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Meine Mutter

Wenn ich an meine Kindheit denke, ist mir's, als hätte immer die Sonne geschienen. Jetzt glaube ich, daß es das Licht war, das aus den strahlenden Augen meiner Mutter leuchtete, voller Liebe und starker Lebensfreude, das mir die Welt und das Leben so sonnendurchstrahlt erscheinen ließ.

Glücklich wir Kinder, die wir eine solche Mutter gehabt, die wie eine helle starke Flamme vor uns her ging, als schönes nie erreichtes Vorbild, die mit Freude und Poesie und einer großen, warmen Liebe unsere Kindheit erfüllte, und uns die Maße und Ziele für unser Leben gab, immer ins Große und Hohe hinauf.

Wie eine strahlende Sonne, aber auch wie ein Frühlingssturm ist meine Mutter in das Haus des einsamen älteren Mannes gekommen, der nach dem Tode seiner ersten Frau ein freudloses, ernstes Leben führte. Sie, die Leuchtende, viel Umworbene wählte unter allen gerade diesen Mann.

»Er war der rechte ernste Führer für meine Seele«, sagte sie, »meine anderen Bewerber bewunderten mich zu sehr, da hätte meine Seele Schaden genommen!«

Verschiedenere Menschen als meine Eltern konnte es kaum geben. Was sie zueinander geführt – ich kann nur meiner Mutter eigene Worte anführen – »es war Gottes Hand«.

Mein Vater hat seine junge stürmische Frau oft wie ein Kind erzogen, bis sie seine ebenbürtige Gefährtin wurde. War es auch am Anfang gewiß nicht immer leicht für beide, eine tiefe, schöne Liebe ging mit ihnen und das Bewußtsein, in ihrer Ehe ein heiliges Geschenk in Händen zu haben, das sie hüten mußten.

Und auf dem Sterbebett habe ich es von den Lippen meiner Mutter gehört: »Von allen Ehen, die mir im Leben begegnet sind, war meine die glücklichste.«

Meine Mutter war eine schöne, starke Menschenseele. Alles, was klein, gewöhnlich oder niedrig war, das existierte für sie nicht. Trat es doch einmal an sie heran, so konnte es so seltsam in ihren Augen aufblitzen, voller Schrecken und Zorn.

Sie war nicht groß von Wuchs, wirkte aber groß durch ihre stolze aufrechte Haltung und den sprühenden Herrscherblick ihrer Augen. Keiner konnte sie übersehen, wenn sie unter die Menschen trat. Sie hatte starke, klassisch strenge Züge, prachtvolles dunkles Haar, das sie schlicht an den Schläfen zurückgestrichen trug, im Nocken in zwei mächtigen Zöpfen zum Knoten verschlungen. Das Schönste an ihr aber waren ihre Augen, von unbestimmter Farbe, dunkel wirkend mit strahlendem Blick. »Die Augen eines Genies«, sagten die Leute.

Wie konnten diese Augen lachen, wenn auch der Mund strenge Worte sprach, zu irgend einem dummen Streich, den wir ausgeführt hatten, der ihr im Grunde ihres Herzens den größten Spaß bereitete.

»Mutters Augen lachen«, sagten wir dann zueinander, »es ist nicht schlimm!«

Dieses Lachen in den Augen, die Lebensfreude in ihrer Stimme, in ihrem klaren Gesicht, in ihren strahlenden Blicken, wer könnte das jemals vergessen, in dessen Leben es geleuchtet!

Köstlich war ihr Sinn für Humor. Sie konnte so besonders lachen, mit so viel Freude, so alles mit sich fortreißend.

Stark, großzügig und stolz war sie, dabei aber – das war der tiefste Reiz dieser seltenen Natur, oft von einer weltfremden Kindlichkeit und Naivität, ja Schüchternheit.

Wo sie liebte, war sie voll tiefer Demut und Hingabe, Anspruchslosigkeit und Bescheidenheit. Sie errötete noch im hohen Alter, wie ein junges Mädchen. Dabei konnte sie so dahinschreiten, über die Menschen hinübersehend. Sie überhörte beim starken Rauschen ihres eigenen Lebensstromes manchmal das zartere Klingen in den Menschenseelen neben ihr. Aber sie wollte es nicht, denn ihr Herz war weich und für jeden Klagelaut empfänglich, wenn sie ihn hörte. Sagte man es ihr, dann war sie bekümmert und ratlos erschrocken wie ein Kind.

»Es fehlte ihr an Kleingeld im Verkehr«, sagte eine geistreiche Freundin von ihr, »sie hatte nur große Münzen.«

Wenn sie sich gab, gab sie sich ganz, was sie tat, tat sie ganz. Eines ihrer Lieblingsworte in der Bibel war das Wort über König Hiskia: »Was er tat, tat er mit ganzer Seele, darum war auch Gott mit ihm.« Sie war eine Herrschernatur, die sich aber mit tiefer Demut unter ihren Mann stellte, kindlich gehorsam dem Wort der Bibel: »Er soll dein Herr sein!«

Eine geniale Natur, eine Dichter- und Künstlerseele, und sie war stolz darauf, daß sie gut zu flicken und zu kochen verstand. »Wenn man mir sagt, daß ein Gedicht von mir schön sei«, sagte sie, »oder daß ich ein Lied schön gesungen habe, so mache ich mir nichts daraus, denn das ist mir angeboren und kein Verdienst. Aber wenn mir ein Mittagessen gut gelungen ist, oder wenn man mich für eine gute Flickarbeit lobt, dann bin ich stolz, denn das habe ich mir erworben ganz gegen meine Natur.«

Sie war genialer, geistvoller und schneller als mein Vater; aber das alles stellte sie weit unter seine starke Pflichttreue, seine schlichte Wahrhaftigkeit.

Wunderbar war bei ihr die Verbindung von echter Weiblichkeit und hohem Herrschersinn. Gerade damals begannen die ersten Anfänge der Frauenbewegung, und ein Freund unseres Hauses schrieb ein Werk über die Emanzipation der Frauen und sandte es meiner Mutter zu. In seiner Widmung begrüßte er sie als eine der berufensten Vertreterinnen dieses neuen Frauentypus. Entrüstet wies sie es zurück, und die unumwundene Kritik, die sie dem Philosophen sandte, brachte ihn vollständig aus der Fassung. Sie wollte nichts anderes sein als eine rechte Frau und Mutter. Das war in ihren Augen der schönste Frauenberuf.

Sie hatte es nicht immer leicht in ihrer Ehe, denn mein Vater forderte viel von seiner Frau, je mehr er aber forderte, desto fröhlicher wurde sie. »Ich bin so stolz«, sagte sie dann, »daß mein Mann mir so viel zutraut, es gibt mir so viel Kraft!«

Neben der Sorge für ihr Haus, Mann und Kinder hatte sie für eine schier unbegrenzte Gastfreundschaft einzustehen, vor allem aber hatte sie meinem Vater in seiner Gemeinde zu helfen. Sie kannte alle Gemeindeglieder, und ihr Haus, ja ihre Kinder mußten zurückstehen, wenn es sich um ein Gemeindeglied handelte.

Als einmal eine große Schar Kolonisten aus Südrußland durch betrügerische Versprechungen nach Estland gelockt war, lagerten diese armen Obdachlosen in Scheunen vor den Toren der Stadt. Eine schwere, seuchenartige Krankheit war unter ihnen ausgebrochen. Alles floh sie aus Furcht vor Ansteckung, und die Kranken lagen ungepflegt und hungrig auf ihren schlechten Lagern. Meine Eltern fuhren hin, um für sie zu sorgen, halbe Tage blieb meine Mutter dort, kochte ihnen das Essen, pflegte und besorgte sie, bis sie vollständig zusammenbrach und dann Hilfe kam und sie ablöste.

Sie dachte nie an sich, wenn es galt, Hilfe zu bringen. Bei Tag und bei Nacht war sie bereit, dem, der sie brauchte, mit Rat und Tat beizustehen. Und sie half mit begeisterter Liebe, mit unzerstörbarem Glauben an die Göttlichkeit jeder Menschenseele. Wie viele Existenzen hat sie begründen helfen, wie viele Gescheiterte mit ihrem Glauben und ihrer Liebe wieder ins Leben geführt!

Wo sie war, war das Leben. Sie hatte den genialen Blick für die Menschen, der sie lehrte, die richtigen Persönlichkeiten zu wählen und sie an die Stelle zu setzen, wo sie ihre Kräfte verwerten konnten.

In den ersten Jahren ihrer Ehe hatte sie viel zu leiden gehabt. Der Klatsch der kleinen Stadt fiel wie ein Sturmwind über die Ahnungslose her. Solch eine Pastorin hatte man hier noch nie gehabt, die dichtete, für Goethe und Heine schwärmte, in Konzerten sang und wilde Pferde bändigen konnte. Der böse Leumund gab noch allerlei dazu; so erzählte man, habe sie, während mein Vater predigend auf der Kanzel stand, im Kirchenhof ein wildes Pferd eingeritten und mit Pistolen dazu geschossen. Aber nach und nach verstummten diese unsinnigen Gerüchte.

Wer ihre liebevolle Hand, ihr energisches, hilfsbereites Eingreifen in seinem Leben verspürt hatte, liebte sie. Und da sie ihr Hauswesen tadellos führte, das schönste Brot zu backen verstand, gut kochte, vergab man ihr auch ihr Singen, Dichten, Goethe und Heine. Mein Vater neckte sie oft, daß sie immer etwas gründen mußte. Es fehlte ihr dann aber wohl die Konsequenz, diese Gründungen weiter fortzuführen. Diesen Mangel sah sie in ihrer Großartigkeit selbst ein, zog sich dann zurück, und ließ andere an ihre Stelle treten. So entstanden eine Armenschule, ein Arbeits- und ein Gesangverein. Alle diese Gründungen trugen Lebenswert in sich, darum gediehen sie.

Sie erzog uns ohne viele Grübelei. Sie war eine sehr aufmerksame Mutter, aber sehr eingehend behandelte sie uns nicht.

»Kinder müssen wahr, gehorsam und sauber sein«, sagte sie. Zeigten sich Kleinlichkeiten bei uns, so fühlten wir, daß sie das verachtete.

»O pfui, das ist ja kleinlich!«, nichts wirkte so beschämend, so strafend wie dieses Wort.

Einzelne ihrer Aussprüche aus meinen frühesten Kinderjahren sind mit mir durch mein ganzes Leben gegangen, z. B.: »Je trauriger man ist, desto liebevoller soll man gegen seine Umgebung sein.«

Wunderbar poetisch gestaltete sie die Festtage für uns und ihr ganzes Haus: Ostern mit den bunten Eiern, die wir selbst mit Seidenflicken und Spitzen färben durften. Pfingsten mit seinem Birkenduft in allen Zimmern und seinem frischen Kalmus auf den Treppen. Und Weihnachten!

Jedes Fest hatte sein besonderes Gepräge und seine Vorbereitungen. Das ganze Haus duftete nach frischem Brot und Kuchen. Festtagsgeschirr wurde herausgeholt und alte, kunstvoll gemalte Kuchenteller und Körbe, das alte Familiensilber wurde geputzt. Wir Kinder waren immer um unsere Mutter, durften in der Küche helfen und die starke Freude, die von ihr ausging, erfüllte unsere kleinen Herzen zum Zerspringen.

In meinem Großelternhause herrschte eine große Hinneigung zu den Herrnhutern, und von dort her hatte sie viele alte Sitten mitgebracht, die die Festzeiten verschönten. Vor allem gehörte dazu der bunte Adventsstern, unter dessen Strahlen wir jeden Abend in der Adventszeit Weihnachtslieder sangen.

Das Singen spielte eine große Rolle in unserem Leben. Alle unsere Spiele, unsere Feste, unsere Arbeit, unsere Freuden und Leiden wurden durch Gesang erhöht und vertieft. Mein Vater behauptete, meine Mutter habe uns Kindern erst das Singen, und dann das Sprechen beigebracht.

Mutters Flügel war darum ein täglicher Sammelplatz für uns. Da standen wir um sie geschart, die zu unsern zarten zweistimmigen Gesängen mit ihrer schönen dunklen Altstimme die dritte Stimme sang.

Eine wunderschöne Erinnerung ist mir ihr Singen. Abends, wenn ihr Tagewerk getan war und wir in unserem Bettchen lagen, dann saß unsere Mutter am Flügel, und wie eine Glocke klang ihre Stimme durch die Räume.

»Mutters Stimme klingt wie Vaters Glocken«, sagten wir dann. Sie sang nur Wertvolles, Schönes, mit besonderer Liebe Schubert und Händel.

Diese Musik drang schon damals tief in mein Herz hinein, wurde mir vertraut und lieb wie ein Stück meines eigenen Lebens.

Ein Vormittag im Frühling ist mir in besonders lebhafter Erinnerung, als unsere Mutter uns mit jubelnder Stimme an ihr Fenster rief, wo Schwalben ein Nest zu bauen anfingen. Mit verhaltenem Atem standen wir an das Fenster gedrängt, unermüdlich ihrer Arbeit zuschauend und bis ins Herz hinein drang uns das Schwalbengezwitscher, wenn sie auf ihrem Nestrand sitzend sangen.

Unsere Mutter erzählte uns dann von fremden Ländern, aus denen die Schwalben kamen, wo es nie Winter wurde und wohin sie wieder zurückkehren mußten, wenn bei uns der Schnee fiel.

»Aber Mutter, wie können sie dann den Weg finden?« fragten wir dann. Und sie erzählte uns von den Engeln, die den Schwalben den Weg nach Hause wiesen, so daß kein Vogel verloren ging ohne Gottes Willen, was wir mit heiligem Schauern hörten.

Meine Mutter war nie über die Grenzen unseres Heimatlandes gekommen. Aber sie hatte eine Dichterseele, wovon sie redete, das lebte vor unseren Augen, und schlug wie Flammen in unseren kleinen Seelen.

Sie erzählte köstlich, nicht nur von Engeln und fremden Völkern, sie erzählte auch von ihrem Elternhause, das fern in der alten Dünastadt stand, an einer schmalen Straße, mit großem Hof und Garten und einer breiten Steintreppe, die mit blanken Messingkugeln geschmückt war Sie erzählte, wie es war, wenn der Schnee schmolz und die Düna über ihre Ufer stieg und Hof und Garten überschwemmte. Sie erzählte vom alten Garten, wie er im weißen Blütenschmuck seiner Obstbäume im Frühling prangte, vom Birnbaum, der zu ihrer Geburt gepflanzt wurde und jetzt mit seinem Blätterdach die ganze Veranda überschattete. Sie erzählte von ihren lustigen Freunden und Freundinnen, von dem frohen und köstlichen Zusammenleben mit ihnen, das endete, als mein Vater kam und sie in sein Pastorat holte.

Dieses Ende machte mich immer ganz mitleidig. Meine Mutter tat mir so leid, daß sie dies alles hatte verlassen müssen. »Mütterchen«, sagte ich einmal, »warum hast du eigentlich geheiratet, du hast doch früher ein viel schöneres Leben gehabt?« Mutter lachte ihr besonderes Lachen, so aus tiefster Brust heraus mit strahlenden Augen.

»Ich hatte deinen Vater lieb«, sagte sie einfach.

»Lieber als deine Eltern, deine Freundinnen, deinen Garten mit den Blütenbäumen?« fragte ich erstaunt.

»Ja, viel viel lieber!«

»Aber du kanntest ihn ja gar nicht so lange wie die andern?«

»Ja, das kannst du nicht begreifen, dazu bist du zu klein und zu dumm«, war ihre Antwort.

In unser sonniges, friedliches Leben brach plötzlich eine schwere Erkrankung meines Vaters. Dunkel und lastend fielen die Zeiten in die sorglosen Tage unseres Kinderlebens. Meine Mutter pflegte ihn ganz allein, denn keiner fremden Hand hätte sie dieses kostbare Leben anvertraut. Wohl trat zeitweise eine scheinbare Besserung ein, doch war das nur vorübergehend! Unter schweren Leiden ging er im Frühling heim. Meiner Mutter Haar ergraute in der Pflege, und die strahlende Lebensfreude verschwand für lange Zeit aus ihren Augen und aus ihrer Stimme. Noch ein Jahr blieben wir in den alten Räumen unseres Pastorats, dann verließen wir sie und siedelten in die Vaterstadt meiner Mutter, nach Riga, über.

Nun lernten wir das Haus kennen, in dem sie geboren war. Wir sahen den Birnbaum, der zu ihrer Geburt gepflanzt wurde, und der nun fast bis an den Giebel des Hauses reichte. Wir konnten in dem Hof und Garten spielen, in dem meine Mutter als Kind gespielt. Aber die alte Heimat war es für sie nicht mehr. Wohl lebte mein Großvater noch, aber die Stadt war verändert. Sie war auf dem Wege, eine Großstadt zu werden, und die fröhlichen Freunde und Freundinnen waren in die weite Welt zerstreut. Wir bewohnten eine ganz kleine Wohnung von vier Zimmern, eine Treppe hoch im Hause meines Großvaters, und lebten dort in den denkbar bescheidensten Verhältnissen. So klein ich damals war, fühlte ich doch, daß meine Mutter wie ein gefangener Adler war. Und ich weinte mich oft abends in den Schlaf, aus einem dunklen Mitleidempfinden heraus. Sie sang gar nicht mehr, und wenn wir abends in unseren Betten lagen, dann horchten wir manchmal, ob ihre schöne Glockenstimme wieder ertönen würde. Aber alles blieb still.

Das Klagen war nicht ihre Sache; aber was ich früher nie gesehen hatte, ich sah sie oft weinend an ihrer Arbeit. Dann weinten wir wohl jammervoll mit, mein Schwesterchen und ich. Wir wollten so gerne unsere freudig lebende Mutter wieder haben. Fast unbewußt fühlten wir es, daß nun nicht mehr die Freude unser Leben regierte, sondern die Pflicht. Sie erzog uns im Großen und im Kleinen nur nach dem einen Gesichtspunkt: »Wie hätte es euer Vater gewünscht?«

Aber lange konnte diese starke Persönlichkeit nicht so in der Stille, in diesem engen Kreise Genüge finden.

Und sie griff wieder ins Leben um sie her und half, wo sie Not sah. Es war ein schwerer Scharlach bei meinen Verwandten ausgebrochen. Mein Großvater, der Arzt war, kam von ihnen heim. »Es wird schlimm«, sagte er, »vier Kinder liegen schon und sie können nicht allein mit der Pflege fertig werden. Wer von euch hilft?« Meine Tanten, die bei ihm im Haufe lebten, weigerten sich. »Ich habe kleine Kinder«, sagte die eine. Da stand meine Mutter auf. »Ich übernehme die Nachtwache.« Und dabei brach wieder etwas von ihrer alten strahlenden Lebenskraft aus ihren Blicken. Im freudigen Glauben, daß Gott ihre Kinder bewahren würde, ging sie zur Pflege Nacht für Nacht. Und keines von uns erkrankte. Tagsüber versorgte sie ihren kleinen Haushalt, aber in der Nacht ließ sie uns allein, und lehrte uns, daß Opfer bringen nur etwas Schönes sei, wenn man sie freudig brächte. Und wir wagten nicht zu weinen, wenn wir abends allein blieben. Ich hörte später, daß mancher in dieser Zeit um sie geworben. Es wurden ihr glänzende Lebensmöglichkeiten geboten, aber sie wies sie alle ab. Sie wählte ihre Armut und ihre Einsamkeit, sie konnte nicht anders.

Ich glaube, daß sie schwer unter unserer Armut litt, beim Helfen und Fördern im Geben und in der Gastfreundschaft waren ihr die Flügel gebunden. Aber trotzdem machte sie es auch in unseren winzigen Räumen möglich, Menschen bei sich aufzunehmen. Immer wieder war jemand da, dem irgendwo ein fliegendes Lager aufgeschlagen wurde und mit dem wir dankbar unser bescheidenes Leben teilten. Doch so bescheiden unser Leben auch war, in die besten Schulen kamen wir, und zu Weihnachten oder zu unseren Geburtstagen lag immer ein gutes Buch auf unserem Tisch. Auch ein schönes Konzert hörten wir dazwischen, wenn auch auf den billigsten Galerieplätzen.

Fast puritanisch einfach kleidete sie sich und uns. Aber wenn sie in ihrem gefärbten Seidenkleide zu irgendeinem Feste ging, einen schwarzen Schleier über dem weißen, dichten Haar, der an der Seite mit einer weißen Rose geschmückt war, so sah sie aus wie eine Königin, und wir sagten zueinander: »Mutter wird doch die Schönste auf dem Feste sein!«

Meine Schwester, die ausgesprochenen Schönheitssinn besaß, bäumte sich manchmal gegen dieses Puritanertum auf, und sprach den Wunsch nach einem hübschen Kleide aus. Da aber war meine Mutter erstaunt und entrüstet.

»Dein Kleid ist heil und rein, mehr brauchst du nicht«, sagte sie dann. »Was man an unnützen Kleidern spart, dafür kauft man sich lieber ein gutes Buch, besucht ein schönes Konzert oder gibt das Geld den Armen.«

Die Jahre gingen. Wenn auch der Schmerz in meiner Mutter Herz still wurde und die freudige Lebenskraft wieder in ihrem Leben die Oberhand gewann, so war sie doch verändert, seit die ruhige starke Hand ihres Mannes sie nicht mehr führte. Das Herrschertum trat mehr an die Oberfläche ihres Wesens, sie vertrug keinen Widerspruch und wurde oft sehr heftig. In ihrer großzügigen, wahrhaften Art aber sagte sie dann manchmal: »Ach, Kinder, ich nehme so überhand, weil ich niemand habe, der mich niederhält!«

Unser Leben war schön und reich, trotz unserer Armut, denn es war aufs Geistige gerichtet, und in unseren Herzen sprangen viele Quellen der Freude. Die großartige Anspruchslosigkeit meiner Mutter, die sich in alles Äußere finden konnte, wenn sie nur ihre eigene geistige Atmosphäre hatte, war uns ein leuchtendes Beispiel.

Mein Bruder war unterdes auf die Universität gegangen, meine Schwester und ich erwachsen. Sie ließ uns viel Freiheit.

»Ich habe meine Töchter so erzogen, daß ich ihnen vertrauen kann«, sagte sie, »es wäre ein schlimmes Zeichen für meine Erziehung, wenn ich mich nicht auf sie verlassen könnte.«

Namentlich unser Verkehr mit dem andern Geschlecht war fast amerikanisch frei. In den Ferien, die wir nie in der Stadt verbrachten, zogen wir oft auf halbe Tage mit Vesperbrot und Büchern mit unseren Vettern und Freunden in die Wälder, mit ihnen lesend, diskutierend und ihre Interessen teilend. Nie ist etwas geschehen, das unsere Mutter bedauern ließ, uns diese Freiheit gestattet zu haben.

»Nichts kommt dem Einfluß gleich«, sagte sie, »den der Verkehr von jungen Männern und jungen Mädchen aufeinander ausübt. Ihr könnt sie lehren, die Frauen ehren, und durch männliche Interessen werdet ihr davor bewahrt, Frauenzimmer zu werden, denn ihr sollt Menschen sein.« Von der Liebe sprach sie nur mit heiliger Ehrfurcht: »Zersplittert euch nicht mit Liebeleien, dem sogenannten ›Verlieben‹. Man verausgabt sich im Kleinen und Wertlosen, und wenn Gott einem dann die große wirkliche Lebensliebe schickt, hat man keine Kraft mehr für sie übrig.«

Die Ehe zeigte sie uns im höchsten Lichte, als gottgewollte Vollendung zweier Menschenleben.

Vielleicht war nicht alles, was sie uns lehrte, praktisch für die Erde. Aber sie lebte es uns alles vor, und ich möchte es nicht anders gehabt haben, denn sie lehrte uns, unser Leben im höheren Lichte leben.

Sie nahm uns geistig fast als vollwertig an, diskutierte mit uns über künstlerische und geistige Fragen, wie mit ihresgleichen. War sie auch mit ihrer starken Persönlichkeit oft gewalttätig, entrüstete sie sich darüber, daß wir lieber Heine und Eichendorff als Goethe lasen, so nahm sie uns doch immer für ebenbürtig, und ließ uns unsere Meinung frei aussprechen.

Es war ein angeregtes, geselliges Leben in unserem Hause, bei bescheidenster Bewirtung. Namentlich in den Weihnachts- und Osterferien ging es hoch her bei uns, wenn die Studenten von der Universität kamen. Es wurde gedichtet, gelesen und musiziert. Wir hatten ein Hausquartett, und oft klang es und sang es bei uns, bis tief in die Nacht hinein, und Witz und Geist sprühten Funken. »Den bürgerlichen Hof von Ferrara« nannten Freunde im Scherz unser Haus.

Unsere Mutter teilte nicht nur unsere geistigen und künstlerischen Interessen, sondern auch unsern übermütigen Verkehr mit Vettern und Freunden, und war immer bereit, uns bei unseren Streichen zu helfen. Leider verriet sie uns oft durch das strahlende Lachen ihrer Augen, das sie nie verbergen konnte.

Da ich allmählich durch meine Arbeit – ich hatte mich zur Gesangslehrerin ausbilden lassen – ihr Leben sorgenfrei gestalten konnte, fand sie Zeit und Muße, ihre Kräfte in den Dienst der Armen zu stellen. Die Stadtverwaltung hatte schon oft um sie geworben, um ihre Arbeitskraft für soziale Zwecke zu benutzen. Und sie stellte allmählich ihre ganze Kraft und Zeit in den Dienst der Stadtarmen, denn für die notleidende Menschheit trug sie eine brennende Liebe im Herzen. Sie richtete Waisen- und Armenhäuser ein und brachte deren Betrieb in Gang. Allmählich aber konzentrierte sich ihre ganze Kraft und Zeit auf zwei Tätigkeiten in der sozialen Arbeit: auf Führung einer Schule für arme Judenmädchen und auf die Pflege der städtischen Findelkinder. Die Judenschule richtete sie zuerst auf Bitten der Judenmission ein, die sich bald aus Mangel an Mitteln zurückziehen mußte. Aber meine Mutter konnte sich nicht entschließen, die segensreiche Arbeit an diesen Ärmsten der Armen aufzugeben.

Mit dem ganzen freudigen Mut und Glauben ihrer Natur führte sie die Schule weiter auf eigene Verantwortung. Treuste Anhänglichkeit dieser Kinder, die sie nur »unsere Pastorin« nannten, lohnte ihre Mühe. Weit übers Grab hinaus habe ich noch ernten dürfen, was sie da gesät.

In ihrer Anschauung über die Pflege der Findelkinder ging sie ganz ihre eigenen Wege. Sie war gegen die Errichtung eines Findelhauses, darum kämpfte sie mit der Stadtverwaltung, und nach monatelangem hartem Kampf siegte sie. Sie war der Überzeugung, daß die Massenbehandlung in den Findelhäusern der Tod vieler Säuglinge wäre.

»So kleine Kinder müssen Mutterliebe haben«, sagte sie.

Und sie erließ einen Aufruf an die Frauen einfacherer Stände, Stadtkinder in Pension zu nehmen. Als Pensionspreis wurde eine verhältnismäßig sehr kleine Summe festgesetzt, damit immer ein Stück Idealismus bei der Aufnahme der Kinder mitspräche, und sie nicht aus gar zu selbstsüchtigen Gründen in Pension genommen würden.

Ein Kreis von Damen wurde gebildet, der die Pflegemütter unter Kontrolle nahm und der unter meiner Mutter direkter Leitung stand. Sie verstand großartig, mit den einfachen Frauen umzugehen, ja sie sprach sogar falsches Deutsch, um ihnen näher zu kommen. Sie versammelte sie öfter um sich, schrieb populäre kleine Aufsätze über Krankenpflege und Kindererziehung, die sie ihnen vorlas. Bei Tage und zu meiner Verzweiflung sogar bei Nacht war sie bereit, für ein Findelkind da zu sein, und sie konnte bitterlich weinen, wenn eines von den Kleinen gestorben war.

Immer hatte sie etwas zu erzählen, wenn sie von ihren »Findlingsfahrten« heimkam. Einmal hatte sie einen wilden Kampf mit einer Pflegemutter bestanden, die mit geschwungenem Beil auf sie zugesprungen war. Sie war stark und kannte keine Furcht. Sie hatte mit der Rasenden gekämpft und ihr das Beil entwunden, das sie tief unter einen Schrank schleuderte, wo die Frau es nicht mehr erreichen konnte. Ein andermal war sie in einen schweren Prozeß verwickelt worden, den sie verlor, weil mehrere falsche Zeugen aufgetreten waren, die einen Meineid geschworen hatten. Sie war verzweifelt, nicht um den verlorenen Prozeß, sie trauerte nur tief um die, die »für einen Rubel und einen Schnaps« ihre Seele verdarben.

Bösartige Findelkinder, mit denen die Pflegeeltern nicht zurechtkommen konnten, züchtigte sie mit eigener Hand in unserer Wohnung, und das Geschrei der Gestraften erfüllte manchmal unsere Räume. Von »Frau Pastorins« Hand gezüchtigt zu werden, galt aber in den Augen der Pflegeeltern als größte Ehre. Meine Mutter hatte eine schier unverwüstliche Körperkraft. Wenn sie von ihren Armenfahrten, die sie in die fernsten Bezirke der Stadt führten und die oft bei schlechtestem Wetter gemacht werden mußten, zurückkehrte, so genügte eine Stunde Ruhe und die Lektüre von Goethe vollkommen, um sie wieder frisch und arbeitsfroh zu machen.

»Goethe ist meine Kraftquelle«, sagte sie dann.

Staunend stehe ich jetzt in Erinnerung vor der Kraft der Liebe in dieser Seele, die mir damals so selbstverständlich erschien.

Es traten merkwürdige Lebensschicksale an sie heran. So stand an einem Weihnachtsabend eine eigentümliche Persönlichkeit vor unserer Tür und bat um Hilfe. Es war ein gebildeter Mann aus unseren Kreisen, der zerlumpt und verkommen vor ihr stand. Er erzählte seine ganze traurige Lebensgeschichte. Es war ein, durch eigene Schuld, tragisch gewordenes Leben, das reich und schön begonnen hatte und nun so ausging. Er war leichtsinnig gewesen und hatte sich zuletzt eine betrügerische Handlung zuschulden kommen lassen, hatte seine Ehre verloren und war Vagabund geworden.

»Ich will mich ändern«, sagte er, »aber keiner vertraut mir mehr.« Da sprang etwas in der Seele meiner Mutter auf. Sie faßte seine Hand und sagte mit der ganzen freudigen Liebe, die ihr Wesen kennzeichnete: »Ich will Ihnen glauben, ich will Ihnen vertrauen. Sie sollen nicht zugrunde gehen!«

Sie führte den Mann, dem es wie einem Träumenden war, ins Weihnachtszimmer. Sie nahm den Zerlumpten, Verkommenen an den Mittagstisch, der eben bereit stand, nach dem Wort der Bibel: »Die im Elend sind, führe in dein Haus!«

Ich sehe noch den Mann mit dem Verbrechergesicht, dem seine Sünden und Schanden auf der Stirn geschrieben standen, unter uns sitzen, stumm mit staunenden Augen. Meine Mutter nahm ihn bald ganz ins Haus, er wurde wie ein Glied der Familie gehalten. Die Aufregung unter unseren Freunden und Bekannten war groß.

»Habt Ihr auch Eure silbernen Löffel gezählt?« fragte der eine. »Nun, Ihr werdet noch was erleben«, sagte der andere, »der zündet Euch wohl das Haus überm Kopf an.«

»Wenn Petrus Ihre Mutter nicht ins Himmelreich lassen will«, sagte mir ein Freund, »dann soll sie ihn nur an diesen Mann erinnern und was sie an ihm getan, Petrus tut die Himmelstore weit auf, für diese Tat allein.« Es war eine schöne Zeit für uns alle. Wir fühlten, wie diese verlorene Seele sich wieder langsam in ein reines Leben zurücktastete. Von allen Seiten kamen Gaben für ihn ins Hans, alles, was er brauchte, sogar eine größere Geldsumme, war bald zusammen. Doch war es unmöglich, ihm in unserer Heimat eine Arbeitsmöglichkeit zu verschaffen. Sein Ruf war zu schlimm, keiner wollte es mit ihm versuchen. Da setzte meine Mutter sich mit einem Vetter in Südrußland in Verbindung, der den Mut hatte, sich seiner anzunehmen.

Der Tag der Abreise kam heran. Mit einem Koffer voll guter Sachen, mit dem Reisegeld und einer kleinen Summe für den Anfang versehen, sollte er reisen. Er stand vor meiner Mutter, um Abschied zu nehmen. Plötzlich, wie vom Blitz getroffen, sank er in die Knie vor ihr, und verbarg laut schluchzend sein Gesicht in den Händen.

»Lassen Sie mich nicht fort von Ihnen!« schrie er in Todesangst, »ich kann nur gut sein in Ihrer Nähe. Ich werde schlecht werden. Sie werden sehen, ich bin zu schwach ohne Sie.«

Das Strahlende, das ich so an meiner Mutter liebte, lag über ihr, als sie ihn aufhob und ihren festen Glauben an Gottes Hilfe auch für seine schwache und verdorbene Seele aussprach.

Er hatte sich recht erkannt, er konnte sich nicht halten. Zuerst ging es eine Weile gut mit ihm, dann sank er wieder von Stufe zu Stufe, aber er versank nicht.

Immer wieder riß er sich empor, immer wieder tauchte er aus dem Schlamm seiner Sünden auf und endete als Mann in geachteter Stellung. Auf seinem Sterbebett hat er es bekannt, er habe sich nie von der Erinnerung an meine Mutter lösen können. Ihr starker Glaube an das Gute in seiner Seele hat ihm in den Dunkelheiten seiner Sünden keine Ruhe gelassen.

Ein überwältigend schönes Erlebnis trat in meiner Mutter Leben, eine Reise nach Rom, die ihr römische Freunde schenkten. Da gehörte sie hin, und wie eine Träumende war sie zuerst durch die Herrlichkeiten dieser Welt gegangen. Dann war es, als wenn ihre Seele zu ungeahnter Kraft erwachte, ihre Flügel ausbreitete und flog wie nie in ihrem Leben! Sie war nicht mehr auf dieser Erde. So berichteten ihre Freunde, als ich nach Jahren selbst nach Rom kam.

Denn Malerei und Bildhauerkunst waren ihr vollständig fremd. Sie stand in dieser neuen Welt fast überwältigt da. Als sie den ersten Michelangelo sah, schlug es wie Flammen in ihre Seele.

»Wer ist das?« fragte sie, »den muß ich lieben.« Das Jüngste Gericht und der Moses blieben ihr das Größte, was sie je in ihrem Leben geschaut. Sie riß in diesen Wochen ihre ganze Umgebung mit sich fort. Aber als sie heimkam, brach sie zusammen an einer schweren Nervenerschütterung. Wochenlang lag sie im verdunkelten Zimmer. Sie durfte niemand sehen, bis sie sich wieder erholte.

»Kinder, ich schäme mich«, sagte sie dann, »daß ich mich so von der Schönheit der Erde und des Menschengeistes überwältigen ließ.«

Plötzlich fing sie an zu kränkeln. Schwere Krankheit in der Familie hatte sie zerbrochen. Sie klagte oft über Müdigkeit, und daß sie nicht mehr könne. Aber in der Grausamkeit der Jugend achteten wir nicht darauf, denn wir waren immer gewohnt, unsere Mutter stark zu sehen. Auch die Ansprüche von außen hörten nicht auf, denn sie war Ratgeberin und Helferin in allen Nöten bei Freunden und Bekannten. »Eure Mutter wird es schon machen«, hieß es immer. Und – sie machte es. Allmählich aber stellte sich ein schweres Nervenleiden in einem Arm ein, periodisch kamen furchtbare Schmerzen, die sie die Nächte ruhlos im Haus umhertrieben, denn sie verstand nicht zu leiden. Dazwischen schien alles wieder gut, und sie war die Alte. Kuren, die sie gebraucht hatte, halfen vorübergehend. Aber irgend etwas war doch zerbrochen in dieser starken Seele. Sie klagte und weinte viel, und manches schien ihr unüberwindlich, worüber sie früher gelacht hatte. Sie wollte gerne alle ihre Ämter niederlegen, aber die Stadtverwaltung erklärte, sie wäre unersetzlich. Sie hatte es eben nie verstanden, sich eine Nachfolgerin zu erziehen. So schleppte sie die Arbeit noch eine Weile hin, aber die furchtbaren Schmerzen, die sich bald in beiden Armen einstellten, machten allem ein Ende. Unter höchsten Auszeichnungen und Ehrungen erhielt sie ihren Abschied. Sie hatte nie einen Pfennig für ihre Arbeit beansprucht. Ein Gespräch, das ich mit unserem Hausarzt hatte, riß mir plötzlich die Binde von den Augen, und ich wurde sehend. Er erklärte mir in kurzen Worten, daß ein unheilbares Leiden sich bei meiner Mutter vorbereite.

»Sie hat sich verbraucht«, sagte er, »aus diesem einen Leben hätte man drei machen können.« Völlige Lähmung mit endlosen Qualen stünden ihr bevor, und enden würde sie in geistiger Umnachtung. So lautete die Diagnose, die sich zum Teil wenigstens, später als falsch erwies. Meine Mutter behielt ihren klaren lebensvollen Geist bis zur letzten Stunde. Mich aber traf das Urteil des Arztes damals fast zum Tode.

Als ich nach stundenlangem Umherirren im Dunkel heimkam, fiel meiner Mutter mein verstörtes Aussehen auf. Und sie rang mir Wort für Wort den Ausspruch des Arztes ab. Nur das letzte, das Fürchterlichste, sagte ich ihr nicht.

»Sieh mir in die Augen«, sagte sie ernst, »und sag mir die Wahrheit. Werde ich geistig zugrunde gehend Und ich sah ihr in die Augen und sagte »Nein!«

Da wurde sie ganz ruhig.

»Das andere will ich alles leiden«, sagte sie.

Zeiten voll unermeßlicher Leiden kamen, von denen man nicht reden kann. Genug, daß sie gelitten werden mußten. Stück für Stück wurde ihr starker Wille zerbrochen. – Ihre Selbständigkeit wurde ihr genommen, sie wollte sich nicht ergeben. Sie kämpfte um alles und ergab sich nur Schritt für Schritt. Bald versagten auch ihre Füße den Dienst und sie wurde völlig gelähmt. So lag sie da, unfähig, ein Glied zu rühren, unfähig, ihre Tränen zu trocknen, ganz abhängig, hilflos, wie ein kleines Kind. Aber für uns blieb sie, was sie uns immer gewesen, der geistige Mittelpunkt unseres Hauses, um den sich unser ganzes Leben schloß. Und von ihrem Krankenlager strahlte ein starkes, geistiges Leben, das das ganze Haus nach wie vor erfüllte.

Aber es kamen auch Zeiten voller Dunkelheit, so voller Verzweiflung und Auflehnen gegen ihr furchtbares Los, daß kein Lichtstrahl sie erhellen konnte. Ihr Wille war stark, und sie kämpfte bis aufs Blut, bis sie sich endlich in ihr Leiden ergab.

Nie vergesse ich einen Morgen, als ich nach qualvoller Nacht mich über sie beugte und sie ihre wunderbaren Augen zu mir aufschlug und sagte: »Nun will ich nur noch, was Gott will.«

Ihr Leiden machte sie namenlos einsam. Es war so groß, daß es uns oft wie ein Abgrund von ihr trennte, über den wir mit all unserer Liebe nicht hinüberkonnten.

Ich habe oft bei ihr denken müssen: »Wer es mit seinem Christentum ernst nimmt, den nimmt Gott auch ernst.« Hatte sie sich auch ihr Leben lang an Gott gehalten, jetzt erst lernte sie das Schwerste, ihm ganz gehorsam sein, nichts wollen, als was Gott wollte. Und sie wurde demütig und still, bescheiden wie ein Kind.

Niemals erschien sie mir aber so groß und so stark wie da, wo sie klein und zerbrochen war. Aber es gab auch Stunden der Fröhlichkeit um sie, sie liebte es, daß man heiter um sie war. Manchmal sagte sie mir, »wenn ich nur dein Lachen um mich höre, ist mir mein Leiden leichter zu tragen. Erzähl' mir doch was Fröhliches, dann vergesse ich meine Schmerzen!« Freunde, die uns besuchten, sprachen es aus, sie wären froh aus unserem Hause voll Leiden gegangen.

Ihr Sinn für Humor verließ sie nie ganz.

An meiner künstlerischen Arbeit, an meinen Gesangsstunden nahm sie lebhaften Anteil. Abends ließ sie oft die Tür ihres Krankenzimmers weit aufstehen und hörte auf mein Singen.

Jahre voll Qualen, voll Mit-ihr-leiden, voll hoher Freuden und tiefer Erkenntnisse, wer kann über sie reden!

Ein Leben reicht nicht aus zu erschöpfen, was sie einem gebracht haben!

Als nun endlich die Stunde gekommen war, da dies starke Herz stille stand, war mir's zuerst, als ob auch mein Herz still stünde, weil seine Aufgabe erfüllt war.

Es dauerte lange, bis ich begriff, daß nun erst recht die Aufgabe begann: ein Leben zu leben, wie unsere große Mutter es uns durch ihr Leben, Leiden und Sterben gelehrt.

Es war ein strahlender Sonntagmorgen, draußen eisige Winterkälte, funkelnder Schnee, als sie nicht mehr erwachte. In wunderbarer Schönheit lag sie da, mit dem Gesicht voll Frieden und unsäglicher Trauer. Und ich saß bei ihr, Stunde um Stunde, Tag und Nacht. Und ich sah in ihr schönes totes Gesicht, das mir durch mein ganzes Leben geleuchtet. Und dieses Leben zog an mir vorüber, Jahr für Jahr, von meinen frühesten Kindertagen an, und ich wußte, daß mein ganzes weiteres Leben bis zu meiner Todesstunde ein Dank sein mußte für das, was ich durch sie gehabt.

Es war ein großes Ehrengeleit, das ihrem Sarge folgte. Dicht hinterher ging ein merkwürdiges Gefolge. Es waren arme Judenfrauen und -mädchen und -kinder, all die früheren Schüler der Judenschule. Sie wollten ihrer »Frau Pastorin« die letzte Ehre erweisen. Und mit ihnen zogen viele arme Verlassene, Menschen, deren Existenz sie geschaffen. So groß war die Beteiligung, als wäre sie nicht schon sechs Jahre aus dem öffentlichen Leben geschieden. So stark hatte sie gelebt von ihrem Krankenbette aus.

Der Text ihrer Grabrede war: »Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!«

Lange dauerte es, bis ich mein Leben leben lernte ohne sie. Auf ihrem Sterbebette hinterließ sie mir ein Wort, das sie durch ihr ganzes Leben geleitet hatte: »Hilf, wo du kannst«, sagte sie, »dann wird dein Leben reich gesegnet sein, wie das meine.«

 


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