen suchte.«

Der Direktor machte sich eine Notiz.

»Vorläufig sind wir noch in Ihrer Knabenzeit … Sie waren ein guter Schüler?«

»Ja, ich habe mit siebzehn Jahren das Abitur gemacht.«

»Aber es kam schon damals eine … wie soll ich sagen … eine Unregelmäßigkeit vor?«

»Ja, es fehlten der Mutter eines meiner Freunde eines Tages Schmucksachen und bares Geld … ich war an dem Tage dort im Hause gewesen, und der Verdacht fiel auf mich.«

»Bewiesen ist Ihnen der Diebstahl nicht?«

»Nein, ich habe ihn ja auch nicht begangen.«

Der Direktor sah sein Gegenüber mit einem fast bedauernden Blick an. Dann schloß er ein Seitenfach seines Schreibtisches auf und entnahm ihm ein Aktenheft, in dem er blätterte.

»... Die Gelegenheit war zu günstig. Die Frau Geheimrat, Fritzens Mutter, hatte ihren Sekretär offenstehen lassen. Ich bat Fritz, mir doch ein Glas Wasser zu holen, und sowie er aus dem Zimmer war, nahm ich mir das Collier mit den Smaragden, einen Ring mit zwei Perlen und einen Ohrring aus dem Kästchen; außerdem ein paar Hundertmarkscheine, die lose drin lagen. Ich bin dann bald gegangen, und habe die Sachen zu Hause in der Pension unterm Dachboden zwischen zwei losen Ziegeln versteckt. Das Geld habe ich später verbraucht, den Schmuck verkaufte ich an einen Althändler, der aber wohl um die Sache wußte; denn er hat mich betrogen und mir, als ich das Geld verlangte, mit dem Gericht gedroht.«

»Das, lieber Sarranski, steht in dem Lebenslauf, den Sie vor sechs Jahren, bald nach Ihrer Einlieferung hier für mich verfaßt haben … Wie wollen Sie das nun mit Ihrer heutigen Erklärung in Einklang bringen, Sie hätten mit dem Diebstahl damals nichts zu tun gehabt?«

Der Entlassene hatte nicht einmal nötig, sich zu besinnen:

»Ich erinnere mich, Herr Direktor, daß Sie damals besonderen Wert auf diese Jugendsünde legten. Und ich hatte schon im Untersuchungsgefängnis gehört, daß Sie sich wissenschaftlichen Studien über das Seelenleben der Verbrecher hingeben. Da ich nun die Menschen einigermaßen zu kennen glaubte, so sagte ich mir, du darfst dem Manne nicht gleich am Anfang eine Enttäuschung bereiten.«

»Aber, Sarranski, das wäre doch gerade das Gegenteil gewesen!«

»Verzeihen Sie, Herr Direktor, Ihnen fehlte dann doch ein Glied in der Kette. Sie gehen doch, wie ich bei der Reinschrift Ihrer Abhandlungen gesehen habe, von der Voraussetzung aus, daß sich auch bei den Maniakalen minderen Grades stets und ohne Ausnahme Jugenddelikte nachweisen lassen!«

Ein wenig verblüfft erwiderte der Direktor:

»Ja, da haben Sie recht!«

»Nun, und da wollt' ich Sie nicht desavouieren … meine Jugend war aber in der Tat frei von jeder Kriminalität.«

Eine Falte des Ärgers grub sich in des Anstaltsleiters Stirn. Doch seinen Unmut, den er selbst als inkonsequent erkannte, bezwingend, bat er ruhig:

»Erzählen Sie bitte weiter!«

Jetzt überlegte Sarranski.

»Ich muß von meiner Schwester sprechen«, sagte er dann, und der plötzlich ganz veränderte Ausdruck seines schönen Gesichtes zeigte, daß der rapide Stimmungswechsel der Mutter auch zu seinem Erbteil gehörte.

»Ihre Schwester lebt, Sarranski?«

»Ja, Sie werden ja auch da Bescheid wissen, Herr Direktor! … Aline ließ sich von einem Offizier aus dem Pensionat entführen, als sie sechzehn Jahre war.«

»Den Akten nach ist es ein gerade dort in Urlaub befindlicher Unteroffizier gewesen, übrigens ein recht ordinärer Patron, der, wie festgestellt wurde, jahrelang mit ihr und von ihr gelebt hat.«

Stanislaus Sarranski hörte zu dem Direktor hin, als verhallten dessen Worte in weiter Ferne. Von dem, was jener eben sagte, gar keine Notiz nehmend, sprach er weiter:

»Sie ist eine merkwürdige und ganz seltene Frau. Schon ihr Äußeres überrascht jeden! Sie ist neunundvierzig Jahre alt und damit doch eigentlich eine Matrone. Aber wer das nicht weiß, hält sie für Mitte der Zwanziger. Sie ist so schön, daß sie jedem Manne auffällt. Der König von Spanien, der sie beim Rennen in ihrer Loge sah, wurde aufmerksam und ließ sich ihr vorstellen.«

Der Direktor lachte herzlich:

»Er hätte sie doch in morganatischer Ehe heiraten sollen! Bei so hohen Herren soll das ja gehen … Aber wovon lebt Ihre Schwester?«

»Sie ist Inhaberin eines vornehmen Pensionats und verdient Unsummen!«

»Was sie leider«, ergänzte der Direktor mit gedämpfter Stimme, »auch schon mit den Behörden in Konflikt gebracht hat. Sie wissen vielleicht nicht, Sarranski, daß Ihre Schwester vor anderthalb Jahren verhaftet worden ist unter dem Verdacht der Kuppelei, und zwar im Rückfall.«

Nicht eine Spur von Verlegenheit zeigte sich auf den Zügen des Entlassenen.

»Derartige Beschuldigungen beruhen beinah immer auf Dienstbotenklatsch und dem Gerede von bösartigen Neidern. Meine Schwester ist eine alleinstehende Frau und in ihren geschäftlichen Operationen meist glücklich. Sie ist daher zum Unterschied zu mir armem Schacher recht vermögend.«

»Was sie aber nicht gehindert hat, im Untersuchungsgefängnis den Offenbarungseid abzulegen … Sie sehen, lieber Sarranski, ich bin gut informiert. Aber ich kann es verstehen, daß Sie selbst diese Dinge gern in einem helleren Lichte betrachtet sehen wollen … Ihre Schwester ist wohl der einzige Mensch, der Ihnen nahe steht?«

Sarranski schüttelte den Kopf:

»Nein, ich habe ein Kind, dem mein ganzes Herz gehört.«

Ehrlich überrascht rief der Direktor:

»Aber davon haben Sie doch noch nie gesprochen! Ist das am Ende auch wieder eine Ausgeburt Ihrer phantastischen Laune, Sarranski?«

Der heut Freigewordene deutete auf das Aktenbündel:

»Da drin befindet sich die Photographie eines jungen Mädchens …«

»Ja, die Sie damals mir gegenüber für eine Bekannte erklärt haben. Ich nahm an, daß das eine jener Bekanntschaften sei, die man als Kavalier und Lebemann nicht weiter zu erläutern wünscht.«

»Nein, Herr Direktor, das ist meine Tochter.«

Dr. Starenkamp schwieg.

Der stille Glanz, der jetzt über dem rätselvollen Angesicht des anderen lag, sagte ihm lauter, als jedes Wort, daß Sarranski wahr rede. Und das vornehme Herz, das Dr. Starenkamp sich bewahrt hatte, obwohl er schon ein Leben unter den Schatten des Daseins verbrachte, das ließ ihn still und achtungsvoll vorübergehen an dem, was Sarranski an Liebe und reinem Gefühl allein noch übrig geblieben war.

»Sie sind dann im zweiten Jahre Ihres medizinischen Studiums wegen Betruges zum ersten Male verurteilt worden?«

»Ja, ich brauchte Apparate und habe sie in einer momentanen Verlegenheit versetzt.«

»Die Verlegenheit muß groß gewesen sein, Sarranski! Sie hatten, wenn die Akten recht haben, bei nicht weniger als zwölf Händlern, sogar in Österreich, chirurgische Instrumente gekauft, ohne sie zu bezahlen natürlich! … Auch operierten Sie schon damals mit einem falschen Namen … »von Leihwitz« nannten Sie sich spaßhafterweise … und verkauften und versetzten nachher die Sachen für ein Butterbrot.«

Mit einem beinah verzeihenden Lächeln wehrte Sarranski ab:

»Ich selbst habe nur in einem Falle Apparate entnommen und dabei allerdings rein zufällig und aus Versehen die in meiner Brieftasche befindliche Visitenkarte meines Kommilitonen von Leihwitz, der in der Tat existierte, abgegeben … Die sonst begangenen Straftaten fallen einem anderen zur Last. Und zwar war das ein junger Kaufmann, der das Zimmer neben mir, bei derselben Wirtin, bewohnte.«

»Ja,« sagte der Direktor nachdenklich, »und hier wird mir Ihr Charakter unverständlich, Sarranski … Aus dem Studium des damaligen Aktenmaterials, das ich einsehen durfte, geht für mich und ist auch schon damals für das Gericht klar hervorgegangen, daß Sie diesen jungen Mann in einer geradezu frevelhaften Weise ins Spiel gezogen haben. Sie haben einfach durch ihn die Apparate abholen lassen, nachdem Sie vorher die Bestellungen und Referenzen telephonisch aufgegeben und dabei die Stimme des jungen Menschen so geschickt imitiert hatten, daß mehrere von den Händlern nachher beschworen, der telephonische Auftraggeber und der Abholer wären identisch gewesen … Sehen Sie, Sarranski, trotzdem ich mich bemühe, alles menschliche Tun und Lassen nur als Erscheinung zu werten, trotzdem ich, wie ich glaube, nahe daran bin, den Gesichtswinkel von Gut und Böse gänzlich auszuschalten – hier stehe ich doch vor etwas unendlich Widrigem … Daß jemand stiehlt und betrügt, verstehe ich. Aber wie man einen armen, vertrauensvollen Menschen, der nicht intelligent genug ist, sich zu wehren, als Maske benutzen kann, um seine eigene Schandtat zu verdecken und auf den anderen abzuwälzen – das ist mir unbegreiflich, dafür fehlt mir das Verständnis … Sie haben damals zwei Jahre Gefängnis gehabt … ich hätte Ihnen fünf dafür gegeben.«

Der Entlassene nickte mit einer kühlen, teilnahmslosen Gebärde:

»Wenn ich es gewesen wäre, hätten Sie recht gehabt, Herr Direktor! Im übrigen hatte ich damals eben erst eine schwere Nervenerschütterung überwunden, die ich mir beim Sturz vom Pferde zugezogen hatte … Schon im Untersuchungsgefängnis hatte ich einen Rückfall und kam ins Lazarett. Später vom Gefängnis aus bin ich in die Irrenanstalt überführt worden.«

»Ja, Ihre Verwandten hatten sich schon, während Sie in Untersuchung saßen, die erdenklichste Mühe gegeben, Sie für geisteskrank erklären zu lassen. Nachher während Ihrer Strafe ist den Herrschaften das dann gelungen. Es ist ja sogar zu einer Wiederaufnahme des Prozesses und zu Ihrer Freisprechung auf Grund des § 51 gekommen, nicht wahr?«

Der Freigewordene bejahte.

»Aus der Irrenanstalt sind Sie bald entlassen worden?«

»Ja, mein Zustand besserte sich zusehends … Und das moralische Irresein, an dem ich litte, sagte Professor Jolly, sei nicht zu beheben.«

»Es wurde also schon damals Pseudologia phantastica festgestellt?«

»Jawohl … ein krankhaftes Bedürfnis, zu lügen und phantastische Geschichten zu erzählen.«

»Sie haben sich dann auch selbst wissenschaftlich mit dem Thema Ihres Leidens beschäftigt?«

»Ja, nachdem mir Ihre große Güte, Herr Direktor, dazu die Möglichkeit gegeben hat … die Bücher … Ihre wertvolle Bibliothek …«

Dr. Starenkamp nickte freundlich:

»Sie haben mir dafür geholfen bei meinen Arbeiten … wir sind quitt … Wüßte ich nur ein Mittel, Sie davor zu bewahren, daß Sie wieder hierher zurückkehren … Sie lächeln, Sarranski … tja! …«

»Verzeihung, Herr Direktor, genau dasselbe hat nämlich heut morgen Papa Wildrich, pardon, ich meine, Herr Aufseher Wildrich hat das auch schon gesagt. Und ich habe ihm geantwortet, was ich jetzt nur wiederholen kann: ich komme nie wieder hierher!«

»Das sagen und glauben die meisten, die wir kurze Zeit darauf doch wieder einreihen müssen!«

»Mich nicht! Herr Direktor, mich nicht! Niemals! Ich kann nicht sagen, auf welchen Weg mich draußen in der Freiheit meine Veranlagung treiben wird, aber ich weiß, daß ich nie mehr ein Gefängnis betreten werde, weil … weil man die Toten nicht verurteilt.«

»Sie glauben an ein Schicksal?«

»Ich glaube an nichts, Herr Direktor! Für mich ist die Welt und das Leben ein furchtbarer Wahnsinn … Ein Wahnsinn, der um so schauerlicher ist, als er sich scheinbar ganz logisch abspielt, ohne daß wir uns von dem Grunde und von seinem Endzweck die geringste Vorstellung machen können. Sie glauben, daß Sie durch Ihren rastlosen Fleiß, durch Ihre selbstlose Hingebung der Welt nützen und der Menschheit helfen können. Aber Sie geben selbst zu, daß all Ihre Erkenntnis Schiffbruch leidet beim ersten Schritt in die Praxis. Sie haben mich gern, und ich verehre Sie. Und doch ist Ihr Einfluß auf mich, auf mein Denken und Handeln, gleich null. Sie sehen mich stürzen, und obwohl Sie alle Kraft aufbieten, können Sie mich nicht halten; ebensowenig wie ich imstande bin oder je sein werde, Ihrem Rat zu folgen. Die Menschen können sich gegenseitig verderben und töten – das ist alles. Sie glauben sich zu hassen oder zu lieben, und treiben doch aneinander vorbei wie Leichen auf dem Wasser eines reißenden Flusses. Das einzige, was wirklich ist, bleibt der momentane physische oder meinetwegen auch psychische Genuß. Denn die Illusion ist manchmal viel köstlicher als die Wirklichkeit … Und was ist wirklich?«

»Wirklich, Sarranski, wirklich ist zum Beispiel Ihre sechsjährige Gefängnisstrafe.«

»Nein, Herr Direktor, die ist ganz unwirklich! Heute vorbei, ist sie morgen kaum noch eine Erinnerung für mich! Ich besitze eine fabelhafte Kraft, zu vergessen. Ich kenne nur eins, das ist der Augenblick! Den so reizvoll, so traumhaft phantastisch wie möglich zu gestalten, ihn anzufüllen mit allem Schönsten und allem Begehrenswerten, was die Erde bietet – das ist mein Ziel! Dafür will ich leben, und, wenn's nottut, auch sterben!«

Der Direktor bewegte leise den Kopf. Man wußte nicht, war er anderer Ansicht, oder stimmte er zu. In Wahrheit war er längst wieder mit seiner Arbeit beschäftigt, hinter dem Ideal herjagend: die Menschheit in ihren verlorensten Gliedern zu erlösen.

*

Eva, gewöhnlich früh auf, war schon oben in der Mansarde, die als Übungsraum der Tänzerinnen eingerichtet war. Sie trug nichts, als ein buntes Sonnenhemdchen auf ihrem schlanken Leibe, der einen Teint zeigte wie reifendes Korn, auf das die Morgenröte ihre warmrosigen Lichter streut.

Der Raum war hell. In das offene Fenster floß das Licht des milden Wintertages. Die weißen Tüllwolken über den Fensterbögen bewegten sich kaum in der stillen Luft. Und Sonnenfluten glitten über den Linoleumbelag der Diele.

Eva turnte am Reck, das an den Boden geschraubt, in der Stubenmitte stand. Im Aufschwung und im schnellen Rotieren um die Reckstange blieb ihr Körper ebenso anmutsvoll und spielend, als wenn sie sich mit auf die runden Hüften gestützten Händen erst langsam und dann schneller und immer flotter um sich selber drehte.

Die Tür öffnete sich, und Madeleine trat ein, ganz entblößt, doch so strahlend schön, daß diese Nacktheit natürlich schien.

»Ich kann mein Hemdchen nicht finden, Eva!«

Gleich lief die fort und kam wieder mit einer Seidenhülle in Pfirsichfarbe, in die die Freundin hineinschlüpfte.

Madeleine dankte nicht, eher schmollte sie ein bißchen. Sie gehörte zu den Frauen, die in ihrer Seele die zarte Keuschheit nicht haben, die alles Zurschaustellen intimer Reize meidet. Die so verliebt in ihren eigenen Leib, in ihre Schönheit sind, daß sie gern Statue auf öffentlichen Plätzen wären.

Aber dann arbeiteten beide mit heiligem Eifer. Eva war die stärkere mit festeren Muskeln, vielleicht jünglingshafter, die die Blonde leicht emporhob, sie trug, umherwirbelte, und die nach der Arbeit keine Spur von Ermüdung zeigte.

Madeleine, ganz Reiz, Hingebung und Anmut in ihrer weiblichen Vollendung, besaß jene Losgelöstheit von der Erde, die den Tanz musikalisch zur reinsten Körpermelodie werden läßt. Sie vermied instinktiv die Anstrengung, die sie auch nicht so leicht ertrug. Nach den Übungen ging ihre Brust heftiger auf und nieder, ihr Herz klopfte stürmisch und die vollen Lippen sogen durstiger die Luft.

Madeleine war immer erstaunt und wohl ein wenig neidisch auf Eva, die nach den schwersten Pas so ruhig wie vordem atmete, und deren knospig runder Busen nicht höher ging, als plaudere oder lache sie mit der Freundin.

Heute wollte die Dunkellockige ihre Arbeit schon einstellen.

Madeleine wunderte sich darüber.

»Ja, weißt du, Leni, ich habe die ganze Nacht nicht schlafen können … Ich denke immerzu an ihn … Du kannst dir ja nicht vorstellen, wie ich mich freue! Und was ich alles tun will für ihn! … Wie muß er gelitten haben in der langen, langen Zeit!«

Mit ihrem feinen Gefühl wohl merkend, daß ihr die Blonde nur zerstreut zuhörte, ging Eva zur Tür:

»Arbeitest du noch weiter?«

»Ja, ich mach' bloß die Fenster zu.«

»Aber nein, Leni, du weißt doch: von jeher hat uns die Serapia das gepredigt: Luft! Licht! Sonnenschein! Keine Kleider! Kein Hemd! Nichts!«

»Na, siehst du! Und bei mir hast du immer was auszusetzen, wenn ich nichts anhabe!«

Eva kam zurück. Sie ging zu der an der Wand entlanglaufenden Übungsstange, stützte die linke Hand auf das glatte Holz und probte die Beinmuskeln in den verschiedenen schwierigsten Stellungen. Dabei sprach sie, nach vorn gebeugt und nur mit der einen großen Zehenspitze den Boden berührend, ohne Anstrengung:

»Bei Serapia ist das ganz anderes, Leni … Die kennt nur Tanz! Die würde eher jemand umbringen, als daß sie einen unkeuschen Gedanken an ihre Kunst heranließe.«

»Und du meinst, bei mir ist das nicht so? … ich … ich denke dabei …«

Eva, den Kopf ganz tief, zog weite Kreise mit dem schlanken Bein über ihrem Körper. »Du bist schön wie ein Engel! Wenn ich ein Mann wäre, dann … ja dann würde ich dir vielleicht auch den Hof machen!«

Mit ihren großen, blaustrahlenden Augen, die zartgefärbten Lippen wie zum Kuß geöffnet und berauscht von dem Lob ihrer Schönheit, stand die Blonde der Freundin stumm gegenüber. So ganz Zärtlichkeit, Hingebung und Leidenschaft, fiel sie Eva um den Hals und einte ihre Lippen dem festen, kleinen Frauenmund, der sich herbe schloß und geduldig solcher Überschwänglichkeit standhielt.

Dann verließen sie beide den Arbeitsraum, zogen im gemeinsamen Schlafgemach ihre Morgenkleider an und saßen gleich danach am Frühstückstisch.

Es standen weichgekochte Eier, Zwiebäcke, Marmelade und Tee auf der Platte.

Und gleich begann der allmorgendliche Kampf zwischen den Freundinnen:

»Ein klein bißchen Butter! … nur ein ganzes kleines bißchen, Evi! Bitte! Bitte!«

Die Dunkle bewegte verneinend den Kopf. Ihr Gesicht bekam jenen Zug der Unnachgiebigkeit, der Menschen von festem Charakter nach klar erkannter Notwendigkeit oft hart erscheinen läßt.

Indem trat Maria herein mit einem großen, blauglasierten Topf in den breiten, weichen Händen.

»Die alte eklige Milch!« schmollte Madeleine, »die trink' ich doch nicht!«

Maria, eine kräftige, volle Frau von vielleicht vierzig Jahren, stand hinter der Blonden. Sie bat Eva mit ihrem guten Lächeln, mit den sanften Augen voll Mutterliebe: »Erlaub' doch, daß ich ihr ein bißchen Butter gebe!«

Aber Eva blieb unerbittlich:

»Nein, Leni braucht nur fünf Pfund, nur drei braucht sie mehr wiegen, dann hält sie den Tanz nicht mehr durch! Du müßtest bloß hören, Maria, abends, wenn wir fertig sind und sie kommt von der Bühne, das dauert manchmal minutenlang, bis sie wieder Atem hat. Das geht doch nicht! Ja, wenn sie mein Herz hätte! … Ihr's ist zu groß! …«

Eva mußte lachen:

»Nicht wahr, Leni, wir haben eben noch darüber gesprochen: ein zu großes Herz darf der Mensch nicht haben!«

Nun gaben sich alle drei einer befreienden Heiterkeit hin. Und Madeleine, die jetzt brav ihren Marmeladezwieback verzehrte, dankte der Kollegin: was wohl aus ihr werden sollte, wenn sie Eva eines Tages nicht mehr hätte!

»Dann wird Lenichen einen guten Mann haben«, tröstete Maria.

»Ja,« Madeleine klopfte seufzend ein Ei auf, »ich fürchte wirklich, daß ich mich eines Tages werde verheiraten müssen!«

Und sie sagte das mit einer so komischen Trauer, daß die beiden anderen von neuem in Lachen ausbrachen und sie selbst mit dem ihr eigenen Jubelton einstimmte. Dann fragte sie:

»Gehen wir nachher spazieren, Evi?«

»Aber, Leni, du weißt doch!«

»Was?«

»Na, ich warte doch auf ihn!«

»Auf deinen Vater? … Jetzt ist es halb neun …«

»Nein, Liebes, so früh kann er nicht da sein,« Maria stellte das Geschirr auf dem Tablett zusammen, »vor zwölf kannst du ihn unmöglich erwarten!«

Es war, als würde Evas sanft bräunliches Gesicht noch um einen Schein dunkler. Der glänzende Blick ihrer tiefen, dunklen Augen versank wie in Finsternis, und eine Linie des Leides, der Trauer zeichnete das schöne Antlitz. In das Karmin der Oberlippe preßten sich die weißen Zähne, es sah aus, als kämpften hinter dieser Kinderstirn Trotz und kaum zu bändigender Eigenwille mit der Vernunft und einer strengen Selbstbeherrschung.

In diesem reizvollen Geschöpf schliefen die Leidenschaften der Sinne noch. Was, dachte Maria, die ihr Pflegekind mütterlich besorgt ansah, was wird dieses wilde Herz fühlen und tun, wenn einmal die Liebe anpocht?

Eva hatte sich schon überwunden:

»Schön, wir gehen. Aber Punkt zwölf bin ich wieder hier, Maria!«

»Was zieh' ich an, Evi?«

Madeleines größte Sorge war, schön zu sein, alle Männer zu bezaubern. Indem sie in ihr Ankleidezimmer traten, machte Madeleine Vorschläge, holte Kleider aus dem Schrank und war hingerissen von der Idee, sich in den Läden Kostüme anzusehen und neue Frühjahrshüte aufzusetzen.

Maria trug das Geschirr in die Küche, dann ging sie in ihre Kammer, die sie hinter sich abschloß, und probierte noch einmal das Schloß, um vor jeder Überraschung sicher zu sein.

Aus dem alten Mahagonikleiderschrank nahm sie einen Koffer, und aus diesem einen großen, verschnürten Pappkasten.

Sie löste die Schnur behutsam, nachdenklich, und nahm, als wären es kostbare Schätze, Pakete von Briefen heraus, die mit alten, verblaßten Seidenbändern sorgsam umbunden waren. Dazwischen ein Bild, eine Photographie, von irgendeinem Wanderphotographen im sommerlichen Vergnügungslokal aufgenommen.

Die Photographie war vergilbt und sehr alt. Und da Maria darauf niedersah, wurden ihre Augen feucht, und Tränen rollten ihr über die vollen Wangen … Das war ja ihre Jugend, da auf dem Bilde! Da stand sie selbst, als derbes, pausbäckiges Landmädel, eben erst in die Stadt gekommen und im Dienst bei einem Bäckermeister, der ihr das Leben schwer machte, am Tage mit der Arbeit und in der Nacht – na, sie hatte sich immer ganz gut zu wehren verstanden!

Besser, wie ihre kleine Freundin, Eveline Maron, die Gott weiß wie von ihrer elsässischen Heimat hierher nach Berlin verschlagen, zu hübsch und zu zart in ihrem Wesen war, als daß sie irgendwo lange hätte bleiben können.

Was hatte die alles angefangen! Zofe war sie gewesen, wo sie mit ihrer Gnädigen aneinander geriet wegen des Herrn. Dann Verkäuferin, da war der Chef hinter ihr her! Und in der Fabrik, wo sie Kartons klebte, der Werkmeister!

Die Männer taugten ja überall nichts und wenn eine nicht derbe Fäuste hatte und ein flottes Mundwerk, dann kam sie bald unter die Räder. Aber mit der Kleinen, da machten sie's doch zu arg! Die war immer auf der Flucht! Und als sie dann schließlich eine gute Stelle hatte, wo sie bleiben konnte und auch ganz schön verdiente, in der Putzfederfabrik, da lernte sie ihn kennen … ihren »Herrn«.

Behutsam, fast ehrfürchtig, zog Maria eine große Kabinettphotographie aus dem Kuvert.

Wahrlich, ein bildschöner Mann war Stanislaus Sarranski damals! Sie sah noch mit derselben demütigen, selbstvergessenen Bewunderung auf das Bild nieder, mit der sie als Zwanzigjährige zu dem Original aufgeblickt hatte. Niemals, auch nicht einen Augenblick hatte sie daran gedacht, sie könne von diesem Auserwählten geliebt werden! Er gehörte ihrer Freundin, der »Kleinen«, die war selbst schön, war zierlich, zart und fein, die verdiente solchen Mann, zu der paßte er und die mußte ihn haben.

Sie selbst, die Maria, sah zu und betete ihn heimlich an. Wie eine große, starke und geduldige Hündin, die den geliebten Herrn beschützt, die sich töten ließe für ihn und die doch zufrieden ist, wenn sie einmal gestreichelt wird und wenn sie dem Vergötterten die Finger lecken darf.

Das war ja überhaupt das Wesen dieses großen, alten Mädchens, das mit vierzig Jahren einen vollen Busen, breite, starke Schenkel und runde Arme hatte, das aussah, als würde es überall nur sich durchsetzen, und das doch eine echte Maria war: eine die nur für die anderen lebt, für die Menschen, die sie liebt.

Ein paarmal hatte der Leichtsinnige sie auch geküßt und einen Sturm entfacht in ihrem Herzen. Sie hatte sich nicht gewehrt, aber voller Reue hatte sie es nachher der Kleinen erzählt. Die hatte gelacht: die dicke Maria war keine Nebenbuhlerin, die man fürchten brauchte! Und Sarranski selbst hatte es vergessen, wie er alles vergaß, was hinter ihm lag und wofür er sich nicht mit seiner Feuerseele einsetzte … Ach, Maria kannte ihn so gut! Viel besser, als die Kleine, die in seinen Armen hing, wie ein Püppchen, das vielleicht nicht einmal Kraft und Leben genug besaß, um einen solchen Mann richtig zu lieben.

Wenn er, wie so oft, eines Tages fort war, für Wochen, Monate, ohne Abschied, dann jammerte und weinte Eveline. Und kam er zurück, war er wieder da, ohne vorher zu schreiben, aber lachend, schön, siegessicher und die Taschen voller Geld, dann, ja dann war ein Gejubel, ein Singen und Umhertanzen im Hause!

Dann kamen Freunde, er reiste mit der Kleinen, kaufte ihr die schönsten Kleider, Schmuck, was sie haben wollte!

Sie, die Maria, bekam allemal auch etwas! Da, das Medaillon mit dem großen Amethyst, das hatte er ihr gegeben, als er ein ganzes halbes Jahr fortgewesen war, als er wiederkam – aus dem Gefängnis.

Die Frau, die mit einem verlorenen Lächeln den durchsichtigen, lilablauen Halbedelstein in der Hand, in dem alten Korblehnstuhl neben ihrem Bette saß, die erlebte, ganz der Gegenwart entrückt, jene schmerzvolle Stunde wieder, wo ihr Idol, ihre Gottheit, krank, zerschlagen und elend heimkehrte und – für eine kurze Zeit nur – vom Altar ihres Herzens herabgestürzt war.

Irgendein Mensch, der mit ihm zusammengesessen, hatte die Nachricht gebracht, Sarranski wäre im Gefängnis. Der Kerl wollte Geld haben, das gab ihm Maria und bekam dafür den Brief, den Sarranski so, heimlich hinausbefördern ließ.

Daß die zufällig vom Hause abwesende Eveline davon nichts erfahren durfte, weder von dem Brief, noch von dem augenblicklichen Aufenthalt ihres Liebsten, das stand für Maria im ersten Moment fest. Aber sie selbst ging trauernd mit sich zu Rate, und ihr Gewissen, die anständige und klare Seele eines Weibes, dem die Ehrlichkeit ein Gottesgebot ist, die schwankte und trieb lange vor dem Sturm einer schweren Herzensnot.

Er wollte von ihr, daß sie einen Zettel, der im Brief lag, an eine bestimmte Adresse brächte. Sie las den Zettel und war nicht so einfältig, um nicht zu erkennen: da sollte jemand gewarnt und zu einer falschen Aussage veranlaßt werden … Durfte sie das Papier weitergeben? Machte sie sich nicht mitschuldig dadurch? Würde nicht eines Tages auch sie hinter den Eisengittern sitzen und nachher, wenn sie herauskam, keinen Menschen mehr in die Augen sehen können?

Einen ganzen Tag, eine lange Nacht schlug sie sich mit diesen Sorgen und Ängsten herum, dann zog sie ihr Mäntelchen an, setzte den Blumenhut auf und brachte den Brief dem, der ihn haben sollte.

Es war ein alter Mann mit einer fürchterlichen Nase, der aus einem tiefen, dunklen Laden, wie ein fetter Molch aus seiner Höhle, hervorkam. Maria kroch's kalt über den Rücken. Und wie er nach ihrer Hand griff, ihr die Wange tätschelte und sie an sich heranzog mit lüsternem Grinsen, da riß sie sich los und rannte, daß ihre Röcke flogen.

Ein paar Wochen später kam Sarranski wieder, blaß, sehr mager und hustend, als saß ihm der Tod schon im Nacken. Und wenn er am ersten Tage nach seiner Heimkehr auch keinen Pfennig in der Tasche hatte, am nächsten Abend gab er Maria hundert Mark und hatte bald wieder mehr, als er brauchte. Er sprach nie über seine Erwerbsquellen, aber er gehörte zu den Leuten, die, wie mit einer Wünschelrute bewaffnet, das Gold aus dem Felsen herausreißen!

Fabelhaft angezogen, mit allem Schmuck, den ein Kavalier braucht, trat er auf, wie der Grandseigneur, der er seinem innersten Wesen nach war. Und wiewohl Maria nun wußte, woher, aus welchen trüben Quellen sein Glanz, sein Reichtum floß, liebte und betete sie ihn heimlich an. »Wir sind alle voller Fehler«, sagte sie zu sich selber, wenn sie nachts allein in ihrem Bette lag und ihr Blut mit solchen Reflektionen beschwichtigte.

Für ihn hatte sie jede Entschuldigung, selbst dafür, daß er so rücksichtslos sein konnte, die Freundin zu herzen, während sie in der Stube nebenan alles hören mußte und in Sehnsucht fieberte.

Dann kam die Zeit, da wurde Eveline schwanger. Sie arbeitete ja längst nicht mehr. Maria hatte immer, wie für eine Schwester gesorgt für die Kleine, die die Wohnung sauber hielt, während die kräftige Freundin auf Arbeit ging, in die Fabrik oder wo man sonst ein paar starke Arme brauchte.

Wär's nach Sarranski gegangen, hätte Maria auch zu Hause ihre Tage vertrödelt. Aber was wurde dann, wenn er, wie so häufig, wieder einmal fortblieb? … Und außerdem, das tat doch auch nicht gut, daß die Maria mit ihrem starken Körper herumfaulenzte. Nein, nein; arbeiten muß man, sonst kommt der Mensch auf schlimme Gedanken!

Wie die Kleine, als sie in andere Umstände kam. Das war traurig. Den ganzen Tag Weinen und Klagen, das mußte ja dem armen Manne zuviel werden. Er kam zuletzt nur noch ganz selten.

Eveline wurde, je mehr die Entbindung heranrückte, immer schwermütiger. Der Arzt meinte, ihr überzarter Organismus wäre der Erschütterung und der schweren Bürde nicht gewachsen. Aber sobald sie ihre Last los wäre, würde sie wieder lustig wie ein kleiner Vogel sein.

Die Kleine glaubte an nichts mehr. Sie würde daran sterben! Das war alles, was man von ihr zu hören bekam.

Und ihr armer kleiner Leib zerbrach an den rasenden Schmerzen, an der blutigen Katastrophe des Mutterwerdens.

Das Kind, die Eva, war kräftig und gesund, von der Mutter blieb bloß ein blutloser Schatten, den man an einem Herbsttag in die kalte Erde senkte.

Sarranski war vor acht Tagen fort, ließ nichts von sich hören. Maria tat alles allein; sie beerdigte die Kleine, sie pflegte und wartete das Kind, ihr einziger Schmerz war, daß sie es nicht selber nähren durfte.

Und so war das Leben weitergegangen.

Sarranski kam wieder, er blieb fort, kam abermals wieder – niemals fragte Maria, woher? … wohin? … Sie wußte, das war der einzige Anlaß zum Zank zwischen ihm und der Kleinen gewesen. Sie aber, sie wollte ihn nicht erzürnen …

Und eines Nachts, da sie nach mancher stillverschwiegenen und nie erfüllten Hoffnung schon gar nicht mehr daran dachte, sollte sie auch ihren Lohn, ihren süßesten Lohn haben.

Maria, der jetzt die Erde ein Himmel däuchte, verstand es, ihn zu fesseln. Er liebte sie kaum, das glaubte sie auch gar nicht, aber er fand Vergnügen bei ihr, und sie war glückselig, daß sie ihm das gewähren konnte.

Ob er ihr treu war damals – nein, wie konnte man das von solchem Mann verlangen?!

Und als er später eine andere Wohnung hatte, da war er nur noch am Tage bei ihr, strich ihr, statt sie zu küssen, über die Wange, und sie lachte und verriet mit keinem Wort mehr die Sehnsucht ihrer einsamen Nächte.

Alles, was an Liebe in ihr lebte, sammelte sie nun für das Kind, das ihm so ähnlich, wie eine stolze, schöne Pflanze mit brennender Blüte emporwuchs.

Maria wußte jetzt, daß Sarranski von der Geschicklichkeit lebte, seinen Nebenmenschen das Geld abzunehmen. Nie kam ein Wort dieser Wissenschaft über ihre Lippen.

Das Kind, das in lauter Liebe und Zärtlichkeit heranwuchs, das seine Maria liebte, den Vater aber vergötterte, das Kind vor jeder Kenntnis von Sarranskis Lebensgewohnheiten zu behüten, das war Marias Sorge von früh bis spät.

Und es ging alles gut bis zu jenem fürchterlichen Tage, da Maria im Schwurgerichtssaale die Verurteilung ihres Abgottes zu sechs Jahren Gefängnis miterlitt.

Sie lebte zu der Zeit mit Eva in einem Markstädtchen. Schon am nächsten Tage zog sie mit der Elfjährigen nach einem Berliner Vorort. Und da Eva nach ihrer Mutter »Maron« hieß, kam kein Mensch auf den Gedanken, sie sei die Tochter des berüchtigten Hochstaplers.

Eva erfuhr von Maria nur, daß ihr Vater ein Held, ein idealer Volksbeglücker, sein Glück und sein Leben daran gesetzt habe, die Armut frei zu machen; daß er dafür im Kerker schmachtete.

Die Entreeglocke ging – sollte er es schon sein?

Maria wurde blaß bis in die Lippen. Das Blut schoß ihr ins Herz. Und eine Schwäche befiel sie, daß sie sich kaum aufheben und die Glieder regen konnte.

Aber dann war sie doch schnell im Korridor und sperrte schweratmend, mit zitternden Fingern das Schloß auf:

»Ach du … du bist es?«

Die Enttäuschung, die ihr die Spannung ihres ganzen Menschen auflöste und ihr Blut zurückfließen ließ, die war so deutlich auf ihrem runden, ein wenig grob geschnittenen Gesicht zu lesen, daß der Besucher lachend fragte:

»Na, mich hast du heut' wohl hier nich erwartet, Marie?«

Dabei wollte er eintreten, kam aber nicht gleich vorbei an ihr.

»Wieso?« Er sah sie schräg über die knollige Nase hinweg aus seinen grauen Luchsaugen lachend an:

»Hast du etwa 'n anderen Liebhaber bei dir?«

»'n anderen? …« Sie raffte sich innerlich zusammen.

»Na ja!« nickte er.

»Du bist doch nicht mein Liebhaber, Alex!«

»Hm … was denn?«

Er war nun doch eingetreten. Sie gingen in die Küche. Da setzte er sich in seinem gutgeschnittenen Winterpaletot, den runden, steifen Hut auf dem Kopf – den nahm er seiner Glatze wegen selten und ungern ab – auf den Küchenstuhl.

»Also, was willst du denn, Alex?«

»Na, dich sehen! Ist das nicht ausreichend?«

Eine Pause, und danach er mit breitem Lachen:

»Und ein Rendez-vous verabreden!«

»Ach, du!«

»Ja, ich und du, wir beide!«

»Schämst dich gar nich!«

»Wieso? Alle acht Tage eins! Ist das etwa unbescheiden?«

»Bist doch schon beinahe fünfzig! … so'n alter Kerl!«

Draußen auf dem Hof war Lärm. Zwei Weiber zankten sich wegen eines Mannes. Man hörte ihre scharfen, gellenden Stimmen trotz der geschlossenen Fenster wie schartige Klingen gegeneinanderrasseln.

Alex Pfandheller stand auf, ging zum Fenster, das er öffnete. Dabei sah man, wie er lahmte. Und als er sich zum Fenster hinausbeugte, da war es auch deutlich: er trug eine Prothese. Maria sah das immer mit einem gewissen Stolz: er hatte den Krieg mitgemacht! Und wiewohl er sich nach seiner eigenen Darstellung nie mehr als nötig vorgewagt, hatte es ihn doch gehascht … So eine nichtsnutzige Granate, die ihm das Bein dicht unter dem Knie wegschlug!

Jetzt drehte er sich im Fenster um, und das ganze, große eckige Gesicht lachte, mit den listigen Augen, mit dem breiten, starklippigen Mund, den großen weißen Zähnen, selbst die Glatze über starken Backenknochen, breitgespannten Wangen und die große, witternde Nase schienen zu lachen.

»Was hat er nu wieder?« dachte Marie, der dieser Mann, wiewohl sie ihn schon sieben Jahre lang kannte und ihm so oft angehört hatte, immer wieder neu und seltsam erschien.

Er grinste noch immer:

»Wie gut, daß wir nich verheiratet sind, Marie!«

Sie stutzte:

»Na, du wolltest doch aber immer?«

»Ja … auch noch! … aber dann war vielleicht die Sehnsucht nach dir nich mehr so groß … Du glaubst gar nich, Marie, was ich für 'ne Sehnsucht habe!«

»Hör doch auf, du alter Kerl!«

Sie winkte ihm lachend.

Aber er kam ihr näher. Faßte sie trotz ihres Sträubens um die vollen Schultern und küßte sie stürmisch.

Marias Wangen waren immer rot, doch nun schien das ganze Gesicht, das breit und fleischig, doch nicht ohne eine Art mütterlicher Anmut war, wie in Glut getaucht. Sie machte sich frei, seufzte und ließ sich dann auf den Stuhl nieder, auf dem er vorher gesessen hatte.

Er holte eine Tafel Schokolade aus der Manteltasche.

»Da, was Süßes!«

Sie wehrte ab:

»Mir is gar nich danach!«

»Na, du ißt doch sonst gerne!«

»Ja, aber heute … weißt du denn gar nich … ich hab' dir doch erzählt, Alex … wir erwarten ihn doch!«

»Wen? … Sarranski?«

»Na ja!«

»Ach darum …

»Was darum?«

»Damm bist du so aufgeregt? … Ja, ja, alte Liebe rostet nicht!«

»Affe!«

»Danke!«

»Na ja, das ist doch Unsinn! Wie kannste denn so was sagen!«

»Mit einemmal! Von wem hab' ich denn meine Wissenschaft?«

»Na ja, das ist doch aber beinahe zwanzig Jahre her!«

»Wenn schon! Das vergißt sich nicht so leicht! Um so mehr, wenn es so 'ne Art Halbgott is, der wieder aus der Versenkung auftaucht. Aber das sag' ich dir, Marie!« Die grauen Augen in dem großen Gesicht funkelten schon wieder vor Laune, »das sag' ich dir, wenn ich das geringste merke – ich bin rasend in meinem Zorn! Der reine Mohr von Venedig!«

Sie schälte Kartoffeln mit flinken Fingern, die weißen Knollen sprangen spritzend in den Wassernapf:

»Mit dir kann man nicht ernst reden, Alex! … Hast du denn die Abrechnung fertig?«

»Alles prompt zur Stelle!«

Er zog die Brieftasche, seinen Paletot aufknöpfend, aus dem schwarzen Gehrock, nahm einen großen Kontobogen heraus und hielt ihn entfaltet Maria vor die Augen.

Sie schüttelte den Kopf, um dessen Scheitel die braunen Flechten in dickem Kranz lagen.

»Davon versteh' ich doch nichts. Die Hauptsache ist, daß er alles wiederkriegt!«

»Sogar noch mehr! 2000 englische Goldpfunde, das waren damals 41 …500 Mark … Hier, unten der Kreditsaldo, siehst du? 44 …670! Außerdem hast du nun das kleine Fräulein, ihr habt beinah' sieben Jahre davon gelebt!«

Sie sah zu ihm auf mit ihren guten, liebevollen Augen.

»Das vergeß' ich dir auch nie, Alex!«

Er drohte ihr mit seinem ungefügen Zeigefinger.

»An wen denkst du dabei?! … doch immer bloß an ihn!«

Und er fing plötzlich an, nach der Melodie aus der »Schönen Helena« zu trällern:

»Ich bin Stanislaus der Gute,
Laus der Gute, Laus der Gute
Ich bin Stanislaus!«

»Ein schrecklicher Mensch!« sagte sie und stellte die Kartoffeln zum Feuer.

Dabei mußte sie an den regnerischen Abend vor sieben Jahren denken, wo sie ihren Anbeter kennengelernt hatte. Es war mitten in der Revolution, und man hatte Sarranski gerade verhaftet.

Der hatte aber vorher Gelegenheit gefunden, Maria die zweitausend Goldpfunde anzuvertrauen. Bei ihr würde niemand das Geld suchen, denn Sarranski, zu dessen besonderen Fähigkeiten es gehörte, daß er unverbrüchlich schweigen konnte – der hätte nie daran gedacht, irgendeinen Menschen in seine familiären Beziehungen hineinsehen zu lassen.

Daß er ein Kind besaß, wußte keiner. Daß es draußen in Groß-Lichterfelde von einer Frau, die Maria Haltermann hieß, erzogen wurde, das war niemandem außer ihm bekannt – bis nach seiner Verhaftung der ehemalige Steuererheber und spätere Finanzagent Alex Pfandheller davon erfuhr.

Aber Pfandheller hatte genau ebenso ein festes Schloß vor'm Munde. Auch er hatte kein Bedürfnis, fremde Menschen – die ihn überhaupt nur geschäftlich interessierten – in sein Privatleben einzuweihen. Leute seiner Art müssen ja, wenn sie sich entwickeln und weiterkommen wollen, zu schweigen verstehen.

Denn wenn Pfandheller auch die Gesetzesmaschen stets genau auf ihre Dichtigkeit prüfte, ehe er es unternahm, wieder einmal hindurchzuschlüpfen, und wenn er so die Gerechtigkeit und ihren staatlichen Ausdruck, die Justiz, nicht eigentlich zu fürchten hatte, so war er doch ein rechtes Kind seiner Zeit, auch dem gewagten Unternehmen nicht abhold, sofern nur die Höhe des Gewinnes im richtigen Verhältnis zum Risiko stand, das man dafür auf sich nehmen mußte.

Er war in dem wilden, reißenden und gigantisch anschwellenden Strom der Inflation mitgeschwommen und hatte es verstanden, an der richtigen Stelle auszusteigen aus diesem brodelnden, schlammigen und übelduftenden Gewässer.

Hätte der verhaftete Sarranski ihm selbst die schönen Goldpfunde vor seiner Verhaftung anvertraut, sie hätten sich gewiß, wie so viel anderes Edelmetall, in wertlose Papierscheine verwandelt – wenigstens auf der Abrechnung, die er dem Hochstapler nach dessen Freisprechung überreicht haben würde.

So aber hatte Alex Pfandheller das Geld für Maria Haltermann verwaltet. Und Marie, diese vierzigjährige, doch keineswegs schöne oder besonders reizvolle Frau war für den Finanzagenten – den Titel hatte er für sich selbst erfunden und fand ihn wunderschön – die Frau, das Weib, das er begehrte, der Mensch, der ihm durch seine starke und reine Seele imponierte, das Wesen schlechthin, das er liebte.

»Also kann ich wieder gehen, Marie?«

Sie war so weit weg in ihrem inneren Schauen, daß sie auf ganz anderes antwortend, leise nickte.

»Wahrhaftig! Ich glaube gar, du schmeißt mich raus?«

»Ach … aber Alex … ich weiß gar nicht!«

»Aber ich weiß … du liebst mich nicht mehr!«

Und er bedeckte das Gesicht mit den Händen und tat, als würde er weinen.

Da stand sie rasch auf, denn im Grunde war sie ihm doch von Herzen gut. Und streichelte seine blankrasierte Wange, bis hinter der langsam weggezogenen Hand sein gutmütiges Grinsen zum Vorschein kam.

Nun faßte er sie rasch nochmal um, küßte sie ausgiebig und sagte im Flüsterton:

»Wenn er kommt, so telephoniere mich an. Ich treffe mich dann mit ihm. Denn zu mir soll er nicht kommen. Die »da oben« brauchen nicht wissen, daß wir miteinander in Verbindung stehen! … Sie werden sowieso hinter ihm her sein, wie der Deubel hinter der armen Seele! … Von wegen der englischen Münzensammlung, die sie ihm gern abschrauben möchten …«

»Was denn für 'ne Münzensammlung, Alex?«

»Ach, du bist ein Schlaucherl, Marie! Aber laß man, wir treffen uns irgendwo. Das andere wird sich finden!«

*

Der Entlassene stand vor dem Portal der Strafanstalt, die ihn sechs Jahre lang beherbergt hatte.

Sechs Jahre, das sind zwei Worte, die sich leicht aussprechen.

Dem Staatsanwalt; dem Richter, der solche Strafe beantragt oder auf sie erkennt, geht das leicht vom Munde.

Es gibt auch Gläubige, die meinen, die Herren im schwarzen Talar sprächen so inhaltsschwere Worte erst aus, nachdem sie lange und ernst mit ihrem Gewissen zu Rate gegangen sind.

Vielleicht entspräche das der Wahrheit, wenn Richter und Staatsanwälte nicht eben auch Menschen wären. Menschen, die manchesmal gereizt sind durch einen schlechten Nachtschlaf, durch eine Verdauungsstörung, Zank mit der Frau oder vielleicht Geldsorgen. Menschen, die zwar Richter sind, die aber solchen Zufälligkeiten genau so unterliegen, wie beispielsweise ein Kaufmann, ein Gelehrter oder jeder beliebige Arbeiter.

Mit Sodbrennen in der Speiseröhre oder mit einem wüsten Ehestreit im Gemüt sieht jedermann die Dinge anders, als wenn er gut ausgeschlafen, vom appetitlichen Frühstück aufstehend und von dem Liebeswort eines teuren Wesens geleitet, an sein Geschäft geht.

Und selbst ein frohes, von sanften Empfindungen durchwehtes Richterherz bietet dem Straffälligen keine Gewähr für eine ebenso sanfte Beurteilung seiner Fehle. Es ist da etwas weit Schlimmeres als alle körperlichen Störungen; etwas, das man Gewohnheit nennt und das zu den entsetzlichsten Eigenschaften des Menschengeschlechtes gerechnet werden muß.

Nicht allein das Raubtier, auch der Mensch tötet aus Gewohnheit. Und es gibt Arten des Tötens und Mordens, die von keinem Paragraphen bedroht sind, die den Täter hocherhobenen Hauptes durch die Menge schreiten, ja ihn als Held und Abgott preisen und zu einer vom Fluche Gottes beladenen Unsterblichkeit schreiten lassen.

Der leichte, schwarze Serge-Mantel, den der Richter über seinen Zivilanzug zieht, um zu verurteilen, würde manchen wie ein glühendes Nessushemd zu Tode drücken, wüßte er oder hätte er auch nur eine gelinde Ahnung von den täglich und unerträglich wiederkehrenden Qualen, in denen der seiner Freiheit und seiner Ehrenrechte beraubte, von allen Seiten erniedrigte, zur ungewohnten Arbeit gepreßte, körperlich wie seelisch schlecht ernährte Mensch sich windet. Ein Jahr hat einunddreißig Millionen fünfhundert und sechsunddreißigtausend Sekunden. Und in jeder Sekunde kann ein Mensch die niederschmetternde Verzweiflung seines zerstörten Lebens, die Schmach und Angst seiner zerbrochenen Hoffnungen, seines sich nie wieder aufrichtenden Mutes und seiner das Gehirn zermürbenden, völlig nutzlosen Reue erleiden.

Das alles hatte Stanislaus Sarranski hunderttausendmal gedacht und mit knirschenden Zähnen in sich hineingesprochen. Heute, jetzt, in diesem Moment verschwendete er auch nicht den Hauch eines Gedankens an solche Dinge, deren steinernes Symbol er umschauend noch dicht hinter sich in den hellen Winterhimmel ragen sah.

Er sah nur die blasse Sonne, die hoch über dem tristen Gebäudekomplex aus rotem Backstein wie eine leuchtende Verheißung schwebte. Er wußte nur, daß nun nach einer so langen, tiefen und nie enden wollenden Nacht für ihn der Morgen anbrach!

Stanislaus Sarranski richtete sich hoch auf. Er reckte sich und dehnte die Brust; er fühlte die mit weißlichem Nebel gemischte Kälte nicht in seinen dünnen Sommerkleidern, die noch gut, aber ein bißchen zerknittert und verlegen waren vom jahrelangen Lagern in dem Kellerraum des Gefängnisses.

Sich langsam um sich selber drehend, nahm er in seine Seele das bunte Bild des Lebens wieder auf, das er, wie ein köstlich interessantes Buch, in dem zu lesen man niemals müde wird – das er vor beinah sieben Jahren hatte aus der Hand legen müssen.

Dadrüben die Bäume, der dunkle Fichtenkranz am Horizont und die Felder davor, Häuser, Zäune und Wagen. Wie seltsam und unwirklich das alles! … und Menschen … Menschen, die nicht diese schauerliche Amtstracht oder den blauen Kittel der Strafgefangenen trugen; zu denen er, wenn er gewollt, hätte reden dürfen!

Da kam die elektrische Bahn.

Merkwürdig: so ein großer, schwerer Kasten noch mit einem Anhänger! Der bewegt sich, saust daher, hält an und zischt weiter, ohne daß man die Kraft, die ihn treibt, sehen kann. Und die drinsitzen, die werden mitgezogen, irgendeinem Ziele zu, von dem sie glauben, daß sie selbst es erwählt haben.

Aber der Führer vorn darf nur vom Krampf zu Boden gerissen werden, oder ein Steinwagen verpaßt die Gelegenheit, vorbeizukommen – dann rennt das hundert Zentner schwere Untier auf und die Ziele der Fahrgäste ändern sich in Spital und Tod.

Dieser vom Zufall – in dem er selbst die einzige Notwendigkeit sah – lebende Mann hatte nie anders gekonnt, als die Melodien des Daseins in seiner ewig trächtigen Phantasie umzufälschen und schwülstig zu verändern.

Die strahlenlose Sonne seines Befreiungstages, der er dankte, war ihm eine Woche später der herrlichste Frühlingsmorgen. Und dann würde es keinen Zweck mehr gehabt haben, ihm den Kalender vorzuhalten! Für diesen Glücksritter strahlte das goldene Maienlicht mitten im Winter, wenn es nur in ihm leuchtete, wenn nur in seiner Seele die Blumen blühten und die Vögel sangen.

Nun schritt er langsam die öde Straße hin, die nach der Stadt führte. Er hatte so unendlich viel vor, seine Willenskräfte waren so geladen mit dem, was er schaffen und schöpfen wollte!

Er ging ganz langsam. Selbst als eine leere Droschke vorbeifuhr, ließ er, der sonst jede Gelegenheit, schneller vorwärtszukommen, ergriff, sie leer weiterklappern.

Und er merkte, daß er nur mit seinen Gliedern bislang draußen war aus dem Gefängnis. Seine Seele war noch nicht frei. Die wickelte sich aus dieser schmachvollen Puppenform heraus, die ihn so lange gehemmt, und die es doch nicht fertiggebracht hatte, ihm die Flügel zu lähmen.

Da fiel ihm auf einmal Eva ein.

Und auch die treue … Maria …

Ach, er war so ruhig … nicht eine Sekunde schnürte die Angst ihm das Herzblut ab, er könne die beiden anders, als er es sich wünschte, wiederfinden.

Marias Briefe waren spärlich gewesen. Und er selbst schrieb ebenfalls nur selten. Aber das war auch gar nicht nötig. Das verlangte seine Zärtlichkeit nicht. Der Vogel kehrt auch erst nach langen Monaten an seine gewohnte Niststelle zurück und baut dann doch und füttert mit derselben Innigkeit, wie im letzten Frühling.

Nein, unter den vielen entzückenden Dingen, die vor ihm lagen, die ihn frohlockend erwarteten, stand wie eine goldene Köstlichkeit das Wiedersehen mit seinem Kinde!

Tänzerin war sie geworden, seine kleine Eva.

Er lächelte, an die andere Eva denkend, die Mutter seines Kindes, die er so sehr geliebt hatte, die sein Glück und sein Leben gewesen war. Wie hatte er sie geliebt! Und ihr Leben vergoldet! Wie selig war sie mit ihm, und wie hatten ihre schönen dunklen Augen gestrahlt, als sie ihm ihr Kind zeigte, die vergötterte, kleine Eva! …

Daß er Evas Geburtsstunde fern gewesen und währenddem mit einer anderen in der Welt umhergereist war, das hatte er ebenso vergessen, wie den bitteren, schmerzensreichen Tod der armen Eveline … Gewiß, sie war gestorben. Aber Stanislaus Sarranski sah in seiner Erinnerung, die ebenso phantastisch war, wie all sein Denken – er sah die Tote nur, wie eine kleine Elfe, die im goldigen Nebel davonschwebte, wie ein süßes Bild, das sich auflöste und in zarte Schatten verging.

Dann dachte er an das Geld, die zweitausend Goldpfunde, die er Maria zurückgelassen hatte.

Sie war eine kluge Person, und aus manchem ihrer Briefe, die auf verschwiegenen Pfaden in sein Verließ gewandert waren, hatte er entnommen, daß sie keineswegs in Verlegenheit geraten, solange er fort war.

Sie würde wohl noch etwas übrig haben von dem Gelde, das sie vor der Inflation gerettet hatte! … Unangenehm wäre das nicht! Er selbst besaß momentan ganze 75 Mark und 52 Pfennige – sein Arbeitsverdienst abzüglich der kleinen Ausgaben in sechs Jahren!

Stanislaus Sarranski lachte in sich hinein … 75 Mark und 52 Pfennige! Es gibt Leute, die leben davon einen Monat und noch länger, bauen sich am Ende sogar eine Existenz damit auf – –

»Ach, verzeihn Sie, mein Herr …«

Sarranski drehte sich um.

»Ick bin dadraußen jewesen, in jrienen Boom … in Tegel … na, Sie wissen woll schon? Un ick habe in die janze Zeit, in sechs Monate, da hab ick ooch nich een Poscher vadient. Un wenn ick nun nach Hause komme bei meine Olle, un die seht mir so … so nischt im Leibe un nischt uff'n Leibe … Sehn Se, lieber Herr, det is doch zu draurig! Nu komm wa' raus un nu kenn wa' nich mal een abbeißen zum Frühstück!«

Sarranski lächelte. Er sah sich den Elendsbruder an, einen noch jungen Mann, der mager wie ein Hund, abgerissen und fast weinend die Hände zu ihm erhob und der wohl keine Ahnung hatte, daß der Hochstapler vor einer halben Stunde aus demselben Tor herausgetreten war, das den Jämmerlichen einige Minuten später entlassen haben mußte.

»Was haben Sie denn getan, daß man Sie dort so lange festgehalten hat?« fragte Sarranski.

»Jetan? … jetan hab ick janischt! Det is et ja ebent, det unsaeener zu sone Sache kommt, wie die Jungfer zu't Kind! Nee, sehn Se ma, wenn ick Ihn det erzähle, denn weeß ick janich, womit ick anfangen soll. Also, da war die Juhrke'n, wat meene Wirtin is, die ihre Dochter! Na, 'n hübschet, schnudlijet Mechen war se, det kann man ja nu janz ruhig sagen! Und wie det so kommt, man is doch jung, un Oogen in Kopp hat man ooch! Also ick hatt ihr sozusagen vor mir reserviert, die Olja! Na scheen! Un eenes Dages, ick kam jrade von de Arbeet un wir hatten 'n bißken Jeburtstach jefeiert in die Bude, wo ick an Schraubstock stehe. Natierlich in Stimmung war ick ooch, det kann ja nich anders sind, da treff ick ihr alleene zu Hause, Oljan! Ick jeh also an se ran un sage »Olja,« sag ick, »wodrum kieken Se mir denn immer so schles'sch an? Ich meen' et doch jut mit Sie!« – »Na, ick kucke Ihnen doch aber janich an!« meent sie, un dadruff wieder icke: »Det is et ja eben, det Se mir nicht ansehn, det is et doch jrade! … Olja, wat hab ick Ihn' jetan, det Se so schlecht zu mir sind?!« – Un ick weeß nich, war et nu der olle Suff von Vormittach oder hatt' ich sonst den Kanal so voll, mit eenmal fing ick an zu heulen, wie son oller Köter. Un da lachte sie. Un da wurde ick wütend, und ick faßte ihr um un hob ihr uff un schmiß ihr uff't Sofa. Jeschrien hat se jarnich so sehr, bloß 'n bißken. Aber nachher, da war et doch Notzucht. Un wenn se mir nich mildernde Umstände vazappt hätten – wo ick ma ja doch rejulär anjesoffen hatte … dadruffhin! – denn hätt' ick womechlich noch in't »Z« rinjemußt! … Un Zuchthaus, nee, wissen Se, lieber Herr, ehe det ick det abmache, da hätt' ick mir lieber 'ne feine Leberwurscht jekooft un hätte ma dran uffjehangen!«

Stanislaus Sarranski lachte, wie das seine Art war, still in sich hinein. Er hatte einen Zwanzigmarkschein aus der Westentasche gezogen, den gab er dem armen Teufel.

Der betrachtete zuerst ganz verblüfft den Schein und bedankte sich dann mit einem solchem Schwall von Worten, daß Sarranski fast wünschte, er hätte ihm weniger gegeben.

Ihm war solche Maßlosigkeit ein Greuel. Er sah darunter die Minderwertigkeit des Individuums. Auf einmal kam's ihm zu Sinn, daß er selbst mit jenem nichts gemein habe, daß er so schnell als irgend möglich von dem noch immer haltlos Daherredenden sich trennen müsse.

Sie standen an einer Haltestelle der elektrischen Bahn.

Sarranski stieg auf. Der andere aber, als hätte er sich durch des Hochstaplers Wohltun das Recht erworben, diesen nun vorläufig nicht mehr zu verlassen, folgte ihm getreulich.

Mit Widerwillen erkannte Sarranski, was und wen er sich da aufgehalst hatte.

Und entschlossen, sobald eine Droschke oder ein Auto daherkäme, in solch Vehikel hinüberzuwechseln, blieb er, immer flankiert von seinem Begleiter, auf der hinteren Plattform des Wagens.

Da, in dem Augenblick, als die Bahn abfuhr, knatterte etwas!

In der so weit zurückliegenden Zeit seiner Freiheit waren Automobilräder noch etwas Seltenes. So interessierte den Hochstapler diese lärmende Verkehrserfindung.

Da er aber den Kopf wieder nach vorn drehte, bemerkte er, als Bild in der Wagenscheibe ihm gegenüber, daß sein Nebenmann eine Gesichtsbewegung zu dem Motorradfahrer hin machte, wie wenn er ihm Zeichen gäbe.

In derselben Sekunde fiel in Sarranskis Gehirn eine Klappe, auf der stand: »Achtung! Du wirst beobachtet!«

Der Kriminalassistent Zeige stand im Lederjakett und Mütze an der Scharnweberstraße, wo sie in die Müllerstraße hineingeht, und wartete.

Er war ein kleiner, gepackter Mensch, Jiujitsu-Mann, und rühmte sich bedeutender Körperkräfte. Die wasserblauen, etwas starren Augen nach Norden gerichtet, stand er am Bürgersteig neben seinem Motorrade, mit seinem runden, klobigen Kopf einem wachsamen Bullenbeißer nicht unähnlich.

Nun spannten sich seine Mienen, er hörte durch den Straßenlärm das Knattern einer Maschine.

Und bald kam das Motorrad des Kollegen Pfannschmidt in seinen Gesichtskreis.

Der fuhr in mäßigem Tempo vor einer Elektrischen her.

Auf dieser, so schloß Zeige, mußte sich Sarranski und wahrscheinlich auch Pip Schaller befinden, der Vigilant, der den Hochstapler von einer Strafe her, die er selbst in Tegel verbüßt hatte, dem Gesicht nach kannte.

Sie beide, Zeige und Pfannschmidt, konnten sich auf ihre Kenntnisse von Sarranskis Aussehen nicht so fest verlassen, trotz der von links und rechts und en face aufgenommenen Photographien aus dem »Album«, die sie in Abzügen bei sich trugen.

Solche Ganoven haben eine verdammte Fixigkeit, ihr Äußeres in ein paar Jahren vollkommen zu verändern. Mit einer Energie, die man ihnen nicht zutrauen sollte, verzerren und verdrehen sie ihr Gesicht so lange, bis ein ganz anderer Mensch daraus wird … Na, der Sarranski hätte auf den Händen laufen und sonst womit in die Welt kucken können – den ließen sie nicht los, bis er das kabore gelegte Geld wieder ausgespuckt hatte!

Jetzt fuhr Pfannschmidt dicht an Zeige vorbei, mit kurzem Pfiff signalisierend:

»Achtung! Wir sind auf der Fährte! Wir haben ihn!«

Und da klirrte auch schon die Elektrische.

Richtig, hinten drauf stand Pip Schaller, der wie immer mit Händen und Füßen redete, und neben ihm – wirklich ein richtiger »Schentelmän« – der Kerl, der Sarranski!

Zeige blieb bewegungslos neben seinem Rade. Laß die Elektrische erst ruhig ein Ende weg sein! Wenn er dann Vollgas gab und die Müllerstraße raufschnurrte, dann hatte er sie im Nu wieder eingeholt!

Aber den Deubel auch, er hätte den Sarranski trotz aller Bilder nicht wieder erkannt! 'S is gar nicht so einfach, sich mit solchem Kujon herumzuschlagen! … Wenn er ihn bloß mal richtig unter die Finger bekäme, dann wollt' er ihm schon beibringen, wie man anständige Leute begaunert und nachher noch ehrenwerte Beamte in der Welt herumhetzt!

Er schob seine Maschine ein Stück, ließ den Motor an und sprang in den Sattel. Das ratterte auf dem schlechten Pflaster, man spürte es in den Knochen.

*

Der, dem alle diese Bemühungen galten, verriet durch nichts, daß er das Spiel durchschaut hatte. Das leise und ein wenig verächtliche Lächeln auf seinem klugen Gesicht konnte ebenso dem trüben Redegeplätscher des Spitzels gelten, der, einer jener ganz Charakterlosen, nicht einmal das Letzte mehr besaß, die Spitzbubenehrlichkeit, die den Asozialen in ihrem Kampf gegen die bürgerliche Gesellschaft eine heilige Pflicht dünkt.

Das große Geschenk, das ihm der Verfolgte gemacht hatte, grub in sein trauriges Gemüt nicht die Spur einer Dankbarkeit. Der dumme Triumph, den anderen übertölpelt zu haben, die Aussicht, sich bei der »Schmiere« lieb Kind zu machen, ließ weder ein Mitgefühl mit dem Verratenen, noch Reue über seine eigene Nichtswürdigkeit in dem Achtgroschenjungen aufkommen.

Da fuhr von hinten ein Auto an der elektrischen Bahn vorüber.

»Halloh! Heh!«

Der Chauffeur sah auf, nickte Sarranski, der ihm winkte zu und fuhr neben der Bahn her, bis zur nächsten Haltestelle.

Dort sprang Sarranski ab und stieg ins Auto.

Neben ihm der Vigilant.

Sarranski drehte sich um:

»Was wollen Sie noch?«

»Na, wollen Sie mir denn nich mitnehmen?«

»Nein.«

»Na, ick habe doch aber … ick bin doch … ick bin doch sozusagen uff Ihn' anjewiesen! … Wat soll ick denn nu machen?! Se haben mir doch … Se haben mir doch mitjelotst bis hierher!«

Mit kraftvoller Hand stieß Sarranski den schon im Wagenschlag auf dem Tritt Stehenden zurück, daß er auf die Straße taumelte und wütend wieder herauf wollte.

»Los!« sagte Sarranski, die Tür zuschlagend, im Auto stehend, »los Chauffeur!«

Das Auto rollte.

Pip Schaller rannte schimpfend hinterdrein:

»Warte man, Jungeken! Dir krieg' ick noch! … Ick finde dir doch wieder! … Du! … Du Strolch! Du Verbrecher! Ick weeß, wo …«

Er blieb atemlos stehen.

An ihm vorbei knatterte Zeiges Maschine.

Und das drohende Gesicht des Beamten sagte dem Spitzel, was er von dieser Seite zu erwarten hatte.

Er stand noch auf dem Damm, ein Schlächterwagen hätte ihn beinahe umgerissen. Auf das Trottoir hüpfend, blieb er einen Augenblick wie betäubt, doch immer vor sich hinredend, schimpfend, Drohungen ausstoßend.

Da kam ein Sipomann näher.

Und sofort, ganz instinktiv wich der Vigilant aus. Er ging über den Damm, rannte ein Stück und lief in den Vorgarten eines kleinen, alten, vernachlässigten Hauses, in dem sich eine Kneipe befand. Aber unentschlossen in allem und feige, kehrte er auf halbem Wege wieder um, gewann die Straße und verschwand zwischen den Passanten.

*

Madeleine hatte ein Auto spendiert. Sie waren in ein paar großen Modemagazinen gewesen, und Eva hatte, während die Freundin alle Verkäuferinnen elektrisierte, mit ihren dunklen Augen durch die Dinge hindurch und über die Menschen hinweg nur ihn gesehen.

Dieses leidenschaftliche Sehnen nach dem einen Einzigen, der sie ganz erfüllte, hatte sie ja von ihm selbst, von ihrem Vater. Die grenzenlose Hingabe, dies nur verehren und anbeten können, wo sie einmal liebte, das war vielleicht das stärkste Erbteil der väterlichen Psyche, die sonst so ganz anders geartet und der Evas so wesensfremd war, daß sie später, als sie einander näher kennenlernten, sich gar nicht verstanden.

Heute, an diesem Tage sah, fühlte und begehrte das dunkellockige Mädchen nichts, als den Mann, der ihr so lange fern, gerade dadurch ihrem Herzen so unendlich nahe war. Wie eine Braut mit allen Schauern des Leibes und der Seele und doch keusch in ihrem tiefsten Fühlen, daß sie sich fast vor seinen Küssen fürchtete, brannte sie in einem geheimen Fieber und hielt den Atem an, um nicht in tolles, sehnsüchtiges Weinen auszubrechen.

Madeleine, deren Egoismus groß war, wie ihre Schönheit, ahnte kaum etwas von solcher Gefühlshöhe. Ihre eigenen Schmerzen und Freuden gaben sich nicht so schweigend. Sie sorgte, bewußt und unbewußt dafür, daß die Welt erfuhr, was in ihr vorging. In Lust und Leid war sie hemmungslos, offen, eine Gauklerin, die auf allen Plätzen ihre Seligkeit und ihre Verzweiflung preisgibt.

Jetzt saßen sie in einer neueröffneten Konditorei, in der Hauptgeschäftsgegend der Stadt.

Der Empiresaal leuchtete in Weiß und Silber. Weiß gekleidete Mädchen bedienten, eine leise Streichmusik belebte schon am Vormittag die Räume, die voll eleganter Menschen, ein vornehm gesellschaftliches Bild gaben.

Madeleine hatte hier die beiden Grafen Sterneich getroffen.

Der Jüngere, ein sehr großer und ungewöhnlich schöner Mann, versuchte vergeblich, Evas Aufmerksamkeit zu erregen.

»Wir haben uns noch zu entschuldigen, gnädiges Fräulein, neulich wegen unseres Eindringens in Ihre Garderobe … Ich will nur hoffen, daß Sie uns deshalb nicht mehr böse sind?«

Eva lächelte, aber sie erwiderte nichts, weil ihr gar nichts einfiel, was sie darauf sagen sollte.

Sie dachte immerfort an den Vater, der würde selbstverständlich in ihre Garderobe kommen! Aber Madeleine war ja auch da, zog sich darin um … überhaupt, wie würden sich die beiden zueinander stellen?

Leni war so schön … und er … er stand vor Eva als ein noch junger, sehr begehrenswerter und wohl selbst auch begehrender Mann.

Das Gefühl eines brennenden Schmerzes, des Neides, ja der Entrüstung überkam sie … Sie wollte das nicht! Nein! Niemand außer ihr sollte ihn lieben! Sollte von ihm geliebt werden! … Eine bittere und traurige Gewißheit stieg in ihr auf: dieses schöne und kokette Mädchen da drüben würde ihn fesseln und würde einen Teil seiner Liebe an sich reißen!

Und indem sie das dachte, ward Eva böse auf sich selbst. Sie schalt sich kleinlich und neidisch und beschloß, acht auf sich zu geben, damit sie den Geliebten nicht erzürne und ihm böse Stunden bereite … Er sollte nur froh und glücklich sein! Sollte nach so viel Leiden nichts als Freude und Zufriedenheit finden und seine Heimat in ihrer Liebe.

Reginald von Sterneich war ein junger Mensch mit großem Vermögen. Als Attaché bei der deutschen Gesandtschaft in Chile, hatte er das Klima in den Tropen schlecht vertragen und sich deshalb auf unbestimmte Zeit beurlauben lassen. Ohne bestimmtes Lebensziel, verbrachte er nun seine Tage, wie die anderen jungen Leute seiner Gesellschaftsklasse auch. Immer auf der Sonnenseite des Daseins hatte er mit seinen sechsundzwanzig Jahren bisher jeden Wunsch erfüllt gesehen. Und einer dieser Wünsche hatte Madeleine Brixon gegolten, die sicherlich nicht abgeneigt war, ihn zu erfüllen.

Er hatte sich ihr vorstellen lassen durch seinen Onkel, der mit dem Direktor des Varietés bekannt war, und hatte ein paar Tage geglaubt, sehr verliebt in die schöne Blonde zu sein.

Da lernte er bei Madeleine Eva kennen und seit der Stunde war etwas in dem jungen Aristokraten wach geworden, das er vordem nicht kannte, wovon er nicht gewußt hatte, daß es überhaupt möglich sei … Er war nicht verliebt in das stolze, dunkelhaarige Mädchen, er begehrte es auch nicht, wie er Madeleine – die ihm heute so gleichgültig war – begehrt hatte. Er liebte Eva. Er war selig, daß sie ihn freundlich ansah und bei seinen Worten lächelte.

An dem heutigen Zusammentreffen war Madeleine nicht schuldlos. Graf Sterneich, der Onkel, hatte sie brieflich um dieses Rendez-vous gebeten: sie solle seine Bitte nicht mißdeuten, er würde seinen Neffen, und sie könne ja ihre Freundin Eva mitbringen.

Dem Neffen gegenüber hatte Herr Botho das als eine Courtoisie dargestellt, er wolle ihm so zu einem Beisammensein mit der Angebeteten verhelfen. Für sich selbst fand der Gentleman diese Gelegenheit auch recht günstig. Ihm gefiel Madeleine weit besser, als die unnahbare Eva. Über die Zeit der Jünglingsschwärmereien hinaus, zog er die Realitäten der Liebe einer platonischen Verehrung entschieden vor. Hätte sein Neffe an dieser strahlenden Blondine festgehalten, so hätte er, als Onkel und als Kavalier, mit einer leisen Geste der Wehmut Verzicht geleistet. So fand er keine Veranlassung, die schöne Blume an seinem, schon sanft absteigenden Lebenswege nicht zu pflücken.

Um so mehr, als Madeleine keineswegs eifersüchtig schien auf ihre Freundin. Sie wollte angebetet sein, wollte mit eleganten Männern, denen es auf Geld nicht ankam, flirten. Die Erfüllung ihrer Wünsche, die schmeichelnde Konversation in luxuriöser Umgebung, wo tausend Augen sie sahen und bewunderten, das war für sie Lebens- und Liebesinhalt.

Ganz unfähig zu irgendwelcher Aufgabe ihres Selbst, einzig geschaffen, Hingabe und Liebesopfer gedankenlos zu verbrauchen, von keiner Rücksicht je gequält und undankbar in tiefster Seele, hatte sie in ihrem neunzehnjährigen Dasein das Wesen der Liebe nicht kennengelernt. Lüstern ohne Leidenschaft blieben ihre erotischen Wünsche ihren schwachen Kräften angemessen. Sie fand den älteren Grafen entzückend und lauschte seinem diskreten Gespräch, das witzig und immer ein wenig frivol war, mit lachenden Augen.

Und da sie gar nicht begriff, wie tief und ausschließlich Evas Liebe zu ihrem Vater war, so brachte Madeleine es fertig, die Freundin zu necken:

»Na, nun hast du wohl ganz deinen Herrn Papa vergessen, Eva?«

In einem jähen Zusammenzucken erblaßte Eva. Sie stand fast unhöflich auf, als wollte sie ohne Wort und Gruß davonstürzen. Besann sich jedoch, auf ihre Armbanduhr schauend:

»Es ist ja erst halb eins.« Ein Seufzer erleichterte ihre Brust, »aber du hast recht, Leni, ich muß fort; er könnte ja auch früher kommen!«

Und dann zu dem jungen Kavalier:

»Auf Wiedersehen! Herr Graf, ich bitte um Entschuldigung …«

»Aber bitte sehr … darf ich Sie zu einem Wagen begleiten?«

»Nein, ich danke … adieu, Leni, adieu!«

Den ernsten Kopf leicht neigend, ging sie mit festen, schnellen Schritten davon.

Verlorenen Blickes sah ihr Reginald nach. Eva trug ein nicht zu kurzes Kostüm aus hellgemustertem Stoff, das mit gelbem Iltisfell besetzt war. Darüber das dunkelwellige Haar mit dem rehfarbenen, goldbestickten Hütchen – der junge Graf meinte, nie etwas Schöneres und Wertvolleres in Frauengestalt gesehen zu haben.

Aber als er zurückblickte in die Gesichter des Onkels und der blonden Tänzerin, auf denen das Lächeln schwebte, das ihm galt und seiner so sichtbaren Verzücktheit, war ihm, als habe man sein schönes, heiliges Empfinden mit unsauberen Gedanken berührt.

Er stand schnell auf.

»So eilig?« fragte der Graf.

Reginald murmelte etwas und verabschiedete sich mit tiefer Verbeugung vor Madeleine.

Als er in der Luftschleuse verschwunden war, lachte Graf Botho, die Flügel seiner Hakennase bebten ein wenig:

»Ihre Freundin ist entzückend, gnädiges Fräulein, ganz reizend … ich verstehe meinen Neffen vollkommen … aber um so zu schwärmen, muß man jung sein … Und ich … bin ein alter Mann …«

Er senkte den rassigen Kopf, sah aber aus seinen von den Fältchen der Leidenschaft umzeichneten Augen von unten herauf die Blonde listig an.

Madeleine erwiderte dieses Lächeln und legte ihre schmale, mit perlgrauem Leder bekleidete Hand lose auf seine Rechte.

Da umschloß er die zarte Frauenhand mit festem Griff, drückte schnell, für einen Augenblick nur, seinen Mund auf die Stelle, wo hinter dem Handschuh die weiße Haut frei war und flüsterte:

»Gleich um die Ecke in der Wilhelmstraße wartet mein Auto. Wollen wir eine kleine Hochzeitsreise machen?«

Das schöne Mädchen erwiderte kein Wort.

Sie saß im offenen Sealpelz, der das lichte Blau ihres Tuchkleides sehen ließ, den linken Arm ein wenig auf die Lehne des kleinen Empiresofas gestützt, den schönen, hellen Kopf leicht geneigt, wie ein Bild von Renoir vielleicht oder einem anderen der großen Franzosen, die den Zauber der Frau so ganz begriffen haben.

Sie lachte nicht, und sie sprach nicht. Aber sie erhob noch einmal ihre blauen, strahlenden Augen und sah den Kavalier voll an.

Hingerissen wiederholte er:

»Wollen Sie … ja … Madeleine?«

Sie nahm aus ihrem Goldbrokattäschchen den Lippenstift und einen kleinen Spiegel und färbte ihren vollen, wie rosa Korallen schimmernden Mund. Leichthin, als habe es zu seiner Frage gar keine Beziehung, meinte sie:

»Ich habe heute abend zu tun …«

»Im Theater?«

Sie nickte.

»Bis dahin sind noch neun Stunden,« bat er, »neun Stunden, Geliebtes!«

Ohne Abwehr, nachdenklich, als rechne sie nach: »Neun Stunden … ja …«

Der Kellner war auf einen Wink gekommen, der Graf zahlte.

Dann stand er auf.

Sie erhob sich ebenfalls.

Noch immer zweifelnd, ob sie ihm erhöre:

»Madeleine?!«

Sie nickte kaum merklich. Und ging vor ihm her.

Er folgte ihr, wie der Ritter seiner Königin. Berauscht von der Aussicht in ein kostbares Abenteuer.

Auf der Straße blieb sie einen Augenblick stehen:

»Ich hab' meiner Freundin versprochen, um Mittag zu Hause zu sein.«

Schrecken traf sein Herz. Sein Mund bebte. Er konnte nur wieder sagen:

»Madeleine!«

»Ich werde Eva anklingeln,« entschied sie sich, »aber wo?«

Sie standen vor dem großen, blinkenden Wagen.

Der Chauffeur riß den Schlag auf.

Graf Botho hob Madeleine hinein wie ein ganz junger Liebhaber. Als er neben ihr saß, klopfte sein Herz, er meinte, sie müsse es hören. Und er lachte, gedämpft, dunkel, als schluchze er ein wenig.

»Wahrhaftig, ich bin wie der Junge! … ich … ich bin selig … Madeleine … ich bete dich an!«

*

Sarranski gehörte zu jenen hochintelligenten Menschen, die sehr weit vorausdenken. Wenn er, wie alle Kriminellen, hin und wieder Konstruktionsfehler machte und daran mit seinen Plänen scheiterte, so lag das, wie er glaubte, am Zufall, der seiner Ansicht nach, letzten Endes in allen Lebensdingen den Ausschlag gab.

Direktor Starenkamp freilich hatte in den langen Gesprächen, die er mit dem Hochstapler in der Bibliothekszelle geführt, solche »Zufälligkeiten« ganz anders erläutert: das wären eben die Aussprünge in dem nicht normalen Gehirn des Asozialen!

Der normale Mensch begehe das auch von ihm manchmal erwogene und in seinem Endzweck oft gewünschte Verbrechen einfach deswegen nicht, weil ein kompliziertes Räderwerk von Hemmungen in seiner Seele richtig funktioniere.

Bei dem Kriminellen, also Anormalen, sei diese Maschinerie entweder erblich beeinflußt, nie intakt gewesen; oder sie sei durch irgendwelche äußeren Anlässe, vielleicht auch durch innere, erst später eingetretene Verbildungen beschädigt und so, wenn auch nur zeitweise, außer Betrieb gesetzt.

Der Verbrecher sehe die beinahe unübersteiglichen Hindernisse in seinen Plänen gar nicht und bekäme es daher wie der Hauptmann von Cöpenick fertig, sich ein Piket Soldaten auf der Straße aufzugreifen, den Bürgermeister zu verhaften und die Stadtkasse auszuplündern.

Doch eben dieselbe Hemmungslosigkeit ließe ihn während und nach der Tat die einfachsten Dinge übersehen, die zu seiner Sicherung notwendig wären.

Das Verhältnis zwischen Reiz und Reaktion sei in der Verbrecherseele zu blitzartig, zu unkontrolliert.

So könne er dem plötzlichen Wunsch, vor seiner Flucht noch einmal Bekannte oder Verwandte aufzusuchen, einen leicht kenntlichen Gegenstand aus seinem Raube einer Dirne zu schenken, oder sonst einem ganz unbegreiflichen Verlangen absolut nicht widerstehen – was dann gewöhnlich seine Verhaftung zur Folge hätte.

Das Schlimmste für ihn sei aber: er begreife die Logik der Geschehnisse auch nachher nicht.

Sein kindischer Hang zum Aberglauben, zweifellos im Unterbewußtsein begründet und auf schwer kontrollierbaren Geschehnissen fußend, die in frühere Generationen zurückreichen können, machen ihn kritiklos und lähmen, ja verneinen ein konsequentes Denken.

Aber seine größten Feinde wären doch der Alkohol und die Liebe. Dem ersten stehe eine fast immer alkohol-intolerante Physis beinahe waffenlos gegenüber. Gleichviel ob beim Manne oder beim Weibe sei die Verbrecherpsyche durchgehends einer erotischen Hysterie unterworfen, die manchesmal in deutliche Wahnvorstellungen ausmünde. Das müßte dann dazu führen, daß der Kriminelle seine Pläne nicht verwirklichen und den als richtig erkannten Weg nicht zu Ende gehen könne.

Eine spielerische Kindlichkeit, ein wahrscheinlich sehr ungleichmäßiges Wachstum der geistigen Fähigkeiten, die tolle Lust an der Opposition gegen die Umwelt und selbst gegen die eigenen Erkenntnisse, und vor allem die noch gänzlich unerforschten, rapid einsetzenden Gedächtnisverluste, die mit einem ebenso überspannten und daher meist phantasie-getrübten Erinnerungsvermögen wechselten – das wären nicht nur die Ursachen des Verbrechens, sondern auch die Gründe, aus welchen die Taten der Kriminellen nur ganz selten dauernd unentdeckt blieben.

Stanislaus Sarranski hatte während seiner stundenlangen Fahrt gute Muße, die Theorien des Dr. Starenkamp wieder zu überdenken.

Sein erstaunliches Gedächtnis ließ die Sätze des Wissenschaftlers deutlich in ihm widerklingen. Aber das sardonische Lächeln auf seinem Gesicht, der hartnäckige Zug, der über der schmalen, leicht gehakten Nase die großbogigen Augen umwob, sie deuteten doch darauf hin, daß er diese Gedanken und psychologischen Schlüsse letzten Endes für »rein wissenschaftliche Theorien« hielt, die mit dem wirklichen Leben und besonders mit dem seinen nichts gemein hätten.

Das Auto war offen, und die Temperatur sicher nur wenige Grad über dem Nullpunkt. Trotzdem fror Sarranski nicht. Er besaß überhaupt eine fabelhafte Gesundheit.

Und hatte sich während seines jahrelangen Aufenthaltes im Gefängnis mit vollem Bewußtsein abgehärtet. Er wußte, daß ein in der Zelle erworbener Katarrh den Befallenen nicht so leicht wieder verläßt und daß eine an sich noch so leichte Affektion der Schleimhäute da drinnen oft der Anfang der Tuberkulose und damit des jämmerlichsten Endes wird.

Das veranlaßte ihn, stets für frische Luft zu sorgen. Er fror lieber ein bißchen. Und allmählich konnte ihm die Kälte nichts mehr anhaben.

Papa Wildrich fröstelte immer, wenn er hereinkam in Sarranskis Zelle. Dann schloß Sarranski das Fenster, solange der alte Herr bei ihm blieb.

Pah! Er war noch immer in der Anstalt! Und hatte doch jetzt nur die eine Aufgabe, wieder ins Leben zurückzufinden!

Er hatte dem Chauffeur eine Adresse gegeben. Der hielt eben. In der Linienstraße.

Sarranski sprang aus dem Wagen, und rief dem Chauffeur zu:

»Warten Sie bitte!«

Im selben Augenblick zog der Assistent Pfannschmidt mit seinem Motor langsam an ihm vorbei.

Der Hochstapler eilte leichtfüßig in das alte Haus hinein.

In der dritten Etage wohnte der Schneider Pawel Petrowitsch, ein russischer Pole.

Der lange, dünne, kahlköpfige Mensch sprang von seinem Arbeitstisch und fiel dem Hochstapler buchstäblich um den Hals. Dann schlug er in die Hände, faßte Sarranski abermals um und küßte ihn auf beide Wangen.

»Brüderchen! Täubchen! Goldenes! Bist du widder da! Und so scheen! So gesund! Du mein Engelchen! Laß dir doch anseh'n!«

Er faßte Sarranski, den die Rührung mitergriff, bei den Schultern, hielt ihn von sich ab, zog ihn wieder an seine Brust und klopfte ihm, von neuem in seinen Armen, zärtlich den Rücken.

»Ich brauche Garderobe, Pawel Petrowitsch. Vor allem einen Winterpaletot.«

»Hob ich for dir, olter Freind, du! hob ich! Kannst du sich gleich anzieh n!«

Er holte aus der Nebenstube, wo eine Frau ihrem Kinde ein polnisches Lied sang, einen eleganten Eskimo, auf Seide gearbeitet. Der saß dem Hochstapler wie angegossen.

»Hob' ich gearbeit fier andere Kunde! Un mach ich dir Anzug in zwei Tage! … Krichst du sich alles! Brauchst du bloß befehlen! Du bist mein Freind! Krichst olles!«

»Aber ich habe kein Geld, Pawel Petrowitsch!«

Der nickte, lachte, holte eine Kognakflasche nebst Gläschen aus der Ofenröhre.

»Geld? Was brauchst du? Geb' ich dir, was ich hob! Hundert Mark, willst du? ja? lieber Freind! Weißt du noch, wo du mir host errettet von Tode? Das ich wer' nich vergessen!«

Sarranski wehrte ab.

Wirklich dankte ihm der Pole sein Leben.

Petrowitsch hatte, als Sarranski eben nach Tegel kam, gleichfalls dort gesessen. Wegen Hehlerei, er hatte gestohlenes Tuch gekauft. Draußen war er auf einem Spaziergang mit einem Landsmann, einem von den »Langjährigen«, in Streit geraten. Das ging hin und her? Petrowitsch zeigte den anderen an, der wurde disziplinarisch bestraft und schwor dem Schneider Rache.

Eines Morgens, als sie zur Arbeit geführt wurden, der Aufseher aber gerade abgerufen worden war, überfiel der rachsüchtige Gefangene den Schneider und war nahe daran, ihn mit seinem blauweißkarierten Halstuch zu erwürgen.

Im letzten Augenblick sprang Sarranski, der zum Direktor wollte, hinzu und streckte den Untäter mit einem gezielten Boxhieb nieder.

Seitdem hatte er in Pawel Petrowitsch einen Freund.

Der Schneider schrieb ihm, sobald er das Gefängnis verlassen hatte. Er schickte ihm Geld, wiewohl er selbst durch die halbjährige Gefängnisstrafe fast ruiniert war. Und er verstand es, von draußen einen Weg ins Gefängnis zu finden, auf dem er seinem Freunde Briefe zukommen ließ.

So hatte Sarranski Nachricht von Maria und seinem Kinde erhalten. So hatte das alte treue Mädchen nicht nötig gehabt, der Behörde Kunde von ihrem Dasein zu geben.

*

»Weißte,« sagte unten vor dem Hause der eine der beiden Assistenten zum anderen, »ich wer' jetzt mal raufgeh'n und seh'n, wo der Bengel bleibt.«

»Wie wirst'n das machen, Adolph?«

Zeige hatte sein Motorrad gegenüber an die Hauswand gestellt und war nur mal über den Damm gekommen.

»Na, ich frage einfach bei jedem Mieter an, ob er drin ist«, sagte Pfannschmidt.

»So, und wenn, was doch sehr leicht möglich ist, die Wohnung, wo der drin is, wenn da 'n Vorder- und 'n Hinterausgang is? – Denn kommt er hinten runter, wenn du vorn rauf gehst!«

»Na, wie denn, Emil?«

Zeige spuckte den Priem, an dem er kaute, in weitem Bogen von sich.

»Wir könnten einer vorne und einer hinten 'raufgehen. Aber denn kann er uns auch noch wegkommen. Denn wer'n bei sich hat, der sagt's doch nich! Un wenn wir oben drei Treppen sind, reißt er in die erste aus! Nee, das jeht alles nich! Haste denn nachjesehen, ob die Bude hier,« er winkte seitwärts mit seinem dicken Kopf nach dem Hause hin, »etwa noch 'n zweeten Ausgang hat?«

»Woll, woll!« nickte der andere, »... aber du … wenn man wenigsten zwischendurch einen abbeißen könnte!«

»'n schwarzen?« zwinkerte Zeige, ein Kautabakröllchen aus der Westentasche ziehend.

»Pfui Deibel!« Pfannschmidt hielt die große, langfingrige Hand vor's Gesicht, »ich meine doch 'n Topp Bier!«

»Wirste dir woll noch verkneifen –«

»– müssen!« wollte der kleine Stämmige sagen. Aber das Wort blieb ihm auf den Lippen.

Wie erstarrt sahen die beiden den »Beschatteten« aus dem Hause treten in einem funkelnagelneuen Winterpaletot.

Sarranski sprang ins Auto.

Hätte er das nicht getan und würden sie nicht so nahe gestanden haben, so wäre er am Ende unerkannt vorbeigekommen.

Nun hieß es wieder den Motor ankurbeln und hinterher!

Und Sarranski halte noch so viel zu tun! Zuerst fuhr er bei einem Friseur in der Behrenstraße vor und ließ sich rasieren, maniküren und den Kopf zurechtmachen. Dann brauchte er Handschuhe, bestellte bei einem ersten Schuhmacher mehrere Paar Stiefel, aß zu Mittag in einer Weinstube und fuhr dann nach – die beiden Geheimen wollen's nicht glauben – Sarranski fuhr nach dem Alexanderplatz zum Polizeipräsidium.

Im Vorzimmer des Dirigenten der Kriminalpolizei erschien ein eleganter Herr und fragte nach dem Oberregierungsrat Dr. Weber.

Der wäre nicht hier.

Dann möchte der Beamte ihn dem Vertreter des Herrn Dirigenten melden.

Der Mann nahm das mit der Feder beschriebene Kartonblatt – so schnell hatte sich Sarranski keine Besuchskarten besorgen können – und trug es hinein zum Regierungsrat v. Martini.

Der erhob sich beim Anblick des sympathischen Gentleman.

»Mein Name ist Sarranski, Herr Regierungsrat.«

Herr Martini ließ seine zierliche Figur wieder in den Sessel sinken. Er war perplex und bemühte sich, den blonden Schnurrbart streichend, es zu verbergen.

»Sie wünschen?« sagte er kühl und drückte unauffällig auf den Knopf des Tischtelephons.

Sarranski lachte mit strahlenden Augen:

»Ich komme eben aus Tegel, Herr Regierungsrat, wo ich die letzten sechs Jahre interniert war.«

Der Beamte aus dem Vorzimmer trat ein.

»Rufen Sie mir doch bitte Herrn Kriminaloberinspektor Bernsdorf … er möchte aber, bitte, sofort kommen!«

»Sehr wohl, Herr Regierungsrat.«

Nun hatte dieser seine weltmännische Glätte wiedergewonnen:

»Also, was verschafft mir das Vergnügen, Herr Sarranski? … Aber bitte, wollen Sie nicht Platz nehmen?«

Der Hochstapler setzte sich:

»Ich komme mit einer großen Bitte, hochverehrter Herr Regierungsrat … Sehen Sie, wenn man so Jahre und Jahre, durchaus gegen seinen Willen, staatlich betreut worden ist, dann hat man das erklärliche Bedürfnis, allein mit sich zu sein … auch im Straßenlärm und Trubel … Sie, Herr Regierungsrat oder wenigstens Ihre Beamten schenken mir nun eine … wie soll ich sagen … eine so liebevolle Aufmerksamkeit … seitdem ich das Gefängnis verlassen habe, folgen mir Ihre Herren auf Schritt und Tritt … sogar Vigilanten hat man aufgeboten, um mir zu folgen, mich zu beobachten. Darf ich fragen, welchem Umstande ich diese vielleicht gut gemeinte Fürsorge, die mich ein bißchen nervös macht …«

Der Oberinspektor trat ein, er hatte den letzten Satz gehört:

»Das haben Sie mir zu danken, Sarranski, mir! Und insofern natürlich auch meinen Herren Vorgesetzten!«

Der Hochstapler drehte sich zur Seite. Sein schönes, kluges Gesicht hatte einen grausamen Ausdruck:

»Mit wem habe ich die Ehre? … ah, ich glaube mich zu erinnern: Kriminalkommissar Bernsdorf?«

»Kriminaloberinspektor Bernsdorf … und Herr, bitte, Herr!«

Sarranski schüttelte den Kopf:

»Nein, entweder Herr Sarranski und Herr Bernsdorf oder Sarranski und Bernsdorf!«

Jetzt lächelte voller Ironie der Regierungsrat:

»Kürzen wir die Debatte ab, meine Herren! Herr Sarranski,« er betonte das erste Wort, »wünscht zu wissen, weshalb ihn unsere Beamten verfolgen … Das könnten Sie sich eigentlich ohne viel Mühe selbst beantworten, diese Frage: wir möchten erfahren, wo Sie die erschwindelten fünfzigtausend Mark, die Sie klugerweise damals in Gold umgewechselt haben, wo Sie die gelassen haben, Herr Sarranski?«

»Danach bin ich bereits im Gefängnis wiederholt gefragt worden, Herr Regierungsrat.«

»Ja, und da haben Sie unseren Leuten einen Bären nach dem anderen aufgebunden! Verzeihen, Herr Regierungsrat, meine Einmischung, aber solchen Burschen muß man anders anfassen!«

Sarranski stand auf. Seine bläulich schweren Lider senkten sich über die sprechenden Augen, das dunkeltonige Gesicht war wie aus Stein. Er verbeugte sich gegen den Regierungsrat:

»Verzeihen Sie, mein Herr, wenn ich mich jetzt empfehle. Ich bin nicht in der Absicht hergekommen, mich zu streiten … Besonders nicht mit jemand, der die Formen der guten Gesellschaft so wenig beherrscht … auf Wiedersehen!«

Er war schon an der Tür, als ihn Herr Martini, der stirnrunzelnd dem Oberinspektor ein paar Worte zugeflüstert hatte, bat, noch einmal zurückzukommen.

»Sie sind in Ihrem Recht, Herr Sarranski. Niemand kann Sie als freien Mann zwingen, Auskünfte zu erteilen, die Sie nicht geben wollen. Aber wenn ich Sie nun in aller Höflichkeit und Ruhe frage, ob und wo Sie das Geld versteckt haben –«

»Dann kann ich Ihnen auch nur dasselbe sagen, was ich mehrfach schon angegeben habe: ich besitze das Geld nicht. Ich habe es einer Person anvertraut, die mein Vertrauen hat. Und diese Person –«

»Hat es an der Börse verspekuliert!« fiel der Oberinspektor hohnlachend ein.

Sarranski nickte:

»So ist es!«

»Und den Namen des Mannes? Wollen Sie uns nicht wenigstens den Namen sagen?«

Der Hochstapler schüttelte den Kopf.

»Warum nicht?«

»Die Frage beantwortet sich von selbst, Herr Regierungsrat.«

»Sie meinen, wir würden uns dann an den anderen halten? … Und wenn ich Ihnen das Versprechen gebe, daß ihm nichts passieren soll?«

»Können Sie das Versprechen wirklich geben, Herr Regierungsrat?«

Der blonde Kopf des Herrn am Schreibtisch senkte sich ein wenig. Doch der Oberinspektor rief gleich:

»Gewiß, das verspreche ich Ihnen auch!«

Der Hochstapler sah den, der ihm seinerzeit die lange Strafe verschafft hatte, an, als wollte er sagen: mit dir rede ich ja gar nicht!

Er wandte sich wieder Herrn v. Martini zu:

»Durch diese Dauerobservation erreichen Sie gar nichts, Herr Regierungsrat. Höchstens das eine: Sie erschweren es mir, wieder festen Fuß zu fassen und auf ehrliche Weise mein Brot zu verdienen.«

Der Oberinspektor zog sich für sein ironisches Kopfschütteln und Grinsen einen verweisenden Blick seines Vorgesetzten zu.

Der sagte:

»Wir sind aber verpflichtet, alles daran zu setzen, damit der Geschädigte wieder in den Besitz, seines Geldes kommt.«

Sarranski erhob sich abermals, doch blieb er stehen. Er dachte nach:

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Herr Regierungsrat. Ich werde sehr bald wieder im Besitz von größeren Geldmitteln sein …«

Bernsdorf konnte sich nicht enthalten, er mußte lebhaft den Kopf bewegen.

Sarranski sah ihn nur an:

»Alsdann, Herr Regierungsrat, werde ich meinem Onkel, dem Freiherrn von Brandhausen, das Seine zurückerstatten, obwohl er es durch seine Handlungsweise mir gegenüber nicht verdient hat.«

Herr v. Martini verbiß sich das Lachen, aber der Oberinspektor glänzte wie ein Oktoberfuchs.

»Vielleicht, meine Herren, geben Sie nun Ihren Untergebenen die Weisung, das törichte Nebenherfahren neben meinem Wagen einzustellen. Sie finden mich jederzeit im Hotel Atlantik.«

Damit verneigte sich der Hochstapler leicht und ging. –

»Na, was sagen Sie dazu, Herr Regierungsrat?«

»Sie haben den Mann falsch angefaßt, lieber Herr Bernsdorf!«

Der bewegte die Lippen und Kinnladen, als kaute er etwas. Seine wirklich vorhandene Findigkeit und Intelligenz besaß doch so wenig Selbstkritik, daß er das Manko seiner Begabung, das in einem Mangel von wirklicher Kinderstube und besserer Bildung bestand, nicht begriff. Er hielt auch in diesem Augenblick den Vorgesetzten für einen Idioten, der völlig ahnungslos in kriminalistischen Dingen seinen eigenen Mißerfolg dem Untergebenen auflud. Und er konnte sein Denken nicht einmal genug verstecken. Mit einer tiefen Verbeugung und den Worten:

»Ich bitte um Verzeihung, daß ich Herrn Regierungsrats Ideen nicht ganz begriffen habe«, verließ er das Zimmer.

Herr Martini steckte sich eine Zigarre an. Er meditierte:

»Ich glaube, der »Ober« hat recht … Der Kerl ist unausstehlich … Für die höhere Karriere jedenfalls total unbrauchbar!«

*

Als Eva Sarranski nach Hause kam, lag ein Telegramm auf dem Tisch im Eßzimmer:

»Bin Atlantik-Hotel abgestiegen. Hole mich bitte ab. Dein Vater.«

Der rote Mund, der flüsternd noch einmal las, erbebte.

Maria war eingetreten. Sie sah Eva über die Schultern:

»Also, er kommt, Evachen?«

»Er ist da, Mia,« so nannte sie Maria nur in ganz vertrauter Stimmung, »ich fahre gleich hin zu ihm. Er ist im Hotel und wartet auf mich!«

Und ohne einmal in den Spiegel zu blicken, war sie fort, hinweggerissen von ihrer Liebe zu dem heimkehrenden Vater.

Sarranski saß in der Halle; er überlegte alles Mögliche.

Bemerkt hatte er nicht, daß ihn seine Verfolger vom Vormittag auch hierher begleiteten ins Hotel, das er nicht verlassen hatte, seitdem er es betreten.

Trotzdem, möglich war es doch, daß sie ihm gefolgt waren! Und daß sie ihn weiter »beschatteten«, bis in den Vorort hinaus, wo Eva und Maria wohnten. Aber selbst wenn das der Fall war … auf die Dauer ließen sich diese Beziehungen doch nicht verheimlichen. Nur heute beim ersten Wiedersehen mit Eva … Wie dumm man doch ist! Der Gedanke an das Kind warf alle seine Vorsätze über den Haufen.

Er hatte sich in den Jahren draußen in der Gefängniszelle eine eigene Philosophie zurechtgemacht: er wollte sein Herz bezwingen! In jeder Stunde, an jedem Tage seines Lebens, wollte er daran denken, daß Gefühle den Verstand verwirren.

In der Lebenszeit, die er noch vor sich hatte, sollte alles, was er tat oder nicht tat, im voraus berechnet, jede Überraschung ausgeschaltet sein! Er wollte keine Fehler mehr machen! Er dachte nicht daran, mit simplen Gaunereien, die vielleicht ein paar Tausender einbrachten, seine Freiheit, seine Existenz von neuem aufs Spiel zu setzen. Verdienen wollte er, skrupellos verdienen, aber in ganz großem Stil … Wo die siebenstelligen Zahlen beginnen, da kommt der Staatsanwalt nicht hin! Aber man darf nicht einen Augenblick seitwärts blicken! Keine Liebesgeschichten! Keine Leidenschaften, nicht mal in der eigenen Familie!

Das war's, was er sich immer von neuem gepredigt hatte, wenn er in Tegel in der großen Bibliothekszelle die Bücher heraussuchte für die Gefangenen.

Und nun, kaum draußen in der Freiheit, spürte er, wie unruhig sein Herz pochte beim Denken an das Kind, an Eva.

Elf Jahre war sie damals … er konnte sich gar kein Bild von ihr machen … Bald achtzehn Jahre mußte sie sein … War sie schön, oder wenigstens hübsch? Eveline Maron war ein Bild von einem Weibe gewesen …

Wie seltsam war dieses fieberhafte Gefühl, das sehnsüchtige Denken an sie … Wenn sie nur erst da wäre!

Eine Frau in hellem Kostüm, auf dessen goldigem Iltiskragen sich der dunkle Kopf frei und stolz erhob, ging durch die Halle.

Er erkannte sie sofort, das war seine eigene Gestalt ins Weibliche übertragen … Und das liebe, schöne Gesicht mit den dunklen Schwermutsaugen, das hatte sie von der Mutter … Nur alles viel fester, viel bestimmter, der kleine volle Mund so gut geschlossen … und die Augen, die sie jetzt suchend umherschickte, so frei und vornehm … das zarte Profil … die Farben … Stanislaus Sarranskis Herz füllte sich mit einem hohen Stolz.

Er stand auf, ruhig und gemessen.

Und als Eva jetzt zurückkam, trat er ihr entgegen, sah sie an und nickte und lächelte ihr zu.

Da erkannte auch sie ihn, blieb stehen, wurde sehr blaß und flüsterte:

»Papa!«

Er nahm ihre Hand und führte sie an seinen Tisch, wo er allein saß:

»Eva, meine kleine Eva!«

Dann zog sie ihre Handschuhe aus, brachte es nicht fertig mit den zitternden Fingern, bis er ihr half. Und sie sahen sich immer wieder an und immer wieder und dann beugte sie den schönen Kopf auf seine schlanken Hände und küßte beide.

Da fühlte er ihre Tränen. Und so sehr er sein Herz, sein liebesehnendes Herz festhalten wollte, das Wasser schoß ihm in die Augen, er weinte.

In einer Ecke, halb verborgen von Blattpflanzen, die vor einem von unten beleuchteten Springbrunnen gruppiert waren, saßen die beiden, sprachen leise und lächelten mit feuchten Blicken, und zuletzt, als des Mädchens Kopf dem seinen immer näher kam, nahm er den in seine fiebernden Hände und küßte ihr Stirn, Augen und Lippen.

»Ich habe bis halb neun Zeit … um halb zehn treten wir erst auf.«

»Ach ja … du und deine Freundin … Wo denn?«

»In der Skala … du kannst hinkommen und uns sehen!«

»Natürlich … gleich heute abend! … Aber jetzt ist es erst halb zwei …« er blickte auf die von der Hallendecke hängende Normaluhr und dachte verlegen, daß er selbst noch keine Uhr in der Tasche hatte.

Ihr war das Peinliche in seiner Miene nicht entgangen. Leise zärtlich sagte sie:

»Fehlt dir etwas?« und konnte das Wort »Vater« nicht über die Lippen bringen.

Da lachte er, der ebenso ihr Fühlen erriet:

»Nun hab' ich schon eine so große Tochter! … Aber sage, was macht Maria?«

»Sie erwartet dich, wie … Wie … ach, du kannst dir ja gar nicht denken, wie wir auf dich gewartet haben!«

Und sie nahm abermals seine Hände und küßte sie von neuem unter heißen Tränen.

Er streichelte ihr dunkles Haar:

»Du darfst dich nicht so aufregen, Liebling! Nachher kannst du am Abend nicht tanzen!«

»Ach, tanzen kann ich immer!« Jetzt wurde sie froh und heiter und erzählte ihm von ihren Erfolgen, von ihren täglichen Übungen mit Madeleine oben in der Mansarde.

»Ist sie denn ebenso hübsch wie du?«

»Viel schöner! Sie hat so wundervolles blondes Haar! Und ein Gesicht, wie ein Engel – bloß, bloß sie ist keiner!«

Eva lachte und faßte sich ein Herz und sagte: »Papa, weißt du, du siehst gar nicht aus, als ob du mein Vater wärst … nein, wie mein Bruder … schade, daß ich keinen habe … ja, wirklich, ich hab' mir immer einen gewünscht, aber er müßte so aussehen wie du, so groß und so schön gewachsen!«

Er blickte aufmerksam in ihr liebevolles Gesicht:

»Hast du denn niemand, ich meine außer deiner Freundin und Maria?«

Sie erwiderte seinen Blick unschuldig und harmlos:

»Nein … ach du meinst …« Sie lachte hell auf:

»Du meinst 'n Bräutigam, einen Liebhaber? … Nein, weißt du, dazu hab' ich gar keine Zeit! Erstens muß ich üben, dann haben wir Probe, außerdem muß ich mich um die Engagements bekümmern. Ewig ist etwas zu tun mit der Garderobe und natürlich auch in der Wirtschaft … Und dann muß ich auch ein bißchen aufpassen auf Madeleine. Sie ist ja immer lieb und gehorcht auch, aber … aber sie ist ein bißchen leichtsinnig … Die Männer sind wie toll nach ihr!«

»Und du? … Dir macht wohl keiner den Hof? … Eva, Eva!«

Sie schüttelte den Kopf, sah ihren Vater lange, fast wehmütig an:

»Ich habe gar keine Empfindung dafür. So lange ich zurückdenken kann, und ich war doch schon elf Jahre alt, als du fort mußtest, da hab' ich immer bloß an dich denken müssen, daß es dir nicht gut ging und … wieviel du hast leiden müssen, du armer Papa!«

Die hellen Tropfen fielen wieder auf den Flaum ihrer Wangen. Aber er hielt seine Rührung zurück. Er stand auf, nahm ihren Arm und führte sie, stolz auf die Schönheit seines Kindes, aus der Halle.

Die Hotelgäste sahen dem Paare nach.

Sarranski empfand, daß er wieder unter den Lebenden, unter Menschen weilte.

*

Stanislaus Sarranski hatte seit dem Mittag dieses Tages viel unternommen. Er war mit seiner Tochter nach Lichterfelde hinausgefahren in das kleine, schmucklose Haus, das in einem Gärtchen lag. In dem Eva aufgewachsen war, behütet und umsorgt von der Treuen, die ihn jetzt empfing, als sei er noch immer der Liebhaber der kleinen Eveline Maron und sie selbst der gute Geist, der den beiden Sorglosen ihr Leben und ihre Liebe möglich machte.

Sarranski küßte sie auf beide Wangen, aber wie sie dann zu schluchzen anfing, da lachte er und sagte, das sei doch gar nicht der Rede wert! Er war' ein bißchen verreist gewesen, und nun wäre er wieder da, alles sei gut und schön, und sie wollten froh und glücklich miteinander leben.

Eva saß dabei, sprang auf, lief in ihr Zimmer, kam wieder mit dem Bilde des Vaters. Sie hielt es neben sein Angesicht und fand, er sähe so viel jünger und schöner aus als auf der Photographie. Und sie sei so glücklich, daß sie ihn nun wieder bei sich hätte. Ihre Scheu hatte sie ganz verloren, sie umarmte ihn, schmiegte sich an seine Brust und küßte ihn immer wieder, als wäre sie noch das elfjährige Kind, das er damals verlassen hatte.

Sarranski wußte nicht, wie ihm geschah. Dieses große, schöne, leidenschaftliche Mädchen, so unbefangen und kinderzärtlich, war doch ein Weib, ein reifes, von Leben und Liebe schwellendes Geschöpf! Er mußte von neuem an den Mann denken, der sie besitzen würde, von dem Eva noch nichts wußte, der aber doch irgendwo lebte … Der sie einmal in seinen Armen halten und küssen durfte, bald, vielleicht schon morgen … Da krallte es sich in des Mannes Herz, der so lange, lange einsam war, wie zornige Eifersucht. Was eben noch an Rührung, Güte, Zartheit in seiner Seele gewesen, das wandelte sich in Mißgunst und Neid. Er gestand sich nicht ein, daß der die sechs Jahre hindurch entbehrende Mann in ihm nach Leidenschaft und Hingebung lechzte. Er meinte nur wieder die brennende Wut des Ausgestoßenen zu empfinden, den man geknebelt hat, endlos! Der, der einfachsten Rechte des Menschen so lange Zeit beraubt, nun nicht so leicht wieder zurückfindet in die Moral und Ethik der Familienbande.

Als Eva ihn abermals umhalste und küßte, schob er sie vorsichtig zurück und sagte:

»Du darfst dich nicht zu sehr echauffieren, mein Kind, das schadet dir. Leg' dich jetzt ein bißchen nieder und ruh' dich aus. Später gehen wir zusammen essen!«

Eva verstand ihn erst gar nicht:

»Aber, Papa, ich schlafe ja nie am Tage!«

»Doch, Liebling, doch! Und dann hab' ich auch mit Maria mancherlei zu besprechen.«

Da ging Eva. Ihre Liebe war zu groß, als daß sie ihm, auf den sie mit brennendem Herzen gewartet, ihren Schmerz, ihre Trauer über seine Abweisung hätte zeigen können. Es war ihr nur, als sei plötzlich etwas Fremdes und Kaltes im Raum, der sie gemeinsam umschloß. Sie hatte Tränen im Herzen, doch ihre Augen blieben trocken. Und als sie in ihrem Zimmer auf dem alten Stuhlsofa saß, da empfand sie deutlich, daß Erwachsene nicht mehr die Empfindung der Kindheit haben können, daß eine Schranke zwischen ihnen steht, die alle Zärtlichkeit, alle Liebe nicht übersteigen kann … Daß ihre volle, strömende Weiblichkeit ihn beunruhigt, daß er nicht die Tochter mehr, nur das Weib in ihr empfunden und davon sich hatte freimachen wollen, das begriff sie nicht in ihrer Reinheit. Das wäre ihr absurd erschienen: was kein fremder Mann bisher in ihr wachgerufen hatte, wie hätte sie es für den Vater empfinden oder seine Gefühle ahnen sollen!

Sarranski nahm unterdessen aus Marias Händen die Abrechnung über das Geld, das Herr Pfandheller so trefflich verwaltet hatte. Er wollte es gar nicht glauben, daß in diesen harten Zeiten ein Mensch war, ein fremder Mensch, der anvertrautes Geld vermehrte, anstatt es mit so leicht zu findenden Gründen in seine Tasche verschwinden zu lassen.

»Und außerdem habt ihr die sieben Jahre davon gelebt, Maria? Nein, weißt du, das hab' ich nicht erwartet! Und dieser Herr … Herr Pfandheller, besitzt er denn das Geld auch wirklich? Es steht nicht nur auf dem Papier? Weißt du das ganz gewiß, Maria?«

»Aber, Herr Sarranski, was denken Sie denn? Heute brauchen wir ja nicht mehr so viel, Eva verdient doch schon! … Aber die Jahre, in denen sie in der Ballettschule war, und früher auf dem Gymnasium … Nein, das muß ich wirklich sagen, so wie Pfandheller gesorgt hat …«

»Du kennst ihn wohl näher, Maria?«

Sie wurde rot über und über.

»Dann allerdings!« er lachte, »nun begreif ich schon eher! … Und meinst du, daß ich ihn heut noch treffen kann, deinen Freund?«

Sie war noch ein wenig unsicher:

»Sie brauchen ihn nur telephonisch anzurufen. Um die Zeit ist er immer zu Hause!«

»Weißt du das so genau?«

Er zwinkerte mit lustigen Augen. Da ward sie auch heiter und wackelte ein bißchen mit ihren runden Schultern:

»Sie wissen doch am besten, Herr Sarranski, wie die Männer sind! Lassen sie denn eine Frau in Frieden? Ich weiß ja auch nicht, was er an mir altem Weibe hat!«

»Na, er wird es schon wissen!«

Damit ging Sarranski ans Telephon und ließ sich mit Pfandheller verbinden. Sie verabredeten sich für eine Stunde später in einem Café am Potsdamer Platz.

»Aber wollen Sie nicht erst noch zu Evachen gehen, Herr Sarranski?«

»Nein, ich müßte ihr sagen, wo ich hin will … sie würde vielleicht auch mit wollen …« Er dachte nach, »sage bloß, Maria, wie kommt es, daß sie so sehr an mir hängt? … Wo ich doch so lange fort und von ihr getrennt war?«

Die Frau senkte den Blick, ihr fiel ein, wie lange sie selbst an ihn und nur an ihn gedacht hatte. Aber sie kannte ihn, sie wußte, daß in seiner Seele für solche Hingebung kein Raum war, daß er selbst das Geliebtwerden hinnahm wie etwas, das ihm gebührte, das nicht verwundernswert war, und das er wahrscheinlich in seiner ganzen Tiefe nicht einmal begriff. Doch das minderte seinen Wert nicht in ihren Augen. Sie war wie die meisten Frauen, die, wenn sie einem Manne gut sind, seine schlechten Eigenschaften ebenso herrlich finden wie die guten.

Pfandheller und Sarranski hatten keine zehn Worte gesprochen, als sie sich schon vollständig einig waren. Der Finanzagent verhehlte durchaus nicht, daß nur seine Liebe zu Maria soviel Uneigennützigkeit in ihm wachzuhalten imstande gewesen sei. Aber jetzt, wo er das Kunststück fertiggebracht habe, Sarranskis Goldstücke durch das Schmelzfeuer der Inflation hindurch zu retten, da freue er sich doch auch selber darüber! Was er dafür bekäme? Nicht mehr, als Sarranski ihm aus freien Stücken zubillige. Aber es wäre vielleicht gut, wenn Sarranski vorläufig seinen Besitz nur zum Teil abhöbe, die Polizei zeige in solchen Fällen oft eine übertriebene Neugierde! Übrigens habe er inzwischen dreitausend Mark von der Bank geholt, die Sarranski gewiß würde brauchen können.

Der nahm das Geld, steckte es in die Innentasche seiner Weste und fragte Pfandheller, ob er mit zehntausend Mark als Agentenprovision einverstanden wäre.

Der Finanzagent nahm an, ohne sich lange zu sperren. Aber Maria dürfte davon kein Sterbenswort erfahren. Die würde ihm das nie verzeihen! Weiber verstehen eben nichts von Geschäften!

Dann war Sarranski ins Hotel gegangen und hatte sich ausgeruht. Vorher klingelte er noch zu Hause an und sprach mit Eva. Er hätte das Schluchzen in ihrer Stimme hören müssen, als sie ihm antwortete, sie sei ganz einverstanden damit, daß er sie nach der Vorstellung abholen und dann mit ihr den Abend zusammen sein wollte. Aber er hatte noch zu viel zu besorgen. Er sah ja nicht, wie Eva sich nach dem Gespräch laut weinend in die Arme ihrer Pflegerin warf! Er hörte nicht, wie sie jammernd sagte: »Er liebt mich nicht, Maria! Und ich habe doch keinen anderen Gedanken, als nur ihn!«

Sarranski ging in ein paar Cafés, die er früher besucht hatte, fand, daß die Leute armseliger, bescheidener und vor allem uneleganter waren. Und traf schließlich einen Mann, den er kannte und mit dem er gelegentlich Geschäfte gemacht hatte. Er wollte ihn, da er an seinem Tisch im Café vorüberging, gerade anreden, als ein Blick des andern ihn traf, den jeder, der schon einmal »über'n Berg« war, sofort versteht. Der Blick heißt: »Achtung! Die Polizei ist in der Nähe!«

Sarranski blieb stehen, zündete sich eine Zigarette an und überblickte dabei, vor einem der großen Pfeilerspiegel, die Umgebung. Da saßen an einem Seitentisch zwei Männer, die sein kundiges Auge als Kriminalbeamte sofort erkannte. Der rechts, schien ihm, war heute vormittag mit dem Autorad hinter seinem Wagen hergefahren.

Die nicht zu verblüffende Geistesgegenwart und Dreistigkeit, die zum Wesen des Hochstaplers gehören wie die Verstellungsgabe zum Schauspieler, ließ ihn, ohne zu zögern, an den Tisch herantreten und mit leisem Anrühren der Hutkrempe sich neben die beiden niederlassen.

Die Kriminalassistenten lachten ziemlich einfältig, dann sagte der eine, der kleinere mit den breiten Schultern:

»Da haben wir uns also doch nicht getäuscht … Sie sind es doch, nicht wahr?«

Der Hochstapler bot ihm das silberne Zigarettenetui:

»Wenn Sie mich meinen, ja, das bin ich!«

»Na, wir waren doch den ganzen Vormittag hinter Ihnen her,« Pfannschmidt zeigte mit seinen langen Fingern auf Sarranski, »wie sind Sie denn eigentlich herausgekommen aus dem Präsidium?«

Der Hochstapler hob die Schultern. Er dachte gar nicht daran, ihnen mitzuteilen, daß er den ihm bekannten Eckausgang am Alexanderplatz, den meistens nur die Beamten benutzten, kannte, und daß er dort die Straße gewonnen hatte, während Zeige und Pfannschmidt an den beiden Haupttoren warteten.

»Wenn es nicht verboten ist, möchte ich die Herren zu einem Grog einladen?«

Die beiden sahen sich an.

»Hier im Café?« meinte Zeige und – – –

»Sie wollen uns doch nicht etwa, bestechen?« lachte Pfannschmidt.

Sarranski bestellte. Als das Getränk kam, trank er seinen Verfolgern zu:

»Auf gute Verrichtung, meine Herren!«

Nun lachten sie beide herzlich. Es wurde gemütlicher:

»Sie wissen wohl schon, daß Ihre Observation aufgehoben ist?«

Sarranski bot Pfannschmidt, der ihn gefragt hatte, auch Zigaretten an und bestellte Zigarren, weil der Lange die »Affenflöten«, wie er sagte, nicht mochte. Dann kam der Grog, und Sarranski bat den Kellner, gleich noch drei von den kleinen Gläsern zu. bringen.

Zeige meinte, hier in aller Gemütlichkeit seinen Mann fangen zu könnten:

»Nu sagen Se mal, eigentlich könnten Sie's doch ruhig sagen, Herr Sarranski, rauskriegen tuen wir's ja, doch, wo das Geld is?«

»Gewiß, ich will's ja auch sagen, meine Herren!«

Sarranski sprach leise und sah ganz geheimnisvoll drein.

»Bloß jetzt noch nicht! Denken Sie doch mal, wenn ich jetzt schon damit rausrücke, dann bleibt Ihnen ja gar nichts mehr zu tun übrig!«

Er lachte hell auf, wie die beiden so fassungslos dreinschauten. Dann bestellte er bei dem vorbeieilenden Kellner noch einmal Grog, zahlte, trank leer und erhob sich, den Hut lüftend:

»Hier, meine Herren, treffen Sie mich immer! Wenn ich Ihnen sonst noch irgendwie dienen kann … Auf Wiedersehen! Gute Nacht!«

Verdutzt sahen ihm die beiden Beamten nach, wie er durch die Luftschleuse verschwand.

Dann hatte sich Sarranski einen Logenplatz in der Skala genommen. Er wollte Eva vorher in ihrer Garderobe aufsuchen, aber als der Portier am Artisteneingang ihm Schwierigkeiten machte, unterließ er es und sah sich die Vorstellung an. Anfangs ohne großes Interesse. Diese Schaustellung von Akrobaten und mehr oder weniger entkleideten Frauen bot seiner Phantasie, als der bestimmenden Kraft aller seiner Empfindungen, zu wenig Spielraum. Erst bei der Löwennummer wurde er warm. Da sah er heiße Länder, Neger, die mit dem bloßen Speer die Riesenkatzen angriffen und töteten. Und er, der den Kontinent nie verlassen hatte, spielte sich hinein in die Rolle des Afrikaforschers; mit einer gewaltigen Safari, mit tausend schwarzen Trägern drang er bis tief in das Urwaldgeheimnis des schwarzen Erdteils!

Er hatte ja alle die Werke der Forscher und Reisenden gelesen in seiner unfreiwilligen, Jahre währenden Einsamkeit. Das Brüllen der Bestien in dem stählernen Rundkäfig auf der Bühne ergriff seine Seele, er selbst kämpfte mit ihnen, und auf seinem leidenschaftlichen Gesicht wurden alle Phasen dieses Ringens mit den Schrecknissen einer geheimnisvoll flammenden Welt sichtbar. Nur seine Haltung blieb unverändert die eines Kavaliers, der sich im Zügel hat und seine Umgebung keinen Augenblick vergißt.

Eben galoppierte der letzte Löwe, ein großes Tier mit dunkler Mähne, in das Ausgangsgitter hinein und wandte sich, von der Peitsche berührt, fauchend gegen seinen Bändiger, als in die Nachbarloge zwei Herren traten und Platz nahmen.

Sarranski vernahm mit seinem feinen Gehör, was sie sprachen. Der ältere, offenbar in angeregter Stimmung, gab sich gar keine Mühe, leise zu sprechen:

»Madeleine ist das schönste Mädchen, was ich je gesehen habe! Mit der kann selbst deine Eva nicht konkurrieren!«

Der Jüngere legte ihm rasch die Hand auf den Arm:

»Aber Onkel, ich bitte dich!«

Sarranski wandte keinen Blick von der Bühne, doch fing er das leiseste Wort auf, das nebenan gesprochen wurde. Bald wurde ihm klar, daß die beiden Kavaliere von seiner Tochter und deren Tanzpartnerin redeten.

»Gewiß ist sie schön, die kleine Schwarze, vielleicht sogar noch rassiger als die Blonde … aber … ich weiß nicht … sie hat zuviel Herbes, Abweisendes … ich brauche Frauen, um die man nicht erst, Gott weiß wie lange, kämpfen und werben muß. Ich mach's wie der alte Römer: veni, vidi, vici!«

Der Jüngere, schüttelte den Kopf, dessen gerade, schmale Nase über dem festen, energievollen Mund sein Gesicht so sympathisch machte. Was er flüsterte, war nicht zu verstehen. Doch aus der Antwort des Älteren ging es hervor:

»Du willst immer Festungen erobern, Reginald! Na, und das ist ja auch das Recht deiner Jugend! Aber verbeiß' dich da bloß nicht zu sehr! Soviel ich von Madeleine gehört habe, hat diese dunkellockige Fee nur einen Schwarm, und das ist ihr eigener Vater! Mit dem es übrigens eine eigene Bewandtnis zu haben scheint.«

Der Neffe mahnte wieder, und der Onkel wandte ein wenig den Kopf, ob denn wirklich jemand dem Gespräch lausche.

Sarranskis Aufmerksamkeit schien einzig auf das Tänzerpaar gerichtet, das im Ballanzug zu einer Jazzbandmelodie die gewagtesten Figuren formte. Die Frau war bildschön, in grünschillernde Seide gekleidet. Sie ward von ihrem Führer wie ein Spielball in die Luft geworfen und, als sei sie körperlos leicht, wieder aufgefangen. Stanislaus klatschte begeistert, als die zwei sich, nach einem rasenden Wirbel hin und her über die ganze Bühne, verneigten.

»Ein bißchen viel Tanz!« sagte der ältere Gentleman, »ich weiß nicht, wann ich zum letztenmal in einem Varieté gewesen bin … Aber für die kleine Madeleine würde ich sonstwo hingehen! … So laß doch!« Er war sichtlich indigniert über die fortgesetzten Bitten des Neffen, sich in acht zu nehmen, »soll man denn nicht mal hier seinen Empfindungen Ausdruck geben? Du warst doch sonst nicht so, liebster Reginald? Vielleicht habe ich ein Glas Sekt zuviel getrunken, aber dafür hat mir der Champagner, das kann ich dir sagen, so gut hat er mir noch nie geschmeckt!«

Und er hob mit seiner kraftvollen Rechten einen imaginären Kristallkelch und flüsterte, wie in Verzückung:

»Auf deine Gesundheit und dein Leben, du Göttliche!«

Der andere mußte lachen.

»Onkel, wahrhaftig, jetzt geh' ich!«

Der lachte ebenfalls.

»Das möchte ich sehen! Jetzt kommt eine Gymnaniasten- pardon Gymnastentruppe, dann Mazeppa mit seinem Todesritt und hernach die leuchtendsten Sterne am Nachthimmel der Skala – die Geschwister Maron!«

»Warum müssen es eigentlich immer Brüder und Schwestern sein am Varieté?«

Graf Botho zuckte die Achseln. Dann sang er leise aus Schillers Lied an die Freude:

»Alle Menschen werden Brüder …«

»Nein, Onkel, ich laß dich allein!«

»Aber es hört doch niemand! Wahrhaftig, Reginald, du verdirbst mir den ganzen Abend mit deiner Schulmeisterei! Soll man, denn mit fünfzig Jahren nicht mal mehr singen dürfen! Bist du übrigens verabredet mit deiner Kleinem, nach der Vorstellung?«

»Ich bitte dich, Onkel Botho, sie ist doch gar nicht … Meine Verehrung für Fräulein Sarranski gibt mir kein Recht, sie anders als eine Dame der Gesellschaft zu behandeln.«

»Puh, wie feierlich! Ich seh' dich ordentlich mit einem Strauß weißer Orchideen.«

»Onkel!«

Graf Botho sah in ein ernstes, fast trauriges Gesicht. Er legte leise seine Hand auf die des Neffen:

»Ich wollte dir nicht weh' tun … ich war vielleicht unzart … Aber nicht wahr, wenn man in meinem Alter so etwas Holdseliges …«

Der Jüngere nickte:

»Gewiß, Onkel, ich freue mich ja auch für dich! Nur unsere Empfindungen sind verschieden.«

»Aber du bist nachher mit uns zusammen. Madeleine läßt dich ausdrücklich bitten!«

Graf Reginald neigte den Kopf:

»Selbstverständlich, mit Vergnügen … sie wird ja nicht dabei sein wollen, da sie mit ihrem Vater … und ich kann es verstehen, wo sie ihn so lange nicht gesehen hat.«

Sarranski wandte den Kopf nach der Loge der beiden Kavaliere hin:

»Verzeihen Sie, meine Herren, wenn ich mich jetzt zu erkennen gebe: der Vater bin ich!«

»Wir haben zu laut gesprochen, Onkel!«

Sarranski lächelte und nickte:

»Ja, ich habe mir alle Mühe gegeben, nicht zuzuhören … Aber ich finde das sehr drollig! Um so mehr, als ich dadurch eine so scharmante Bekanntschaft machen darf … ich heiße Stanislaus Sarranski und bin in der Tat der Vater von Eva Maron.«

Nun war die Logenbrüstung keine Barriere mehr zwischen den Dreien. Man unterhielt sich, verstand sich sofort, im Bewußtsein, äußerlich wenigstens derselben Sphäre anzugehören.

Sarranski erklärte, da eben eine Pause eingetreten war, flüchtig, daß er nach einer längeren Abwesenheit heute erst heimgekommen wäre und daß es ihm sehr sympathisch sei, seine Heimkehr in der Gesellschaft der beiden Grafen, mit seiner Tochter und deren Freundin, die er selbst noch gar nicht kenne, zu feiern.

War es Berechnung, daß Sarranski in dieser wohl originellen, aber doch formlosen Art mit den beiden Grafen bekannt wurde? Ging er hier schon bewußt darauf aus, Leuten von Namen, Ansehen und Reichtum sich zu nähern, um sie später in seine verdächtigen Geschäfte mit hineinzunehmen und durch solche Beziehungen Kredit oder Geld zu erhalten? Hatte er mit einem Worte von allem Anfang die Absicht, zu betrügen? – Hätte man ihm selbst diese Fragen gestellt, er würde sie aus innerster Überzeugung und mit tiefer Entrüstung verneint haben.

Er dachte gar nicht daran, irgend jemand zu schädigen! Gewiß, er wollte und mußte Geld, viel Geld verdienen! Aber er lebte in seinen Plänen. Mit seiner zügellosen Einbildungskraft füllte er die gewagtesten und nie zu verwirklichenden Projekte, wie Gasballons, die farbig und leuchtend in den Himmel steigen, um bald zu zerplatzen und in Nichts zu zerstieben.

Und sah er später, daß es Trugschlösser und Luftgebilde waren, die er sich und den anderen vorgaukelte, dann ersetzte er die eine Illusion durch die zweite knüpfte immer neue daran, flog wagemutig über die Zäune des Gesetzes hinweg, stürzte, sprang auf, fiel wieder und befand sich auf einmal in voller Flucht vor der strafenden Gerechtigkeit, bis ihn die Faust seines erbarmungslosen Schicksals packte und zu Boden warf.

Sein rastlos stürmender Geist, die Unbekümmertheit in der Wahl der Mittel, die ihm eigen war und die in einem herzlosen Egoismus ihre tiefsten Wurzeln hatte, machten es ihm ganz unmöglich, die letzten Konsequenzen seiner Handlungsweise vorauszusetzen.

Er gehörte nicht zu den Menschen, die sich aus sozialem Empfinden heraus Skrupel machen, aber es fehlte ihm auch die gefühlskalte Klarheit derjenigen, die ihre Mitmenschen nur dazu geschaffen wähnen, zu arbeiten, zu leiden, ja selbst zu sterben für ihre Bedrücker.

Das Gesetz, das die großen Raubtiere unter den Menschen nie außer acht lassen, das sie selbst schaffen nach ihrem Gutdünken und zu ihren eigenen Zwecken, das sah Stanislaus Sarranski nicht eher, als bis er blutend im, Stacheldraht der Paragraphen hing. Sein Verstand war scharf, doch seine Logik unterlag immer den Eingebungen des Temperamentes, das sich vom Augenblick bestimmen ließ. Er hatte glänzende Einfälle, die er ohne vorsichtige Prüfung in die Tat umsetzte.

Vielleicht spielte bei ihm im Unterbewußtsein der verbrecherische Wille die Hauptrolle, jener geheimnisvolle Zwang, der den einen lieben, den anderen hassen läßt, der diesen zum Raubmörder und jenen zum duldenden Erlöser macht.

Ein in karmesinrote Seide gehülltes Mädchen mit dem weißgepuderten Pagenkopf lief, das große, weiße Pappschild mit der Nummer acht zeigend, über die Bühne hin.

»Jetzt kommen unsere Damen!« lächelte Sarranski.

Graf Botho klemmte das große Monokel ins linke Auge, auf dem er weniger gut sah, und begrüßte mit Händeklatschen die Hand in Hand auftretenden Tänzerinnen.

Sein Beifall entzündete den Applaus des Publikums, noch ehe die Schönen ihre Kunst zeigen konnten.

Auf dem Programm hieß der erste Teil ihrer Darbietung »Das Fest der Kirschenblüte«. Madeleine trug ein weißseidenes Kimono mit dunkelroten Tupfen. Sie trippelte auf ihren in goldenen Sandalen steckenden Füßen, wie eine Teehaus-Geisha ins Licht der Scheinwerfer und ließ mit dem Windhauch ihres Fächers bunte Schmetterlinge um den blonden Kopf flattern, der mit künstlichen Blumen und Eisvogelschmuck frisiert war.

Eva im silbernen, mit großen Vögeln bestickten Kleid eines Samurai, das breite Schwert an der Seite, umwarb die Angebetete, verfolgte die Fliehende, die ihr entglitt und trug endlich die Beute triumphierend davon.

Die Szene, die sie heute zum erstenmal tanzten, fand nur matten Beifall. Das Publikum ließ sich auch durch die schlagkräftigen Hände der Claque nicht mitreißen. Und die drei Herren, vorn in der Loge, blieben mit ihrem wiederholten Hervorruf ziemlich allein.

Aber die Carmagnole, die die Mädchen dann tanzten, Eva als Sansculotte und Madeleine als Marquise aus dem Frankreich der Revolution, die entflammte die Zuschauer mit der Wildheit ihrer Gesten, der berauschten Inbrunst dieser schönen Gestalten.

Graf Reginald atmete tief. Sein Onkel klopfte sich die Hände rot. Nur Evas Vater blieb kühl und sagte leise:

»Sehr hübsch, aber ich habe es besser gesehen. Zu diesem Tanz gehören die beiden Geschlechter.«

Botho von Sterneich schüttelte heftig den kantigen, kurzgeschorenen Kopf. Der Neffe kniff nur die Lippen ein und meinte dann mit feinem Lächeln:

»Als Vater haben Sie natürlich das Recht zur Kritik. Wir freuen uns und sehen nur die Kunst und die Grazie der beiden Damen.«

Indem wurde die Musik ganz leise und im Wehen der immer zarteren Klänge schwebten die Gestalten der Tänzerinnen, den Tod und das Leben verkörpernd, von beiden Seiten her bis zur Mitte der Bühne.

Das Geräusch des verdunkelten Theaterraumes erstarb mit den verebbenden Tönen. Wie trauernde Weihe ging es aus von den Tänzerinnen und umfing das schwarze Menschenwesen dort unten. Als dann die Violinen aufschluchzten im Orchester, als Flöten und Geigen jubelten und klagten und den Schmerz des Lebens besangen, als die Lichte in den Armen der Dunklen ihre Seele aushauchte, da donnerte der Beifall der in ihren Tiefen aufgewühlten Menschenmenge, mußten die beiden Verkünderinnen der Schönheit dort oben wieder und immer wieder aus dem auf- und abrauschenden Vorhang hervortreten.

Graf Reginalds Stimme bebte. Sein Verwandter war ganz still, das Monokel fiel ihm aus dem Auge.

Stanislaus Sarranski sagte so leise, daß man ihn kaum verstand:

»Das ist mein Kind … meine Eva.«

*

Im ersten Augenblick war Eva ganz betroffen, als ihr Vater mit den beiden Grafen sie und Leni vor dem Bühnenausgang erwartete. Aber sie unterdrückte ihren Ärger und Enttäuschung, sie erinnerte sich, daß Maria ihr oft erzählt hatte, der Vater könne ohne Menschen und Geselligkeit nicht sein.

Als sie dann mit ihm und dem Grafen Reginald in das verabredete Restaurant fuhr, versöhnte die respektvolle Haltung, die der Kavalier auch ihrem Vater gegenüber einnahm, das junge Mädchen mit der an sich nicht erwünschten Gesellschaft.

Madeleine war mit dem Grafen Botho in dessen eigenem Auto schneller ans Ziel gekommen.

»Ich hätte meinen Wagen ja auch herbestellt,« entschuldigte sich Reginald, »aber ich wußte nicht, ob das gnädige Fräulein uns gerade heute die Freude machen würde.«

Eva lachte herzlich.

»Für meine Verhältnisse ist ein Droschkenauto vollkommen ausreichend.«

Dabei schritten sie über die mit rotem Samtläufer belegte Straße unter dem Baldachin in das Vestibül des Hotels. Der Manager kam ihnen entgegen, bat sie in den Fahrstuhl und führte sie dann im ersten Stockwerk in das saalartige Zimmer, das Graf Botho bestellt hatte.

Ein starker Duft von Maiglöckchen und Hyazinthen, mit denen die Tafel verschwenderisch geschmückt war, grüßte die Eintretenden.

Madeleine saß vor dem deckenhohen Pfeilerspiegel und retouchierte Lippen und Wange. Und Graf Botho stand andachtsvoll dabei und verlor keine Bewegung seines Idols.

Als man zu Tisch saß – die Schildkrötensuppe war eben gereicht worden – erhob Botho von Sterneich sein goldgerändertes Spitzglas mit altem Amontillado:

»Meine Herrschaften, ich heiße Sie herzlich willkommen!«

Eva, die nur nippte, drohte der Freundin, die gleich ausgetrunken hatte, lächelnd mit dem Finger:

»Der Abend ist noch lang, Leni!«

»Er soll kein Ende nehmen!« lachte die, mit ihrem Kavalier einen tiefen Blick tauschend.

Sarranski, der rechts von der blonden Tänzerin saß, blieb anfangs still. Er beobachtete. Und heimliche Lust durchbebte ihn, daß er, kaum in Freiheit, zwischen Menschen saß, die alles besaßen, was das Dasein angenehm und lebenswert machte.

Nach einer Seezunge, die hervorragend mit blätterigem Spinat und einer Kaviartunke angerichtet war – Remagener Scharfenberg von 1921 schenkte man dazu ein – erhob sich Sarranski:

»Meine Damen und Herren!« Er besaß eine klingende Stimme. »Nach einer langen Abwesenheit von meiner Heimat und von der, die ich lieb habe,« sein zärtlicher Blick umfing Eva und machte sie sehr glücklich, »nach einer Leidenszeit, die ich der Tatsache verdanke, daß ich meine Überzeugung nicht verleugnen wollte, bin ich heute zum erstenmal wieder in einer Gesellschaft von Menschen, die ich achte und hochschätze. Von Herzen dankbar bin ich Ihnen, meine Herren, daß ich das Wiedersehen mit meinem Kinde so festlich begehen darf! Ich schätze mich glücklich und preise den Zufall, der mich auf eine so originelle Weise Ihre Bekanntschaft machen ließ! Und ich lege meine Verehrung und Bewunderung Ihnen zu Füßen, mein gnädigstes Fräulein!« Er hob das Glas zu Madeleine, »Ihnen, Sie Allerschönste, bin ich ja besonderen Dank schuldig! Sie waren meiner Eva eine Freundin! Sie haben ihr geholfen und vielleicht das Beste dabei getan, wenn meine Tochter, gemeinsam mit Ihnen, so strahlende Erfolge erringen durfte … Ja, ich bin sehr glücklich, daß ich, soeben erst heimgekehrt, in diesen Kreis treten, daß ich teilnehmen darf an Ihrer Freude! Erlauben Sie mir, auf das Wohl unseres verehrten Gastgebers, seines Herrn Neffen und der beiden holdseligen Künstlerinnen zu trinken!«

Der Kellner hatte auf einen Wink des Grafen die Sektschalen gefüllt. Man trank, stieß an und Madeleine wollte durchaus eine Dankesrede halten, verhedderte sich aber bei den ersten Worten, glitt in ihren Stuhl und konnte nur lachen.

Jetzt wurde es lustiger. Mit Madeleine, bei der die beginnende Trunkenheit einen übertriebenen Frohsinn auslöste, mußte man mit heiter sein. Die anderen übersahen es gern, daß Graf Bothos und ihre Hand nicht mehr auseinanderfanden, daß die Lippen des Kavaliers sich wieder und wieder auf den schimmernden Arm der Blonden senkten, der seit heute ein kostbares Armband aus Smaragden und Brillanten trug.

»Wenn Madeleine nur nicht zuviel trinkt!« sagte Eva voll Sorge, »nach solchem Abend ist sie ganz unfähig, morgens zu üben. Und abends bei der Vorstellung versagt sie dann regelmäßig.«

»Ich werde meinen Onkel bitten, ein bißchen besser auf die Dame acht zu geben!«

Graf Reginald erhob sich, schritt um den Tisch und neigte sich zum Ohre seines Verwandten.

Aber der war selbst schon über jene Grenze hinaus, wo Ermahnungen zur Mäßigkeit noch Sinn und Zweck haben.

»Ihre Freundin, liebste Madeleine, meint, Sie werden morgen abend nicht tanzen können!«

Die Blonde, deren lachsrosa Abendkleid in der Taille nur aus ein paar breiten Seidenbandeau bestand, die Nacken und Büste beinah' ganz enthüllten, erhob sich sofort und begann den Tanz der letzten Mode, einen Charleston, zu hüpfen.

Graf Botho klatschte begeistert, sah sich suchend um: Ah! da stand ein für solche Fälle bereites Grammophon in der Ecke. Das setzte er sofort in Betrieb und schassierte gleich mit seiner Auserwählten übers Parkett.

Fast schülerhaft lange verneigte sich der Neffe vor Eva:

Tanzen Sie auch, gnädiges Fräulein?«

»Das ist ja mein Beruf!«

Und sie legte die Hand in die Reginalds, der seine Dame gar zu behutsam von sich abhielt. Eva gefiel das. Weil aber, sobald sie Tanzmusik hörte, ihr Temperament wach wurde, fing sie selbst an, ihrem Partner näherzukommen und, ohne ein besonderes Gefühl für ihn, sich hinzugeben.

Später tanzte sie mit ihrem Vater, der die jetzt modernen Tänze nicht kennen konnte, einen Wiener Walzer. Die anderen waren entzückt von der Anmut und Leichtigkeit, mit der Sarranski seine Tochter führte.

»Ja, ja, alles ist Vererbung!« Graf Botho trank den beiden, die sich wieder an den Tisch setzten, lachend zu. Dann drehte er von neuem den Apparat an und wollte seine Dame auffordern, die aber, ehe er sie noch bitten konnte, mit Reginald davonschwebte.

»Sie tanzen sehr leicht,« sagte Madeleine mit ein wenig schwerer Zunge, »mit Ihnen könnt' ich immerzu tanzen!«

Der junge Graf neigte verbindlich den Kopf und tanzte noch mit der Blonden, als die Platte ausgespielt und sein Onkel auf Madeleines lachendes: »Weiter, weiter!« die Musik wieder einstellte.

Eva hatte jetzt zum erstenmal an diesem Abend Gelegenheit, mit ihrem Vater allein zu reden.

»Gefällt es dir denn, Papa? Bist du froh, ja?«

Er nickte.

»Du nicht?«

»Wenn ich ganz ehrlich sein soll, dann möchte ich lieber allein sein mit dir!«

Sarranskis Züge wurden unfreundlich:

»Ich bin genug allein gewesen.«

»Aber nicht mit mir!« wollte sie sagen und blieb doch still, nur ihre Lippen bebten.

Er wurde nachdenklich.

»Deine Mutter war auch so! Mitten in Lust und Fröhlichkeit wollte sie nicht mehr bleiben … und konnte dann ganz böse sein, wenn man ihr nicht nachgab.«

»Ich kann dir nicht böse sein, Papa … nie!«

»Nein, ich weiß! Du bist mein Gutes! Aber du mußt dich ein bißchen anpassen! Die Bekanntschaft mit den beiden Kavalieren ist für mich sehr wertvoll! Bist du denn müde?«

»Aber nein, müde bin ich fast nie! Ich denke nur an dich! Du bist es doch gar nicht gewöhnt mehr!«

»Wieso?« Er sah sie mißtrauisch an … Wußte sie mehr über sein langes Fernsein? Hatte Maria doch geplaudert?

Doch Eva beruhigte ihn selbst:

»Wie kann man einem Menschen, der nur seinem politischen Ideal gefolgt ist, wie kann man den bloß solange festhalten! … davon mußt du mir noch viel erzählen, nicht wahr?« … Sarranski nickte:

»Morgen und übermorgen habe ich Zeit. Da sprechen wir über alles … Aber noch eins, hör' mal, ich würde das Fräulein da,« er deutete mit dem Blick zu Madeleine hin, die eben von Reginald zum Platz geführt wurde, »ich würde sie nicht so zu beeinflussen versuchen.«

»Du meinst Madeleine?«

»Ja, jeder Mensch folgt seinen Trieben. Und wenn angeborene Minderwertigkeit ihn zwingt, sich zu betäuben, wenn er seine Kraft und Gesundheit verschleudern will, dann hilft alles Abraten und Warnen doch nichts!«

»Aber Madeleines Beruf, unsere Tanznummer hängt davon ab! Wenn wir zum Beispiel morgen abend Unglück haben und es klappt nicht, dann kann die Direktion den Kontrakt lösen! Und das nicht allein: ein paar Mißerfolge genügen, unser Renommee zu zerstören, uns brotlos zu machen.«

Sarranski neigte das Haupt:

»Ich habe den Eindruck, mein Liebling, als würde Fräulein Madeleine sowieso nicht mehr lange an deiner Seite bleiben. Sieh dir den alten Grafen an! Der ist rettungslos verschossen! Das ist keine flüchtige Neigung, der tut alles, was diese Schönheit will … Und die will, wenn ich mich nicht ganz irre, nicht arbeiten!«

Graf Reginald trat zu den beiden. Sarranski bat, sich nun mit seiner Tochter zurückziehen zu dürfen. Man brach auf, Eva fühlte beim, Abschied, daß ihr der lange Handkuß Reginalds nicht unangenehm war.

In der Vorstellung des nächsten Abends konnte Madeleine kaum die Carmagnole zu Ende tanzen. Das dritte Bild mußte ausfallen, und das Publikum, das gerade den Tanz »Der Tod und das Leben« sehen wollte, äußerte laut sein Mißfallen. Der Direktor, ein guter Kerl, nur etwas rauh in seinen Umgangsformen, ließ die beiden Damen zu sich bitten und sagte, so sehr er es bedauere, daß Fräulein Brixon unpaß geworden sei, so müsse er sich, wenn solche Anfälle sich wiederholen würden, sein Recht auf sofortige Kündigung vorbehalten. Stars dürften eben nicht krank werden!

Eva sah das aus ihrer ganzen, willensstarken und pflichtbewußten Persönlichkeit ein. Madeleine dagegen, die nach solchen Exzessen stets sehr reizbar und streitsüchtig war, lachte hell auf: das möchte sie sehen! Dafür, daß er krank wird, kann kein Mensch! Und sie hätte sich die ersten beiden Tänze abgerungen, trotzdem sie der Ohnmacht nahe gewesen sei! Sollte sie vielleicht tot hinfallen auf der Bühne? Am Ende würde man sie auch dann in Konventionalstrafe nehmen! Je mehr sie sprach, desto erregter wurde sie. Ihre blauen Augen flackerten wie Weingeistflammen, hektische Flecken erschienen auf der zarten Gesichtshaut und ein schluchzendes Gelächter unterbrach unmotiviert ihre Rede.

Natürlich ließ sich der Direktor auch nicht von dem, was er für sein Recht ansah, wegdrängen. Es kam soweit, daß er schon die Kündigung aussprach, sie auch aufrecht erhalten hätte, trotzdem dadurch sein Institut schwer geschädigt wurde, wenn nicht Eva all ihre Energie und Liebenswürdigkeit aufgeboten und so den Streit beigelegt hätte. Ja, sie nahm die Schuld an diesem Unglück ganz auf sich: ihr Vater; wäre nach langer Abwesenheit heimgekommen und Madeleine, die gar nichts vertrüge, hätte bei einer kleinen Feier wohl ein bißchen viel getrunken. Das sollte nicht wieder vorkommen! Sie verbürge sich dafür!

Dieser einfachen und herzlichen Abbitte konnte der Theatermann nicht widerstehen. Wenn Eva so lachte und einen Mann bezaubern wollte, dann bezwang sie jeden! Er gab ihnen beiden, auch der jetzt schluchzenden Madeleine, die Hand, schob sie zur Tür hinaus und rief ihnen nach:

»Aber, Kinder, heute abend bin ich unten! Wehe, wenn ihr nicht aufpaßt!«

Auf dem Heimweg war die Blonde sehr bedrückt. Sie fürchtete, Eva möchte ihr Vorwürfe machen. Doch die sagte nichts, als:

»Da siehst du, Leni, du kannst dir so was nicht leisten! Wenn es noch mal passiert, dann sind wir draußen, und ob wir dann noch wieder ein Engagement kriegen … an einer ersten Bühne auf keinen Fall mehr!«

Madeleine blickte die Freundin an, wie ein Kind, das Schelte bekommen hat. Ihr starker Mut war ganz verflogen. Sie sah sich schon der Möglichkeit beraubt, ihr Leben so angenehm wie bisher weiterzuführen. Mit Entsetzen erinnerte sie sich der Zeit, wo sie noch gezwungen war, an den kleinen Varietés, in Singspielhallen und Provinzkabaretts aufzutreten. Da hatte man im Kontrakt einen Paragraphen, der hieß: »Nach der Vorstellung haben die weiblichen Mitglieder des Ensembles sich im Zuschauerraum aufzuhalten, solange bis die Direktion ihnen gestattet, sich zu entfernen.« Das bedeutete, die Damen mußten die Gäste zum Sekttrinken animieren und oft bis in den nächsten Morgen hinein dableiben und mit jedem Blödian, wenn er nur Geld hatte, poussieren!

Madeleine hatte sich damals, wenn sie dann in das meist jämmerliche Nachtlogis hinaufschlich und wie zerbrochen auf ihr Lager sank, oft genug in den Schlaf geweint.

Das alles trat jetzt wieder wie ein häßliches, in lauter Elendsfarben gemaltes Bild vor ihre Seele. Ein Schauer rann über ihren schlanken Leib, sie fühlte sich auf einmal verlassen und todunglücklich.

Eva, die dieses immer in Extremen schlagende Herz kannte, die den Jammer und die Angst sah auf dem schönen Gesicht, das heute wie von bösen Schatten zerdrückt und entfärbt schien – Eva tröstete die Blonde, sagte, sie würde das nächstemal mehr achtgeben und es nicht wieder dulden, daß Madeleine sich übernähme.

Dabei fielen ihr die Worte ihres Vaters vom vorigen Abend ein. Und offen und ehrlich fragte sie die Freundin. Madeleine gab eine Weile keine Antwort, dann begann sie zu lächeln:

»Gedacht habe ich auch schon daran, natürlich! Und ich glaube, 's würde mir gar nicht schwer fallen, ihn soweit zu bringen. Reich genug ist er ja! … sehr reich sogar!«

Sie betrachtete kokett das kostbare Edelsteinband an ihrem Handgelenk.

»Aber, weißt du, Evi, man weiß nie, wie lange das dauert! Morgen kommt vielleicht eine, die ihm noch besser gefällt und … und dann ist es aus!«

»Liebst du ihn denn?«

»Lieben?« Die Blonde sah geradeaus, die von einer nebelkalten Luft erfüllte Vorstadtstraße hinauf. Dann zog sie ihren Blaufuchs fester um die Schultern und schüttelte sich ein wenig:

»Nein, Eva, lieben … lieben tu ich ihn nicht … Er ist mir ganz angenehm, und ich bin entzückt, daß er mich so besinnungslos liebt! Aber er ist doch alt! … Oder nein, das ist es auch nicht … Er könnte sogar alt sein … den jungen, zum Beispiel, den Neffen, könnt' ich noch viel weniger liebhaben! … Ich weiß ja nicht, Herzl' … bei mir ändert sich das fortwährend, heute gefällt mir einer und morgen der andere! Und dann mag ich den ersten nicht mehr sehen! Weißt du, Evi, was ich glaube? – Ich liebe überhaupt keinen! Ich kann gar nicht lieben!«

Eva nickte:

»Ja, das glaube ich auch! Du bist bloß da, um geliebt zu werden! Sag' mal, Leni, aber ganz aufrichtig, könntest du für jemand, der dir nahesteht, den du meinetwegen wenigstens gern hast, könntest du für den etwas tun?«

Der Blonden waren von den nebelnassen Bäumen, die die Straße säumten, ein paar Tropfen auf ihr zartgraues Jackett gefallen. Das machte sie zerstreut:

»Was meinst du denn, Eva, was soll ich denn tun?«

»Na, ich denke an ein Opfer … daß du für irgend jemand deine Bequemlichkeit, deine Zeit oder deine Ruhe opfern solltest …«

»Meine Ruhe …« Die blonde Tänzerin lächelte ein verlorenes Lächeln. Ihr flatternder Geist war längst davon zu anderen Dingen, vorwärts und wieder zurück zum Grafen Botho, der sie doch beschäftigte:

»Nein, ich kann mich auch nicht daran gewöhnen, so bloß für einen Menschen da zu sein … Weißt du, dann will ich ausgehen, aber jetzt kommt er! Und wenn ich wirklich schon warte, dann kommt er gerade nicht! Sprech' ich mit einem andern, so ist er eifersüchtig, und was er gerade will, das muß ich tun! … Das hast du wohl vorhin gemeint mit einem Opfer? Nein, Eva, das kann ich nicht! Und ich will's auch gar nicht! Ich will frei sein! Will lieben, wen ich eben mag, und wenn's einer von den Theaterarbeitern ist!«

»Aber Leni!«

»Ja, ja!« Sie stampfte mit dem grauen, Wildlederschuh auf das Straßenpflaster:

»Heuchelt ihr anderen, soviel ihr wollt! Und tut, als ob ihr Engel wär't! Ich bin wenigstens ehrlich!«

Eva hatte ihr blühendes Angesicht, das am Tage keine Schminke kannte, leicht gesenkt. Irgendein geheimer Schmerz, ein Weh, das sie sich nicht enträtseln konnte, quälte sie. Sie blickte die Freundin an, die schon wieder auf dem Rückzug war und Eva mit den Augen um Verzeihung bat für die vermeintliche Kränkung.

Ach, Eva selbst fühlte sich gar nicht getroffen, sie heuchelte nie, sie hatte es ja nicht nötig! Und mit Madeleines Ehrlichkeit war es auch nicht weit her! Die log viel lieber, als sie die Wahrheit sprach! Wie oft hatten sie sich darüber gestritten! Nein, da war irgend etwas, das in der Ferne lag, und doch schon um sie war, wie schwarze, unheildrohende Fittiche! Eine Angst und Sorge, die sich nicht greifen, nicht in Worte bannen ließ.

»Da kommt dein Vater!«

Eva fuhr empor aus ihrem Denken. Und wie sie jetzt ihn, den sie mit ihrem jungen, starken Herzen so namenlos liebte, von dem kleinen Haus da oben am Ende der Straße flott und freudig daherkommen sah, da wußte sie auf einmal, was ihr solch Leid verursachte …

Sie winkte ihm und ging schneller. Aber im Gehen sah sie argwöhnisch die Blonde an.

Die aber dachte an nichts anderes, als daß ein gut aussehender Mann in ihre Nähe kam, mit dem sie ein bißchen flirten konnte.

Auch Stanislaus Sarranski hatte an diesem Morgen Unangenehmes erlebt.

Er wohnte nach wie vor im Atlantik-Hotel, war aber draußen in Lichterfelde gewesen, um mit Maria zu sprechen und sie darauf vorzubereiten, daß die Polizei sie eines Tages seinetwegen befragen würde.

Am selben Morgen, als er aus dem Hotel trat, war er auf Pip Schaller, jenen Vigilanten, gestoßen, der ihn am Tage seiner Entlassung aus Tegel abgeholt hatte.

Der Mensch trat in seiner reduzierten Kleidung an ihn heran:

»Jetzt hab' ich dich endlich, mein Junge! Nu kommste mir nich so leicht wieder weg! Nu man los, nach'n Alex!«

Sarranski verlor auch nicht einen Augenblick seine Fassung. Er ging ruhig weiter, um erst mal aus der Nähe des Hotels fortzukommen. Und den Vagabunden scharf ansehend, drohte er ihm:

»Ich könnte Sie auf der Stelle zu Boden schlagen, Sie Halunke! Aber ich mag mich an Ihnen nicht beschmutzen.«

»Höh! Mach' doch mal! Woll'n ja mal seh'n, wer in Dreck fliegt!« Er sprang rasch zur Seite, weil Sarranski den Arm ausstreckte, »det jloobe man ja nich, du! Det ick etwa vor dir Angst habe. Da sind wa schon mit janz andere fertig jeworden! De Hauptsache ist, ick weeß jetzt, wo du wohnst! Un ick laß dir nich. los! Dir bring' ick dahin, wo du hingeheerst – in't Kittchen!«

Sarranski lachte gedämpft:

»Aha, erpressen wollen Sie mich! Gut, da drüben steht ein Schutzmann, dem wollen wir unsere Angelegenheit vortragen!«

Der Mensch wurde unsicher.

»Zu'n Sipo? Na, scheen, det kenn wa' ja machen! Da kommste jleich an de Kette! Moabit wart' ja schon uf dir, du Jauner, du Dieb!«

Er blieb stehen.

Sarranski ging schnell weiter, auf den Wachtmann los. Pip Schaller kam nach, holte sein Opfer ein:

»Du, du, ick laß dir alle wem! Vastehste! Du sollst hoch jehn wie'n Luftballon! Un so leichte kommste nich wieder raus, wenn se dir erseht mal drin haben! Du bist 'n Hochstapler, du! Ja, det biste!«

Sarranski verdoppelte den Schritt. Hinter ihm blieb Pip Schaller immer weiter zurück, je mehr er sich dem Beamten näherte.

Aber Sarranski dachte nicht daran, den Wachtmann anzureden. Da kam ein Auto! Der Hochstapler winkte, sprang in den Wagen und fuhr davon, mit einem Umweg zurück ins Hotel.

Dort forderte er sofort seine Rechnung und übersiedelte in ein anderes im Westen.

Dann hinaus zu Maria, der er sagte, was geschehen war.

»Ach, Herr Sarranski, wie soll der Kerl hierher finden?«

»Man kann das nie wissen, Maria, solche Lumpen haben nichts Besseres zu tun!«

»Meinen Sie denn, er kommt im Auftrag der Polizei?«

»Nein, da würde man einfach einen Beamten oder auch 'n paar herausschicken. Aber wenn er auch keinen direkten Auftrag hat, er will sich eben seine paar Mark verdienen! Und die kriegt er, wenn er eure Adresse ausspioniert. Denk' doch bloß, Mädchen, wenn der erbärmliche Mensch hier zufällig mit Eva oder gar mit Madeleine zusammentrifft!«

Maria wurde ängstlich:

»Ja, was werden Sie denn da tun, Herr Sarranski?«

»Ich verreise!«

»Ach, um des Himmels Willen! Und Eva? Das fällt ihr doch auf!«

Stanislaus lachte:

»Sie wird sich daran gewöhnen müssen, Maria! Du solltest mich doch kennen! Daß ich mich nicht an die Kette legen lasse … am wenigsten von meiner Tochter!«

Maria wurde ganz unglücklich:

»Nun sind Sie drei Tage hier! Und wollen schon wieder fort. Und denn … denn …«

Sie konnte es nicht in Worte fassen, was sie dachte. Aber Sarranski erriet es:

»Ich bin in längstens acht Tagen wieder hier …«

»Ja, aber …«

»Nein, du kannst ganz ruhig sein, altes Mädchen,« er streichelte ihre volle Wange, »ich denke gar nicht daran, irgendeine Albernheit zu begehen! Davon ist überhaupt keine Rede mehr! Nie wieder, darauf kannst du Gift nehmen! Aber, allerdings, ich brauche Geld! Das, was mir dein Freund aufbewahrt hat, ist sehr schön, aber es genügt nicht.«

»Wie wollen Sie es denn bloß schaffen?«

Sarranski sprach nie über seine Pläne vor ihrer Ausführung. Er schüttelte den Kopf:

»Du weißt doch, Maria, ich gehe immer meine eigenen Wege …«

»Ja, aber …«

Sie seufzte tief.

»Du meinst es gut, Maria, ich weiß … Kann's dir ja auch sagen … ausnahmsweise mal. Für jeden Menschen kommt eine Zeit, da hat er Unglück … die hab' ich jetzt durchgemacht, reichlich! Aber dann kommt auch wieder mal eine Glückssträhne, die hab' ich jetzt, und die will ich ausnutzen!«

»Also spielen?«, sie sah ihn vorwurfsvoll an, »wissen Sie noch, damals, lieber Herr Sarranski, wo Sie alles verloren haben, am Spieltisch? Ach, wie unglücklich waren Sie damals, und wie fest haben Sie der armen Eveline versprochen, Sie wollten nie wieder eine Karte anfassen!«

»Weil ich nicht genug Geld hatte! Ohne Betriebsmittel kann man nichts anfangen … Aber jetzt hab' ich Geld. Ich werde auch nicht hier spielen, in Berlin. Ich gehe in die Winterkurorte, in die Schweiz, vielleicht nach Monte …«

»Monte Carlo?« Das gute dicke Mädchen überlief ein Schauder, »da haben schon so viele Menschen ihr Geld verloren!«

»Aber auch gewonnen! Im übrigen reise ich schon heute abend. Vorher muß ich noch zu Pfandheller. Soll ich ihn von dir grüßen?«

»Ach, der …«

»Aber lieb hast du ihn doch!«

Sie wurde rot und lachte:

»Und Eva, Herr Sarranski? Was sag' ich ihr denn?«

»Daß ich verreist bin!«

»So ohne Adieu?«

»Ja, ich hab' noch viel vor, heute! Tröste sie nur und sage ihr, ich komme bald wieder, und ich bringe ihr auch was sehr Schönes mit von der Reise!«

»Sie will gar nichts … bloß ihren Vater!«

Er zuckte ungeduldig die Achseln, dann war er fort. Maria ging kopfschüttelnd in die Küche.

»Wie soll ich dem armen Kind das nun wieder beibringen!«

Als Sarranski draußen auf der Straße seine Tochter mit ihrer Freundin traf, wollte er erst von seiner Absicht, fortzufahren, mit ihr sprechen; doch er unterließ es, wozu sich Unannehmlichkeiten machen, wenn man sie umgehen kann. Maria würde schon alles besorgen.

So plauderte er ein paar Minuten mit den Mädchen.

Dann sah er nach der Uhr, war sehr überrascht, daß es schon fast Mittag sei, küßte Eva, scherzte mit Madeleine und eilte so schnell davon, daß seine Tochter nicht dazu kam, zu fragen, wann sie ihn wiedersehen würde.

Er selbst fuhr mit dem Nachtzug nach Paris, was von Anfang an seine Absicht gewesen war. Er hatte aber selbst seiner einzigen Vertrauten nicht sein wirkliches Reiseziel gesagt. Er hatte plötzlich wieder die Angst im Leibe, wie damals, als sie zum letztenmal hinter ihm her waren. Um nichts in der Welt wäre er jetzt hier geblieben. Es war vielleicht auch der Wanderdrang, der ihn von je beherrscht hatte. Dann mußte er den Ort verlassen, an dem er sich gerade aufhielt, und wenn es sein Leben gekostet hätte!

*

Auf dem Bahnhof in Berlin war er noch voller Bangigkeit. Er hatte sich trotz der wohlgemeinten Warnungen Pfandhellers den ganzen Rest seines Geldes, etwa siebenunddreißigtausend Mark, auszahlen lassen. Nun saß er lange vor Abfahrt des Zuges im Bahnhofsrestaurant, sprang wieder auf und verließ fast fliehend den Bahnhof, um ihn erst in der letzten Minute vor der Abfahrt zu betreten.

Er hatte plötzlich, trotzdem ihm sein Verstand die Torheit dieser Annahme klarmachte, die unbesiegbare Vorstellung, der Vigilant wäre von neuem hinter ihm her. Er käme mit den beiden Polizeibeamten, um ihn noch im letzten Moment aus dem Zug zu reißen und auf die Polizei zu schleppen. Trotz des kalten Abends war er wie in Wasser getaucht, sein Herz, das seit seiner langen Strafe ein wenig nervös geworden war, klopfte, daß er meinte, die Mitreisenden müßten es hören. Erst als die Lokomotive den Train schnaubend aus der Halle zog, da atmete er auf.

Er ging in den Speisewagen, ließ sich eine reichliche Mahlzeit und den besten Sekt servieren, der auf der Karte stand.

Nun war er froh, lustig, ausgelassen, wie ein Junge. Drüben, jenseits des Ganges, saß eine scheinbar alleinreisende Dame. Sie schien ihm eine gewisse Ähnlichkeit zu haben, mit … mit wem doch? Mit Madeleine?

Schon erwiderte sie seine Blicke.

Er stand auf, ging herüber:

»Gnädigste Frau, verzeihen Sie, aber irre ich mich nicht, so haben wir uns voriges Jahr in Baden-Baden im »Hotel zum Kaiser« getroffen? Nein? Nun, das darf uns nicht abhalten, während dieser langweiligen Fahrt ein bißchen zu plaudern … gestatten Sie?«

Er saß bei ihr, fand sie scharmant. Und obwohl er keinen Augenblick im Zweifel war, daß sie keine Dame der Gesellschaft war, gefiel ihm das gerade.

Sie plauderte reizend, ließ durchblicken, sie sei einer ernsthaften Annäherung auch ohne Standesamt durchaus nicht abgeneigt, und war doch keineswegs eine jener Frauen, die die Eisenbahnfahrt nur als Anknüpfungsort für Liebesbeziehungen benutzen. Etwas wie ein diskreter Schleier lag über dieser gut angezogenen Erscheinung, die herrliche Hände und braunrotes Haar hatte, das in schweren Flechten ein Gesicht von interessanter Blässe umrahmte … Ob sie wirklich Frau von Kohlweg und mit dem Vornamen Attala hieß, das war ja am Ende gleichgültig.

Sarranski hatte bis Aachen durchfahren wollen, stieg aber ihr zu Liebe schon in Halberstadt aus, wo sie am andern Morgen den Dom sehen wollte.

Im Wagen, der sie nach dem Hotel brachte, fragte er, ob er sie der Einfachheit wegen ins Gästebuch als seine Frau eintragen dürfe.

Sie fand das spaßhaft, lachte, aber verbat es sich nicht.

Drei Tage blieben sie in Halberstadt zusammen. Dann reiste sie nach Dresden, und er fuhr weiter nach Aachen. Er schenkte ihr einen entzückenden Ring mit einem Brillanten umgebenen Feueropal.

Sie weihte ihm eine echte Träne beim Abschied.

Aber wenn sie vielleicht noch manchesmal an diesen entzückenden Liebhaber zurückdachte, hatte Stanislaus Sarranski sie, lange ehe er in Paris landete, vergessen.

In der Seinestadt wohnte er in der Rue de Rochambeau, in einer Pension, die er von früher her kannte. Er besuchte auch einige Cercles, aber die Art, wie dort gespielt wurde, behagte ihm nicht.

Und spielen wollte er! Er wollte sein Geld im Spiel verzehn-, verhundertfachen! So reiste er weiter nach Nizza und von dort nach Monaco.

*

Der Abend im Januar, an dem jener dunkelgekleidete Fremde, dem man trotz der Grazie seiner Bewegungen und der unauffälligen Eleganz der Kleidung doch den Deutschen ansah – an dem Stanislaus Sarranski das Kasino betrat, bot den Professionells der Spielsäle lange Stoff zur Unterhaltung.

Eine alte Schauspielerin, die sich hier seit Jahren mühselig ihre zwanzig oder dreißig Franken pro Tag verdiente, erzählte den merkwürdigen Vorgang immer wieder.

Und wenn ihre Theatralik auch die Szene ausmalte und mit Effekten umgab, so hatte es doch zweifellos in Monte seit Jahren keine so wütende Schlacht um den Mammon gegeben, keinen so eisernen Kämpfer am Roulette, wie diesen Abenteurer, der mit einer fast übermenschlichen Willensanspannung, einer beinahe hellseherischen Voraussicht und Berechnung das Glück bezwang.

»Er ging an einen der Mitteltische im großen Saal«, erzählte die ehemalige Bühnenschönheit, »und setzte tausend Franken, die damals noch dreihundert deutsche Goldmark wert waren, auf die Nummer 16. Die Zahl schlug gegen ihn. Fünfmal hintereinander. Er verdoppelte den Satz, und 16 kam in einer Serie sechsmal heraus. Der Spieler nahm sein Geld und ging an einen anderen Tisch, wohin ihm Damen und Herren folgten. Er zählte nicht, was er gewann, aber er gewann unablässig. Bis er, nach einem geringen Verlust, an den ersten Tisch zurück ging. Von da an verlor er, verlor jeden Schlag und hörte nicht auf zu spielen, bis sein Geld zu Ende war.

Dann verließ er die Säle. Aber wer ihm da begegnete, der hätte nichts von einer Aufregung an ihm bemerkt. Wo doch sonst die Leute in solchen Momenten wie irre aussehen und manchesmal so echauffiert und ermattet sind, daß sie kaum den Ausgang finden.

Am andern Abend gegen acht Uhr kam er wieder.

Er ging an denselben Tisch, setzte wieder sein Tausendfrankenbillett und verlor andauernd. Am nächsten Tisch gewann er, doch die kleine Kugel blieb ihm nicht treu.

Er ging zu Rouge et Noir über. Ich war immer hinter ihm, obwohl ich an jenem Abend noch ganz leer war und eigentlich keine Zeit zu so etwas hatte.

Er war mir zu interessant, ich mußte ihm zuschauen. Aber mit rot und schwarz ging es erst recht konträr, die Karten mochten ihn offenbar nicht leiden. Also zurück zur Roulette. Ich stand dem Menschen gegenüber, ich konnte ihn genau betrachten: seine dunklen Augen gingen ins Leere, er sah niemand an. So sehen die Ekstatischen aus, die Somnambulen, dachte ich mir.

Da begann er wieder zu spielen. Setzte immer Tausendfranknoten und gewann. Er gewann unablässig. Setzte er 4, so schlug diese Zahl so lange, bis er 6 setzte. Und die 6 kam und kam, bis er von ihr abließ. Wie viel er gewonnen, und was er verloren, weiß ich nicht. Doch er sprengte die Bank. Man mußte neues Geld holen. Danach spielte er weiter und nahm alles, was der Croupier zahlen konnte. Zuletzt war er erschöpft. Er zitterte, seine Hände, sein Gesicht und seine Glieder bebten – er konnte nicht mehr spielen. Nicht das Glück verließ ihn – nein, er konnte dem rasenden Ritt Fortunas nicht mehr folgen. Sein Dämon hätte ihn weiter getragen bis nach Golkonda, doch der Mensch sank zusammen und mußte das Spiel aufgeben.

Er nahm dann einen der Detektive, die sich wohlbewaffnet in den Sälen aufhalten, um die großen Gewinner heimzugeleiten.

Am nächsten Tage reiste er ab.

Er war einer von den wenigen, die man nicht aufzuhalten vermochte, obwohl gewiß eine ganze Anzahl schöner Agentinnen der Bank ihm aufgelauert haben. Denn solch Goldmenschen läßt Monaco ungern aufs Schiff steigen.

Ich selbst habe ihn angesprochen und ihm Glück gewünscht, als er davonfuhr. Aber ich hatte auch da noch den Eindruck, daß er nicht bei sich war, daß er irgendeinem dunklen Zwang folgte, der ihm befahl, zu kommen, zu spielen, Hunderttausende zu gewinnen und wieder davonzugehen.«

*

Stanislaus Sarranski trat in das Vorzimmer des Dirigenten der Kriminalpolizei und gab einem der Beamten seine Karte:

»Würden Sie die Freundlichkeit haben, mich Herrn Oberregierungsrat zu melden?«

Der Beamte zögerte, er hatte Sarranski sofort wiedererkannt:

»Ich weiß nicht, ob der Herr Oberregierungsrat …«

Indem öffnete sich die Tür des rechts liegenden Zimmers. Ein Herr trat heraus, dem der Dirigent das Geleit bis zur Tür gegeben hatte.

Der Hochstapler war mit einem Schritt an der Tür, er verneigte sich höflich:

»Darf ich Sie einen Augenblick um Gehör bitten, Herr Oberregierungsrat. Ich heiße Stanislaus Sarranski.«

»Ach, Sie sind das?«

Dr. Weber bat, sichtlich überrascht, den Besucher, näherzutreten. Bot ihm dann drin, in dem mit den Bildern früherer Leiter der Kriminalpolizei geschmückten Gemach einen neben dem großen Schreibtisch stehenden Sessel an und fragte nach seinem Begehr.

»Ich komme, um eine Schuld zu begleichen, Herr Oberregierungsrat.«

»Eine Schuld, wieso?«

Der andere lächelte:

»Ich habe vor einer Reihe von Jahren mit meinem Onkel, dem Freiherrn von Brandhausen, eine geschäftliche Transaktion unternommen. Er handelte sich um den Verkauf eines Gutes. Durch eine Kette von Mißverständnissen –«

Dr. Weber, der jetzt den Gegenstand voll beherrschte, lachte herzlich:

»Na, hören Sie mal, mein lieber Herr Sarranski, von Mißverständnissen kann da doch wohl eigentlich keine Rede sein! Sie haben 'ne ganz hübsche Schiebung gemacht, bei welcher Ihr Herr Onkel seine fünfzigtausend Mark losgeworden ist! Übrigens haben Sie ja auch dafür Ihre sechs Jahre 'runtergerissen, 'n bißchen viel Holz, nich' wahr?«

Sarranskis Gesicht blieb unbewegt höflich und kühl. Er nickte:

»Ich bin sehr hart bestraft worden. Und wie sehr zu Unrecht ich diese Strafe verbüßt habe, das beweise ich, indem –«

Er zog ein Bündel Banknoten aus seiner Paletottasche, »indem ich diese angeblich defraudierte Summe von fünfzigtausend Mark zurückerstatte.«

Er legte die Scheine auf den Schreibtisch, neben die große, rotlederne Briefmappe:

»Darf ich Sie um die Freundlichkeit bitten, Herr Oberregierungsrat, die Rückzahlung der Summe an den Freiherrn selbst zu übernehmen?«

Er sah den Dirigenten, der sprachlos in seinem Sessel lehnte, mit einem fast diabolischen Lächeln an:

»Einmal deswegen, Herr Oberregierungsrat, weil ich einen vollwichtigen Zeugen für diese Rückzahlung brauche, meines Renommees wegen; dann aber auch, weil ich selbst nicht einmal brieflich mit dem Mann in Verbindung treten möchte, der mein Lebensglück vernichtet hat, der mich zu einem Paria der menschlichen Gesellschaft gemacht hat.«

Dr. Weber klingelte:

»Sie gestatten, daß ich meinen Adlatus, Herrn v. Martini, hereinbitte. Sie kennen ihn ja wohl auch?«

Mit einer leisen Verbeugung gab Sarranski seine Zustimmung.

»Mein lieber Herr von Martini, hier ist Herr Stanislaus Sarranski, den Sie ja auch kennen. Aber weswegen Herr Sarranski uns aufsucht, was ihn heute hierher führt, das erraten Sie nicht! Das ist ein Novum! So was ist mir in meiner beinah' fünfundzwanzigjährigen Amtstätigkeit noch nicht vorgekommen: Herr Sarranski gibt freiwillig die fünfzigtausend Mark heraus!«

Er fuchtelte mit dem Banknotenpaket in der Luft herum:

»Die gibt er wieder, Herr von Martini! Was sagen Sie dazu? Er gibt sie ohne jeden Zwang zurück, ganz aus freien Stücken!«

Der Regierungsrat war weniger verwundert, jedenfalls ließ er sich seine Überraschung nicht anmerken. Er überlegte ein bißchen, dann sagte er mit feinem Lächeln:

»Ich will nur hoffen, Herr Sarranski hat sich diese Möglichkeit einer wirklich vornehmen Geste in einer Weise verschafft, die ihn nicht von neuem mit den Gesetzen in Konflikt bringt?«

Dr. Weber stutzte:

»Ja, daran habe ich noch gar nicht gedacht, in meiner Überraschung! Aber natürlich, das ist die Vorbedingung, lieber Freund! Wenn Sie wollen, daß ich mich irgendwie mit der Sache behänge, dann müssen Sie uns erst mal erzählen, wie Sie zu der Unmenge Geld gekommen sind! Also mal raus mit der Sprache: wo haben Sie den Mammon her?«

»Das Geld ist ehrlich erworben, Herr Oberregierungsrat.«

»Ja, aber wie?«

»Darf ich Ihnen das ausführlich und der Reihe nach berichten?«

»Ich bitte sogar darum!«

»Gestatten Sie, daß ich mir dazu eine Zigarette anzünde, meine Herren?«

Und Sarranski zog aus der Tasche seines schwarzen Gesellschaftsjacketts, das ein erster Schneider angefertigt hatte, ein schwergoldenes, mit Edelsteinen besetztes Etui, das er höflich den beiden Herren hinreichte, ehe er selbst seine Morris anbrannte.

»Ich hatte natürlich das Geld, nach dem Sie, meine Herren, bei meiner Entlassung vergeblich gefahndet haben.«

»Wir haben keinen Augenblick daran gezweifelt«, nickte Herr von Martini.

»Mit diesen vierzigtausend bin ich nach Monte Carlo gefahren und habe gespielt.«

»Gewerbsmäßiges Glücksspiel, das verboten ist, lieber Freund!«

»Pardon, Herr Oberregierungsrat, nicht im Ausland, und ganz besonders nicht in Monaco, wo ja Seine Hoheit der Fürst der Schutzpatron der Spielbank ist.«

v. Martini bewegte zustimmend sein blondes Haupt:

»Eine gute Idee jedenfalls, Herr Sarranski. Und Sie haben dort so gewonnen, daß Sie die fünfzigtausend Mark bequem abstoßen können?«

»Ja, da müssen Sie ja ganz, schauderhaft eingesäckelt haben, lieber Freund,« lachte Dr. Weber, »denn sonst würden Sie doch das hier nicht abladen!«

Sarranski lächelte wieder wie ein Teufel:

»Ich habe zweimal die Bank gesprengt, meine Herren!«

Stanislaus Sarranski hatte fast eine halbe Million Mark aus Monte mitgebracht. Er engagierte einen Sekretär und einen Diener und vergrößerte seine Wohnung im Hotel Imperial auf sechs Zimmer. Natürlich schaffte er auch ein Auto an, das ihm Vergnügen machte, selbst zu steuern. Sein Chauffeur sagte, er habe noch nie einen Chef gehabt, der, obwohl er es kaum erst gelernt, einen Wagen so geschickt und sicher zu lenken vermochte. Außerdem ritt Sarranski viel, ward Schüler eines bekannten Boxmeisters und sah aus wie ein Mann in den Dreißigern.

Er war von dem älteren Grafen Sterneich in ein paar feudale Klubs eingeführt worden und brachte manche Nacht am Spieltisch zu. Er verlor jetzt meistens. Sobald er seine Sätze und Chancen im voraus berechnen wollte, hatte er kein Glück, was ihm wenig ausmachte, er schrieb einen Scheck aus und ging nie sehr hoch heran. Er wollte sich nur die Nervenspannung verschaffen, die er zum Leben brauchte, wie andere Menschen die Luft zum Atmen.

Nach Groß-Lichterfelde hinaus fuhr er selten. Aber er traf sich oft in der Stadt mit Eva und Madeleine. Der Winter war milde und sie konnten wundervolle Partien in die Umgebung Berlins machen.

Eva verlebte glückliche Tage. Sie lernte ihren Vater jetzt erst kennen. Sie sah auch seine Fehler, aber sie wurde sich doch nie ganz klar über ihn. War es Lüge, wenn er erzählte, er hätte gestern den ganzen Tag mit seinem Sekretär an dem großen Unternehmen gearbeitet, das er vorbereitete? Und wenn sich dann im Laufe des Gesprächs herausstellte, daß er seit zwei Tagen gar nicht in seinem Hotel gewesen war und Gott weiß wo anders mit irgend jemandem, wahrscheinlich mit einer Frau, sich die Zeit vertrieben hatte … Nicht um ihn auszuforschen oder sein Tun zu kontrollieren, nur aus ihrem tiefinneren Bedürfnis nach Wahrheit stellte sie diese nicht seltenen »Irrtümer« richtig.

Aber das brachte ihn durchaus nicht in Verlegenheit. Er gab dann die verblüffendsten Erklärungen, bestritt lachend, daß er das, was Eva ihm nun vorhielt, überhaupt gesagt habe, und war, ob bewußt oder dem Zickzackflug seiner Gedanken folgend, schnell so weit von dem verfänglichen Gegenstand entfernt, daß es ganz unmöglich schien, weiter danach zu forschen.

Madeleine stand ihm dann immer bei. Vielleicht fehlten auch ihr jene Hemmungen, die dem geradlinigen Verstand so natürlich und notwendig erscheinen. Sie hatte die Freundin stets verlacht, die das Leben viel zu schwer nähme und sich so selbst um die lustigsten Stunden dieses kurzen Daseins brächte.

Und wenn Eva dann ernst wurde und in ihren dunklen Augen die Frage stand, ob sie selbst oder jene im Recht wären, immer nur den Schaum vom Leben zu nippen und jede Tiefe zu meiden – dann lachte die Blonde wie ein ausgelassenes Kind und der Vater scherzte mit ihr, nahm auch wohl Madeleines schlanke, weiße Hände, machte ihr tausend Komplimente und vergaß ganz, daß sein Kind sich auch nach so zärtlichen Worten sehnte. Allein sein mit Eva mochte er nicht, das hatte sie längst begriffen. Ja, sie hatte manchmal das Gefühl, er würde viel lieber mit Madeleine, ohne sie, ausfahren.

Und dazu bot sich die Gelegenheit, als Maria an einer Halsentzündung nicht unbedenklich erkrankte.

»Mußt du denn wirklich hier bleiben, Eva? So schlimm scheint es mir doch nicht zu sein mit Maria?«

Eva fühlte klar, daß unter Madeleines Frage sich das Frohlocken barg, daß sie nun zum erstenmal mit Sarranski und nur mit ihm fort könne. Sie lächelte trübe:

»Aber Leni, du weißt doch! Ich hätte ja gar kein Vergnügen davon und würde euch nur langweilen durch meine Sorge …«

Die Blonde wandte sich an Sarranski:

»Vielleicht kommen unsere beiden Kavaliere mit, ich könnte ja mal anläuten?«

Eva schüttelte den Kopf, doch ihr Vater nahm ihr die Antwort ab:

»Die beiden Grafen sind wahrscheinlich heute früh zur Jagd gefahren … ich sprach gestern im Klub mit Reginald.«

So saß er mit Madeleine ein paar Minuten später in dem dunkelblauen Mercedes. Sarranski lenkte selber, dem Chauffeur hatte er, wie stets bei solchen Ausflügen, Urlaub gegeben.

Das erste, was Madeleine sagte, war:

»Graf Botho ist doch gar nicht zur Jagd! Er wollte heute mit mir im Adlon essen, ich habe ihm aber abtelephoniert.«

»Warum?«

Madeleine hob die im schwarzen Sealpelz steckenden Schultern:

»Danach fragt ein Herr eine Dame nicht, wenn … wenn sie …«

Er nahm mit der Linken ihre Hand und küßte sie:

»Sie sind entzückend … wissen Sie auch, daß ich Sie dem Grafen nicht gönne, Madeleine?«

»Ja, das weiß ich … oder ich kann es mir wenigstens denken … das heißt, soweit man aus Ihrem Benehmen überhaupt etwas schließen kann.«

»Sie halten mich für unbeständig?«

»Ich halte Sie dafür? – Das ist drollig!«

Er nickte leise Zustimmung:

»Sie haben vielleicht recht, Madeleine … Aber das ist verschieden … Wenn ich wirklich 'mal einen Menschen lieb habe, dann bin ich treu!«

»Eva vielleicht!«

»Eva ist mein Kind. Und seinem Kinde kann man nicht untreu sein. Das liebt man ja auch nicht. Das gehört zu einem, weil es doch das eigene Fleisch und Blut ist … aber Sie …«

Er schwieg.

Madeleine blickte ihn mit ihren großen Augen an, die jetzt die Farbe des Himmels hatten, der über ihnen blaute.

Dann meinte sie langsam:

»Nein, das könnte ich nicht. Das würde mir vorkommen wie Verrat an Eva.«

Er preßte seine vollen Lippen fest aufeinander und ließ den Wagen schneller laufen.

»Lieben Sie denn den Grafen Botho?«

»Nein.«

»Aber Sie gehören ihm an! Sie geben ihm Ihre Schönheit und damit – auch ein Stück Ihrer Seele!«

Mit einem Schütteln des blonden Kopfes wehrte sie sich:

»Ach, kein Gedanke! Meine Seele … meine Seele, … ich glaube, ich habe gar keine!«

»Oder Sie haben sie selber noch nicht entdeckt!«

»Vielleicht … geliebt … jedenfalls … wirklich geliebt habe ich noch keinen!«

»Aber mich werden Sie lieben!«

Die feurigen Augen geradeaus gerichtet, hielt er das Steuer des mit hoher Geschwindigkeit laufenden Wagens eisenfest.

Madeleine betrachtete ihn heimlich. Und wieder, vielleicht ohne daß sie es wußte und wollte, kam es von ihren Lippen:

»Vielleicht.«

Maria lag mit hochrotem Gesicht im Bett und Eva, die ihre Hand hielt, fühlte den immer schnelleren Puls ihrer Pflegerin. Die Tänzerin hatte eben Fieber gemessen und über neununddreißig Grad vom Thermometer abgelesen. Die Kranke war den Tag zuvor trotz Evas Bitten sich zu schonen, aufgestanden, um den Haushalt zu besorgen, dadurch hatte das Leiden, eine offenbar recht böse Halsentzündung, sich arg verschlimmert. Maria gab sich, um ihr Pflegekind nicht zu ängstigen, große Mühe, ruhig zu sein. Aber sie litt sichtlich, ihr Atem ging schwer und röchelnd, sie warf sich hin und her und, als ihr Eva jetzt das Glas mit verdünnter essigsaurer Tonerde reichte, schob sie des Mädchens Hand fort und stöhnte:

»Kann nich' … tut so weh!«

Es klingelte. Der Arzt, den Eva gegen Marias Willen, telephonisch gerufen hatte, kam.

Er untersuchte die Leidende nur oberflächlich:

»Die Patientin muß sofort ins Krankenhaus.«

Maria wollte ächzend und gurgelnd nichts davon wissen. Doch der Arzt nahm Eva beiseite:

»Die Sache ist nicht ungefährlich, gnädiges Fräulein, Sie können die Patientin hier nicht so pflegen … ständige ärztliche Aufsicht ist durchaus notwendig!«

Für Evas entschlossenen Charakter gab es hiernach kein Zögern. Während der Arzt am Bett der Kranken blieb, läutete sie bei dem städtischen Krankenhaus an, wo man ihr erklärte, daß eine Aufnahme bei der Überfüllung der Säle für die Halskranken unmöglich, wäre. Nach manchem vergeblichen Herumfragen, schlug der Arzt eine ihm bekannte Klinik vor und empfahl sich, nachdem er vorläufig eine lindernde Medizin verschrieben hatte.

»Natürlich kann die Patientin nur im Krankenwagen transportiert werden!« sagte er beim Abschied und gab Eva eine Adresse.

Eva rief die Rettungsgesellschaft an und bekam auch da einen abschlägigen Bescheid: die Wagen seien unterwegs, und vor dem Abend stände kaum einer zur Verfügung.

Jetzt wurde dem Mädchen bange; auf ihren Vater oder Madeleine konnte sie nicht rechnen, an wen sollte sie sich in ihrer Not wenden? Nahe Bekannte oder Freunde besaß sie nicht … aber ja … doch! … Sie dachte an Reginald von Sterneich. Sie ließ sich die Verbindung geben, und voller Freude hörte sie seine Stimme am Telephon.

»Ich habe eine große Bitte, Herr Graf …«

»Sie kann nicht groß genug sein, gnädiges Fräulein!«

»Unsere Maria ist schwer krank und muß ins Krankenhaus … heute noch! … so schnell als möglich! … und ich weiß nicht, wie ich sie hinbringe.«

»Mit meinem Auto, selbstverständlich, gnädiges Fräulein. Ich bin in einer Viertelstunde bei Ihnen … wie ist die Adresse?«

»Wir wohnen Groß-Lichterfelde, Novalisstr. 17.«

»Ich danke sehr, ich komme ohne Aufenthalt.«

Wie er das sagte, so ruhig, zuverlässig und doch ohne seine Freude über die Möglichkeit, Eva zu sehen, verbergen zu können, das gefiel der Tänzerin. Sie hatte in dieser Zeit manchmal an ihn gedacht. Nicht als ob sie nach ihm gerade Sehnsucht empfunden hätte oder etwa gar verliebt in ihn gewesen wäre – dazu war ihr Sinn zu nachdenklich und abwägend und das Verlangen nach dem Mann noch zu wenig in ihr erwacht. Sie gehörte nicht zu den Frauen, bei denen die Sinnlichkeit nach einem Gegenstand sucht. Eva mußte erst den Mann finden, der mit seinem ganzen Wesen die Leidenschaft in ihr weckte.

Sie ging wieder in Marias Zimmer. Die Kranke sah ihr mit fieberglänzenden Augen entgegen, wollte sprechen, konnte aber nur heiser röchelnde Laute hervorbringen.

Eva machte ihr eine frische Kompresse und reichte ihr einen Löffel von der inzwischen aus der Apotheke gesandten Medizin, den Maria mühsam schluckte. Dann nahm sie Marias Hand; die Schweratmende, deren Herz angstvoll kämpfte, hielt sie in ihren brennenden Fingern fest. Und, als Eva ihr zulächelte, bemühte sich die Arme, in ihr gutes, jetzt so entstelltes Gesicht ebenfalls einen froheren Zug zu bringen.

Da ging die Entreeglocke … konnte das schon von Steineich sein?

Eva war eilig draußen.

»Gottlob, daß Sie kommen, Herr Graf … ich bin so in Angst.«

Er küßte ihr die Hand:

»Beruhigen Sie sich doch, gnädiges Fräulein … wir werden ihr schon helfen, der armen Maria … wo ist sie denn?«

»Oben in ihrem Zimmer … Wie bringen wir sie bloß herunter?«

»Haben Sie vielleicht einen Armstuhl?«

»Ja, oben steht ein alter Korbsessel.«

»Das geht prachtvoll! Da setzen wir sie hinein, und wir zwei, mein Chauffeur und ich, tragen sie ins Auto.«

Er war aus dem Zimmer, kam gleich mit dem Chauffeur zurück. Eva packte oben in der Etage die Kranke in warme Decken, dann hoben sie die Männer in den Korbstuhl und trugen sie behutsam die Treppe hinunter, durch den kleinen Vorgarten ins Auto. Der vorzüglich gefederte Wagen lief davon, und keine halbe Stunde später lag die Kranke in dem hell gestrichenen Zimmer der Klinik. Sie hatte die Fahrt in halber Bewußtlosigkeit, von Eva und dem jungen Grafen gestützt und gehalten, ganz gut überstanden.

Es fiel Eva schwer, sich von ihr zu trennen, aber Maria selbst winkte ihr zu gehen. Auch meinte sie, Reginald von Sterneich, der geduldig im Vorzimmer wartete, nicht zu lange in Anspruch nehmen zu dürfen.

Der Tänzerin standen, als sie die Klinik verließ, die Augen voller Tränen.

»Weinen Sie doch nicht, gnädiges Fräulein, Ihre Maria ist ja eine kräftige Frau … und an einer Angina, denn das ist es wohl, daran geht man so leicht nicht zu Grunde.«

»Meinen Sie, ja?«

Er nickte liebevoll:

»Ja, ich habe das auch mal gehabt … Wie ich noch ein Junge war …«

Er verschwieg, daß ihn die Ärzte damals bereits aufgegeben hatten und er eigentlich gegen alle medizinische Autorität, wie durch ein Wunder, davongekommen war.

»Also, soll ich Sie nun wieder nach Hause fahren, Fräulein E–, gnädiges Fräulein?«

Sie lachte leise:

»Sie dürfen mich ruhig so nennen, Sie sind ein guter Mensch!«

»Weil ich Ihre Maria geholfen habe in die Klinik zu bringen? Aber wenn ich es nun bloß Ihnen zu Liebe getan hätte, Fräulein Eva?«

Sie schüttelte den Kopf:

»Man soll sich nicht schlechter machen als man ist. Wenn ich zum Beispiel nicht hätte mitfahren können, dann hätten Sie's doch auch getan?«

»Natürlich!« lachte er, »denn Sie wollten es!«

Dadurch wurde sie auch heiterer:

»Und nun möchten Sie noch gern ein bißchen zusammenbleiben mit mir … Ja? In meiner Wohnung geht das nicht, aber ich habe heute zu Hause auch nicht viel zu suchen. Mein Vater und Madeleine machen einen Ausflug. Ich bin nicht mit, weil ich Maria nicht allein lassen konnte …«

Er sah ihr ganz schüchtern und bescheiden in die dunklen Augen:

»Könnten wir nicht am Ende auch einen Ausflug machen?«

»Ja, und vielleicht Papa und Madeleine draußen treffen!«

Ganz beglückt schien sie von diesem Gedanken. Der Kavalier zeigte mit keiner Miene, daß er sich die Ausfahrt allein mit ihr, die er liebte, schöner vorgestellt hätte. Er fragte nur:

»Kennen Sie denn das Ziel, das sich die beiden Herrschaften ausgesucht haben?«

»Es kommen eigentlich nur die Krähenhorster Mühle bei Bernau in Frage und Heidekrug, das ein paar Meilen weiter nach Eberswalde zu liegt …«

Graf Reginald schwieg. Das letztgenannte Lokal kannte er. Dorthin fuhren Kavaliere nicht selten, wenn sie mit einer Dame ihrer Bekanntschaft für ein paar Tage ungestört bleiben wollten. Es gab da eine diskrete Wirtin, die vorzüglich kochte und ausgezeichnete Weine im Keller hatte. Natürlich dachte er nicht daran, Eva über den Charakter dieser Gaststätte aufzuklären.

Das Verdeck des schönen und bequemen Wagens war geschlossen. Und da der Weg, sobald sie aus der Stadt waren, durch Wald und Heide führte, hätten die beiden jungen Menschen wohl Muße gehabt zum Flirten und Kosen. Aber daran dachte keines. So gut ihr der junge Aristokrat gefiel, so angeregt sie mit ihm plauderte, der Gedanke, daß Reginald etwa zärtlich werden oder daß sie ihm irgendeine Annäherung gestatten könne – der Gedanke kam Eva nicht.

Und Sterneich, der wahrlich kein Duckmäuser war und bei anderen Gelegenheiten wohl verstanden hätte, die Gelegenheit zu nutzen, saß hier zum erstenmal neben einer Frau, die nicht seines Standes, ihn doch so hochstehend und Respekt gebietend dünkte, wie nur irgendeine Dame aus seinen Kreisen.

Hin und wieder dachte die Tänzerin an Maria. Dann verlor sie für Minuten ihre Munterkeit. Und der junge Adlige hatte Zeit, sie heimlich zu betrachten und das holde Bild des Mädchens immer tiefer in sein Herz sinken zu lassen.

Einmal bemerkte sie es und lachte.

Und als er verlegen das Haupt wandte, legte sie leise die in hellem Lederhandschuh steckende Hand auf seinen Arm.

»Sie sollen nicht traurig sein, Graf Reginald, oder haben Sie auch eine Pflegemutter, die krank ist?«

»Ich habe überhaupt keinen Menschen, der mich lieb hat … meinen Onkel … ja … aber das ist doch etwas anderes …«

»Ihre Eltern leben nicht mehr?«

»Nein, meine Mutter ist bei meiner Geburt gestorben, und mein Vater ist auch tot … Ich habe ihn noch lebend angetroffen. Ich nahm sofort Urlaub, als ich von seiner schweren Verwundung hörte und war bei ihm, als er starb. ›Das ist der Tod, den ich mir immer gewünscht habe!‹ das war das Letzte, was er sagte …«

Das dunkellockige Mädchen nahm die Hand des jungen Mannes. Er beugte sich über die ihre und küßte sie innig. Dann richtete er sich straff auf, während noch ein weher Tropfen in seinem Auge blinkte:

»Da sind wir wieder bei Tod und Sterben! Und wir leben doch! Wir wollen doch leben! Ich glaube, Fräulein Eva, die Dahingeschiedenen wünschen gar nicht, daß wir so viel um sie trauern.«

Sie neigte zustimmend den Kopf:

»Sie leben ja auch weiter mit uns in der Erinnerung. Und vielleicht sind sie uns viel näher, als wir glauben …«

Er sah sie drollig an:

»Sind Sie am Ende Spiritistin?«

Da lachte sie auch:

»Aber nein, ich denke nicht daran … und ich glaube, solcher Geisterspuk ist gar nicht nötig. Wer liebt, findet das Geliebte auch ohne Beschwörung immer wieder!«

*

Zwischen bewaldeten Höhen, deren dunkle Tannen in den mattblauen Abendhimmel ragten, lag tief im Tal ein kleines, halbverfallenes Anwesen, das ehemals wohl eine Bauernwirtschaft, jetzt ein Ausflugsort für die nervenmüden Großstädter war.

Der Bach, der von weither durch die Täler glitt, staute sich hier zu einem kleinen See, einem von gelbem Schilf umkränzten Gewässer, auf dem im Sommer die Kähne der Angler schwammen, das dann badende Nymphen in hübschen Kostümen sah und an dessen Ufer in Sommernächten farbige Lampions zu heiteren Festen leuchteten.

Jetzt, im Winter, war alles einsam und verlassen, nur in dem Häuschen, wo die frische Wirtin mit Magd und Knecht die Wirtschaft führte, war Leben, Tag und Nacht.

Sarranski stand am Fenster des Mansardenzimmers. Madeleine saß im tiefen Lehnstuhl am grünen Kachelofen, der den wohnlichen Raum angenehm durchwärmte:

»Wenn wir doch hier bleiben könnten, wenigstens bis morgen!«

Er wandte sich, war mit einem Sprung bei ihr und riß sie an sein Herz:

»Geliebtes du! Heute! Morgen! Bis in alle Ewigkeit will ich bei dir sein!«

Ihr Lächeln bezauberte ihn, verwirrte seine Sinne.

Aber, als er sie emporheben wollte, wehrte sie ihm:

»Nein, wir müssen fort! 's ist die allerhöchste Zeit! … vier Uhr … um acht muß ich im Theater sein!«

»Aber ihr tretet doch erst um halb zehn auf!«

»Ja, aber ich will noch mit dem Direktor reden … der Kapellmeister hat gestern zweimal falsch eingesetzt … das geht doch nicht! Ich bin nicht so musikalisch wie Eva, die läßt sich nie aus dem Takt bringen …«

»Mußt du denn bei der alten dummen Tanzerei bleiben, Liebstes?«

»Ja, was sollt' ich wohl machen! Ich lebe doch davon!«

Er nahm ihren hellen Kopf in seine Hände, sah ihr in die Augen und flüsterte:

»Bei mir! Bei mir sollst du bleiben! Ich gebe dir alles! Mehr als du brauchst!«

Sie lächelte ihn an, er sank vor ihr auf die Knie:

»Madeleine, du Geliebtes, Einziges! Du weißt nicht, wie ich dich liebe! Du hast mir ja mein Leben wiedergegeben. Ich war so lange tot und begraben! Denke doch, beinahe sieben Jahre! Und jeder Tag ein Entsetzen! Jede Nacht eine Qual! Keine Hoffnung mehr! Klein Glück! Keine Liebe! Nichts, nichts als graue Verzweiflung! Wie oft habe ich weggewollt, weg aus diesem verfluchten Dasein in dieser gräßlichen Zelle! Aber irgend etwas war da, das mich hielt! Das mich immer wieder zurückriß, wenn ich schon in Gedanken das Bettlaken zerrissen habe, für den Strick … Und heute, wo ich dich habe, wo du mir gehörst, heute weiß ich's! Das ist alles kein Zufall! Du warst irgendwo! Du hast mich gerufen! Du warst bei mir! Deine Seele! Deine Liebe! Du! Du! …«

Er schluchzte, den Kopf auf ihren schlanken Beinen, die durch schimmernde Seide warm und lustatmend sein Angesicht berührten.

Madeleine sah auf ihn hernieder. Liebte sie ihn? … War er ihr mehr, als einer von denen, die auch so vor ihr gekniet, sie auch so leidenschaftstammelnd vergöttert hatten? Sie strich über sein volles Haar, sie wollte zu ihm reden, wollte seinen Namen nennen … Doch selbst in diesem glühenden Augenblick, in dem Rausch, der von seiner Sehnsucht ausging und sie ganz, umfangen wollte, blieb ihr Herz stumm. Ihre Sinne waren satt, die Neugierde nach der Liebe auch dieses Mannes war gestillt. Sie dachte an den Abend, die Nacht, die vor ihr lag, wie sie tanzen, ob Graf Botho mit seinem Wagen vor dem Theatereingang warten, was sie dann beginnen und wem sie von diesen beiden Männern zuletzt angehören würde.

Nicht ob dieser oder jener ihr mehr zu bieten hätte. Habsucht und Eigennutz lagen ihr ganz fern. Und wäre es einer gewesen, der ihr gar nichts geben konnte, der nur rote Lippen, glühende Augen und nervige Schenkel besaß, sie hätte ihn auch hingenommen, wie die Blume den Nachttau empfängt; wäre sein gewesen, im Augenblick berauscht von seiner Umarmung und gleichgültig danach, empfindungslos, wie ein brünstiges Tier auf den nächsten wartend.

»Liebst du mich denn?«

Er sah zu ihr auf. Seine dunklen Augen schwammen in Tränen, und sein Mund zitterte.

Sie bog sich nieder und küßte ihn.

Er schluchzte.

»Sage mir, daß du mich lieb hast!«

»Ja, ich hab' dich lieb!«

»Ja, ist es auch wahr? Mit allem was in dir ist, was du empfindest?«

Sie lachte leise:

»Du bist so komisch!«

Er erhob sich, unglücklich, hoffnungslos:

»Wenn ich jünger wäre!«

Sie erregte sich, schüttelte ihr blondblasses Sphynxgesicht, das in dem verdämmernden Abendlicht unirdisch leuchtete:

»Nein, nein, das ist es nicht! Junge Männer kann ich nicht leiden! Ich hab' dich ja auch lieb! Bloß so, wie Du! So leidenschaftlich … ich kann doch nicht dafür, daß ich so bin … Aber du gefällst mir, du bist lieb … und ich war immer schon so … wenn die anderen so schwärmten … das kann ich nicht … hab' ich nie begriffen …«

Er legte seinen Mund auf ihre Hände, abwechselnd einmal und noch einmal:

»Sei wie du willst … du bist für mich alles! Du bist mein Schicksal! Durch dich leb' ich, und für dich will ich sterben!«

Er sah über sie fort in die im Zimmer sich mehrende Finsternis:

»Sieh, Madeleine, ich war vor ein paar Tagen bei einem Astrologen. Er hat mir das Horoskop gestellt. Mein Stern, sagte er, wäre ein Meteor … wie eine Feuergarbe hoch in den Himmel hinauf! Und dann ein Anprall, eine Erschütterung, ein furchtbarer Zusammenstoß, der erlischt in Nacht und Grauen! So wird mein Ende sein! So will ich enden!«

Es war, als erschauerte sie:

»Du machst mir Angst … ich will noch nicht sterben! Nein, überhaupt nicht! Nie!«

Nun zwang er sich zur Heiterkeit:

»Einmal müssen wir alle dran! Aber du … du Süße, du stirbst nicht! Du bist die Freude, das Glück, die ewig strahlende Sonne!«

»Wir müssen fort!« mahnte sie wieder.

Er lauschte:

»Ein Wagen kommt … ein Auto …«

Er trat ans Fenster … erschrak:

»Eva kommt … und Reginald von Sterneich.«

Madeleine war neben ihm:

»Die dürfen uns hier nicht finden!«

»Ja, wenn mein Wagen nicht unten stände!«

»Den erkennen sie nicht …«

»Doch, Eva kennt ihn … und … Madeleine, ist es nicht besser, sie erfahren es gleich? … Wissen müssen sie's ja doch!«

»Ja, aber Botho … Graf Botho!«

»Willst du etwa jetzt, wo du mein bist, noch wieder zurück zu ihm?«

»Ich kann es ihm doch nicht sagen!«

»Aber ich, Madeleine, ich! Ich sag's ihm!«

Sie dachte nach, und ihr Gleichmut siegte:

»Ja, du hast recht. Erfahren muß er's einmal. Ich will ihn auch nicht mehr … Wenn Reginald …«

»Du meinst, er soll's ihm sagen?«

Sie nickte.

Da nahm er sie abermals heiß und voller Leidenschaft an seine Brust.

In seinem Kuß dachte sie, wer wohl ihn, der sie jetzt umfaßte, es wissen lassen würde, daß sie einen andern liebte.

*

Abends gegen zehn Uhr trafen sich die beiden Grafen im Klub von 1914. Die Mode des Ecarté mit Jouette hatte sich auch hierher verirrt, und Sarranski, der erst später kam, verlor eine bedeutende Summe.

»Sie haben Unglück gehabt, mein Lieber,« redete ihn Graf Botho an, »Sie sollten Fortuna ein wenig meiden! Alle Damen sind launisch, und diese besonders!«

»Ach, nicht der Rede wert!« Sarranski sah aus, als hätte er eine Million gewonnen. »Übrigens, wenn ich die Herren einladen darf, ich will noch zu Ai-ta-hé. Das ist der Mann, bei dem die süßesten kleinen Chinesinnen tanzen.«

Der ältere der beiden Sterneich war für jede neue Nuance. Er bildete sich ein, es gäbe nichts, das er, der die ganze Welt bereist hatte, nicht kennen würde.

Reginald entschloß sich zögernd. Aber er wollte seinen Onkel in jedem Fall nachher noch allein sprechen. So fuhren sie zusammen in die finstere, fast unheimliche Gegend der Bülowbogen, wo oben über den dunklen Straßen die Hochbahnschlangen leuchtend zischen, wo das neue Berlin neue Sünden und Laster brütet.

Eine einsame Gegend. Der Spanner an der Ecke:

»Wohin wollen die Herren?«

»Zu Ai-ta-hé!«

Sie waren gleich da. Über einen lichtlosen Hof. Vom Hof eine Treppe hinauf.

Etwas wie rasselnde Musik, gedämpft.

Ein schmaler Korridor. Bizarre Lampions. Seidene Schirme, ein schwerer, betäubender Geruch, vielleicht parfümierter Tee … vielleicht Opium …«

Der kleine, häßliche Mongole, die kahle Stirn berührend, Vogellaute kreischend, die keiner verstand.

Dann ein Zimmer, halb voll Menschen. Leute, die das enorme Entree zahlen konnten.

Eine kleine, leere Bühne.

Eine Ente, eine weiße Pekingente. Ganz allein watschelt sie auf die Bühne. Quakt. Duckt sich in der Mitte.

Ein Chinesenmädchen … nackt … Irgendein Instrument aus Holz klappert. Die Nackte singt monotone, tropfende Töne.

Die weiße Ente, sehr groß, flügelt an das Mädchen heran, das die Schenkel öffnet, – eine chinesische Leda.

Der Kavalier … ein Krieger.

Eifersucht jagt den weißen Vogel!

Da, er hat ihn … beinah …

Irgendwo ein Kreischen …

Die Ente flattert im Raum …

Das Mädchen fleht und weint!

Dann packt er sie, die Ente? Das Mädchen?

Weiße, wogende Wolken … bunte, lustkreischende Schatten … Blut … verzuckendes Leben … Todesröcheln über blauroten, leuchtenden Wellen … Rasselnde Trommeln und heiser krächzendes Lachen.

»Abscheulich!« sagt Graf Reginald, »ich gehe!«

Da stand der schlitzäugige Wirt, an der Hand das nackte Chinesenkind, das den Fächer vor den Leib hielt, gesund, lächelnd. Er schnatterte … Das Spiel war aus. Blendwerk? Phantasmagorie der Sinne?

»Interessiert Sie denn das«, fragte Graf Reginald Sarranski, als sie sich trennten.

»Nein, aber es ist etwas Neues … Was ich noch nicht gesehen habe.«

Der ältere Graf lachte:

»Ich glaube, es war alles blauer Dunst … Wenn Sie mich fragen würden, was ich gesehen habe? – Ich weiß nicht!«

Sarranski stand am Wagen, in den die beiden einstiegen. Er drückte dem Älteren die Hand, Reginald saß schon im Auto:

»Ich glaube, das ist das Beste an allem: wir wissen zuletzt gar nicht, was es gewesen ist.«

Das Auto mit den beiden Sterneich rollte davon.

Sarranski überlegte wie und wo er die Nacht zubringen sollte … schlafen? Ach nein! Geschlafen hatte er genug in den sieben Jahren! Und wer weiß, wie bald er wieder schlafen würde … für ewig! … Manchmal kam's ihn an, wie Ahnen und Furcht vor den letzten Dingen.

Er hatte nichts getan bisher, was ihn bedräuen und ängstigen konnte. Und doch wartete etwas auf ihn … in der Ferne … in der Zukunft … Das Schicksal, das ihn geboren hatte, das ihn hatte entstehen lassen unter einem tollen, verwegenen, blutdürstigen Gestirn … Er sah sich, als wäre er ein anderer, ein ganz fremder Mensch, mit dem er selbst gar nichts zu tun hatte … Und der trieb auf dem weiten, grauen Lebensmeer; vom Sturm umheult, mit zerbrochenen Masten, unrettbar verloren, versank er in den brüllenden Ozean.

*

»Trinkst du noch einen Kaffee bei mir, Onkel?«

»Ich weiß eigentlich nicht … ich bin müde.«

»Aber ich möchte gern noch mit dir reden …«

»Wieso, etwas Wichtiges?«

»Vielleicht doch.«

»Und du kannst es mir hier nicht erzählen, beim Fahren?«

»Nein …« Reginald zögerte.

»Dann betrifft es Madeleine?«

»Ja.«

Botho von Sterneich packte den Arm seines Neffen:

»Ich will es wissen … gleich … sofort!« Er besann sich, »nein, du hast recht … wir wollen in aller Ruhe sprechen … sie ist mir untreu … ich weiß es …«

Mit einem Ächzen ließ er sich in die Lederpolster gleiten, sagte nichts mehr, bis sie vor dem Hause in der Tiergartenstraße, einem alten Familienbesitz hielten, das dem Grafen Reginald gehörte.

Der Jüngere, der an dem Leid, das er seinem Verwandten zufügen mußte, selber schwer trug, freute sich doch, daß der Ältere so viel Beherrschung, soviel Haltung zeigte, daß er sich den Mantel vom Diener abnehmen ließ, als ginge es zu einem Herrendiner, und daß er mit einer, vielleicht ein bißchen zitternden Lebemannsgeste den Kaffe und Kognak erwartete, um sein Urteil, das Ende seiner Leidenschaft aus dem Munde seines Neffen zu hören.

Reginald war's, als stünde er ihm mit der Waffe gegenüber.

Aber, wie er da kein Zagen gekannt hätte, so gab er sich jetzt zart und doch voller Entschiedenheit.

»Sie ist deiner nicht wert, Onkel, sie betrügt dich mit Sarranski.«

Graf Botho stöhnte. Sein sonst noch so frisches Gesicht wurde grau und alt, die Lippen verfärbten sich und die Zigarette fiel ihm aus der Hand auf den Perser.

»Ich war heute mit Eva in Heidekrug … Du weißt doch. Da stand Sarranskis Wagen. Er war mit Madeleine oben im Zimmer … Ich hab' die Wirtin gefragt …«

Der Mann, der im Sessel saß, nickte leise:

»Ich bin über fünfzig … zehn Jahre älter als er …«

»Das ist es nicht, Onkel … sie … sie ist eine Dirne …«

»Reginald … ich bitte dich!«

»Wenn du nicht willst, daß ich rede … verzeih!«

»Nein, nein … sag' mir alles! Ich leide … ich leide furchtbar, mein Junge!«

Der Jüngere stand auf, ging zum Sessel des Onkels, nahm dessen von Schweiß bedeckte Hand in die seine:

»Onkel Botho, wenn ich's dir doch ersparen könnte!«

Der schüttelte den Kopf:

»Ich weiß … du … du hast's von Eva?«

»Nein, sie hat mich angerufen, weil ihre Maria krank war. Die haben wir in die Klinik gebracht … und … ich wollte gern mit ihr zusammenbleiben. Da sind wir rausgefahren nach Heidekrug … und da … da waren die beiden …«

»Der Kerl muß mir vor die Pistole!«

»Das geht nicht, Onkel … Du kannst dich nicht mit ihm schlagen!«

»Warum?«

»Mit einem Kommunisten … der sieben Jahre gesessen hat?«

»Hör' mal, du, ist er wirklich Kommunist … ich … ich glaube nicht daran … der Kerl ist ein Abenteurer … ein Hochstapler!«

Reginald hob die Schultern:

»Du bist vielleicht ungerecht gegen ihn, Onkel … der Mann kann in solchem Falle selten etwas dafür … das ist immer die Frau! … Erinnere dich, wie wir sie kennen lernten: erst war ich der Begünstigte, dann sah ich Eva, da entschied sie sich für dich …«

Graf Botho war aufgestanden, goß sich ein Glas Kognak und ein zweites ein, steckte mit fahrigen Fingern eine Zigarre in Brand, setzte sich wieder und stand abermals auf.

»Ich gehe jetzt, mein Junge … Das will verdaut sein! Nein, bemüh dich nicht! Adieu! Auf Wiedersehen morgen, ich muß noch irgendwohin … allein sein … vielleicht …

»Onkel!«

»Lebwohl, Reginald!«

Er war schon draußen, auf der Diele. Reginald hörte, wie der Diener ihn hinausließ.

*

Stanislaus Sarranski erlebte in dieser Zeit eine neue Jugend. Soweit er sein Leben zurückdachte, soviel Frauen, die vordem an seinem Herzen lagen, noch einmal an seiner Erinnerung vorüberzogen – nie meinte er für eine das empfunden zu haben, was ihn jetzt erfüllte, was ihn wieder zum Jüngling werden ließ und was seine Phantasie so mächtig erregte, daß er nichts mehr wußte, nichts dachte und fühlte, als nur sie, nur die eine, die einzige, Madeleine. Das war keine Liebe, keine Leidenschaft mehr, ein jubelnder Rausch war es, ein unaussprechliches Glücksgefühl, das Tage und Nächte aneinander schloß in feuriger, atemraubender Ekstase!

Er überschüttete Madeleine mit Gaben. Er war bei ihr, wann und wo er nur konnte! Wenn er sie aber verlassen hatte, schrieb er ihr einen glühenden Brief nach dem anderen! Blumen und Telegramme, Juwelen und die extravagantesten Geschenke flogen in ihr Haus! Er fragte nie nach dem Preise der Dinge, die ihm gefielen und von denen er glaubte, sie könnten ihr Freude machen! Sein Konto bei der Bank schmolz wie Schnee am Sonnenhang. Er streute das Geld der, die er anbetete, wie goldene Blüten auf den Weg und sann nur immer auf neue Gelegenheiten, für sie zu verschwenden.

Sie sollte durchaus mitten im Monat ihr Engagement an der Skala aufgeben! Daß er damit Eva schadete, war ihm gleichgültig, ward ihm vielleicht nicht einmal bewußt.

Aber Madeleine war doch nicht gewissenlos genug, ihm darin nachzugeben. Traute sie ihrer Neigung zu Sarranski so wenig? Blieb in ihrer Seele doch immer noch jener Zweifel an der eigenen Beständigkeit? Sah sie im Wetterschein der Leidenschaft, die nun auch sie entzündete und berauschte, schon das Bild jenes anderen, der eines Tages den Mann, der sie so vergötterte, ablösen, seine Zärtlichkeiten in ihrem Herzen auslöschen und selbst den Schatten ihrer Neigung für ihn tilgen sollte?

Sie sprach mit Eva ganz offen:

»Ich habe ihn wirklich lieb, weißt du, Eva! Und mir ist, als hätte ich nie einen anderen so lieb gehabt … aber manchmal, wenn er bei mir ist und er schwärmt so … dann … dann ist mir, als würde ich fortgerissen … weg von ihm! … ganz weit fort! Er sitzt neben mir, hat mich im Arm und küßt mich … und ich … ich seh ihn plötzlich nicht mehr … bin gar nicht mehr bei ihm … dann hör' ich ihn reden, aber wie wenn er meilenweit entfernt wäre … so unwirklich und fremd … dann möchte ich aufspringen und ihm etwas sagen von mir … was ich heimlich empfinde … aber ich trau' mich nicht … ich fürchte mich … nicht weil ich Angst habe … sondern für ihn … ich liebe ihn doch und will nicht, daß er leiden soll … bloß einmal … einmal kommt es ja doch … ich kann nicht treu bleiben, Eva … und er müßte nicht so gut zu mir sein! Wenn er Launen hätte und mich auch 'mal ein bißchen mißhandelte, ich glaube, ich brauche das … so viele Güte macht mich gleichgültig … die verdien' ich ja gar nicht! Bist du denn anders, Eva? Kannst du dir vorstellen, daß du einen liebst, der dir jeden Tag tausendmal sagt, wie er dich anbetet, der nie böse ist und rein verzweifelt, wenn du nicht ebenso in Liebe zerschmilzt wie er?«

Eva Sarranski konnte darauf lange nicht antworten.

Je weniger Aufmerksamkeit und Zärtlichkeit sie von ihrem Vater erfuhr, desto mehr bangte sie um ihn und sah klar und deutlich den Tag, wo das Phantasiegebilde seiner Leidenschaft zusammenstürzen und ihn selbst begraben würde in Jammer und Verzweiflung. Je weniger er sich ihr widmete, je ferner sein Herz dem ihren blieb, desto unnachsichtiger malte ihr klarer Verstand das Bild seines Charakters. Sie sah seine Haltlosigkeit, den Mangel an Widerstand in ihm gegen den Aufruhr seiner Sinne. Und sie erkannte, daß er selbst in dem hingehendsten Gefühl, in aller Emphase seiner Empfindungen, immer nur der Spielball blieb der Triebe, die ihn in Lust und Sehnsucht jagten. Daß er gar nicht fähig war, seine Seele einzutauschen gegen die tiefe Hingebung eines reinen Weibes. Wie hätte er sonst Madeleine lieben, gerade diese Frau wählen können, eine Lilith, ein Geschöpf, dem die Natur alle Reize, alles Süße, alle Holdseligkeit gegeben, dem sie dafür das eine versagt hatte – ein Herz!

Zum ersten März lief das Engagement der Tänzerinnen ab. Die Varietédirektion würde es verlängert haben, wenn Madeleine es ebenso wie Eva gewollt hätte. Trotzdem die Leistungen der Blonden schwankend waren und manchmal so versagten, daß auch Eva's Kraft und Anstrengung nicht ausreichten, das Fehlende zu ersetzen.

»Artisten haben nicht das Recht, so mit ihren Kräften zu aasen,« sagte der Direktor in seiner derben Weise, »natürlich geht's mich nichts an, was ihr abends nach dem Theater treibt, Kinder! Aber ich habe ein Recht auf eure Gesundheit und auf eure Kraft. Eins kann man bloß, entweder bummeln oder tanzen!«

Eva sah ein, daß hier alle Überredung nichts fruchtete. Ihr Vater war ein Mensch, der nachts lebte. Er brauchte nicht sehr viel Schlaf, und wenn er sich am Nachmittag in seinen Sessel setzte, im Augenblick fest einschlief und nach einer Stunde, einer halben, gestärkt und frisch aufwachte, dann konnte die Nacht mit Sekt und Geplauder, Tanz und Hasardspiel bis in den hellen Morgen dauern – er spürte keine Müdigkeit, war nicht abgespannt oder schlafbedürftig. Ja, er riß alle, die in seiner Gesellschaft waren, mit sich! Es kam vor, daß er, wenn die Kumpanei müde wurde, die mit ihm zechte und für die er, wie ein Fürst, zahlte, daß er sich dann, wie er sagte, eine neue Mannschaft suchte. Die er stets fand, im Café, in Bars oder in irgendeinem Ballokal, und wenn die geschlossen wurden, in heimlichen Spielklubs, Privatbetrieben, ordinären Quartieren, wo Nackttänzerinnen auftraten, wo man Orgien feierte bei schlechtem, sündenteurem Champagner.

Und Madeleine, die, wie er, kein Ende finden konnte, die begleitete ihn. Sie saß irgendwo im Sessel, so blaß, daß alle Schminke ihr grünliches Gesicht nicht mehr beleben konnte. Oft schien sie völlig apathisch, dem Schlaf verfallen. Aber wenn dann jemand in ihrer Nähe etwas redete, einen Witz, eine Zote, dann schrie sie auf! Ihr Lachen war schrill und unecht, wie Papageienschrei, sie trank Liköre und Sekt und versuchte, heimlich Kokain zu schnupfen. Bis Sarranski sie plötzlich anblickte, ihre Starrheit und leichenfahle Haut sah, von Reue und Mitleid gepackt aufsprang, sie in den Arm nahm und mit ihr heimeilte.

Die Männer, in solchen Winkeln wahrlich nicht fein, waren alle um die Blonde herum. Keiner, der ihr nicht nachstellte, sie nicht begehrte und es ihr nicht verblümt oder offen sagte.

Madeleine lachte mit ihren Liebesaugen jeden an. Gefiel ihr einer besonders, so war sie in Gedanken schon bei ihm. Aber sie gehörte Sarranski, der keine Eifersucht zeigte und doch jeden zu Boden geschlagen hätte, der nur die Absicht merken ließ, sie ihm streitig zu machen.

Manchmal befiel das schöne Mädchen die tolle Lust, es drauf ankommen zu lassen, einfach mit einem, der sie anschmachtete, davonzugehen und Sarranski unter seinen Augen zu betrügen. Wäre sie nicht im Grunde so furchtsam gewesen, hätte sie nicht Angst gehabt vor Sarranski, der ihr mehr als einmal gedroht, sie und sich zu töten, wenn sie ihn verlassen oder betrügen würde – Madeleine hätte längst ihren Platz gewechselt. Sie wußte und fühlte, daß ihre erschlaffenden Nerven, vornehmlich im Rausch oder nach durchtoster Nacht, nach neuer Wollust schrieen. Sie bäumte sich in ihrem Inneren auf gegen den Zwang dieser endlosen Liebe. Aber ihr zügelloser Wunsch duckte sich unter der Inbrunst des Mannes, der sie an sich kettete mit seinem nie gestillten Begehren, mit der Ausschließlichkeit seiner tollen Leidenschaft.

Am letzten Abend ihres Auftretens in der Skala gab Sarranski ein wildes Fest für die Artisten.

Da war einer, ein Jongleur, ein magerer, hektischer Junge, der Madeleine umschlich und umflüsterte, schon seit Wochen. Dem sank sie an diesem Abend, vom Wein gelähmt, in die Arme.

Sarranski kam an die Nische. Aber es gelang der Halbtrunkenen noch, im äußersten Moment sich loszureißen.

Der Artist glitt davon.

Sarranski lächelte mit zuckendem Mund:

»Das war das erstemal, du! Wenn du leben willst, laß es sein! Wenn du leben willst … du!«

Sie lachte und lächelte. Umschlang ihn, suchte nach seinen Lippen.

Und er konnte sie nicht fortstoßen. Die Augen, diese schwarzen, halbtoten Männeraugen schwammen in Tränen:

»Sei gut zu mir Madeleine, ich hab' ja nur dich! Laß mir mein Leben!«

*

Eva Sarranski fuhr mit Reginald zu Maria in die Klinik. Sie war seit der Fahrt nach Heidekrug beinahe täglich mit ihm zusammen. Da sie eigentlich immer für ihre Handlungen allein verantwortlich gewesen war, so tat sie, was ihr selber gut und recht dünkte. Wahrscheinlich zerrissen sich die Kolleginnen vom Varieté die Mäuler darüber, das kümmerte Eva wenig. Die Richtschnur ihres Handelns war ganz einfach: sie tat nichts, worüber sie sich hätte Vorwürfe machen müssen.

Bei dem milden Wetter, das in diesem Winter schon seit der Jahreswende anhielt, benutzten sie die offene Landaulette, die, brillant gefedert, die Fahrt wirklich zu einem Vergnügen machte. Eva sagte das auch, aber Reginald fand, daß für sie das beste Auto nur eben gut genug wäre.

»Sie sollten mir nicht immer schmeicheln, Reginald,« sie nannten sich jetzt gegenseitig beim Vornamen, »ich mag das nicht!«

»Aber das ist doch … das ist doch ganz selbstverständlich … wenn ein Mann ein Mädchen liebt …«

»Auch das will ich nicht immerzu hören. Sie glauben gar nicht, wie abgegriffen, wie unoriginell solche Worte sind!«

»Das würden Sie nicht sagen, Eva, wenn Sie mich auch liebten …«

Sie wandte den Kopf ein bißchen von ihm und lächelte.

»Wie lange werde ich warten müssen, bis ich wenigstens einen Kuß bekomme, Eva?«

»Wenigstens?«

Er lachte:

»Nun, meinetwegen auch höchstens! Aber wann, Eva, wann?«

Sie waren schon in der Straße, in der die Klinik lag. Eva blickte voraus, nach dem Hause hin. Plötzlich wandte sie ihm ihr schönes Gesicht voll zu:

»Wenn ich Sie einmal küsse, gehöre ich Ihnen ganz, Reginald. Aber mich darf man dazu nicht drängen. Ich bin keine von den Frauen, die auf eine Liebeserklärung warten oder die womöglich geheiratet werden wollen … nein, das nicht, aber ich … ich will auch nicht erobert sein. Dem, der mein Liebster wird, dem muß ich selber sehr gut sein … und … mein Herz läßt sich nicht kommandieren!«

Er seufzte.

Da legte sie wieder ihre Hand auf die seine und sprach noch gedämpfter als vorher – der Chauffeur saß ja vor ihnen:

»Sie brauchen darum nicht gleich zu verzweifeln, Reginald!«

Seine Hand drehte sich blitzschnell und faßte die ihre:

»Eva!«

»Still!« Sie schloß schalkhaft die Lider, »da sind wir schon.«

Der Wagen hielt. Eva sprang heraus. Der Graf sollte auf sie warten. Sie wollte Maria doch nicht zeigen, daß sie so täglich mit ihm zusammen war. Und Reginald war's auch lieber so.

Bei Maria fand Eva Herrn Pfandheller, der trotz seiner Prothese flink vom Stuhl auf war, um ihn der Tänzerin anzubieten.

Maria, noch immer heiser und nicht ganz fieberfrei, wäre am liebsten gleich aufgestanden und mit Eva mitgekommen. Das litt die natürlich nicht.

»Du bleibst da, Maria, bis dir nicht das geringste mehr fehlt!«

»Nicht wahr, gnädiges Fräulein!«

Pfandheller schüttelte die Faust gegen das Bett. Und Maria lachte ihn aus.

»Nur über meine Leiche geht der Weg, du altes unvernünftiges Weib!«

»Eine schöne Leiche! Was sagst du bloß, Evchen, dieser alte, widerwärtige Mensch besucht mich alle Tage! Ich habe schon der Schwester gesagt, sie soll ihn gar nicht mehr 'reinlassen! Aber so nimm dir doch 'n Stuhl, Alex, das Stehen fällt dir doch schwer!«

»Ich kann mich ja zu dir aufs Bett setzen«, sagte er scheinheilig.

»Nein, das will ich nicht! Du sollst dich überhaupt nicht immer so aufspielen, als wenn …«

»Als wenn ich dein Bräutigam wäre? Na, vielleicht nicht? Also, gnädiges Fräulein, da wir nun schon mal bei dem Thema sind …«

»Du schweigst, Alex! Sei still … Nein, ich will nicht! Solcher Unsinn!«

Aber er ließ sich nicht aus dem Konzept bringen:

»Also, gnädiges Fräulein, ich halte hiermit feierlichst bei Ihnen um Marias Hand an!«

Eva wußte nicht, ob sie lachen sollte. Sie staunte nur, während Maria, so gut sie es schon konnte, mit tausend Einwänden dagegen anwollte.

»Evchen,, mein Gutes, Liebes, laß dir doch so was nicht vorreden von dem alten Kerl! Das geht doch gar nicht! Auf keinen Fall! Wer soll dir denn deine Wirtschaft machen! Du hast doch keinen außer mir! Nein! So ein Unsinn!«

Nun fand sich die Schwarzlockige zurecht:

»Unsinn ist das gar nicht, Maria …«

»Nicht wahr, gnädiges Fräulein, einmal muß man doch heiraten, und wenn man auch schon 'ne alte Jungfer ist!«

»Danke, du Ekel! Aber, Eva, Kindchen, Liebes, ich sage dir nochmal …«

Das Mädchen legte ihrer Pflegemutter die Hand auf den Mund:

»Du darfst vorläufig noch nicht so viel reden, Maria … und außerdem gebe ich Herrn Pfandheller vollkommen recht!«

Er nickte strahlend und machte große, glückliche Augen.

»Ja, wirklich, Maria, auf mich kommt es dabei absolut nicht an. Du hast dich dein ganzes Leben lang für die andern aufgeopfert. Wenn du nun auch noch ein bißchen Glück und Liebe abhaben willst …«

»Aber du, Evchen! Was soll denn aus dir werden?«

»Aus mir?« Die dunklen Augen lachten. »Vielleicht werd' ich mich auch verändern, Mia! Glaubst du denn, daß mich gar keiner haben will?«

»Eva, du?«

Maria war so betroffen, ihr fehlten die Worte.

Eva tat es schon leid, gesprochen zu haben, da sie sah, wie erschüttert die noch immer Leidende war.

»Nein, nein, ängstige dich nur nicht! Vorläufig ist ja daran gar nicht zu denken!«

Doch die andere glaubte ihr nun nicht mehr:

»Ist es denn wenigstens ein guter, lieber Mensch, Evachen … ach, jetzt weiß ich!«

Doch sie hielt erschrocken inne, als sie Evas verweisenden Blick bemerkte.

»Ich kann mich ja jetzt empfehlen«, meinte Alex Pfandheller kleinlaut.

Eva nickte der Liegenden verstohlen zu:

»Aber nein, Herr Pfandheller, bleiben Sie ruhig! Ich komme sehr bald wieder, Maria, dann besprechen wir alles! Wir müssen doch Vorbereitungen treffen für deine Hochzeit!«

Die Krankenschwester kam herein und bat, den Besuch nicht zu lange auszudehnen.

»Aber ich kann doch noch etwas bleiben,« bat Pfandheller, »ich bin ganz stille … und du,« er warf Maria einen Kußfinger, »du darfst auch kein Wort mehr reden!«

Eva ging. Als sie sich zum Abschied über Maria beugte, flüsterte sie ihr ein paar Worte zu, die das gute Gesicht aufleuchten ließen.

Es hatte zu regnen begonnen.

Reginald gab eben dem Chauffeur Weisung, das Verdeck aufzuschlagen, als Eva aus dem Hause trat.

Da sie weiter fuhren, sagte Eva so nebenhin:

»Meine Maria verheiratet sich nächstens.«

Er sah sie beinahe so entsetzt an, wie Maria vorhin:

»Und Sie? … Und Sie, Eva?«

Die blieb ganz ernst:

»Und ich … na, soll ich mich etwa auch verheiraten?«

Sehr nachdenklich schüttelte er nur den Kopf.

Der Schalk plagte sie:

»Ich werde dann wohl nach Berlin ziehen …«

»Nach Berlin – –«

»Ja, was soll ich allein da draußen in Lichterfelde?«

Er nickte, wie in trüben Gedanken:

»Ja, ja, Sie haben ja sonst niemanden …«

»Nein,« sagte sie wie in Wehmut, »niemanden«.

Da sah er sie an und sie ihn.

Und Reginald, der den Regen und das Verdeck segnete, beugte sich über Evas Hände und küßte sie lange.

*

Als der Zug die österreichische Grenze passiert hatte, war Sarranski so erschöpft, daß er die kurze Strecke bis München nicht mehr aushalten zu können meinte. Freilich, in den letzten fünf Tagen hatte er wenig geschlafen. Er hatte keinen Appetit, und es war ihm, als wenn eine schwere Krankheit von ihm Besitz ergreifen würde.

Nun lag er wieder im Schlafwagen auf seinem Lager. Draußen dämmerte der Morgen. Und Sarranski blickte mit brennenden Augen in das matte Licht der Wagenlampe. Was er in diesen letzten Tagen erlebt, das war doch ganz unwirklich … ein toller, nervenzermürbender Traum, der ihn fast umbrachte.

Sein Geld war alle geworden, bis auf zwanzigtausend Mark vielleicht. Er hatte sich in seiner Leidenschaft für Madeleine ja um nichts mehr gekümmert. Nur immerfort gezahlt und ausgegeben. Jede ihrer Launen hatte er befriedigt. Sie war jetzt förmlich erfinderisch in immer neuen, kostspieligen Wünschen. Ein Auto, das er ihr heute gekauft, gefiel ihr am nächsten Tage schon nicht mehr. Er nahm ein anderes und verlor zwölf Mille daran. Die Schneiderrechnung, die man ihm präsentierte, über einige zwanzigtausend, hatte den Rest seines Vermögens fast aufgezehrt. Im Januar war er damals nach Monte gefahren und hatte eine halbe Million mitgebracht. Nach knapp drei Monaten besaß er kaum noch so viel, um den Versuch ein zweitesmal zu wagen.

Und der schlug fehl. Sarranski hatte in den Spielsälen das Letzte verloren. Aber er bekam es fertig, den Direktor des Palmenhotels, wo er wohnte, mit zehntausend Franken anzuborgen – der Mann hatte ihn von seiner ersten Fahrt ins Goldland in gutem Gedächtnis, Sarranski hatte damals fabelhafte Trinkgelder gegeben … Mit diesem Geld war er jetzt heimgekommen.

Aber so peinlich das im Augenblick war, man hieße nicht Sarranski, wollte man sich von solchen Zufälligkeiten umwerfen lassen! Geld hatte nie eine entscheidende Rolle im Leben dieses Mannes gespielt. Was ihn entnervte, hemmte und vernichtete, war die Liebe.

Madeleine … Madeleine … Madeleine …

Das war die Musik dieser fürchterlichen Räder, auf denen er dem Orte zurollte, wo er sie zu finden hoffte.

Er sprang auf und preßte die Hände an die Schläfen. Dann griff er in die Tasche seiner Weste, nahm aus einer kleinen Silberdose eine Prise Kokain. Er hatte sich das angewöhnt in den letzten Wochen, als er Madeleine dabei überrascht hatte, daß sie das weiße Gift schnupfte.

Wie war doch alles bloß so furchtbar schnell, wie eine Lawine über ihn hergestürzt? – Hatte Madeleine ihn jemals überhaupt geliebt? War sie wirklich für jeden Mann da? Und er nur eine Ziffer in ihrem Dasein, die nächste hinter dem Grafen Sterneich? Und wer, wer kam nach ihm?

Ein brennender, die Seele zerfleischender Zorn raste in dem Gepeinigten, diese ohnmächtige Wut, die sich nicht wehren, sich nicht entladen kann, die tobt und kreischt, und die am Ende doch wimmernd zusammenbricht und um Gnade bittet.

Da Madeleine sich in den letzten Wochen so elend gefühlt, hatte er sie überredet, in einen Winterkurort zu gehen und an den besonnten Hängen ihr krankes Herz, ihre zerfaserten Nerven zu heilen.

Er dachte dann, mit gefüllten Taschen aus Monte Carlo kommend, sie dort aufzusuchen und weiter, wohin sie immer wollte, mit ihr zu reisen.

Aber nun waren seine Taschen leer, und schon am Tage seiner Ankunft in Monaco hatte ihn ein Telegramm von Madeleine erreicht: sie hielte es in Oberau nicht aus, sie führe zu einer Kollegin nach München, die dort im Kristallpalast auftrete.

Vielleicht – nein sicherlich! Ohne jeden Zweifel war es das, was ihm in Monte die Sinne gelähmt, was ihm die nachtwandlerische Sicherheit geraubt hatte, mit der er beim erstenmal die Bank sprengte. Er hatte ja doch immerfort an sie denken müssen. So wie er jetzt in dieser Sekunde und in der nächsten und unablässig weiter an sie dachte! Das war wie eine Brandwunde im Herzen, nur daß er selbst den Schmerz um sie liebte und das Leben nicht mehr ertragen würde, wenn die Lust mit ihr zu Ende war.

War sie so schön? – Ja, ja! Tausendmal schöner als jede andere Frau auf dieser Erde!

Liebte er sie darum so maßlos? War es die Eitelkeit, diese allerschönste der Schönen zu besitzen, die ihn wahnsinnig machte in dem Gedanken, sie wäre nicht mehr sein? – Stanislaus Sarranski zergrübelte sein schmerzendes Gehirn, er konnte sich's ja selber nicht deuten, weshalb er, der immer nur jongliert hatte mit den Frauenherzen, dem nie genug auf einmal zufliegen konnten, der jede bald achtlos hinwarf – warum er, gerade er diesen blonden Satan lieben und anbeten mußte.

Auf einmal kam's ihm in den Sinn, daß er sie in München nicht finden würde, daß sie mit Gott weiß wem anderswohin gefahren sein könnte … Er eilte hinaus auf den Gang des D-Zuges, stellte sich in die reißende Zugluft, zwischen die offenen Fenster des Wagenendes und meinte, die Waggontür aufreißen und hinausspringen zu müssen auf die Schienen, unter den Zug, der gleich vorbeidonnerte.

Dann, da ihm der eisige Wind den Atem benahm, ward er ein bißchen ruhiger und begann, da es für ihn keine Einsamkeit ohne Philosophieren gab, sich selbst zu zerfasern.

Er war doch eigentlich nie ganz aufrichtig in seinem Leben gewesen, auch zu sich selber nicht. Direktor Starenkamp, draußen in Tegel, der nannte das: eine Verdrängung der Selbstvorwürfe, die jeden quälen und die von den meisten Menschen überkompensiert werden in Angriffe nach außen … Das einfache Beispiel: der Zerstreute, der alles verlegt und sich doch jedesmal von neuem leidenschaftlich beklagt, ein anderer habe ihm dies oder das weggenommen. Bei Sarranski sah der Gelehrte mehr: der Hochstapler, – das ist das Wesen seiner Art von Kriminalität – ist Hysteriker und Neurotiker par excellence. In ihm bestimmt die Phantasie alles. Die Wirklichkeit, Wahrhaftigkeit, damit also das, was man »Ehrlichkeit« nennt, tritt völlig zurück hinter dem wechselvollen Weltbild, wie es die Phantasmen dieses Sondermenschen gestalten. Seine Selbstbetonung ist maßlos. Das kennzeichnet den paranoiden Einschlag, den der Hysteriker in jedem Falle aufweist. Der rasende Stimmungsumschwung, das Wechseln von melancholischen mit lusterzeugten und lustzeugenden Perioden; die völlige Unmöglichkeit, die eigene Kapazität gegen die der anderen abzumessen, seine Überschwenglichkeit, besonders in der Liebe – –

Sarranski schüttelte sich, er warf den Kopf in den Nacken und rannte wieder in sein Abteil … Hatte da draußen einer neben ihm gestanden und ihm ins Ohr geflüstert? Gab es so etwas wie Mahnung und Warnung weithin über Raum und Zeit?

Der Dr. Starenkamp stand neben ihm und sagte leise:

»Wüßte ich nur ein, Mittel, Sie davor zu bewahren, daß Sie wieder hierher zurückkehren! …«

Den Einsamen im Zugabteil überlief es … zurückkehren … dahin … nie … niemals!

Und wieder war's, als spräche der an seiner Seite:

»Aber wovon willst du leben? Du kannst nichts, hast nichts gelernt … und bekämest du irgendeine Stellung, wie wolltest du bei deinen Lebensgewohnheiten mit deinem Verdienst auskommen?«

Sarranski stellte sich sofort ein:

»Ich werde verdienen! Ich will Geschäfte machen! Für einen Menschen meiner Intelligenz ist das kinderleicht!«

Aber der andere:

»Du täuschst dich! Belügst dich absichtlich! Du weißt, daß jedes Geschäft Kapital und Arbeit braucht. Du aber hast nichts und willst auch nicht arbeiten … Wohlleben und Nichtstun schweben dir vor! Und die Liebe zu dieser Frau, die nichts mehr von dir wissen wollte, da du noch reich schienst, die dich fortwirft wie einen verbrauchten Handschuh nun, da du ein Bettler bist!«

»Nein!« schrie Sarranski, »nein, ich bin kein Bettler! Ich bettle nicht! Und sie liebt mich! Sie muß mich lieben … Ich kann sonst nicht leben!«

Er schluchzte. Und sah sich scheu um … War nicht der Räderklang jetzt: sterben … sterben … sterben?

Der Zug rollte langsamer, die Maschine stieß einen langen, gellenden Pfiff aus. Sie fuhr in den Münchener Bahnhof ein.

*

Auf dem Treppenflur des alten Hauses in der St. Martingasse mußte Sarranski eine Weile warten, ehe man ihm öffnete. Aber Stimmengeräusch hörte er und Musik.

Dann kam eine alte Frau, die schwer hörte und ihn nicht verstand.

Sarranski schob sie einfach beiseite und ging hinein. Da wurde der Gang hell vom Licht, das aus einer sich öffnenden Tür schlug.

Eine Dame mit brandrotem Haar, im weißen Tuchkleide erschien, kurz gewachsen, ziemlich füllig und mit einem Clowngesicht:

»Ach, der Herr Sarranski! Bitte, treten's doch ein! No, aber is das ane Freid'! Leni! Leni! So komm doch her, der Herr Sarranski is dal«

Während Stanislaus seinen Paletot ablegte, kam Madeleine, ohne sich zu beeilen.

Sie bot ihm die Lippen. Er umschlang sie, doch war es, wie wenn er die Luft küßte. Sein Herz, zerbrach bei diesem Willkommen.

Sie gingen ins Zimmer, wo der Musikautomat eine Tanzweise schnarrte.

Mizi Lennert, Madeleines Freundin, stellte einen Herrn als ihren Bräutigam vor, einen großen, dicken Mann, der wie ein Fleischhauer aussah. Und noch zwei Fräuleins waren zugegen, wie Sarranski dann erfuhr, Statistinnen der Oper.

Der Tisch, ans Fenster gerückt, stand voller Teller und Gläser. Das dürftig eingerichtete Gemach war ganz, in Unordnung.

»Mir ham' durchgetanzt, von gestern abend!« entschuldigte sich die Rothaarige, »wenn's an fescher Kerl sind, Herr Sarranski, dann tun's a bisserl mit!«

Mit einem Lächeln, das ihm schwer fiel, auf dem fahlen Gesicht, dankte Sarranski. Er sah nur Madeleine, die ihn nicht ansah, die scherzen konnte und lachen in diesem Augenblick, mit den beiden Weibern von der Oper, die sich bei den Händen hielten, sich hin und her zogen und nicht mehr nüchtern waren.

Sarranski, der nie verlegene, fühlte sich entsetzlich geniert. Das Weinen stand ihm in der Kehle, er war so totelend, daß der dicke Herr Mitleid mit ihm spürte.

»Setzen« sich doch, Herr … Herr … und trinkens vielleicht an Bier oder lieber an Glas Wein?«

Er lief, schenkte ein, und Sarranski sog durstig den Burgunder in seine vertrocknete Kehle.

Dabei war's ihm, als lachten die Mädel, die bei Madeleine standen, mit einem Seitenblick auf ihn. Er wurde mißtrauisch, ohne zu wissen, weswegen.

Indem trat Madeleine zu ihm:

»Du bist gewiß müde?«

»Ja, ich möchte gern allein sein mit dir!«

»Wo denn? … Hier? … Das geht doch nicht. Komm, setz dich, wir können ja ein bißchen plaudern … da, aufs Sofa!«

»Nein, ich meine, wir fahren zusammen ins Hotel?«

»Ich, mit dir?« Sie schüttelte lachend den Kopf, »nein, ich bleibe bei Mizi! Was soll denn die denken, wenn ich jetzt plötzlich ausreiße!«

»Aber es ist ja sechs Uhr früh … geschlafen hast du doch auch nicht?«

Da er sah, wie sie nur immer lächelnd ihr blondes Haupt schüttelte, ward er dringlicher:

»Madeleine, ich habe dich eine ganze Woche lang nicht gehabt! Sei gut! Komm mit! Hier kann ich dich ja nicht mal küssen!«

Sie gab ihm ganz unbefangen einen langen Kuß. Aber er empfand deutlich: sie tat es nur, um ihn zufriedenzustellen. Keine Wärme, kein bißchen Liebe war in dem weichen Lippenpaar, das sich auf seinen Mund preßte.

Er setzte sich auf das mit grünem Plüsch bezogene Sofa und zog sie neben sich:

»Hast du Geld?«

Sie sprachen leise, aber er meinte, alle im Zimmer müßten ihre Worte verstehen.

»Ich habe gar nichts mehr!«

»Aber ich hab' dir doch, ehe ich wegfuhr, noch zweitausend Mark gegeben!«

»Seit wann rechnest du denn so, Stani? Ich hab's eben verbraucht!«

Seine Not fiel ihm ein, die völlige Unmöglichkeit, Geld aufzutreiben. Das machte ihn verwirrt:

»Ich rechne ja auch gar nicht, Madeleine! Ich … ich weiß nur im Augenblick nicht …«

Sie blickte ihn an mit einem grausamen Lachen, das im halboffenen Munde ihre schönen, weißen Zähne zeigte:

»Du hast nichts, mein Lieber! Dein Geld ist alle, nicht wahr? Immer geht das nicht so mit Monte Carlo!«

Er wollte erwidern, aber er fand kein Wort. Nur fühlte er, daß sie ihn nicht mehr mochte; daß sie kein Mitleid, kein Herz mehr für ihn hatte; daß sie mit gleichgültiger Kälte, ja mit Schadenfreude in ihn hineinblickte. Sie haßte ihn nicht einmal, was immer noch ein Erbe der Liebe ist und zurückführen kann in Leidenschaft, er war ihr nichts mehr, sie wollte los von ihm.

Und wiewohl das für ihn so klar und offen lag; trotzdem er wußte, daß es da kein Zurück gab, daß Madeleine ihm verloren war für immer, versuchte er sich auch jetzt noch selber zu belügen: sie wäre vielleicht nicht gesund … er hätte sie durch seine ewigen, nächtlichen Vergnügungsfahrten ermüdet und um alle Spannkraft gebracht … Nun brauchte sie Ruhe … In der Unwirklichkeit einer ermatteten Seele gedeiht ja die Liebe nicht! Er mußte ihr nur ein wenig Ruhe gönnen, sie Zeit und Kraft gewinnen lassen, damit sie wieder zu sich und damit auch zu ihm zurückfände.

Da hörte er plötzlich, wie aus weiter Ferne die Worte:

»Wir langweilen die Leute hier … Geh jetzt, Stani, morgen Mittag kannst du mich abholen.«

Er schrak auf. Seine Augen, die nach innen geblickt hatten, sahen das unschöne Zimmer, die öden Menschen darin, er hörte das kreischende Lachen der beiden Mädchen, von einem Couplet auf der Tanzplatte begleitet … Und neben ihm saß Madeleine. Die erhob sich, reichte ihm ihre Hand und die Wange und sagte mit einer Stimme, als sei sie selber ein Automat, der nicht lebte:

»Geh, Stani, du mußt schlafen! Auf Wiedersehen morgen!«

Er war aufgestanden. Blieb vor dem schönen blonden Mädchen stehen und bat sie mit seinen liebeflehenden Augen:

»Komm mit! Sei bei mir! Bitte, bitte!«

Aber seine Lippen öffneten sich nicht. In halber Bewußtlosigkeit ging er zum Zimmer hinaus, durch den Gang. Eine Tür fiel hinter ihm zu. Er stand auf der Treppe und schluchzte.

Die im Zimmer lauschten, bis draußen die Tür ins Schloß fiel. Dann brachen die beiden Weiber in eine tobende Lache aus. Mizi umschlang die Blonde und rief:

»Aus is, Leni! Den bist los! Der kommt dir nimmer wieder!«

Da öffnete sich die Tür zum Nebenzimmer.

Ein schlanker, magerer Mensch trat heraus, mit glattem, schwarzem Scheitel über dem länglich schmalen Spielergesicht.

Madeleine flog ihm um den Hals.

Sie küßten sich endlos und die anderen klatschten Beifall. Nur Mizis Bräutigam schüttelte seinen Bulldoggenkopf:

»Eine schandbare Sach' is'! Einen so dumm zu machen! Schamt's enck denn nimmer?«

Aber die Mizi nahm ihn bei den großen Öhrwatscheln und schüttelte ihn, daß er das Gesicht verzog:

»Schaugst, du Dicker! So san mir alle, mir Fraun! Und ihr, ihr seid ja eh' nix anders wert, ihr Mannsleit! Jetzt tanzst mit mir, daß dein Speck los wirst!«

Der Automat wurde angestellt. Ein Gassenhauer quiekte. Zwei Paare wirbelten, die Mädel mit übertriebenen Gebärden, der Dicke schnaufend mit Mizi.

Auf dem Sofa in endloser Umarmung Madeleine und ihr neuer Liebster. Jener Jongleur, mit dem sie Sarranski auf dem Artistenfest beinah ertappt hätte.

*

Sarranski saß im Zuge nach Berlin.

Er hatte wie ein Toter den Vormittag über geschlafen und Madeleine hatte ihn um zwei Uhr abgeholt. Eine Stunde später ging der Zug. So begleitete sie ihn auf den Bahnhof und war gut zu ihm, sie wollte ihn nur fort haben!

Sein spürender Argwohn hatte wohl etwas gewittert, aber dieser unverbesserliche Phantast blieb doch immer seinem Optimismus treu, der ihm die Wiederkehr der einstigen Liebe vorgaukelte, der aus dem heuchlerischen Lächeln der Blonden die Bitte um Verzeihung las, daß sie ihm weh getan, daß sie ihn nicht mehr betrüben, fortan nur ihm gehören wollte.

Die Kompaßnadel seines Herzens zitterte noch. Aber er war ausgeruht und satt. Seine niedergebrochene Seele richtete sich an seiner Selbstliebe wieder auf. Kampfgeist und Beutehunger trieben ihn vorwärts: wenn nur erst seine Brieftasche wieder voll, sein Bankkonto mit einer Reihe von Nullen aufgefüllt war, dann wollte er den Nebenbuhler sehen, den er nicht ausstechen, das Frauenherz, das er, mochte es ihm tausendmal schon verloren sein, nicht zurückerobern würde!

Er nahm seine Handtasche mit und ging in den Speisewagen.

Dort setzte er sich an einen der kleinen Tische für zwei Personen und hatte mit seinem Gegenüber, einem Landadeligen ohne Zweifel, bald eine Unterhaltung angeknüpft.

Sie redeten von der Wirtschaft, von Politik, vom Theater, kamen schließlich auf die Frauen, und Sarranski, der die Gabe besaß, aus dem Stegreif die interessantesten Erlebnisse zu erfinden, sah wohl, welch angenehmen Eindruck er bei seinem Gegenüber hervorrief.

Da bemerkte er zwei Tische weiter ein Gesicht, das ihm merkwürdig bekannt vorkam.

Ein elegant, vielleicht zu modern gekleideter, junger Mensch, Ende der Zwanziger, der sein Einglas doch nicht so trug, wie einer, der dazu geboren ist.

Sarranski suchte in Gedanken, ließ alle möglichen Leute, die er mal kennengelernt hatte, passieren und sah plötzlich, wie der drüben beim Essen das Messer in den Mund stecken wollte, sich aber noch in letzter Sekunde besann.

An dem dummen Ausdruck, der bei dieser Ungeschicklichkeit das sonst gar nicht unintelligente Gesicht beschattete, erkannte ihn der Hochstapler: der Mann war draußen in Tegel Kalefaktor gewesen, einer von denen, die das Essen ausgaben.

Ganz deutlich stand er jetzt vor ihm, in der großen Schürze aus grauer Leinwand, mit der Kelle die dampfende Suppe aus dem Zinkeimer schöpfend und sie in die Blechnäpfe schenkend, die den Gefangenen durch die »Futterklappe« in der Zellentür hineingereicht werden.

Und wie er weiter sann, da fiel ihm ein, daß dieser Gent, der jetzt so nobel speiste, in seinen Akten den Vermerk hatte: Hotel- und Eisenbahndieb. Unterdessen plauderte der Hochstapler mit dem Rittergutsbesitzer, dem er so gut gefiel, daß er ihm seine Karte gab und ihn zur Jagd einlud.

Sarranski las, während er die seine heraussuchte, auf der Visitenkarte des anderen:

 

»v. Rastenhausen,
Domänenpächter und Gutsbesitzer.«

 

Aber, da er keine von seinen eigenen Karten im Portefeuille fand, nahm er skrupellos eine andere, die er irgendwo auf der Reise bekommen hatte, auf der der Name v. Stepanowicz stand! Erinnerte sich dabei, daß der Besitzer dieses Namens ihm den Eindruck gemacht hatte, als ob auch er je nach Belieben so oder so heißen könnte.

Da Sarranski nun einmal im Zuge war, so hatte er bald seiner immer im Erdichteten schwelgenden Natur folgend, den Domänenpächter in den Glauben versetzt, er sei ebenfalls Agrarier.

Herr v. Rastenhausen fragte, wo denn Sarranski begütert wäre?

Da glaubte der selber schon fast daran, daß seine Besitzung in Bayern, in der Nähe von Fürth gelegen sei, daß er sie eben verkauft habe, um sich in seiner Heimat, der Mark Brandenburg, von neuem anzusiedeln.

Er schilderte auch den prächtigen Boden, die hervorragende Viehzucht und den modernen Maschinenpark auf seinem bisherigen Gut – das alles hatte er in Tegel in den tausend Büchern der von ihm verwalteten Bibliothek gelesen und gelernt.

Der andere hörte gern zu, erfreut, hier einem Berufskollegen und so wohl unterrichteten Fachmann begegnet zu sein. Er wäre ebenfalls Märker, seine Güter lägen allerdings in der Altmark, es sei möglich, daß er ihm etwas Passendes und Vorteilhaftes zum Ankauf nachweisen könnte.

Indem stand Sarranski auf, entschuldigte sich für einen Augenblick und ging dem Eleganten nach, der bezahlt und das Speisewagenabteil soeben verlassen hatte.

Der fuhr doch nicht umsonst von München nach Berlin!

Sarranski sah ihn durch eine Anzahl Wagen vor sich hergehen.

Wie jener an den Waggon der ersten Klasse kam, tat der Hochstapler so, als ginge er in die Toilette, blieb aber in der Ecke stehen und lauschte.

Der ehemalige Kalefaktor verhielt den Schritt. Sicherlich horchte auch er, wo der, der hinter ihm herging, geblieben war.

Jetzt hörte Sarranski, daß vor ihm die Glastür eines Abteils zurückgeschoben wurde.

Auf den Zehenspitzen vorwärts eilend, kam er gerade recht, den Menschen zu stellen, der aus dem leeren Abteil eine schwere Ledertasche in der Hand, einen braunen Reisemantel über dem Arm, herausschlich.

»Sind das Ihre Sachen, mein Lieber?« lachte Sarranski.

»Fragen Sie doch nicht so dumm!«

Der Dieb wollte ihn zur Seite stoßen. Doch der Hochstapler, gewandt und kraftvoll, hielt die Faust fest:

»Kommen Sie mit zum Zugführer!«

»Wohl wahnsinnig?! … Lassen Sie mich los!«

Sie rangen.

Plötzlich ließ der Dieb Tasche und Mantel fallen, stürzte an Sarranski vorbei, den Gang hinauf.

Fast riß er den ihm gerade entgegenkommenden Bahnbeamten um, der ihn auf Sarranskis Zuruf verfolgte.

Der Hochstapler raffte Tasche und Mantel auf und wollte sie in das Abteil, aus dem sie entwendet waren, hineintragen, da sah er ein aus dem Mantel herausgefallenes Heftchen am Boden liegen – ein Scheckbuch.

Er überlegte blitzschnell.

Und ohne sich vielleicht im Moment selber ganz klar zu werden über die Tragweite seines Tuns, nur fasziniert und hingerissen, berauscht von dem Anblick dieses noch ungemünzten Goldes, riß er drei Schecks aus dem Heft und steckte das Büchelchen in die Innentasche des Reisemantels, nicht ohne vorher einen Blick hineingeworfen und erkannt zu haben, daß schon mehrere Schecks fehlten und daß der Besitzer die Talons der abgerissenen Blätter unbeschrieben gelassen hatte, also offenbar zu nachlässig war, die entnommenen Summen gleichlautend zu vermerken.

Dann stand er wieder auf dem Gang, merkte jetzt erst, daß der Zug langsam fuhr und in den Zwickauer Bahnhof einlief.

Da kamen schon Passagiere, in ihrer Mitte der Zugführer, gestikulierend, aufgeregt:

»Der Kerl ist 'rausgesprungen … aber … aber er hat ja nichts … der Herr da hat ihm die Sachen abgejagt!«

Nun wollten alle wissen, was geschehen, wie der Dieb ausgesehen hätte, was er gestohlen, wie Sarranski dazu gekommen wäre … Die Menschen schoben und stießen sich auf dem Gange. Sarranski blieb vor der Tür des Abteils stehen.

Da sah er seinen Bekannten aus dem Speisewagen.

Rot, echauffiert, in sichtlicher Besorgnis wand sich der durch den Knäuel der Reisenden.

»Der Schaffner sagt, ein langer brauner Mantel … ach Sie … sind da, Herr … Haben Sie die Sachen … ja? … sind es denn wirklich meine?«

Sarranski beruhigte ihn, zog ihn ins Abteil.

Die Reisenden verliefen sich.

Nachdem Herr v. Rastenhausen alles nachgesehen hatte, beschlossen die beiden in Zwickau auszusteigen und dort den glücklichen Zugriff Sarranskis mit einer Flasche Sekt zu begießen.

Das wurde eine lustige Nacht. Sarranski beobachtete den Domänenpächter, der auch sein Scheckbuch aus der Manteltasche genommen und, ohne es genauer einzusehen, wieder weggesteckt hatte mit den Worten:

»Gottlob, daß der Halunke das nicht gefunden hat! … Na, da bin ich ja, dank Ihrer Aufmerksamkeit, mein lieber Herr v. Stepanowicz, bin ich ja noch mit einem blauen Auge davongekommen!«

Sie zechten ausgiebig. Sarranski schlief danach prachtvoll.

Am anderen Morgen frühstückten die Herren miteinander. Dann fuhr der Domänenpächter nach Dresden, wo er Verwandte besuchen wollte.

Sarranski blieb angeblich in Zwickau, benutzte aber den nächsten Zug nach Berlin.

In Berlin erwartete ihn hauptpostlagernd ein Brief. Sarranski sah mit Unruhe den Poststempel München und eine Handschrift, die er nicht kannte.

Von einer Frau … Er drehte, von Ahnungen gequält, den Brief hin und her. Und öffnete ihn langsam.

 

»Lieber Herr Sarranski! Meine Freundin Madeleine hat mir aufgetragen, ich soll Ihnen sagen, daß sie fort ist. Sie will nicht mehr mit Ihnen verkehren. Sie sollen auch gar nicht versuchen, ihr nachzureisen, Sie finden sie doch nicht. Es ist aus, ein für allemal.

Mit bestem Gruß

Mizi Lennert.«

 

Stanislaus Sarranski biß die Zähne zusammen. Seine Züge wurden wie Stein. Ein ungeheurer Entschluß, nicht nachzugeben in diesem Liebeskampf, lebend nicht auf die, die er liebte, zu verzichten, raffte die ganze Energie zusammen, die in dieser mutigen Seele lebte.

Nun gab es keine Rücksichten mehr, nicht auf die anderen, und noch weniger auf sich selbst.

Er brauchte vor allen Dingen Geld!

Er winkte ein Auto heran und ging, als es hielt, noch einmal in das Postgebäude hinein, an den Fernsprechautomaten.

Er ließ sich eine Verbindung mit der Merkurbank geben:

»Hier v. Rastenhausen … dort Merkurbank: Ja, darf ich Sie bitten, einmal auf meinem Konto nachzusehen, wie hoch sich mein Guthaben beläuft? … Fünfundachtzigtausend sagen Sie … so … Ich werde genötigt sein, in diesen Tagen einen größeren Betrag abzuheben … wer ist denn dort am Apparat? –- Ach, Herr Meinert … ganz recht … ich schicke jemand, der das Geld abholt … ja, natürlich, gegen Scheck!«

Dann fuhr Sarranski zu seiner Bank, wo er gegen einen Scheck über fünfundzwanzigtausend Mark, der mit v. Rastenhausen unterzeichnet war und auf die Merkurbank lautete, den gleichen Betrag ohne weiteres erhielt. Sein bis dahin so hohes Konto mußte ihm ja Kredit verschaffen. Und der Zufall wollte, daß man hier den Domänenpächter ebenfalls kannte.

Später sandte Sarranski einen Hotelkommissionär zur Merkurbank mit einem Abschnitt aus v. Rastenhausens Scheckbuch über fünfzigtausend Mark und erhielt ohne besondere Nachfrage auch diese Summe.

Um Mittag saß er schon wieder im Münchener Schnellzug. Er empfand keine Spur von Reue über sein Tun. Er hatte Schecks gefälscht, das war schwere Urkundenfälschung, und sie in Zahlung gegeben, das hieß Betrug in zwei Fällen. Wenn er damals für den einen Güterschwindel sechs Jahre gekriegt hatte, so stand mindestens dieselbe Strafe ihm jetzt in Aussicht. Er lachte so laut, daß die Mitreisenden ihn erstaunt anblickten. Auch das beirrte ihn nicht. Er war, wie ein Mensch, der beim Hantieren mit Spiritus in Brand geraten ist, der nun wie toll zum Wasser rennt, nicht achtend, daß er andere ansteckt und selbst elend verbrennen muß.

Für ihn gab es zwei Dinge: er fand Madeleine wieder und fuhr mit ihr, mochte sie ihn lieben oder nicht, ins Ausland, oder er fand sie nicht – dann war er am Ende …

Er fühlte an die hintere Beinkleidtasche nach dem Browning, den er am selben Tage in Berlin gekauft hatte.

Er hätte sich ja mit den fünfzigtausend Mark begnügen können, die er von dem Kommissionär, der ihn nicht einmal kannte, von der Merkurbank hatte holen lassen, hätte die anderen fünfundzwanzigtausend von seiner Bank, wo man ihn genau kannte, gar nicht nehmen brauchen … Dann wäre die Entdeckung des Schwindels viel weniger leicht gewesen. Dem Hochstapler war das in dieser Stunde vollkommen gleichgültig. Er wollte Geld haben, so viel als möglich, und dachte ernstlich daran, auch noch das dritte Scheckformular in München, mit einer hohen Summe ausgefüllt, zu Geld zu machen.

Sie war fort! Gewiß! Irgendein Mensch war bei ihr und sie flohen vor ihm, dem rechtmäßigen Besitzer ihrer Schönheit. Der Mann war nicht schuld. Sie bezauberte ja jeden!

Er aber wollte seine Madeleine wieder haben! Der Durst nach ihren Lippen verbrannte seine Seele! Und die Vorstellung, die Wollust ihrer Küsse nicht mehr zu kosten, ihre brünstigen Umarmungen nie mehr zu genießen, jagte ihn in Wahnsinn!

Diesem Menschen nahm er sie ab, schoß ihn nieder, wenn er nicht gutwillig von ihr lassen wollte. Und wenn Madeleine ihm nicht folgte, dann zwang er sie! Sie mußte mit ihm gehn, oder es war ihr Ende! Lebend durfte sie nur ihm gehören!

Während er unbeweglich in den Polstern seines Fenstersitzes lehnte, stand für Augenblicke das Bild der geliebten Frau vor ihm … Und neben ihr ein Mensch … Seltsam, immer wieder dieser magere, hektische Junge, dem er sie damals bei dem Artistenfest im letzten Augenblick abgejagt hatte … Obwohl er nicht den geringsten Anhalt dafür hatte, zweifelte Sarranski nicht einen Augenblick, daß der Jongleur und keiner sonst Madeleines Begleiter wäre.

Schwingt auf der zum Zerreißen gespannten Herzsaite des Liebenden so deutlich der ferne Ton des geliebten Wesens? Hat der Fernruf der Leidenschaft die magische Kraft, die Bilder der Liebe, der Sehnsucht, der Verzückung, aber auch die der Eifersucht, der Schmerzen und der Verzweiflung, als zweites Gesicht in der Seele des Rufenden erscheinen zu lassen?

Stanislaus Sarranski sah deutlich die beiden: Madeleine, seine süße, holdselige, geliebte Madeleine und neben ihr, den hageren, schwindsüchtigen Mann, der ihn mit seiner grünlichen, rotfleckigen Blässe wie ein Teufel angrinste. Und er sah sich selbst die Hand mit der Pistole erheben und hörte den Schuß und sah die Kugel in das verräterische Gesicht hineinknallen.

*

Maria, die inzwischen Herrn Pfandheller geheiratet hatte, war zu Besuch bei ihrem Pflegekind.

Eva hatte ihre Wohnung in Lichterfelde aufgegeben und hauste jetzt in einer stillen Straße im Westen. Auch hier in einem bescheidenen Logis von drei nicht zu großen Zimmern. In dem einen schlief, im anderen wohnte sie und das dritte war, wie draußen im Vorort, ihren Übungen, ihrer Arbeit vorbehalten.

In dieser Zeit, die Eva aus ihrer herben Jungfräulichkeit aufblühen ließ, zur liebenden und geliebten Frau, die ihre Schönheit, ihre Leidenschaft und ihre Kunst erst voll entfaltete, bereitete sich der Ruhm der Tänzerin vor, der über ihre Heimat, über Europa hinaus die Welt begeistern sollte. Eva hatte, als Madeleine sie verließ, eine Weile nach einer neuen, gleichwertigen Partnerin gesucht. Als sie einsah, daß die nicht zu finden wäre, da schuf sie aus eigenem Können, aus der Kraft ihrer großen Begabung jene Tanzbilder, die ihren Namen in alle Länder trugen.

Sie sprach davon mit Maria, die in einem nicht zu kurzen, braunen Seidenkleide und dem Topfhut mit großer Schleife recht würdig aussah. Aber Maria hörte kaum hin. Sie kam gar nicht aus dem Staunen heraus:

»Und alle die alten Sachen hast du mit hierher gebracht, Evachen? … ich dachte …«

Eva lachte:

»Was dachtest du denn?«

»Na, ich dachte, er hätte dir neue geschenkt?« Eva sah die stattliche Frau freundlich, doch ernst an.

»In den alten Sachen haben wir doch solange glücklich gelebt, Maria, du und ich! Darin bin ich Kind gewesen und dazwischen bin ich groß geworden! Und dann, meinst du denn, ich ließe mir so ohne weiteres neue Sachen schenken? Er schenkt mir überhaupt nichts! Blumen oder ein bißchen Süßes, woraus ich mir, wie du weißt, auch nie viel gemacht habe … Gewiß, er würde es gern, sehr gern würde er's tun! Das ist, glaub' ich, sein einziger Kummer, daß ich nichts von ihm nehmen will. Aber schau mal, Maria, ich bin ein freier Mensch und das will ich bleiben! Was würdest du von mir denken, wenn ich mich hier wie so'n kleines Kokottchen von Reginald einrichten und aushalten ließe?«

»Aber mir gibt doch mein … mein … Pfandheller gibt mir doch auch alles!«

Eva mußte lächeln über die Unbeholfenheit Marias, die sich noch immer nicht »mein Mann« zu sagen getraute.

»Du bist auch verheiratet! Bist Frau Pfandheller!«

»Na, will er dich denn nicht heiraten?«

»Er schon! Aber ich will nicht! Ich will nicht hingehen, wo er hingeht, ich will dem Manne nicht Untertan sein!«

»Dann hast'n auch nicht lieb, Evachen!«

»Doch! Doch! Sehr sogar! Und wenn ich einen lieb habe, warum soll ich's nicht sagen? Natürlich nicht jedem! Aber dir, zum Beispiel, Maria, oder,« sie blickte auf einmal trübe, »oder meinem Vater …«

Besorgt fragte Maria:

»Hast du etwas von ihm gehört?«

»Nein, seit Wochen nicht … er wird irgendwo hinter Madeleine her sein, die ihm gewiß längst auf und davongegangen ist … wenn ihm nur nichts passiert!«

»Wieso, Evachen, an was denkst du?«

»Ich habe so einen schrecklichen Traum gehabt … im Gerichtssaal und Papa war angeklagt … und …«

Tränen traten in ihre dunklen Augen:

»Der arme Papa … sie haben ihn verurteilt … zu lebenslänglichem Zuchthaus …«

Maria blickte ängstlich zu der Schwarzlockigen hin:

»Wie kommst du bloß darauf, Evachen?«

Die Tänzerin antwortete eine Weile nicht, dann sagte sie traurig:

»Es war so gut von dir, Maria, daß du mir das alles verschwiegen hast … Aber als er endlich da war und ich ihn nun doch erst richtig kennenlernte, da ist mir mancherlei aufgefallen … ein Mensch, der so am Wohlleben hängt, der eigentlich nur für Amüsement, für Frauen und für den materiellen Genuß lebt, wie soll der sich für eine große Idee aufopfern? Gewiß, er hat viel gelernt und besitzt mehr Bildung, als die meisten Leute aus seiner Sphäre … aber es war doch seltsam, daß er nie von den Dingen sprach … von Politik mein' ich … Und seine Ansichten waren ja auch absolut bürgerlich … Wenn man so sehr dafür gelitten hat, kann man's doch nicht ganz vergessen nachher …«

Maria, die noch nicht begriff, daß Eva von allem unterrichtet war, wollte auch jetzt noch ablenken und vertuschen:

»Er war immer ein ganz besonderer Mensch, Eva … Deinen Vater kannst du nicht mit den anderen vergleichen!«

Da stand die Tänzerin auf, ging an den altertümlichen Schreibsekretär und nahm, ein Seitenfach aufschließend, einen Brief heraus. Den reichte sie Maria. Aber die konnte ohne ihre Brille, die sie nicht bei sich hatte, nicht lesen. Sie hätte auch am liebsten gar nichts davon erfahren, sie ahnte, was kommen würde.

Eva hingegen gehörte zu den Menschen, die keine halben Wahrheiten wollen, die mit allem, was sie bedrückt, innerlich und äußerlich fertig werden müssen.

Sie las laut vor:

»Wertes Fräulein! Mein Bräutigam, Herr Philipp Schaller, hat mir beauftragt, daß ich Sie schreiben soll. Denn er kann es nicht mit ansehn. Sie sind nähmlich auch ein Opfer. Aber derjenigte welcher, ist der eigene Vater! Und hat gesessen, sechs Jahre in Tegel. Wo mein Bräutigam auch war, aber unschuldig, wegen seine damalige, wo ihn reingebracht hat, wegen Notzucht. Aber keine Idee davon. Das Weib war ihm nicht wert. Und nun läßt er Sie sagen, wenn Sie nicht bis Montag früh auf Postamt 116 fünfhundert Mark hinterlegen auf seine Adresse, postlagernd, dann stehe ich für nichts! Denn er ist wütend. Und es giebt genug Blätter, die sowas bringen! Es grüßt Hochachtungsvoll R. M.

P. S. Er hat gesessen wegen Hochstapelei und nich das erstemal!«

Maria liefen die Tränen über die runden Wangen:

»Daß du das hast erfahren müssen, Evachen! Was hast du denn nu' mit dem Brief gemacht?«

»Ich habe ihn Reginald gezeigt.«

»Und der? … Habt Ihr ihm die fünfhundert Mark gegeben, dem Kerl?«

Eva nickte zornig, ihre dunklen Augen blitzten:

»Da kennst du mich schlecht! Reginald hat sofort Anzeige erstattet. Der Mensch ist verhaftet und wird seine Strafe kriegen!«

Eva schüttelte den Kopf:

»Aber der Papa! Sowas wird doch öffentlich verhandelt?«

»Auf solch' Erpressergerede gibt kein Mensch etwas. Das Gericht läßt ihn gar nicht darüber aussagen. Wir haben uns natürlich vorher erkundigt. Reginald hat ja überall seine Beziehungen.«

Und als riefe der Name ihr den Geliebten herbei, läutete die Telephonglocke. Der junge Graf war am Apparat.

»Ja, Reginald, ich bin hier! … Wie nett, daß du anrufst! Maria ist gerade bei mir! Willst du ihr guten Tag sagen … wie? Ich verstehe nicht … Du kannst vorläufig nicht kommen? Etwas Wichtiges? … ja! … Hoffentlich nichts Unangenehmes … nein … also dann zum Kaffee … ich bleibe zu Hause …. ja …. Du triffst mich immer! Auf Wiedersehen! Wie? … aber nein, per Telephon geht das doch nicht! Also auf Wiedersehen! Ja, ich denke an dich!«

Mit einem seligen Lächeln hörte die Frau im altväterlichen Lehnstuhl die liebevollen Worte, die ihr Pflegekind in den Schalltrichter sprach. Das tröstete sie über die bittere Wahrheit, die sie Eva so gern erspart hätte … Sie sah den Vater dieser Tochter vor sich, wie er so wild, so ziellos und nur seinen Lüsten nachjagend, durch die Welt stürmte.

Von demselben Kummer beschwert, schwiegen sie beide. Dann sagte Eva:

»Wir haben getan, was wir konnten, Maria … Du ja noch tausendmal mehr, als ich … aber ich glaube, wir können ihm nicht helfen!«

*

»Beruhigen Sie sich doch, lieber Graf … hier, bitte, nehmen Sie eine von diesen geschmuggelten Khedive … Ich glaube, Sie haben vorläufig gar keinen Grund sich aufzuregen. Selbstverständlich beobachten wir diesen Herrn Sarranski schon seit einer ganzen Zeit … Sie wissen ja wohl: er ist erst Anfang Januar aus der Gefangenenanstalt Tegel entlassen worden, wo er eine sechsjährige Gefängnisstrafe verbüßt hat, wegen Hochstapelei und Betrug.«

Reginald v. Sterneich fuhr sich mit dem Seidentuch über die heiße Stirn:

»Ich will ganz offen sein, Herr Oberregierungsrat! Sie müssen mich ja sonst für überspannt halten, daß ich einen notorischen Schwindler seiner gerechten Strafe entziehe … Aber dieser Mann hat eine Tochter … ja, seltsamerweise ist sie seine richtige Tochter … ein wundervolles Mädchen … wirklich, der beste, vornehmste und reinste Mensch, der mir je vorgekommen ist!«

Der Dirigent der Kriminalpolizei lächelte:

»Ich bin auch mal jung gewesen, Herr Graf …«

Reginald seufzte:

»Natürlich, wie soll ich's denn beweisen, daß sie so ganz, ganz anders … nein, daß sie der vollkommene Gegensatz zu ihrem Vater ist …«

»Es kommt ja darauf auch gar nicht an, lieber Herr Graf!«

»Doch, doch, Herr Oberregierungsrat! … Allein schon seinetwegen! Was müßten Sie von mir denken, wenn ich für jemand Interesse, solches Interesse zeigen würde, der …«

»Der von der Art des biederen Sarranski wäre …«

Reginald nickte. Nie in seinem Leben meinte er zu einer so peinlichen Unterredung gezwungen gewesen zu sein. Er suchte nach Feuer für seine Zigarette und hatte die silberne Streichholzdose in der Hand.

»Also betrachten wir die Sache mal ganz chronologisch, Herr Graf … Denn wenn Ihnen die Schose auch contre coeur geht, durchsprechen müssen wir sie, dazu sind Sie doch hergekommen?«

»Gewiß, Herr Oberregierungsrat … nur möchte ich … ich wünschte … es läge mir dringend daran …«

»Daß nichts darüber in die Öffentlichkeit dringt? … Ich verstehe Sie vollkommen und was mich anlangt, das heißt, soweit es sich mit meinen Amtspflichten vereinbaren läßt, so wird alles geschehen … Nur, ich muß doch erst mal klar sehen … wie die ganze Geschichte zusammenhängt. Sarranski hat, wie wir sagen, ein neues Ding gedreht, einen Scheckbetrug? Also bitte, Herr Graf, nun erzählen Sie mal, ohne alles Echauffement!«

Reginald nickte eifrig:

»Ja, Herr Oberregierungsrat, also … ich …«

Der andere lachte:

»Nein, Sie nicht, Ihr Onkel traf einen Herrn im Klub, einen alten Bekannten?«

»Ja, den Domänenpächter v. Rastenhausen. Und wie sie so bei 'ner guten Flasche im Gespräch sind, da erzählt der Herr ihm, meinem Onkel, von einem Reiseabenteuer, das er auf der Fahrt von München nach Berlin gehabt hat. Von einem Eisenbahndieb ist ihm nämlich beinahe sein Gepäck gestohlen worden und ein Mantel, in dessen Innentasche ein Scheckbuch steckte.«

Dr. Weber nickte und machte sich auf einem vor ihm liegenden Bogen Notizen.

Reginald blickte ängstlich auf das Blatt und der »Ober« drehte es lachend um:

»Das ist nur so eine Angewohnheit von mir … in unserem Betrieb ist es auch sehr notwendig … also darf ich bitten?«

»Ja, Herr Sarranski hat zwar dem Herrn v. Rastenhausen sein Gepäck gerettet und den Dieb gefaßt, aber er hat dafür ein paar Abschnitte aus dem Scheckbuch entwendet.«

»Und sie prompt zu Geld gemacht?«

»Jawohl, die Banken, bei denen er die Schecks unterbrachte, haben nichts gemerkt … aber mein Onkel kennt Sarranski und hat ihn in wenig angenehmer Erinnerung.

»Hat er den auch bemogelt, Ihren Herrn Onkel, mein ich?«

»Nein, das nicht, es handelt sich um eine Dame …«

»Ah, Pardon! Das ist Privatsache. Solche Helden wie Sarranski einer ist, stehlen eben alles!«

»Ja, leider! Und wie Herr v. Rastenhausen den angeblichen Rittergutsbesitzer v. Stepanowicz schilderte, da erkannte mein Onkel ohne weiteres Sarranski, geriet natürlich in Feuer und klärte v. Rastenhausen gründlich über den Charakter Sarranskis auf … Jetzt ahnt v. Rastenhausen Schlimmes, er zieht ein paar noch uneröffnete Briefe aus der Tasche … darunter ist einer von der Bank, Merkurbank, glaub' ich. Und in dem Schreiben bestätigt das Institut dem Herrn die Auszahlung von fünfundsiebzigtausend Mark in zwei Schecks …«

Dr. Weber lauschte gespannt.

»Wissen Sie, Herr Oberregierungsrat, ich muß meinen Onkel bewundern! Er hatte wahrhaftig keine Veranlassung, Herrn Sarranski Gutes zu wünschen! Ich glaube, jeder andere hätte ihn glatt festnehmen lassen … Aber, hat er nun auch an mich gedacht – er kennt ja meine Beziehungen zu Fräulein Maron …«

»Ah, die bekannte Tänzerin?«

Reginald nickte:

»Ja … in diesem Falle siegte seine angeborene Vornehmheit über alle Revanchegelüste. Er hat den anderen Herrn überredet, keine Anzeige zu erstatten. Und er hat sich außerdem für die Wiederbeschaffung des Geldes verbürgt.«

»Allerhand Achtung! Ich glaube, das hätt' ich nicht fertiggebracht!«

»Ja, aber, Herr Oberregierungsrat, was wird nun?«

»Wissen denn die Banken etwas von dem Betrug?«

»Nein, soviel mir bekannt ist, nicht!«

Dr. Weber zuckte die Achseln:

»Was soll da werden! Der Geschädigte kriegt sein Geld zurück … Anzeige wird von keiner Seite gemacht, damit ist die Schose erledigt – quid non est in actis, non est in mundo!«

Reginald atmete auf:

»Ich danke Ihnen von ganzem Herzen!«

»Wofür? Für die schöne Khedive, die Sie nicht geraucht haben? Ich für mein Teil habe das Vergnügen gehabt, eine so angenehme Bekanntschaft zu machen …«

Die Herren erhoben sich und reichten sich die Hände.

*

In einer Weinstube am Alexanderplatz trafen sich Onkel und Neffe.

»Na, alles all right, Reginald?«

»Ja, Onkel, ich kann dir nicht sagen, wie von Herzen dankbar ich dir bin!«

»Du sollst aufhören! Komm' trinke ein Glas von diesem Forster Riesling … er ist ausgezeichnet!«

»Ich habe aber gar keine Zeit, Onkel!«

»Natürlich, du mußt hin zu ihr, Bericht erstatten!«

»Um des Himmels willen, nein! Sie weiß kein Wort und soll, soweit ich es verhindern kann, nie etwas davon erfahren!«

Botho v. Sterneich sah skeptisch in sein Glas:

»Meinst du, lieber Reginald, daß Herr Sarranski das Geschäft schon aufgibt?«

»Ich weiß nicht, ich will darüber auch nicht nachdenken … vorläufig ist die Gefahr abgewendet … vielleicht kann man ihn später irgendwohin ins Ausland schicken.«

»Wenn er sich schicken läßt!« wollte Graf Botho erwidern, unterdrückte es aber und rief dem Kellner zu:

»Zahlen!«

Dann fuhren sie nach dem Westen in Evas Wohnung.

Im Auto sagte Reginald:

»Weißt du, Onkel, du kannst ihr erzählen, daß wir eine wichtige, geschäftliche Unterredung gehabt haben! Oder, was du willst …«

»Also, ich soll wieder für dich schwindeln?«

»Ja, sieh mal, ich krieg's nicht gut fertig … Wenn sie mich dann so mit ihren dunklen Augen ansieht …«

Der Ältere betrachtete den Neffen von der Seite. Und er sagte wieder nichts von dem, was ihm auf der Lippe schwebte.

Aber als sie ins Zimmer traten, wo der Kaffeetisch gedeckt war, wo Eva sie mit einem strahlenden Lächeln erwartete, da verstand der Onkel seinen Neffen. Nur eine leise Wehmut mischte sich in die Freude, diese beiden jungen, schönen Menschen zu sehen, die sich, wie vom Schöpfer füreinander bestimmt, in Liebe gefunden hatten.

*

Aus dem »Programm«, der internationalen Artistenzeitung, hatte Sarranski herausgefunden, daß »Mr. Calver Moore, der Jongleur mit den vier Händen«, am 30. April München verlassen und sein neues Engagement in Breslau angetreten habe.

In München erfuhr er, der Jongleur habe in derselben Pension, wie Mizi Lennert, gewohnt und sei mehrfach mit ihr und einer anderen jungen Dame gesehen worden. Die Hausbesorgerin konnte nicht genug erzählen, wie schön sie mit ihrem blonden Haar und mit ihren blauen Augen gewesen sei.

Wohl dachte Sarranski manchmal daran, daß sein Scheckbetrug ans Tageslicht kommen und die Polizei ihm nachsetzen würde, aber neben dem einen wilden Gefühl, das ihn beherrschte, versank alles ins Wesenlose.

In den Tagen, die seinem letzten Wiedersehen mit Madeleine voraufgingen, glaubte er oft den Verstand zu verlieren: er halluzinierte und sah die Geliebte neben sich, an seiner Seite gehen.

Das hatte in der Eisenbahn eine ärgerliche Szene gegeben, wo er ein auffallend blondes, junges Mädchen am Arm berührte, während die Lippen in seinem traumwandlerisch verklärten Gesicht »Madeleine« flüsterten. Er entschuldigte sich, aber die Reisegefährten sahen ihn so mißtrauisch an, daß er das Abteil wechselte.

Seine Nächte waren fürchterlich. Er hörte Stimmen, als sei er immerfort im dichtesten Menschengewühl. Und zwischen all' dem Reden, Rufen und Lärmen klang deutlich die süße geliebte Stimme, die ihr gehörte! Er lauschte und horchte, suchte hier und eilte dahin! Doch immer war's eine Täuschung, ein Trug der Sinne, der seine Nerven zerriß, der ihn um den Verstand brachte.

Tubenweise verbrauchte er Veronal und Medinal, um nur Schlaf zu haben. Und wenn er dann gegen Morgen in bleiernen Schlummer sank, so riß ihn der Tag mit seinem Licht wieder in ein Dasein, das kein Leben mehr, das nur noch ein Sichhinschleppen auf blutenden, zerfaserten Nervenstümpfen war.

So schnell kam Stanislaus Sarranski nicht an sein Ziel. In Breslau trat der Jongleur an keinem Varieté auf, war hier auch von keinem Direktor engagiert. Er hatte, damals schon willens, mit Madeleine unterzutauchen, selbst die falsche Engagementsmeldung ins »Programm« gegeben.

Sarranski mußte nach München zurück. Er glaubte am Ende seiner Kraft zu sein. Und er griff schon nach dem weißen Glasröhrchen, das er fürs letzte in der Brieftasche trug, als eines Morgens die Polizei an die Tür seines Hotelzimmers klopfte. Doch war es nur eine der gewohnten Fremdenschikanen. Man prüfte seinen Polizeiausweis, der auf den Namen »Stefan Grindelbacher« lautete – er hatte ihn in einer obskuren Herberge für wenige Mark gekauft – und gab sich damit zufrieden.

Jetzt forschte Sarranski, trotz dem gewiegtesten Detektiv und spürte in Cafés, Ballsälen und Spielklubs dem Jongleur nach. Und endlich stieß er auf ein Mädchen, mit dem Calver Moore, oder wie er von Geburt hieß, Thomas Selicher, ein Gspusi gehabt hatte. Der näherte sich Sarranski, beschenkte sie reichlich und küßte sie selbst mit tiefem Widerwillen, bis er Briefe von Selichers Hand bei ihr sah, aus deren einem hervorging, daß der Jongleur in Berlin zu Hause war und dort Familie hatte.

Berlin! … Da lauerte die Polizei! Da könnt' es ihm geschehen, daß er am ersten Tag verhaftet wurde! … Sarranski wußte es und sah es bildhaft vor sich. Aber es war ein Teil seiner abnormen Gehirnbeschaffenheit, daß sein Verstand in Momenten hoher Erregung die Dinge aus der Wirklichkeit herausrückte in eine Art Traumwelt, in der man nachts durch Gemächer geht, wo im Schatten der Finsternis Löwen und Tiger kauern, die man fürchtet und denen man doch nicht ausweicht. Die Lüge nahm alsdann völlig Besitz von ihm, er sah und fühlte sich selbst nicht mehr, noch das, was seine Person, sein Leben und seine Sicherheit anging.

So wie er damals mit ein paar tausend Mark die Bank sprengte, ein Ekstatischer, den Gesetzen der Logik nicht mehr Unterworfener, nur von dem glühenden Willen beseelt, sein Ziel zu erreichen – so eilte er jetzt nach Berlin, berauscht von Liebe und zerquält von Eifersucht, von dem rasenden Durst nach Vergeltung.

Er war nur noch ein von den Urtrieben des Menschen dahingerissenes, beinahe willenloses Werkzeug seiner Leidenschaften.

Und in Berlin liefen ihm die beiden bei dem ersten Versuch, sie zu finden, in den Weg.

In der Friedrichstraße, durch die er fuhr.

Madeleine und ihr Liebster gingen heiter plaudernd dahin und betrachteten die Auslagen in den Schaufenstern.

Vor Sarranskis zermartertem Gehirn zuckte das schöne, blonde Gesicht auf, wie ein heller Blitzstrahl!

Er meinte in diesem Augenblick, es ginge zu Ende mit ihm. Doch nahm er seine letzte Kraft zusammen und wurde ruhiger.

Dabei hatte er die Geistesgegenwart, dem Chauffeur seines Autos »Halt!« zuzurufen. Immer die Augen auf seine Opfer gerichtet, warf er dem Mann einen Geldschein zu und sprang aus der Droschke.

Dann ging er, gedeckt von Passanten, hinter dem Paare her.

Der Apriltag war lau und angenehm.

In diesem Augenblick fühlte der Hochstapler, der wie in einem hohen Brausen zwischen den Menschen hinging, den weichen Wind, der sein Gesicht umwehte. Ein Mädchen lächelte ihn an, er faßte ihr Bild mit einem starren Lachen, vor dem sie sich erschreckt abwendete.

Nun gingen die beiden dort in ein Haustor hinein.

»Hotel zum alten Kaiser,« las er. Und wußte gleich: es war einer der vielen kleinen Gasthöfe der Innenstadt, die, in einem Privathause, keinen anderen Ausgang haben.

Sarranski blieb drüben auf der Straßenseite.

Eine verwunderliche Ruhe überkam ihn. Er fühlte deutlich, daß er an seinem Ziel war, am Ende …

Jetzt war es ganz still in seinem Innern, er bekam es fertig, wohl zehn Minuten vor dem Hause zu warten. Er wollte die beiden nicht irgendwo im Hotel, sondern in ihrem Zimmer treffen.

Ohne sich um Autobus und Droschken zu kümmern, schritt er über die Straße.

Vorm Eingang blieb er noch einmal stehen. Überlegte er, was er tun, wie er handeln sollte? Angesicht in Angesicht mit denen, die er suchte?

Dann ging er, geradeaufgerichtet, mit zusammengebissenen Zähnen hinein.

Dem Portier gab er eine Karte, es war die des Domänenpächters. Und für einen Augenblick glitt der Mann, den er um ein Vermögen bestohlen hatte, wie ein Spiegelbild an ihm vorüber.

Er folgte dem Pagen, der die Karte hinauftrug.

Und stand plötzlich, ohne zu wissen, wie er dahingekommen, im Zimmer des Jongleurs.

Der war allein. Er übte. Blau-, rot-, grün- und gelbglänzende Keulen lagen auf dem Teppich, ein Korb mit Bällen, und auf dem Tisch ein Haufen blitzender Messer.

Madeleine, die Sarranskis loderndes Auge suchte, war nicht im Raum.

Der Artist sprang hinter den Tisch und griff nach den Messern.

»Was wollen Sie von mir … Sie?!«

Sarranski zog die Pistole aus der Beinkleidtasche und feuerte.

Die Kugel streifte den Jongleur am Halse.

Der stürzte, eines der langen Messer packend, vorwärts.

Sarranski schoß wieder, die Kugel ging fehl, und wie er zum drittenmal abdrücken wollte, versagte die Waffe.

Er sah noch, daß ein Mensch ihm entgegenflog, daß es vor seinen Augen funkelte und blitzte.

Dann riß etwas in ihm … sein Herz zerriß und zersprang … mit einem Schrei sank er zur Seite und stürzte zu Boden.

Erwachte er noch einmal? Konnte er noch die schreiende und schluchzende Madeleine fühlen, die neben den Sterbenden hingeworfen, den Artisten anklagte, daß er ihren Freund, ihren Liebsten, den einzigen, den sie geliebt habe, ermordet?

Oder kam über ihn, dessen Leben nur ein wirrer Traum, eine Täuschung ohne Ende und eine einzige lachende, weinende, sterbende Lüge gewesen war – kam nun über ihn, über seine brechenden Augen die große, ewige, alles versöhnende Wahrheit?

*


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