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Der Militärattaché der japanischen Botschaft war bei Harsen.

Marquis Yotama begrüßte erst Linde v. Hefften. Oh ja, sie waren ja alte Bekannte. Es lag wohl auch eine Absicht in dieser Begrüßung.

Yotama war sehr verärgert über die Veröffentlichung in der »Sidney Post«.

»Nun, Herr Marquis, an der machtpolitischen Stärke Ihres Landes ändert die Veröffentlichung ja nichts. Man nimmt übrigens an, daß Sie die Veröffentlichung selbst veranlaßt haben, um Ihre Position in der Öffentlichkeit zu stärken.«

Harsen wunderte sich selbst, wie leicht ihm diese politische Lüge von den Lippen ging. Mein Gott, es war ja Politik. Da lügen sie ja alle!

»Meinen Sie, Herr Doktor, ich weiß nicht, woher diese Nachricht stammt?«

»Es würde mich sehr interessieren, Herr Marquis. Aber es ändert ja nichts. – Übrigens, die Amerikaner waren heute morgen hier.«

Das war eine Bombe.

Der Japaner versuchte, zu sondieren.

»Geschäftsgeheimnis, Herr Marquis! – Ich kann Ihnen nur verraten, daß wir noch nicht zum Abschluß gekommen sind.«

Jetzt steuerte der andere in großem Bogen auf Lindes damaligen Besuch zu. Also eine leichte Drohung! Man konnte ja damit in die Öffentlichkeit gehen.

»Wenn der Besuch nicht gewesen wäre, würde ich wohl auch Amerika einige ›Eisbrecher‹ liefern.«

Abgeschlagen!

Ob man nicht einen Vertrag abschließen könnte. An der finanziellen Frage würde er nicht scheitern. Der Vertrag müßte so sein, daß darin alle Alumnitfragen für den gesamten fernen Osten mit Japan geregelt werden.

Also ein japanisches Bezugsmonopol!

»Herr Marquis, das kann ich nicht als Privatmann, da der Versailler Vertrag hineinspielt. Es könnte aussichtsvoll sein, mit der deutschen Regierung darüber zu verhandeln.«

»Aber Sie persönlich würden nicht abgeneigt sein, die Verhandlungen zu fördern?«

»Ich fördere alles, was meinem Vaterlande Nutzen bringt.«

Der Marquis erhob sich und reichte die Hand:

»Wissen Sie, Herr Doktor, ich habe in Ihnen einen der merkwürdigsten Menschen der Welt kennengelernt.«

»Wieso, Herr Marquis?«

»Nun, Sie können der reichste Mann der Erde sein.«

»Jawohl! – König von der Krim!«

Es fiel dem anderen schwer, seine Bestürzung zu verbergen. Also Rußland wollte auch ins Geschäft!

*

Der Mann in Köln hatte ja wohl einen ganzen Haufen falscher Pässe! Im Hotel nannte er sich Morris. In der Schiffsliste stand ein solcher nicht drin. Aber er mußte es sein. Die Zeit des Eintreffens im Park-Hotel stimmte mit der des Zuges aus Bremerhaven überein, ebenfalls seine siebentägige Abwesenheit. Den letzten Zweifel behob die Personalbeschreibung.

Aber man wartete vergebens.

Der Mann ließ sein Gepäck im Stich!

Da setzte sich Messerschmidt in die D 4001, erreichte die »Bremen« in der Mitte des Ozeans, ließ sich überholen und ging zum Bordfotografen. Dieser Mann mußte alle Gruppenbilder vorlegen, die er während der fraglichen Reise gemacht hatte. Richtig! Da war der Mann, einmal von vorn, einmal von der Seite. Er nannte sich damals Miner. Der Steward kannte seine Anzüge und Gewohnheiten, seine Stiefel und anderes.

D 4001 brauste zurück.

Der Steckbrief mit den Bildern war sehr eingehend.

In Breslau, in einer finsteren Kneipe, faßte man den Mann, einen Detektiv aus Chicago. Er war gar nicht so sehr bestürzt über sein Mißgeschick. »Well«, sagte er, »das kostet meinen Leuten ein schönes Schmerzensgeld!«

Einen eingehenden Zeitungsbericht über die ganze Jagd und das Halali schickte der Doktor an Mister Colt, Bethlehem Steel Corporation. Am Rande fand dieser die Bleistiftnotiz: »Es wird Sie interessieren! Freundlichst H. Harsen.«

Was » the old Colt« da wohl für Augen gemacht hat?

*

»Was die russische Spionage macht, Herr Doktor? – Oh, die sitzt ganz gemütlich in Halle. Es ist ein früherer Lehrer, Kommunist. Er hat drei Agenten an der Hand, einer davon ist ein Beamter von uns. Es ist also alles in schönster Ordnung. Der zweite hat als Dresseur von Affen in Leichtstadt Eingang gesucht. Tanzbären sind ja verboten. Wir haben einige Kinder, die sehr geschickt arbeiten. Sie laufen gaffend mit, warnen und beobachten gut. Der dritte hat sich als Anstreicher beworben. Er sitzt draußen bei den Tongruben und streicht egalweg Zäune in den schönsten Farben, zusammen mit einem zuverlässigen und unterrichteten Mann, der ihm die grausigsten Geheimnisse vordichtet. Ich denke, wir lassen die Leute ruhig noch eine Zeitlang so weiter arbeiten, da weiß man, woran man ist.«

»Wissen Sie, Herr Kriminalrat, manchmal hat man hier doch den Eindruck, als ob man mitten in einem Detektivschmöker lebt, ›Das Gebiß auf dem Kirschbaum‹ oder wie die Dinger heißen.«

»Nur, daß wir dann den Anfang zuletzt erleben müßten, damit bis zum Schluß alles schön dunkel bleibt.«

»Na, man soll nichts verrufen!«

In diesem Augenblick ging das Licht aus.

»Überall!« stellte Harsen fest. »Am Lichtwerk liegt es nicht. Es sind Akkumulatoren zwischengeschaltet. Es ist etwas los! – Ofen 9 ist dicht vor dem Guß! – Fräulein v. Hefften!«

»Jawohl!«

»Telefonisch Werkpolizei – Ofen 9 abriegeln!«

Der Wagen stand stets vor der Tür. In zwei Minuten war man dort. In der Ofenhalle hellste Aufregung. Alles war dunkel, nur die Schaulöcher des Ofens gaben ein schwaches, mystisches Licht. Es roch nach verbrannten Gasen. Die Menschen brüllten. In wenigen Sätzen war Harsen am Ofen. Hier mußte eine Explosion stattgefunden haben. Zwei Verwundete lagen auf dem Boden, Entsetzen in den Augen, zwei andere schleppten sich seitwärts fort.

Da! – Taghell alles – dann wieder rabenschwarz. Es ist nur ein Augenblick, viel zu schnell für das Auge. Nichts war zu erkennen.

Harsen steht vor dem Ofen. Mit der Taschenlaterne leuchtet er sein eigenes Gesicht an. Sie kennen ihn ja alle. Seine Stimme dringt durch alles Schreien, Toben und Rufen hindurch:

»Achtung! – Hier Dr. Harsen! – Ruhe! – Alles stehen bleiben! – Hier ist fotografiert worden. – Spione in der Halle! – Halle ist abgeriegelt. – Jeder auf Nebenmann achten! – Gegenseitig die Hand geben! – Nicht von der Stelle gehen! – Wer sich drücken will, ohne Lärm festhalten!« –

Er läßt den Lichtstrahl auf seinem Gesicht. Alle sehen sie ihn jetzt an. Alle sind sie ruhig. Die Masse hat ihren Führer.

Er lauscht hinein in das Dunkel. Es ist ruhig überall. Dann ganz links ein leises Poltern, ein unterdrückter Schrei. – Dann wieder Ruhe. – Dort muß etwas gewesen sein, ein Drama im Dunklen. – Jetzt wieder geradeaus, etwa am Eingang, wo Winterfeld zurückgeblieben ist. – Stille. – Ein Schrei, ein Pistolenschuß! – An derselben Stelle!

»Ruhig bleiben bis Licht kommt!«

Ganz ruhig ist es wieder. Nur der Ofen summt, wie immer, leise wie eine Märchenmelodie. – Die Zeit rinnt.

Endlich schimmert rötliches Licht an den drei Türen – Fackeln!

»Kommissar Knebel?«

»Jawohl!«

»Sind Sie fertig für eine Personenkontrolle?«

»Eine Kontrolle kann nur an den Kleiderspinden erfolgen, Herr Doktor!«

»Alles folgt ganz ruhig den Weisungen der Polizei!«

Knebel kommt mit einer Fackel in die Mitte und erläßt die Anordnungen. Ein Beamter muß den Arzt anrufen. Einige im Sanitätsdienst ausgebildete Arbeiter verbinden die Verletzten.

Harsen hat festgestellt, daß der Schmelzkegel fehlt. Also das war der Zweck!

Das Licht flammt wieder an. Die Untersuchung nimmt ihren Fortgang.

Da kommt auch Winterfeld, mit einem ganz geschwollenen Auge: »Der Hieb war richtig! – Einer Ihrer Arbeiter! Er glaubte, ich wollte fort, als ich mich bückte, um den Kerl zu fassen. Der kroch wie eine Schlange. Hat aber vorbeigeschossen. Der erste war ein Hammel, ließ sich ein Bein stellen und wundert sich, daß Handschellen auch an Fußgelenke gehen. – Doktor, wenn Sie das nicht gemacht hätten, keinen einzigen hätten wir erwischt!«

Jetzt kümmert sich Harsen um die Verwundeten und spricht ihnen Mut zu. Der Schreck ist ja oft das Schlimmste. Er macht die Menschen widerstandslos gegen die Schmerzen. Ja, es sei eine Handgranate geworfen worden und dann seien zwei Mann an den Ofen gestürzt. Harsen meint, die hätten schon eiserne Pulswärmer.

Es dauert zwei Stunden, bis das Resultat feststeht. Vier Mann hat man, auch den Fotoapparat, aber es müssen mehr gewesen sein, und der Schmelzkegel wird nicht gefunden. Die Leute, die die Termitbombe in den Lichtkabelschacht geworfen haben, und der Mann, der den Schmelzkegel mit dem Schürhaken aus der Meßröhre geangelt hat, müssen alle fort sein. Im Kabelschacht sind sämtliche Leitungen zusammengeschmolzen.

Am nächsten Tage wurde bei Rostock ein Auto gefaßt, da saßen drei Mann drin. Nun hatte man alle, alle bis auf den einen mit dem Schmelzkegel. Der war und blieb verschwunden. Einer von den Ergriffenen gehörte dem Werke an. Die Erbitterung gegen ihn war maßlos. Als er zum Gefängnis geführt wurde, stürmte die Menge. Es wäre um den Mann geschehen gewesen, wenn Harsen nicht dabeigestanden hätte. Er streckte seinen Arm über den Lumpen und rief: »Macht eure ehrlichen Fäuste nicht dreckig!«

Da ließen sie ab von dem Judas. – – – – – –

Zehn Tage später kam eine Postkarte vom alten Colt: »Vermissen Sie einen Schmelzkegel? – Freundlichst Ihr Colt.«

Harsen antwortete: »Habe noch einen übrig. Sende ihn mit gleicher Post. – Was sagen Sie zu den Verwundeten? Harsen.«

Die Geheimhaltung des Schmelzkegels war ja nur ein Bluff gewesen. Die Legierung war nicht anders, als sonst.

Wieder einige Zeit später kam ein Scheck über 30 000 Dollar für die Verwundeten. Am Rande stand in kleiner Kritzelschrift: »War gegen meinen Willen. C.«

Im Monat September wurde die Spannung fast unerträglich. Der Staatssekretär Wallershausen war in Leichtstadt und hatte eine lange Unterredung mit Harsen. Der Notenkrieg zwischen den Mächten, so berichtete er, würde immer schärfer. Die ausländischen Staaten forderten Sicherheit. Sie hatten Angst vor Alumnit.

»Sicherheit heißt also Auslieferung des Fabrikationsgeheimnisses!«

»Ja, nichts anderes!«

»Und wenn nicht?«

»Ja, bester Doktor, man droht, vorläufig noch zwischen den Zeilen, aber faustdick, mit Einmarsch.«

»Früher oder später mußte es ja zu dieser Drohung kommen. Wir müßten also das Risiko eines solchen Schrittes jetzt etwas mehr betonen. Ich habe da schon vorgesorgt. And er gab dem Staatssekretär einen Entwurf für die Zeitungen, wonach in Turin eine »Alumnit-Panzer-G.m.b.H.« gegründet war. Betriebszweig: Verstellung von Infanteriepanzern. Die Rohplatten sollten aus Leichtstadt geliefert werden. Die Leistungsfähigkeit betrüge bis zu 1000 Panzern pro Tag. Da es sich um eine stillgelegte frühere Fabrik handele, könne die Fabrikation jede Stunde aufgenommen werden. Rohmaterial sei bereits an Ort und Stelle.

»Entweder sie kommen innerhalb vierundzwanzig Stunden, oder sie überlegen es sich zwanzigmal.«

»Das erste, Herr Doktor!«

Harsen stand auf und überlegte. »Dann müssen wir den anderen ein Ultimatum stellen: Einmarsch gleich Verkauf an Konkurrenzstaaten.«

Die Einzelheiten wurden besprochen. Dann klingelte Harsen. Linde trat ein.

»Hören Sie mal, Fräulein v. Hefften, wir möchten unsere kleine Abenteuerin mal nach Moskau schicken, nur mal so zum Angucken für einen Tag. – Hätten Sie Lust?«

»Aber natürlich! – Immer, Herr Doktor! – Ist – ist das auch eine Festung?«

»Nein, nein, so schlimm wird es nicht. Ich schick auch Degener mit. Ich sag Ihnen nachher, warum.« – – –

Zwei Tage später brachten die Zeitungen die Unterredung eines Korrespondenten mit Dr. Harsen. Dabei stellte der Zeitungsmann die Frage, was geschehen würde, wenn der an sich unwahrscheinliche Fall eines Einmarsches fremder Staaten in Deutschland erfolgte. Harsen antwortete, daß kein Staat eine solche Torheit machen würde. Einmal sei im Zeitalter des Alumnits das Risiko zu groß, ja die Aussicht geradezu hoffnungslos, zum anderen aber hieße ein solcher Schritt nichts anderes, als sofortiger Verkauf der Herstellung an Konkurrenzstaaten. »… aber ich glaube, wir tun besser, uns nicht auf das Gebiet derartiger Phantasien zu begeben.«

Trotz dieser maßvollen Form erregte die Drohung gewaltiges Aufsehen in der Welt. Es wurde erheblich verschärft, als schon am nächsten Tage folgende Meldung über Drähte und Lautsprecher ging:

»Die bekannte Sekretärin Dr. Harsens, Fräulein Linde v. Hefften, sowie der kaufmännische Direktor der Alumnit-Werke, Herr Degener, sind mit dem Flugzeug D 4011 in Moskau eingetroffen.« – Weiter nichts!

Linde Hefften war für die Welt ein feststehender Begriff seit Metz her. Und nun noch ausgerechnet der kaufmännische Direktor! Das müssen ja ernsthafte Verhandlungen sein! Und gerade mit Rußland! – Mit Rußland!

Der Bogen war bis zum Zerreißen gespannt.

Da ließ die deutsche Regierung vertraulich wissen, sie hätte Herrn Dr. Harsen bewogen, endgültige Abschlüsse nicht vor einer die Alumnitfrage allgemein regelnden internationalen Konferenz vorzunehmen.

Damit war ein Stichwort gegeben, an dem man sich zunächst etwas abkauen, vielleicht auch beruhigen konnte.

Währenddessen war also Linde mit dem kleinen dicken Degener nach Moskau gegondelt, hatte sich bei der Botschaft gemeldet und in dem luxuriösen Europäerhotel Wohnung genommen. Sie besahen sich die goldenen Kuppeln des Kremls, das gläserne Mausoleum Lenins und andere Sehenswürdigkeiten, bestaunt von einer großen Menge, geführt von höflichen Kommissaren und beschützt von einer Herde von Kriminalisten. Linde bekam einen starken Eindruck von der gewaltigen nationalen Kraft dieses sonderbaren Staatengebildes: Was sind hier Doktrinen, Grundsätze, Lehren, Anschauungen des Kommunismus? Nichts anderes als Mittel zur Zersetzung, zur Schwächung der anderen, der Dummen in Europa, nichts anderes als Hilfsmittel einer einzigen gewaltigen Idee, des russischen Imperialismus. Das Gesicht des primitiven Asiens schaut einen an, im letzten unverständlich dem Menschen aus der überalterten Kulturwelt Europas.

»Wahret eure heiligsten Güter – wenn ihr noch welche habt!« sprach Degener. Er meinte es wohl nicht sehr tief, aber Linde mußte lange darüber nachdenken, auch über den Nachsatz.

Natürlich versuchten die maßgebenden Kommissare, zu ernsthaften Verhandlungen zu kommen. Was sollte in ihren Augen der Besuch auch sonst für einen Zweck haben? Degener ging ihnen auch nicht aus dem Wege. Er betonte aber, daß es sich zunächst um nichts anderes als eine gegenseitige Fühlungnahme handeln könne. Schriftliche Vorschläge hätte er nicht zu machen, könne aber solche entgegennehmen. Dagegen wolle er ernsthaft über eine Verlängerung der Luftroute in das südliche Rußland, sei es auch bis zur indischen Grenze, verhandeln. Die Herren verstanden sofort. Es lag das ja auch in ihrer Linie.

So konnte also die Presse von ernsthaften Verhandlungen unbekannten Inhalts mit den Sowjets berichten.

Jetzt sahen die Weststaaten ein, daß ein Verlust des Alumnits – wenigstens im Augenblick – nur noch durch Verhandlungen, nicht mehr mit Gewalt verhindert werden konnte.

Harsen zwang die Welt an den Verhandlungstisch. Jedenfalls schien es so zu stehen, als ein Ereignis eintrat, welches alles über den Haufen zu werfen drohte.

Auf Harsen wurde ein Attentat verübt.

*

Es war nicht so, wie es in den Romanen immer steht, daß etwa Linde sich dazwischen warf, und der Held der Geschichte dem Mörder die Waffe aus der Hand schlug, wie es zum Forttreiben der Handlung und zum Sich-Finden der Personen vorzüglich geeignet ist. Nein, die Wirklichkeit ist immer viel nüchterner. Linde war überhaupt nicht dabei. Sie – schlief ihre Moskauer Reise aus. Und die Entfernung war auch viel zu weit, als daß Harsen an den Verbrecher herankommen konnte. Es war nämlich mitten auf dem Marktplatz zur Mittagszeit. Der andere kam in Postbotenuniform auf dem Motorrad an, hielt, als wolle er dem Doktor ein Telegramm geben und schoß.

Der Mann verwundete auch Harsen nicht, wie es in Romanen zum Zwecke rührender Krankenpflege tunlich erscheint, sondern er schoß glatt vorbei. Auch Harsen schoß jetzt nicht den davonrasenden Motorradfahrer nieder, wie es dem Gerechtigkeitsgefühl der Leser entsprechen würde. Er tat es schon aus dem Grunde nicht, weil er gar keine Waffe bei sich hatte.

Nein, die Sache kam ganz anders. Der Mann kam allerdings nicht weit. Als er durch die Luftschutzpanzerhalle – jede Straße hatte ja solche – hindurch wollte, klappte ein Passant auf der Ausgangsseite das Tor zu. Der Mann stürzte. Als er sich wieder aufgerappelt hatte und merkte, daß Knochen und Rad noch heil waren, stand der Doktor neben ihm und nahm das Schießeisen aus seiner Tasche.

»Was kriegen Sie dafür?«

Der andere schwieg.

»Für Geld – für Geld wollen Sie einen Menschen niederschießen?«

Der andere senkte den Kopf. Harsen betrachtete ihn eine ganze Weile. Wirklich – einer, der sich noch schämen konnte. – Ja – das Geld!

»Kopf hoch!«

Der andere tat es. Harsen holte aus und gab ihm eine Maulschelle, daß der Mann in die Ecke flog. Dann machte er das Tor auf:

»Nun aber weg!!« – –

Es würde nicht leicht sein, zu beschreiben, was in dem Gemüt des jetzt davonfahrenden Menschen vorging.

Später fragte dann einmal der Kriminalrat: »Warum haben Sie ihn laufen lassen, Herr Doktor?«

Harsen zuckte die Schultern: »Ach wissen Sie, das kann man manchmal hinterher gar nicht sagen. Vielleicht habe ich mir gedacht: Der Kerl kriegt nun lebenslänglich, und der eigentlich Schuldige, der Urheber, freut sich noch, daß er dann kein Geld zu zahlen braucht.«

Im Nonnenkloster meinte Lisbeth Peters, wenn der Doktor einen Menschen geschlagen hätte, ließe er ihn nicht auch noch bestrafen. So sei er nun einmal. »Das ist richtig«, sagte Linde, »aber als er ihn schlug, wußte er schon, daß er ihn laufen lassen wollte. So ist er nämlich auch.« Es widersprach keine. Wenn Linde ihn nicht kannte, wer sonst?

Vor dem Verwaltungsgebäude gab es nach dem Attentat einen großen Auflauf. Tausende strömten zusammen. Immer wieder mußte Harsen sich am Fenster zeigen. Ja, er war wohlauf und munter. Gott sei Dank! Daß er dem Manne eine runter gelangt hatte, war prachtvoll. Aber daß er ihn laufen ließ …? Die Masse will nun einmal ihr Opfer sehen. Die Masse ist ein Kind und Kinder sind grausam. Erst als man erfuhr, was Harsen zum Kriminalrat gesagt hatte, verstand man. Ja, das war richtig! Die Kleinen hängt man, und die Großen läßt man laufen. Gut, daß ihr Doktor nicht so war!

Aber man konnte es ihm doch anmerken, daß ihm die Sache nahe gegangen war. Den eigentlichen Grund wußte aber niemand außer Linde, und diese auch nur, weil er mit ihr darüber sprach. Er nahm sie mit in sein Haus und führte sie auf den Boden. Was hier oben gesprochen wurde, wird Linde niemals wieder aus dem Gedächtnis verlieren.

Harsen schob seinen Arm unter den ihren: »Die Sache heute mittag hat mir doch zu denken gegeben. Es scheint so, daß die anderen jetzt mutmaßen, es gäbe im Grunde nur ein einziges letztes Geheimnis um das Alumnit und nur einen einzigen Menschen, der es weiß, also ich. Löscht man diesen Menschen aus, so bricht das Alumnit zusammen, wie ein Kartenhaus, wie eine Seifenblase, wie der Spuk einer einzigen Nacht. Die Menschen haben recht! Wohl gibt es manche Einzelheiten, ohne deren Beachtung die Verstellung des Alumnits nicht gelingen kann. Aber diese werden früher oder später doch bekannt werden. Aber es gibt tatsächlich ein letztes Geheimnis, welches auf einem so abseitigen Gebiete liegt, daß wohl keiner darauf kommen wird. Und dieses Geheimnis weiß nur meine alte Mutter noch. Stößt ihr etwas zu, und schickt man mich von dieser Erde fort, dann ist es fraglich, was aus dem Alumnit werden wird. Deshalb ist es jetzt Zeit, daß ich einen Menschen einweihe, zu dem ich Vertrauen habe wie zu mir selbst. Das, Linde, sind Sie!

Sollte der Notfall eintreten, dann sind Sie Erbe des Geheimnisses, der Sachwalter für Deutschland. Wenn es für Ihre Schultern zu schwer werden sollte, übergeben Sie die Aufgabe Ihrem Vater, möglichst aber nicht, solange er noch im Dienste des Staates steht. Er könnte in Gewissenskonflikt kommen. Der Staat ist nicht immer frei in seinen Entschließungen gegenüber seinen Nachbarn.

Sehen Sie hier einmal hinaus!«

Damit stieß er das Bodenfenster auf. In langer Reihe lagen die Schmelzöfen da. Harsens Haus stand fast, aber nicht ganz genau, in ihrer Verlängerung.

»Da liegen unsere Sorgenkinder! – Und nun, Linde, muß ich Sie an etwas aus der Chemiestunde erinnern. Es gibt gewisse recht einfache chemische Verbindungen, wie zum Beispiel das Berliner Blau, welche aber nur zustande kommen, wenn ein dritter Stoff, meist ein Metall, dabei anwesend ist. Worauf das beruht, wissen wir heute noch nicht. Man nennt diese Stoffe Katalysatoren. Sagen wir, sie regen die Verbindung an, sind gleichsam die treibende Schwiegermutter.

Meine Erfindung beruht nun darin, daß ich herausgefunden habe, daß auch elektrische Wellen, namentlich Ultrakurzwellen, solche Anreger sein können. Ich kam darauf, weil die Lichtwellen in der Fotografie ja auch nichts anderes sind. Sie regen die Trennung des Bromsilbers an. Ultrakurzwellen ähneln ja in vielem den Lichtwellen. Von diesem Gedanken ausgehend war es nicht schwer, die richtige Wellenlänge zu finden, um die Atome im Schmelzbad anders zu ordnen, als im Aluminium. Alumnit ist nichts anderes, als richtig geschichtetes Aluminium. Sie können beide auch vergleichen mit gebundenem und ungebundenem Beton.

Das ist das ganze Geheimnis! – Und nun sehen Sie auf den Öfen die sogenannten Blitzableiter. Sie sind zugleich Antennen. Hier die beiden Schienen und die Kästen« – er schloß eine Kammer auf – »sind die Sender, die aus der Lichtleitung gespeist werden. Es ist hier, wie Sie sehen, äußerlich nichts anderes, als meine Dunkelkammer mit Schalen, Flaschen usw., alles Attrappen.«

Dann erklärte er ihr die Einzelheiten und ließ sie zur Übung eine Senderöhre auswechseln.

Linde war das alles wie ein Traum, ein schmerzlicher, wehmütiger Traum. Der Anlaß, das Attentat war es, was ihr ans Herz gegriffen hatte.

Harsen führte sie dann wieder hinunter. Im Vorraum stand seine Mutter, die von allem wußte. Sie stand aufrecht und gefaßt da. An die Kaiserin in der Revolution mußte Linde denken. Aber dann geschah es doch, daß Harsens Mutter ihren Kopf in die Hände nahm und einen Kuß auf die lebenswarmen Lippen gab. Sie sprach dabei kein Wort, und auch Linde blieb stumm. Zungen müßen schweigen, wenn die Augen reden. –

Sie fuhren zurück. Die Arbeit umfing sie wieder. Der Marschtritt des Lebens schlug sie in seinen Bann. – – –

Beim Abendbrot in der Kantine war Linde ein schweigsamer Gast. Die anderen achteten das und deuteten es in ihrer Art, nicht allzu fern der Wirklichkeit. So hatten sie Gesprächsstoff übergenug, als Linde aufbrach und in ihr Zimmer ging.

Diesen Abend war sie ganz allein mit sich und ihren Gedanken, und es wird Harsen wohl auch nicht viel anders ergangen sein. Sie schrieb einen Brief nach Hause, aber er wollte nicht recht glücken, einer an Thea nun schon gar nicht. Der Schlaf wollte auch nicht kommen. Zuviel war heute auf sie eingestürmt. Schmerz und Wehmut, Glück und Freude, alles riß an ihrem Herzen, riß sie hin und her, bis schließlich doch das Glück Sieger blieb, und der Schlummer sie in seine Arme nahm. Goldenes Haar umrahmte das Gesicht, auf dem der Schimmer seliger Freude lag.

*

Ein geglückter Anschlag hätte die Rüstungsstaaten aus schweren Sorgen gerissen, das Mißlingen schwächte ihre Stellung in starkem Maße. Es war auch die Art der Abfertigung des Attentäters, welche in der ganzen Welt, im breiten Publikum, Sympathie erweckte. Das Gerechtigkeitsgefühl der Menschen war erwacht. Diese Art des Kampfes ging ihnen zu weit. Sie fanden es richtig, daß man in dem Urheber den eigentlichen Verbrecher sah und das ausführende Organ nach einer kräftigen Ohrfeige laufen ließ. Daß jener Urheber in den Kreisen der Rüstungsindustrie zu suchen war, galt als ausgemachte Tatsache. Wer anders hätte sonst ein Interesse daran gehabt? Und die Konferenz, die jetzt in Genf zusammentrat, unter dem Schatten dieses Attentats, was war sie denn anders, als ein vorgeschobener Block dieser gleichen Industrie gegen jenen von der Mörderkugel verschont gebliebenen Mann? So kam es, daß das geschickt lanzierte Wort von der »Dividendenkonferenz« Allgemeinauffassung der Menschen wurde.

Am 2. Oktober sollte nun also die Zusammenkunft der leitenden Staatsmänner aller interessierten Länder beginnen, um das Alumnitproblem einer befriedigenden Lösung entgegenzubringen. Über die Art dieser Lösung gingen aber die Anschauungen weit auseinander.

Im Laufe des Vortages und -abends trafen die einzelnen Delegationen ein. Harsen war amtliches Mitglied der deutschen Abordnung. Schon das hatte Schwierigkeiten bereitet. Schließlich war er doch nichts anderes, als ein Privatmann, ein selbständiger Industrieller. Verhandeln konnte man doch nur von Staat zu Staat. Andererseits war er und ihm seine Erfindung der Angelpunkt aller Verhandlungen. Was nützten Beschlüsse, wenn sie an ihm vorbei ins Leere gingen? So hatte man sich denn mit dieser Lösung abgefunden, nachdem ein Staat darauf hingewiesen hatte, es wäre besser, Harsen in Genf, als in Moskau zu sehen. Alles andere mußte dann, wie so oft, durch richtige Regie erreicht werden. Darin war man ja Meister.

Harsen reiste nicht mit dem Sonderzug der deutschen Delegation, sondern aus bestimmten Gründen mit D 4034. Seinen Kraftwagen hatte er vorausgeschickt. Linde Hefften begleitete ihn als seine Sekretärin. Sie kamen schon am Nachmittag auf dem Flugplatz in Genf an und fuhren mit dem Wagen zum Hotel. Die Ankunft war bekannt. So konnte es nicht ausbleiben, daß überall auf den Straßen sich die Bevölkerung staute und den beiden einen Empfang bereitete, wie einem einziehenden Königspaar. Die glasartige Limousine war ja allein schon sehenswert. Den berühmten Erfinder, der die ganze Welt in Aufregung brachte, sich nicht mit eigenen Augen anzuschauen, war ja gar nicht möglich. Und dann noch seine »rechte Land«, die volkstümliche »Abenteuerin von Metz«! Das Publikum war von den beiden so begeistert, daß der Jubel kaum ein Ende nehmen wollte. Die anderen Staatsmänner wurden kaum beachtet, man war sie hier allgemach gewohnt.

Das aber war zweifellos ein Strich durch die Rechnung der Regie. Man hatte den Dr. Harsen und seine Sekretärin im Hotel de la Paix einquartiert, die übrige deutsche Delegation aber im Hotel des Nations. Das war eine wohlberechnete Vereinzelung. Harsen sollte hier in die Umgebung fremder Delegationen gesetzt werden, um möglichst in Einzelbesprechungen an ihn herankommen zu können. Daß dieses Einwickeln in den liebenswürdigsten Formen internationaler Heuchelei geschehen würde, war selbstverständlich.

Als Harsen und Linde an einem kleinen Tische ihr Abendbrot verzehrt hatten, begaben sie sich in die große Halle. An der Mitte der einen Wand, vor einer Gruppe herrlicher Palmen, nahmen sie Platz. Hier konnte man das bewegte Bild des internationalen Lebens in Muße betrachten. Irgendwo auf den säulengetragenen Balkons spielte die Musik, leise und unaufdringlich, nur um einen Tonschleier über das Gesumme der Unterhaltung zu legen. Ueberall saß man und stand in Gruppen beisammen, fast nur Herren, die meisten in elegantem Abendanzug, nur wenige in Grau. Das waren wohl Angelsachsen. Die Romanen lieben den Schein. Aus den Flügeltüren rechts und links kamen immer neue Gestalten, einzeln oder in Paaren. Dann ging jedesmal Bewegung durch die anderen. Man stand auf, begrüßte sich, setzte sich hier oder blieb dort bei einer Gruppe stehen. Es war das Bild, wie es auf allen großen Konferenzen zu sehen ist: Diplomaten vor der Schlacht, dazwischen die Vertreter der Weltpresse, stets auf der Lauer, Neuigkeiten zu erjagen, Sensationen zu erhaschen. Nur eines war vielleicht heute anders. Es war ein Mittelpunkt da, jemand, der ihrer aller Gedanken beschäftigte und zu dem immer wieder die Augen verstohlen hinüberwanderten, jemand, den man isolieren wollte, und der jetzt an dem sichtbarsten aller Plätze saß wie ein König im Kreise seiner Schranzen. Es war nicht so, wie man gehofft hatte, nämlich, einen etwas hilflosen Gelehrten vor sich zu haben. Dieser Harsen war ja ein Bild blühenden Lebens und kraftvoller Sicherheit. Nein, es wird nicht leicht werden mit dem!

Ein kleiner, hübscher, hellgrüner Page stand wie eine Bildsäule neben Harsens Tisch. Sobald einer der Herren der großen Presse sich näherte, kam Bewegung in seine Gestalt: »Herr Dr. Harsen bedauert, er möchte nicht gestört werden!« Das machte Linde dann immer wieder einen diebischen Spaß. Der Junge sollte doch nachher sein Konfekt haben! Linde fühlte sich überhaupt hier sehr wohl. Es war doch mal eine andere Welt, als das ewige Nonnenkloster. Schließlich hat es ja auch jede Frau gerne, wenn die Blicke so vieler Männer sich mit ihr beschäftigen. »Blendend sehen Sie aus!« hatte der Doktor zu ihr gesagt. In seiner Nähe fühlt man sich so geborgen.

Harsen schickte den Pagen zur Musik herauf, ob sie den dritten Satz der Eroika spielen könnten. Es war, als ob die Klänge des einsam über allem Musikschaffen der Welt thronenden Beethoven selbst diese Gesellschaft in den Bann schlug. Als die jagenden Rhythmen angreifender Reitergeschwader ertönten, lauschten die Menschen auf.

»Morgen!« sagte Harsen. Ja, er hatte an morgen, an den Kampf gedacht.

Dann kam ein Zeitungsboy. Die Abendblätter! Es war hier ein kauflustiges Publikum für ihn. Jeder wollte doch sehen, welche Überraschungsbomben von beiden Seiten noch in letzter Stunde geworfen würden.

Richtig! – Da stand eine Notiz über einen Aufsatz, den der General v. Hefften in der Zeitschrift »Die Wehr« veröffentlicht hatte: Militärische Neuerungen aus Alumnit.

Man sah die Aufregung bei den einzelnen Gruppen. Das Blatt wanderte überall umher. Die einen wurden nachdenklich, die anderen gestikulierten lebhaft mit den Händen. Ja, die Nachricht hatte Hand und Fuß. Harsen konnte sehen, daß gerade diese Notiz besprochen wurde, denn über ihr war das große Bild des südafrikanischen Ministers Costers, der morgen die Konferenz leiten sollte. Man hatte sich auf diesen Mann geeinigt, da er weit vom Schuß saß, also als neutral angesprochen werden konnte. Neutral? – Wer konnte denn da überhaupt noch neutral sein?

Da bekam Linde einen Schreck. Zwei Seiten weiter fand sich eine Nachricht mit der Überschrift »Professor Delasse erfindet das Alumnit«. Im Text war ausgeführt, daß der berühmte Pariser Gelehrte durch systematische Versuche dem Geheimnis des Stoffes auf die Spur gekommen sei. Er hoffe, in kurzem die Forschungen abgeschlossen zu haben.

Linde war aus allen Wolken gefallen. Voller Bestürzung gab sie Harsen das Blatt.

»Bluff!« sagte dieser, »die Franzosen dahinten haben schon gegrinst.« Er war guter Laune. »Übrigens recht töricht von den Leuten.«

Jetzt drängte sich doch ein Journalist heran, schob den Pagen einfach beiseite und zeigte dem Doktor die Notiz.

»Was sagen Sie dazu, Herr Doktor.«

Harsen lachte fröhlich über die Schulter hinweg:

»Entensalat, mein Lieber! – Ungeschickt zubereitet!« Dann wandte er sich wieder Linde zu.

Und jetzt kam für sie eine seltsame Stunde. Sie tranken beide einen Wein von den Rebenhügeln des Rheins. Am sie herum wurde das Gesumme immer stärker. Kaum, daß man die Musik noch hörte. Wie nervös, wie erregt alle diese Menschen waren! Konferenz und abermals Konferenz; nach den Bruchstücken der Gespräche schienen diese Leute überhaupt kein anderes Thema mehr zu kennen. Sie erhitzten sich wohl gegenseitig. Nur dieser Eine, der doch der Angegriffene der ganzen Welt war, dem alle Gedanken und alle Feindschaft galten, dieser Eine tat, als wenn ihn das alles gar nichts anginge. Mitten in dem Taumel der Welt sitzend, erzählte er ihr von seiner Jugend. Da saß der kleine Kerl auf der Schulbank, war immer dabei, wenn es einen lustigen Streich galt, lernte mehr schlecht als recht, bis mit dem Alter der Ernst des Lebens in sein Gemüt zog.

Dann fiel der Vater im Krieg, und auch der einzige, der ältere Bruder, blieb in Feindesland. So war er allein tritt seiner Mutter. Es kamen harte Jahre. Oftmals schien es nicht möglich, das Studium fortzusehen. Da erwachte der Kampfgeist in dem jungen Studenten. Er nahm es mit dem Leben auf, und er siegte. Eine wissenschaftliche Arbeit über das Wesen der Metalle eroberte ihm den Lehrstuhl als Privatdozent.

Linde lauschte. Nein, es war keine Weichheit, wenn er das jetzt erzählte, keine Schwäche vor der Entscheidung. Er tat es mit dem sprühenden Erzählertalent, welches sie so oft an ihm bewundert hatte. Das Leben, auch das vergangene, lebte in ihm, und Kraft strömte von ihm aus. Aber es mußte doch ein Grund sein, daß er ihr und in dieser Stunde einen Abriß seines Lebens gab?

»Auf gutes Gelingen, Linde!« sagte er und hob sein Glas.

Sie konnte kaum trinken in diesem Augenblick. Nein, es lag keine Herabsetzung in dieser Anrede, jetzt nicht und auch damals nicht in seinem Haus. Nein, es war etwas anderes, ganz anderes, etwas unsagbar Schönes und Herrliches.

Das Glas zitterte in ihrer Hand. – Es sehen jetzt wohl alle Leute hierher? –

Da war es gut, daß jetzt ihr Vater kam.

*

Große Halle des Völkerbundpalastes. – Weiß, Silber und Grün. – Alles ist hell. – Alles ist modern. –

Auf den Emporen und stehend in den Ecken des Saales die Vertreter der Presse und andere Gäste, hier und da auch eine Gruppe jüngerer Diplomaten, dazwischen Boten mit Akten, Wassergläsern und anderem.

Überall Erregung, überall Spannung.

Es ist großer Tag heute.

An dem Hufeisentisch sitzen die Vertreter von über zwanzig Staaten, die Großmächte natürlich der Mitte zu. Das ist ihr Vorrecht, darauf haben sie Anspruch. Darauf und noch auf vieles, vieles andere.

Auf dem Präsidentenstuhl sitzt also Costers, der Südafrikaner. Wie er sich so mit den Ellenbogen ausdehnt und mit gutmütiger Miene den breiten Kopf über die Runde hinwegdreht, kann man von weitem an einen Schäfer denken. Aber die kleinen blitzenden Augen heben den Eindruck wieder auf. Jedenfalls wird er mit seiner Ruhe ein guter Verhandlungsleiter sein.

Vorerst ist man noch bei der Geschäftsordnung. Dazu verlangt der deutsche Außenminister das Wort. Freiherr v. Altenau ist ein Hüne. Es ist schwer, mit ihm fertig zu werden, weil er sich nie eine Blöße gibt und so kurz redet, daß man keine Zeit hat, die Antwort zu überlegen.

Also Freiherr v. Altenau steht in seiner ganzen imponierenden Größe auf und gibt zu bedenken, ob man nicht die ganze Konferenz aufheben solle. Der Professor Delasse habe ja wohl ebenfalls das Alumnit entdeckt, da wäre natürlich jede weitere Beratung gegenstandslos. – Spricht's und setzt sich.

Das ist eine Aufregung! – Peinlich ist es. Setzt man die Konferenz fort, dann gibt man zu, daß die Nachricht ein Bluff, eine Ente ist. – Und das noch vor dem eigentlichen Beginn! Man ist in der Verteidigung, ehe man noch den Angriff beginnen kann.

Costers dreht den Kopf zur anderen Seite. Die Sache muß doch gerettet werden!

Herr de Landois wird das nun wohl tun müssen. Frankreichs neuer Außenminister erhebt sich. Das schwarze Band des Monokels hängt herab und zittert von dem jähen Fall. Hier hilft alle Rhetorik nichts. Er spricht von dem sehr beachtenswerten Einwand, den man wohl erst innerhalb der Delegationen besprechen müsse. Vielleicht, daß eine kurze Pause …?«

So war es wohl noch am besten.

Nach einer Weile wird verkündet, daß man doch verhandeln wolle. Es sei ja noch keineswegs feststehend, ob der Professor Delasse wirklich endgültigen Erfolg mit seinen sicherlich sehr aufschlußreichen Forschungen haben werde.

So, so!

Aber der Freiherr von Altenau gibt sich nicht zufrieden. Man würde sich ja unsterblich blamieren, wenn man heute Beschlüsse fasse, die in vielleicht drei Tagen völlig überholt seien. Er beantrage, die Konferenz auf heute in sechs Wochen zu vertagen. Bis dahin werde ja wohl Klarheit über die Erfolge des Herrn Professors vorliegen.

Es ist schauderhaft. Man muß wieder beraten. Man muß sogar abstimmen, denn es ist ja ein Antrag. Natürlich wird er abgelehnt.

Damit ist die Ente völlig geplatzt.

Nun geht man endlich in die Verhandlungen hinein. Die anderen wollen etwas von Deutschland, also müssen sie ja zuerst reden. Die Deutschen schweigen. Sie hören sich höflich den Angriff an. Vielleicht denken sie auch an andere Dinge. Was da gesagt wird, weiß man ja im voraus.

Herr de Landois beginnt den Reigen. Er zieht alle Register der Redekunst, hebt die Stimme und senkt sie, flüstert fast und dröhnt dann durch den Saal. Sein Auge, sein Kopf, seine Arme und seine ganze Gestalt arbeiten mit. Er bittet und beschwört, ermahnt und droht.

Es ist eine wunderbare Leistung.

Als er geendet hat, rast der Beifall. Der Eindruck ist so stark, daß man ihn nicht abschwächen will. Das ist ein guter Grund zur Mittagspause. Es war ja auch vorher so ausgemacht, auch wenn Schneider-Creusot, Verzeihung, Herr de Landois nicht so herrlich gesprochen hätte.

Am Nachmittag, spät erst, gibt es dann Fortsetzung. Die Lästerzungen der Konferenz – man erkennt sie immer daran, daß sie die ernstesten Gesichter machen – weissagten, daß jetzt Armstrong und dann Bethlehem reden würden. Es spricht also zuerst Lord Rotherfield, ein langer, hagerer Mann mit eingefallenen Backen und den Überresten blonden Haares auf dem hohen Schädel. Ihm liegt das Salbungsvolle besonders. England würde gern die deutsche Hand ergreifen, wenn diese sich über alle Schranken hinweg entgegenstrecken würde.

Am besten, denkt sich Linde, fährt man dazu mit dem Alumnitflugzeug rüber. Aber sagen darf sie das natürlich nicht. Es würde große Bestürzung geben.

Dann spricht der Lord noch über die Freiheit der Meere, als Ziel doch beider Staaten.

Harsen denkt an die ausgelieferten Schiffe. Freiheit ist, wenn kein anderer etwas darf.

Dann kommt der amerikanische Staatssekretär Fowler. Er hat einen runden kahlen Schädel und einen herabhängenden Schnauzbart. Irgendwie erinnert er an Clemenceau. Linde denkt aber an ein Walroß. Dabei hat sie diese Tiere ganz gerne.

Mister Fowler gilt als sehr geschickter Staatsmann. Aber er ist kein großer Redner, sei es, daß der Schnurrbart hindert, sei es, daß der Lord schon alles gesagt hat oder daß die Sache mit dem Attentat hinderlich ist. Dieser törichte Mensch hat sich in New York der Polizei gestellt, ausgerechnet in New York! Der Mann schwatzt natürlich! Der arme Colt wird Blut und Wasser schwitzen. Ist natürlich selber nicht Schuld dran, aber es bleibt auf ihm hängen!

Jetzt ist das Bedürfnis nicht abzuleugnen, daß man auch Deutschland hören möchte. Es ist so die rechte Zeit. Die Luft ist verbraucht, und einige gähnen schon.

Costers macht eine Handbewegung zu den Deutschen hin. Ob sie nicht …?

Freiherr v. Altenau erhebt sich. Es wird mucksmäuschenstill. Aber es gibt eine Enttäuschung. Die deutsche Delegation wäre sehr dankbar für die soeben empfangenen neuen Gesichtspunkte …

Linde platzt fast raus, aber Harsen gibt ihr einen Puff.

… neuen Gesichtspunkte, zu denen sie erst beratend Stellung nehmen müsse. Er bäte morgen ums Wort.

Es ist Linde beinahe unfaßbar, daß man so einem Manne gar nicht ansehen kann, was er wirklich meint. Sie kennt die Sprache der Diplomaten noch nicht.

Am Ausgang hinten stehen einige Hoteliers. Sie wollen abschätzen, wie lange die Konferenz, also ihr Geschäft, dauern wird und einigen sich auf eine Woche.

Vorerst ist Feierabend.

Es gibt einen gemütlichen Abend im Kreise der Delegation. Linde sitzt zwischen ihrem Chef und ihrem Vater. Der Staatssekretär Wallershausen muß wohl oder übel auf die andere Seite. Harsen tritt ihm seinen Platz nicht ab. Der Minister setzt sich gegenüber: »Ich muß doch die Seele vom Geschäft kennen lernen! – – Bitte, Herr General, Seele und Kopf sind zweierlei, aber ich meine, sie gehören beide zusammen.«

Da prostet Harsen dem Minister und Linde zu und nimmt auch ihren Vater mit hinein.

Linde hat einen ganz roten Kopf, aber freuen tut sie sich doch. – –

Am nächsten Morgen soll ja nun die Rede des deutschen Ministers steigen. Aber es gibt wieder eine Enttäuschung:

»Wie Sie wissen, meine Herren, beabsichtigt die deutsche Regierung, zu einer völligen, befriedigenden und dauerhaften Lösung zu kommen. So dankenswert nun die bisherigen Darlegungen waren, ich möchte doch bitten, zunächst die Ansichten der übrigen interessierten Mächte zu hören. Das Problem könnte zum Beispiel vom Süden oder Südosten Europas her anders gesehen werden, als wir es bisher vernahmen. Verstehen Sie mich richtig, meine Herren, meine einzige Absicht ist die, unsere Vorschläge so vollständig und allseits befriedigend wie nur irgend möglich gestalten zu können.«

Schon sitzt er wieder.

Man hat das nicht erwartet. Man hat an eine lange, ausweichende Rede gedacht. Das hier sieht aber nicht nach Zeitgewinn aus. Zeitgewinn liegt nur im Interesse der Deutschen. Die Serienherstellung der Alumnitflugzeuge bessert ihre Lage von Tag zu Tag. Jetzt spricht der Mann schon am zweiten Tag von »positiven und befriedigenden Vorschlägen«! – Na, woll'n abwarten! Er schadet sich ja selbst durch diese Regie!

So müssen denn erst die anderen heran, die »Kleinaktionäre«, wie man in den Lästerecken der Dividendenkonferenz sagt. Das ist für die nicht angenehm. Die Letzten beißen die Hunde. Es ist ja alles, alles schon gesagt worden. Es ist ja immer wieder dasselbe. Solange es noch im Herzen sitzt, wo keiner hinsehen kann, heißt es: »Wir wollen unsere Geschäfte retten.« Wenn es bis zur Speiseröhre hochgekommen ist – der Kehlkopf sitzt ja daneben – lautet es: »Wir haben Machthunger.« Der hat dann wohl schöne Vornamen wie »Patriotismus«, »Ehre«, »Vertragstreue« und dergleichen. Wenn es dann endlich von der Zunge herunterkommt, hört man: »Im Interesse der Menschlichkeit und der Zivilisation wollen wir die in dem Alumnit liegende Drohung beseitigt wissen.« Wenn so ein Mann sich dann etwas warm geredet hat, heißt es wohl noch: »Nur eine Freigabe des Verfahrens kann die Gefahren beseitigen, die der ganzen Welt drohen. Diese Freigabe mit allen – mit allen Mitteln zu erreichen, sind wir dem Wohle der Völker schuldig. Es liegt in der Hand der deutschen Regierung, dies zu tun, um auch ihr eigenes Volk vor Unheil zu bewahren.«

Immer spricht man von der Regierung, nie von Harsen. Man kann in Deutschland einmarschieren, aber nicht in diesen Mann.

So plätschert es weiter, plätschert oder braust, je nach dem Temperament.

Linde sieht den Minister an. Der hat beide Hände in den Hosentaschen und lehnt sich weit nach hinten über. Mein Gott, denkt sie, wie ein Hase! – Schläft mit offenen Augen! – Und der Doktor? – Der schreibt! – Nanu, ist doch ihre Aufgabe! – Was schreibt er denn? – Sie wirft einen Blick hinüber: Weiß Gott, er schreibt einen Brief! »Liebe Mutter! Wir sitzen hier gerade im Karneval …«

Nein, sind das Männer! Die ganze Welt hat sich verschworen, alle gegen uns, alle sind sie wütend und drohend, nur die, die es angeht, diese beiden tun, als wären sie völlig unbeteiligt. Wirklich, sie haben die Ruhe weg – gründlich!

Mit einemmal hört das Plätschern des Redners auf. Er scheint fertig zu sein. Es läßt sich nicht bestreiten. Plötzlich ist Ruhe im Saal. Komisch, der Minister hat richtig einen Schreck gekriegt. Seine Augen ziehen sich nach oben, wie man es beim Erwachen zu tun pflegt.

»Hat er was gesagt, Harsen?«

»Ich glaube nicht.«

Die immer noch erschrockenen Augen gehen über die Runde. Ob noch jemand Lust hat? Offenbar nicht. Costers sieht her. Na, dann woll'n wir mal! Er hebt lässig die Land und steht langsam auf, zieht sogar die andere Land aus der Tasche.

Wenn er jetzt nur nicht gähnt, denkt Linde.

»Meine Herren, ich danke Ihnen im Namen der deutschen Abordnung für Ihre freimütigen und klaren Darlegungen. Sie haben uns damit unsere Aufgabe wesentlich erleichtert.

Es ist nun also an uns, zu dem Gehörten Stellung zu nehmen und darüber hinaus zu einer Lösung zu gelangen. Ich nehme an, daß wir damit bis zum Abend fertig werden, denn weder Ihnen noch uns ist es um Zeitgewinn zu tun …«

Oha, was ist denn das? Ergibt er sich? – Bewegung kommt in die Menschen. Alles flüstert miteinander.

»… Zeitgewinn zu tun, sondern nur um klare, feste Abmachungen. Die Natur der von uns zu machenden Darlegungen und Vorschläge verlangen es nun aber, sie nur in einer zunächst nichtöffentlichen Sitzung auszusprechen. Ich wäre dankbar, Herr Präsident, wenn Sie eine solche – vielleicht kurz nach dem Mittagessen – ansetzen würden.«

Der Hüne setzt sich wieder und packt seine Akten in die Tasche. Sie tun es alle. – Mittagspause!

Aber es ist eine Pause, in der die Spannung aufs höchste gestiegen ist. Man deutelt, man rät. Die meisten meinen, die Deutschen würden jetzt nachgeben. So etwas ist weniger beschämend, wenn die Presse fehlt. – – –

*

Schon um zwei Uhr geht es wieder an. Die Bänke der Presse sind leer. Die Herren sitzen im Kaffee und entwerfen ihren Stimmungsbericht über die Niederlage der Deutschen.

Im Saal hebt Costers die Klingel:

»Herr Minister Freiherr v. Altenau!«

Da geschieht etwas, was niemand erwartet hat. Es ist nur ein ganz kurzer Augenblick, aber was kann nicht alles in Augenblicken geschehen! Der Staatssekretär Wallershausen ruft den Minister zum Fernsprecher. Im Abgehen – den Blick zu Costers – deutet er mit dem Arm auf Harsen und schon steht dieser als Redner auf. Es ist Regie, natürlich. Aber sie ist gut.

»Meine Herren, als Vertreter des deutschen Delegationsführers beginne ich mit unseren Darlegungen.«

Der Satz steht im Raum, ehe jemand etwas sagen kann. Jetzt geht es auch nicht mehr. »Als Vertreter des deutschen Delegationsführers«, da kann man nichts machen. Verdammte Situation! Gerade das sollte verhindert werden. Der Mann ist frei. Man hat Angst. Er vermasselt womöglich das Konzept!

Linde hat ein rasendes Herzklopfen. Herrgott hilf, alle sind gegen ihn! Aber wie er dasteht, groß und kräftig – wie ein Fechter – wie ein Fechter, der den Degen hebt. – Und wie sie die Ohren spitzen! Wie sie die Körper nach vorne legen! Die springen ja vor Spannung!

Harsen spricht ruhig und klar. Er ist Herr der Situation. Linde kann gut mitkommen im Stenogramm. Er kann zwar fließend französisch, aber er spricht deutsch. Die Dolmetscher übersetzen.

»Meine Herren! Der leitende Gesichtspunkt der deutschen Regierung ist die Aufrechterhaltung des Friedens.«

»Bravo!« – Von mehreren Seiten kommt das. Die Spannung weicht. Die Deutschen wollen ja offenbar nachgeben. Harsen fährt fort:

»Die Handhabung des Alumnits ist der Beweis dafür.«

Nanu? – Die Spannung ist wieder da.

»Wir haben die Panzerung der deutschen Infanterie nicht durchgeführt. Wir haben den Bau des Schlachtschiffs E, der uns zustand, meine Herren, zurückgestellt. Wir haben statt der zwei Torpedoboote nur eins gebaut. Daß dieses eine die Geschwindigkeit eines D-Zuges und Schutz gegen schwerste Geschosse hat, liegt im Wesen des Alumnits. Aber ein einziges Boot kann unter ruhig denkenden Menschen keine Bedrohung sein …«

Harsen hatte die Stimme gehoben, denn es wollte Unruhe aufkommen. Die Geschwindigkeit!!

»Daß die Luftschutzhallen, namentlich die kleinste Größe, auch über Geschütze gestellt werden können, und diesen vollen Schutz geben, bestreite ich nicht. Es wird doch aber niemand behaupten wollen, daß dies Angriffswaffen seien! Sie sind ja viel zu leicht, um damit einen Menschen niederzuschlagen. Sie wissen ferner, daß es nicht einmal des Eingreifens des Staates bedurft hat, um die Lieferung der U-Boot-Teile einzustellen, nachdem die Alumnitwerke die Irreführung mit der Bezeichnung ›Eisbrecher‹ erkannt hatten. Es blieb bei den bekannten vier Booten nach Japan und den beiden an einen anderen Staat.«

»Was?« – »Welcher Staat?« – – Alles ruft durcheinander. Es ist eine Bombe. Niemand hat das gewußt. Lord Rotherfield ist halb aufgestanden vor Erregung. »Welcher Staat?« ruft er noch einmal. Harsen freut sich innerlich. Der Hieb sitzt.

»Es ist der deutschen Regierung selbstverständlich nicht bekannt, um welchen Staat es sich handelt.« – Das ist der zweite Hieb.

»Aber Ihnen!«

»Die Privatperson des Dr. Harsen sollte ja nicht das Wort haben!« – Der dritte Hieb! – »Das Wesentliche dieser leidigen Angelegenheit ist aber doch das, daß die Lieferungen eingestellt worden sind. Die Werke hätten Hunderte von Booten an Sie liefern können. Daß sie es nicht taten, daß sie nicht einmal Vorräte für Deutschland ansammelten, ist doch ein Beweis guten Willens, den nur der wird bestreiten können, der eine besondere Neigung zur Böswilligkeit besitzt.

Unter diesen Umständen sind Zwangsmaßnahmen gegen das – wie Sie auch nachher noch sehen werden – absolut gutwillige Deutsche Reich nichts anderes, als ein Schlag gegen die Menschlichkeit und eine Preisgabe der Zivilisation, ganz abgesehen von dem im Zeitalter des Alumnits völlig offenen Ausgang. – Doch darüber nachher!«

Er macht eine kurze Pause. Es ist ruhig. Das Letzte gibt zu denken. –

»Nun verlangen Sie, meine Herren, daß die deutsche Regierung einen Zwang auf Harsen ausübt, das Geheimnis des Alumnits freizugeben. Unterscheiden Sie bitte zwischen Wollen und Können. Er ist innerhalb der Gesetze ein freier Mann. Die Gesetze in Deutschland erlauben keinen Diebstahl. Die Erfindung ist Eigentum. – Soll das Reich den Diebstahl zum Gesetz erheben, ohne die Achtung der anderen zivilisierten Staaten und Völker zu verlieren? –

Und wenn es das doch täte, meine Herren, wie verhindern wir bei einer Weigerung des Herrn Harsen einen einseitigen Verkauf? Ein solcher ist doch das, was Ihnen allen und Deutschland mit Ihnen so schwere und ernste Sorgen bereitet, denn auch Deutschland wird in den Schmelzöfen von Leichtstadt nichts anderes erzeugen können, als ganz gewöhnliches Aluminium, wenn der Mann fehlt, der allein das Geheimnis der Fabrikation in seinen Händen hält, eben jener Harsen. Niemand sonst in der Fabrik wird das ändern können. Deshalb ist auch alle Werkspionage umsonst gewesen und wird es auch fernerhin bleiben. Deshalb ist es aber auch der größte und gefährlichste Trugschluß, wenn unter Ihnen der Glaube herrschen sollte, man könne durch eine Eroberung Leichtstadts an das Geheimnis herankommen. Es scheint mir, als ob das bisher nicht erkannt worden ist. Die Grundlage dieser ganzen Konferenz ist also ein Trugschluß, meine Herren.«

Harsen hat das ganz ruhig gesprochen, ohne jede Schärfe. Am so mehr wirkte es. Es ist totenstill. Er sieht einen Augenblick zu Boden. Ja, da ist noch etwas zu sagen nötig:

»Nur das Attentat auf mich – entschuldigen Sie, wenn ich diese leidige Angelegenheit berühre –, nur das Attentat hat mich gezwungen. Erben des Geheimnisses zu suchen, die nach meinem Tode Erben auch meines Willens sind. –

Doch ich spreche hier ja nicht für mich. –

Ich frage, ob es für die deutsche Regierung ein anderes Mittel gegen eine Flucht des Harsen – z. B. in einem fremden Flugzeug – gibt, als die rechtzeitige Festnahme ohne Verdachtsbeweis? Und ich frage, ob ein Staat, der so gegen einen doch unbescholtenen Bürger handelt, noch das Recht hat, sich zum Ringe der zivilisierten Nationen zu rechnen, und ob irgend jemand von Ihnen seine Würde so weit erniedrigen könnte?

Ich will keine Antwort, meine Herren, ich brauche keine Antwort! –

Aber da ist noch eine Frage, meine Herren, die entscheidende, die springende Frage: Denken Sie sich einen Mann, der Vater und Bruder auf dem Schlachtfeld verlor, der mit allen Fasern eines glühenden Herzens seinem Vaterland, nur seinem Vaterland dienen will. Was wird ein solcher Mann tun, wenn er sieht, daß er seine Heimat in den Stand setzen kann, sich gegen Zurücksetzung und Demütigung zu wehren, indem er das Alumnit vom Auslande her in voller Macht wirken läßt?«

Harsen hat auch das ganz ruhig gesprochen. Es ist die Kriegserklärung an sie alle hier. Aber er will nicht das Ende verbauen. Der tiefe Ernst der Stimme verhindert das Aufbrausen. Als es doch kommen will, fährt er schon wieder fort:

»Nein, meine Herren, es bleibt uns allen nichts anderes übrig, als zu einer gütlichen Einigung mit diesem Herrn Harsen zu kommen. Dazu aber müssen Sie diesem gestatten, auch seine eigene Meinung zu den Dingen zu sagen. Es ist eben nicht möglich, sich um die Tatsache herumzumanöverieren, daß er der eigentliche Verhandlungspartner ist.«

Seltsam, es ist kein Widerspruch mehr da. Der Mann ist zu groß, als daß ein solcher Erfolg haben könnte. Der Mann ist eben Macht, vielleicht mehr, als mancher von ihnen hier. Das Gespenst Rußlands, Asiens, steht drohend hinter ihm. Langsam beginnt er wieder:

»Ich – Harsen – hätte es anders haben können. Ich hätte die Schätze der Erde zu sammeln vermocht, oder ich hätte meinem Vaterlande in aller Stille die Rüstung geben können, die es unüberwindlich macht. Daß ich das eine nicht tat, geht nur mich etwas an. Das zweite tat ich nicht, weil ich den Frieden will. Es hätte den Krieg bedeutet. Der Krieg ist etwas Männliches. Ich liebe den Krieg, weil ich ein Mann bin. Ich liebe ihn, aber ich hasse seine Folgen. Die Tapfersten fallen, die Minderwertigen erhalten sich ihr Leben. Die besten Väter kommender Generationen fehlen dem Volk, die minder guten geben minder gute Söhne. Das ist das Schreckliche moderner Kriege, daß sie die Völker degenerieren. Meine Herren, das Jahrhundert rückt heran, in dem nicht mehr Völker, sondern Kontinente gegeneinander stehen werden, Asien gegen Europa. Wehe diesem Europa, wenn es nicht die Minderzahl durch die Stärke des einzelnen wettmachen kann, wenn das Erbgut nicht mehr höchste Kraft besitzt. Das gilt wirtschaftlich wie militärisch.

Darum will ich den Frieden, ich und die Regierung meines Landes, des Prellbocks Europas.«

Er wendet sich um. Dort steht der deutsche Minister, breit und stark wie die Säule, an die er sich lehnt. Der Freiherr nickt mit tiefem Ernst. Harsen spricht weiter:

»Das ist das eine, was ich vorausschicken mußte. Nun das zweite, die voraussichtliche Wirkung eines freien Alumnits in der Welt:

Folgen Sie mir zunächst auf die Meere! Es gibt letzthin nur eine Waffe gegen Alumnitschiffe, das Torpedo. Je kleiner, wendiger und schneller das Schiff, desto geringer ist die Treffsicherheit. Dazu kommt der sehr geringe Tiefgang der breit und flach zu bauenden Torpedoboote und kleinen Kreuzer. Ein Torpedo fährt leicht darunter hinweg. Nehmen Sie eine Schlachtflotte, welche Sie wollen, gegenüber einer Flottille Alumnitboote ist sie machtlos. Es bleibt ihr nur die Flucht hinter Netze und Minensperren. Es kann also eine kleine Flotte eines kleinen Staates die Meere beherrschen und jede Schiffahrt lahmlegen, um so mehr, als diese leichten Fahrzeuge eine fast unbegrenzte Fahrtstrecke und eine bisher noch nicht gekannte Geschwindigkeit haben und in den kleinen schnellen Alumnitflugzeugen ein weit reichendes Auge besitzen. Unter diesen Umständen ist ein kleiner Festlandstaat, der nicht auf Zufuhren von Übersee angewiesen ist, jeder auf die See basierten Großmacht überlegen. Ist das Alumnit freigegeben, Lord Rotherfield, so ist England keine Großmacht mehr!«

Das sitzt. Der Lord rutscht auf seinem Stuhl. Er kann das wohl nicht widerlegen. Es ist der Schnitt in die Einheitsfront. Die ganze Größe des Problems ist eben bisher noch nicht erkannt worden. Auch die übrigen Herren fühlen sich unbehaglich.

»Wesentlicher aber noch, meine Herren, ist das Problem in der Luft. Sie kennen den neuen Sport, der in Deutschland aufkommt, kleine tragbare Drachen mit dem kleinen, federleichten Alumnitmotor. Die Menschen fliegen damit, zwar in mäßiger Höhe und Geschwindigkeit, aber sie fliegen doch. Nun, meine Herren, es brauchen das keine Sportsleute, keine Zivilisten zu sein! Was sind dann Hindernisse, Befestigungen, Meeresarme? – Was ist dann noch eine Insel, Lord Rotherfield? –

Aber bleiben wir bei den richtigen, bei Bombenflugzeugen! Daß diese einen Angriff sechs-, achtmal am Tage wiederholen können, daß sie nicht abzuschießen sind, ist Ihnen bekannt. Es gibt kein anderes Mittel gegen sie, als die Eroberung ihrer Flughäfen. Man muß also ein feindliches Land bis zum letzten Winkel erobern, um die letzten Häuser der eigenen Städte zu erhalten. Vom Westen aus gesehen und gegen Deutschland hieße das, man muß bis Königsberg marschieren. Wie sieht es bis dahin im eigenen Lande aus? Oder glauben Sie, daß das deutsche Volk vorher kapitulieren wird? Dazu ist die Lehre von 1918 noch zu frisch! Dies Volk hat sein Kreuz getragen Jahr um Jahr. Und wenn es ein Volk der letzten Goten werden müßte, es nimmt dies Kreuz niemals, niemals mehr! –

Und wenn nun die Basis der Flugzeuge nicht Deutschland, sondern Rußland heißt!? – Sie heißt doch aber so, wenn das Alumnit frei ist!

Wer ist dann überhaupt noch Großmacht?

Die europäischen Staaten jedenfalls nicht!

Und wer besitzt dann Indien? – England nicht! –

Oder nehmen Sie einmal an, die Türkei besäße das Alumnit. Wem gehörte dann machtpolitisch Ägypten und der Suezkanal?

Wer, meine Herren, hätte im Mittelmeer und in Nordafrika einschließlich Marokko und Ägypten etwas zu sagen außer Italien, wenn dieses Land meine Erfindung in der Land hätte?

Kann das Alumnit nicht Spanien zu einer Großmacht erheben?

Meine Herren, der Besitz des Alumnits stößt sämtliche machtpolitische Verhältnisse um. Meere, Gebirge, Befestigungen werden entthront, nur die Größe des Raumes, die Zahl der Bewohner und die wirtschaftliche Unabhängigkeit behalten ihren Wert. Diese Umschichtung der Werte bringt natürlich Reibungen. Niemand will sich gern entthronen lassen. Die völlige Freigabe des Alumnits bringt Ihnen, meine Herren – jawohl! Ihnen selbst – Krieg untereinander.

Weil ich das nicht will, gebe ich es nicht frei!« – – – –

Da steht der Satz! – In jeder Ecke des Saales, in den wirbelnden, kreisenden Gedanken aller Menschen in ihm. Er ist die Entscheidung, wenigstens die eine, die Weigerung. Von der anderen wissen sie noch nichts. Sie wären wohl alle aufgesprungen und hätten getobt. Aber es dauert eine Weile, bis sie mit der Begründung Harsens fertig sind. Jeder denkt nach, wie es seinem Staat ergehen würde. England vor allem denkt nach. Nur de Landois will aufspringen und etwas sagen. Die Erregung zittert auf seinen Lippen. Aber die Stimme des Doktors ist jetzt laut und bestimmt. Sie erstickt jeden Widerspruch:

»Es gibt kein Mittel, meinen Willen zu beugen. Ich habe es in der Hand, das Alumnit zu verwenden, wie ich will, es dahin zu geben, wohin ich es haben möchte, es dem zu verweigern, der es nicht haben soll. Ich kann, wenn ich will, Großmächte absetzen und andere zur Großmacht erheben. Ich bin kein Mann, der vor den Folgen zurückschreckt, und erst recht keiner, der sich sein Ziel abhandeln läßt. Es kann hier kein Verhandeln geben, nur eine Einigung auf Grund dieser Tatsachen. Das heißt also, meine Herren, es hängt von Ihnen ab, ob ich von meiner Macht Gebrauch mache oder in aller Form darauf verzichte.«

Donnerwetter! Was ist das? – Ein Keulenhieb und dann ein richtiges Angebot? – Die Augen der anderen sind ganz groß geworden. Es ist eine Überraschung.

»Sie wissen, meine Herren, daß ich den Frieden will, und das Gegenteil nicht scheue. Nun gut, lassen Sie uns einen Pakt machen: Ich verzichte auf jede Bevorrechtung eines fremden Staates und auf jede militärische Ausnutzung meiner Erfindung über den bisherigen Nahmen hinaus. Das Deutsche Reich übernimmt die Garantie dafür. Ihre Gegenleistung, meine Herren, hätte darin zu bestehen, daß Sie den Frieden Europas sichern.

Sie selbst, meine Herren, haben den Weg dazu gewiesen und haben ihn im Friedensvertrag von Versailles niedergelegt, die Abrüstung auf gleichen Stand mit Deutschland – auf genau den gleichen, meine Herren! Jede Ungleichheit entwürdigt Sie und uns. Sie brauchen also gar nichts anderes zu tun, als Ihren eigenen damaligen Willen zu vollstrecken. Mehr verlange ich nicht, aber auch kein Deut weniger. Der umgekehrte Weg, also weitere Rüstungszugeständnisse an Deutschland, kommt nicht in Frage. Wir wollen keinen Mann mehr und kein Geschütz, keine 100-Zentimeter-Haubitze, die von einem Pferd gezogen werden kann. Wir wollen nicht Waffen, sondern Frieden, Frieden auf Ehre gegründet!

Dann, aber auch nur dann, werden Sie auch Ihre Schwerindustrie, die Arbeitsmöglichkeit von Millionen Ihrer Arbeiter und Quelle Ihres Wohlstandes erhalten können. Der Vertrag, der jetzt an Sie verteilt wird, enthält die Einzelheiten darüber, die Selbstbeschränkung meines Werks auf bestimmte Warengattungen. Ich gebe Ihnen viel, sehr viel, meine Herren; Sie mir nur das, was Sie schon 1919 versprochen haben. Um Ihnen das leicht zu machen, also die Prestigefrage auszuschalten, haben wir um Ausschluß der Öffentlichkeit gebeten. Was hier gesprochen wurde, ist geheim und bleibt es auch meinerseits.

Und nun, meine Herren, ein Schritt, der die Folge Ihrer Drohungen ist: Am jeden Druck auf mein Vaterland oder auf die gastliche Schweiz, mich unschädlich, mich dingfest zu machen, aus dem Wege zu gehen, begebe ich mich jetzt ins Ausland. Mein Wagen steht vor der Tür, mein Flugzeug ist bereit. In diesem Ausland erwarte ich Ihre Entscheidung, Ihr Ja oder Nein, nichts anderes. Ich erwarte sie bis morgen mittag durch den Deutschlandsender. Ihr Ausweichen oder Ihr Nein bedeutet den Abschluß mit jener fremden Macht.

Was dann kommt, wissen Sie! – Schonen Sie Ihre Völker!« –

* * *

 


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