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Mein näherer Umgang und mein Briefwechsel mit Schiller fallen in die Jahre 1794 bis 1797; vorher kannten wir uns wenig, nachher, wo ich mich meistenteils im Auslande aufhielt, schrieben wir uns seltener. Gerade der erwähnte Zeitraum war aber ohne Zweifel der bedeutendste in der geistigen Entwicklung Schillers. Er beschloß den langen Abschnitt, wo Schiller seit dem Erscheinen des »Don Carlos« von aller dramatischen Tätigkeit gefeiert hatte, und ging unmittelbar der Periode voran, wo er, von der Vollendung des »Wallensteins« an, wie im Vorgefühl seiner nahen Auflösung, die letzten Jahre seines Lebens fast mit ebenso vielen Meisterwerken bezeichnete. Es war eine Krise, ein Wendepunkt, aber vielleicht der seltenste, den je ein Mensch in seinem geistigen Leben erfahren hat. Das angeborene, schöpferische Dichtergenie durchbrach, gleich einem lange angeschwollenen Strome, die Hindernisse, welche ihm zu mächtig angewachsene Ideenbeschäftigung und zu deutlich gewordenes Bewußtsein entgegensetzten, und es trug aus diesem Kampfe selbst die Form idealer Notwendigkeit reiner und klarer heraus. Den glücklichen Erfolg dieser Krise verdankte Schiller der Gediegenheit seiner Natur und der rastlosen Arbeit, mit der er auf den verschiedensten Wegen der einzigen Aufgabe nachstrebte, die reichste Lebendigkeit des Stoffs in die reinste Gesetzmäßigkeit der Kunst zu binden. Er bedurfte hierzu zugleich der schöpferischen und der beurteilend formenden Kräfte; so sicher er aber sein konnte, daß ihm die ersteren nie entstehen würden, so fanden sich doch in ihm Stunden, Tage des Zweifels, der Kleinmütigkeit, ein scheinbares Schwanken zwischen Poesie und Philosophie, ein Mangel an Zuversicht auf seinen Dichterberuf, wodurch jene Jahre zu einer so entscheidenden Epoche seines Lebens wurden. Denn alles, was ihm in derselben das leichte Gelingen dichterischer Arbeiten erschwerte, erhöhte die Vollkommenheit der endlich zur Reife gediehenen.

Es war im Frühjahre 1794, als Schiller von einer in sein Vaterland gemachten Reise zurückkam, um sich wieder in Jena häuslich niederzulassen. Die große Krankheit, die seine ganze Gesundheit erschüttert hatte und von der er eigentlich nie ganz wieder genas, hatte, verbunden mit der Reise, eine Unterbrechung in allen seinen Arbeiten zur Folge gehabt, und Schiller kehrte mit dem doppelt regen Streben nach Tätigkeit zurück, das eine solche Unterbrechung und eine neue Niederlassung gewöhnlich hervorbringen. Der damals beginnende Umgang mit Goethe trug noch mehr dazu bei, seine geistige Lebendigkeit anzuregen. Es entstand also nun die Frage, was er unternehmen solle, was er mit Hoffnung des Gelingens unternehmen könne. Eine wirklich angefangene Arbeit hatte er, außer den »Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen«, nicht vor sich. Im Dichten hatte er sich seit dem Jahre 1790 nicht versucht. Die Neigung zur Geschichte war erkaltet, dagegen fühlte er sich zu philosophischen Forschungen hingezogen. Indes standen im Hintergründe immer die »Malteser« Ein Schauspiel, zu welchem Schiller den Plan lange mit sich herumtrug. und »Wallenstein«, allein unter den damaligen Umständen wie durch eine große Kluft selbst von dem Entschlusse, sich für einen beider Plane zu bestimmen, geschieden. Ich hatte, um Schiller nahe zu sein, meinen Wohnsitz in Jena genommen und war wenige Wochen vor ihm dort angekommen. Wir sahen uns täglich zweimal, vorzüglich aber des Abends allein und meistenteils bis tief in die Nacht hinein. Alles eben Berührte kam da natürlich zur Sprache, und diese Unterredungen machten die Grundlage zu unserem Briefwechsel aus, der auch größtenteils davon handelt und schrittweise den Weg sehen läßt, auf dem Schiller sich seiner großen letzten Produktionsepoche näherte.

Es gibt ein unmittelbareres und volleres Wirken eines großen Geistes als das durch seine Werke. Diese zeigen nur einen Teil seines Wesens. In die lebendige Erscheinung strömt es rein und vollständig über. Auf eine Art, die sich einzeln nicht nachweisen, nicht erforschen läßt, welcher selbst der Gedanke nicht zu folgen vermag, wird es aufgenommen von den Zeitgenossen und auf die folgenden Geschlechter vererbt. Dies stille und gleichsam magische Wirken großer geistiger Naturen ist es vorzüglich, was den immer wachsenden Gedanken von Geschlecht zu Geschlecht, von Volk zu Volk immer mächtiger und ausgebreiteter emporsprießen läßt. In Schrift gefaßte Werke und Literaturen tragen ihn dann gleichsam mumienartig verschlossen über Klüfte hinweg, welche die lebendige Wirksamkeit nicht zu überspringen vermag. Die Völker aber haben schon immer Hauptschritte zu ihrer Geistesentwicklung vor der Schrift getan, und in diesen dunkelsten, aber wichtigsten Perioden des menschlichen Schaffens und Bildens ist nur die lebendige Einwirkung möglich. Nichts zieht daher die Betrachtung mehr an als jeder, wenn selbst schwache Versuch, zu erforschen, wie ein merkwürdiger Mann des Jahrhunderts die Bahn alles Denkens: das Gesetz an die Erscheinung zu knüpfen, über das Endliche hinaus nach dem Unendlichen zu streben, in seiner individuellen Weise durchlief. Dies hat mein Nachdenken über Schiller oft beschäftigt, und unsere Zeit hat keinen aufzuweisen, dessen inneres geistiges Leben in dieser Hinsicht merkwürdiger zu verfolgen wäre.

 

Schillers Dichtergenie kündigte sich gleich in seinen ersten Arbeiten an; ungeachtet aller Mängel der Form, ungeachtet vieler Dinge, die dem gereiften Künstler sogar roh erscheinen mußten, zeugten die »Räuber« und »Fiesko« von einer entschiednen großen Naturkraft. Es verriet sich nachher durch die bei ganz verschiedenartigen philosophischen und historischen Beschäftigungen immer durchbrechende, auch in den Briefen so oft angedeutete Sehnsucht nach der Dichtung wie nach der eigentlichen Heimat seines Geistes. Es offenbarte sich endlich in männlicher Kraft und geläuterter Reinheit in den Stücken, die gewiß noch lange der Stolz und der Ruhm der deutschen Bühne bleiben werden. Aber dies Dichtergenie war auf das engste an das Denken in allen seinen Tiefen und Höhen geknüpft, es tritt ganz eigentlich auf dem Grunde einer Intellektualität hervor, die alles ergründend spalten und alles verknüpfend zu einem Ganzen vereinen möchte. Darin liegt Schillers besondre Eigentümlichkeit. Er forderte von der Dichtung einen tieferen Anteil des Gedanken und unterwarf sie strenger einer geistigen Einheit, letzteres auf zweifache Weise, indem er sie an eine festere Kunstform band und indem er jede Dichtung so behandelte, daß ihr Stoff unwillkürlich und von selbst seine Individualität zum Ganzen einer Idee erweiterte. Auf diesen Eigentümlichkeiten beruhen die Vorzüge, welche Schiller charakteristisch bezeichnen. Aus ihnen entsprang es, daß er, um das Größeste und Höchste hervorzubringen, dessen er fähig war, erst eines Zeitraums bedurfte, in welchem sich seine ganze Intellektualität, an die sein Dichtergenie unauflöslich geknüpft war, zu der von ihm geforderten Klarheit und Bestimmtheit durcharbeitete. Diese Eigentümlichkeiten endlich erklären die tadelnden Urteile derer, die in Schillers Werken, ihm die Freiwilligkeit der Gabe der Musen absprechend, weniger die leichte glückliche Geburt des Genies als die sich ihrer selbst bewußte Arbeit des Geistes zu erkennen meinen, worin allerdings das Wahre liegt, daß nur die wirkliche intellektuelle Größe Schillers die Veranlassung zu einem solchen Tadel darbieten konnte.

Ich würde es für überflüssig halten, zur Rechtfertigung dieser Behauptungen in eine Zergliederung der Schillerschen Werke einzugehen, die jedem zu gegenwärtig sind, um nicht, welches auch seine Meinung sein möchte, die Anwendung selbst zu machen. Dagegen ist es vielleicht dem Leser angenehm, wenn ich mit wenigem zu entwickeln versuche, wie diese meine Ansicht von Schillers Eigentümlichkeit zugleich und besonders durch meinen Umgang mit ihm, durch Erinnerungen aus seinen Gesprächen, durch die Vergleichung seiner Arbeiten in ihrer Zeitfolge und die Nachforschungen über den Gang seines Geistes entstand.

Was jedem Beobachter an Schiller am meisten als charakteristisch bezeichnend auffallen mußte, war, daß in einem höheren und prägnanteren Sinn als vielleicht je bei einem anderen der Gedanke das Element seines Lebens war. Anhaltend selbsttätige Beschäftigung des Geistes verließ ihn fast nie und wich nur den heftigeren Anfällen seines körperlichen Übels. Sie schien ihm Erholung, nicht Anstrengung. Dies zeigte sich am meisten im Gespräch, für das Schiller ganz eigentlich geboren schien. Er suchte nie nach einem bedeutenden Stoff der Unterredung, er überließ es mehr dem Zufall, den Gegenstand herbeizuführen, aber von jedem aus leitete er das Gespräch zu einem allgemeineren Gesichtspunkt, und man sah sich nach wenigen Zwischenreden in den Mittelpunkt einer den Geist anregenden Diskussion versetzt. Er behandelte den Gedanken immer als ein gemeinschaftlich zu gewinnendes Resultat, schien immer des Mitredenden zu bedürfen, wenn dieser sich auch bewußt blieb, die Idee allein von ihm zu empfangen, und ließ ihn nie müßig werden. Hierin unterschied sich sein Gespräch am meisten von dem Herderschen. Nie vielleicht hat ein Mann schöner gesprochen als Herder, wenn man, was bei Berührung irgendeiner leicht bei ihm anklingenden Saite nicht schwer war, ihn in aufgelegter Stimmung antraf. Alle seltenen Eigenschaften dieses mit Recht bewunderten Mannes schienen, so geeignet waren sie für dasselbe, im Gespräch ihre Kraft zu verdoppeln. Der Gedanke verband sich mit dem Ausdruck, mit der Anmut und Würde, die, da sie in Wahrheit allein der Person angehören, nur vom Gegenstande herzukommen scheinen. So floß die Rede ununterbrochen hin in der Klarheit, die doch noch dem eignen Erahnden übrigläßt, und in dem Helldunkel, das doch nicht hindert, den Gedanken bestimmt zu erkennen. Aber wenn die Materie erschöpft war, so ging man zu einer neuen über. Man förderte nichts durch Einwendungen, man hätte eher gehindert. Man hatte gehört, man konnte nun selbst reden, aber man vermißte die Wechseltätigkeit des Gesprächs. Schiller sprach nicht eigentlich schön. Aber sein Geist strebte immer in Schärfe und Bestimmtheit einem neuen geistigen Gewinne zu, er beherrschte dies Streben und schwebte in vollkommener Freiheit über seinem Gegenstande. Daher benutzte er in leichter Heiterkeit jede sich darbietende Nebenbeziehung, und daher war sein Gespräch so reich an den Worten, die das Gepräge glücklicher Geburten des Augenblicks an sich tragen. Die Freiheit tat aber dem Gange der Untersuchung keinen Abbruch. Schiller hielt immer den Faden fest, der zu ihrem Endpunkt führen mußte, und wenn die Unterredung nicht durch einen Zufall gestört wurde, so brach er nicht leicht vor Erreichung des Zieles ab.

So wie Schiller im Gespräch immer dem Gebiete des Denkens neuen Boden zu gewinnen suchte, so war überhaupt seine geistige Beschäftigung immer eine von angestrengter Selbsttätigkeit. Auch seine Briefe zeigen dies deutlich. Er kannte sogar keine andre. Bloßer Lektüre überließ er sich nur spät abends und in seinen leider so häufig schlaflosen Nächten. Seinen Tag nahmen seine Arbeiten ein oder bestimmte Studien für dieselben, wo also der Geist durch die Arbeit und die Forschung zugleich in Spannung gehalten wird. Das bloße, von keinem andren unmittelbaren Zweck als dem des Wissens geleitete Studieren, das für den damit Vertrauten einen so unendlichen Reiz hat, daß man sich verwahren muß, dadurch nicht zu sehr von bestimmterer Tätigkeit abgehalten zu werden, kannte er nicht und achtete es nicht genug. Das Wissen erschien ihm zu stoffartig und die Kräfte des Geistes zu edel, um in dem Stoffe mehr zu sehen als ein Material zur Bearbeitung.

Nur weil er die allerdings höhere Anstrengung des Geistes, welche selbsttätig aus ihren eignen Tiefen schöpft, mehr schätzte, konnte er sich weniger mit der geringeren befreunden. Es ist aber auch merkwürdig, aus welchem kleinen Vorrat des Stoffes, wie entblößt von den Mitteln, welche andren ihn zuführen, Schiller eine sehr vielseitige Weltansicht gewann, die, wo man sie gewahr wurde, durch genialische Wahrheit überraschte; denn man kann die nicht anders nennen, die durchaus auf keinem äußerlichen Wege entstanden war. Selbst von Deutschland hatte er nur einen Teil gesehen, nie die Schweiz, von der sein »Tell« doch so lebendige Schilderungen enthält. Wer einmal am Rheinfall steht, wird sich beim Anblick unwillkürlich an die schöne Strophe des »Tauchers« erinnern, welche dies verwirrende Wassergewühl malt, das den Blick gleichsam fesselnd verschlingt; doch lag auch dieser keine eigne Ansicht zum Grunde. Aber was Schiller durch eigne Erfahrung gewann, das ergriff er mit einem Blick, der ihm hernach auch das anschaulich machte, was ihm bloß fremde Schilderung zuführte. Dabei versäumte er nie, zu jeder Arbeit Studien durch Lektüre zu machen; auch was er in dieser Art Dienliches zufällig fand, prägte sich seinem Gedächtnis fest ein, und seine rastlos angestrengte Phantasie, die in beständiger Lebendigkeit bald diesen, bald jenen Teil des irgend je gesammelten Stoffes bearbeitete, ergänzte das Mangelhafte einer so mittelbaren Auffassung.

Auf ganz ähnliche Weise eignete er sich den Geist der griechischen Dichtung an, ohne sie je anders als aus Übersetzungen zu kennen. Er scheute dabei keine Mühe, er zog die Übersetzungen vor, die darauf Verzicht leisten, für sich zu gelten, am liebsten waren ihm die wörtlichen lateinischen Paraphrasen. So übersetzte er die Szenen und die »Hochzeit der Thetis« Unter diesem Titel erschien in Schillers Gedichtsammlung 1800 der Chor, der die Vierte Zwischenhandlung der »Iphigenie in Aulis« bildet. aus dem Euripides. Ich gestehe, daß ich diesen Chor immer mit großem Vergnügen wieder lese. Es ist nicht bloß eine Übertragung in eine andre Sprache, sondern in eine andre Gattung von Dichtung. Der Schwung, in den die Phantasie von den ersten Versen an versetzt wird, ist ein verschiedner, also gerade das, was die rein poetische Wirkung ausmacht. Denn diese kann man nur in die allgemeine Stimmung der Phantasie und des Gefühls setzen, die der Dichter, unabhängig von dem Ideengehalte, bloß durch den seinem Werke beigegebenen Hauch seiner Begeisterung im Leser hervorruft. Der antike Geist blickt, wie ein Schatten, durch das ihm geliehene Gewand. Aber in jeder Strophe sind einige Züge des Originals so bedeutsam herausgehoben und so rein hingestellt, daß man dennoch vom Anfang bis zum Ende beim Antiken festgehalten wird. Ich meinte indes nicht vorzugsweise diese Übersetzung, wenn ich von Schillers Eingehen in griechischen Dichtergeist sprach, sondern zwei seiner späteren Stücke. Auch hierin hatte Schiller bedeutende Fortschritte gemacht. Die »Kraniche des Ibykus« und das »Siegesfest« tragen die Farbe des Altertums so rein und treu an sich, als man es nur irgend von einem modernen Dichter erwarten kann, und zwar auf die schönste und geistvollste Weise. Der Dichter hat den Sinn des Altertums in sich aufgenommen, er bewegt sich darin mit Freiheit, und so entspringt eine neue, in allen ihren Teilen nur ihn atmende Dichtung. Beide Stücke stehen aber wieder in einem merkwürdigen Gegensatz gegeneinander. Die »Kraniche des Ibykus« erlaubten eine ganz epische Ausführung; was den Stoff dem Dichter innerlich wert machte, war die daraus hervorspringende Idee der Gewalt künstlerischer Darstellung über die menschliche Brust. Diese Macht der Poesie, einer unsichtbaren, bloß durch den Geist geschaffenen, in der Wirklichkeit verfliegenden Kraft gehörte wesentlich in den Ideenkreis, der Schiller lebendig beschäftigte. Schon acht Jahre, ehe er sich zur Ballade in ihm gestaltete, schwebte ihm dieser Stoff vor, wie deutlich aus den »Künstlern« aus den Versen hervorgeht:

Vom Eumenidenchor geschrecket,
Zieht sich der Mord, auch nie entdecket,
Das Los des Todes aus dem Lied.

Diese Idee erlaubte aber auch eine vollkommen antike Ausführung; das Altertum besaß alles, um sie in ihrer ganzen Reinheit und Stärke hervortreten zu lassen. Daher ist alles in der ganzen Erzählung unmittelbar aus ihm entnommen, besonders das Erscheinen und der Gesang der Eumeniden. Der Äschylische bekannte Chor ist so kunstvoll in die moderne Dichtungsform in Reim und Silbenmaß verwebt, daß nichts von seiner stillen Größe aufgegeben scheint. Das »Siegesfest« ist lyrischer und betrachtender Natur. Hier konnte und mußte der Dichter aus der Fülle seines Busens hinzufügen, was nicht im Ideen- und Gefühlskreise des Altertums lag. Aber im übrigen ist alles im Sinne der Homerischen Dichtung ebenso rein als in dem andren Gedicht. Das Ganze ist nur wie in einer höheren, mehr abgesondert gehaltenen Geistigkeit ausgeprägt, als dem alten Sänger eigen ist, und erhält gerade dadurch seine größesten Schönheiten. An einzelnen aus den Alten entnommenen Zügen, in die aber oft eine höhere Bedeutung gelegt ist, sind auch frühere Gedichte Schillers reich. Ich erwähne hier nur die Schilderung des Todes aus den »Künstlern«:

den sanften Bogen der Notwendigkeit,

der so schön an die ἀγανὰ βέλεα (die sanften Geschosse) bei Homer erinnert, wo aber die Übertragung des Beiworts vom Geschoß auf den Bogen selbst dem Gedanken einen zarteren und tieferen Sinn gibt.

Die Zuversicht in das Vermögen der menschlichen Geisteskraft, gesteigert zu einem dichterischen Bilde, ist in den »Columbus« überschriebenen Distichen ausgedrückt, die zu dem Eigentümlichsten gehören, was Schiller gedichtet hat. Dieser Glaube an die dem Menschen unsichtbar inwohnende Kraft, die erhabene und so tief wahre Ansicht, daß es eine innere geheime Übereinstimmung geben muß zwischen ihr und der das ganze Weltall ordnenden und regierenden, da alle Wahrheit nur Abglanz der ewigen, ursprünglichen sein kann, war ein charakteristischer Zug in Schillers Ideensystem. Ihm entsprach auch die Beharrlichkeit, mit der er jeder intellektuellen Aufgabe so lange nachging, bis sie befriedigend gelöst war. Schon in den Briefen Raphaels an Julius in der »Thalia« in dem kühnen, aber schönen Ausdruck: »als Columbus die bedenkliche Wette mit einem unbefahrenen Meer einging« findet sich der gleiche Gedanke an dasselbe Bild geknüpft.

Dem Inhalte und der Form nach waren Schillers philosophische Ideen ein getreuer Abdruck seiner ganzen geistigen Wirksamkeit überhaupt. Beide bewegten sich immer im nämlichen Gleise und strebten dem gleichen Ziel zu, allein auf eine Weise, daß die lebendigere Aneignung immer reicheren Stoffs und die Kraft des ihn beherrschenden Gedanken sich unaufhörlich zu wechselseitiger Steigerung bestimmten. Der Endpunkt, an den er alles knüpfte, war die Herstellung der Totalität in der menschlichen Natur durch das Zusammenstimmen ihrer geschiedenen Kräfte in ihrer absoluten Freiheit. Beide dem Ich, das nur Eins und ein Unteilbares sein kann, angehörend, aber die eine Mannigfaltigkeit und Stoff, die andre Einheit und Form suchend, sollten sie durch ihre freiwillige Harmonie schon hier auf einen über alle Endlichkeit hinausliegenden Ursprung hindeuten. Die Vernunft, unbedingt herrschend in der Erkenntnis und Willensbestimmung, sollte die Anschauung und Empfindung mit schonender Achtung behandeln und nirgends in ihr Gebiet übergreifen, dagegen sollten diese sich aus ihrem eigentümlichen Wesen und auf ihrer selbstgewählten Bahn zu einer Gestalt emporbilden, in welcher jene, bei aller Verschiedenheit des Prinzips, sich der Form nach wiederfände. Diese, nicht auf entdeckbaren Wegen entstehende, sondern wie durch plötzliches Wunder überraschende Übereinstimmung zu vermitteln, den in sich unabweisbaren Widerspruch beider Naturen durch einen in ihrer Wechselbeziehung aufeinander gegründeten Schein aufzuheben und dem Menschen dadurch in der Erscheinung ein Bild desjenigen zu geben, was außer aller Erscheinung liegt, vermag allein die Richtung in ihm, welche wir die ästhetische nennen. Denn sie behandelt den Stoff mit einer auf dem Gebiete der Sinnlichkeit entsprungenen, nicht von der Idee erborgten und dennoch als Freiheit erscheinenden Selbsttätigkeit.

In »Anmut und Würde« und in den »Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen« ist diese Vorstellungsweise ausführlich dargelegt. Ich zweifle, daß diese mit den gehaltreichsten Ideen und einer seltenen Schönheit des Vortrags ausgestatteten Aufsätze jetzt noch häufig gelesen werden, aber es ist in vieler Rücksicht zu bedauern. Zwar sind beide Werke, und namentlich die Briefe, nicht von dem Vorwurfe freizusprechen, daß Schiller, um seine Behauptungen fest zu begründen, einen zu strengen und abstrakten Weg gewählt und es sich zu sehr versagt hat, seinen Gegenstand auf eine in der Anwendung fruchtbarere Weise zu behandeln, ohne doch dadurch den Forderungen einer Deduktion bloß aus Begriffen wirklich zu genügen. Aber über den Begriff der Schönheit, über das Ästhetische im Schaffen und Handeln, also über die Grundlagen aller Kunst, sowie über die Kunst selbst enthalten diese Arbeiten alles Wesentliche auf eine Weise, über die es niemals möglich sein wird hinauszugehen. In diesem ganzen Gebiet dürfte schwerlich eine Frage vorkommen, deren richtige Beantwortung sich nicht würde bis zu den in diesen Abhandlungen aufgestellten Prinzipien hinaufführen lassen. Dies liegt nicht bloß in der scharfen Absonderung und Begrenzung der Begriffe, sondern fließt bei weitem mehr aus dem viel seltneren Verdienst, alle in ihrem ganzen Umfange, ihrem vollen Gehalte, schon mit der Ahndung aller aus ihnen hervorgehenden Folgerungen hingestellt zu haben. Überhaupt werden die Ideen in diesen Aufsätzen nicht sowohl gespalten und zerlegt als, wenn mir das Gleichnis erlaubt ist, gewissermaßen in Facetten geschnitten, von denen jede ein neues Licht empfängt und zurückwirft. Dies gilt vorzüglich von der letzten Hälfte von »Anmut und Würde«, wo die Unterschiede zwischen verschiedenen Arten der Gesinnung und des Betragens geschildert sind.

Niemals vorher sind diese Materien so rein, so vollständig und lichtvoll abgehandelt worden. Es war aber damit unendlich viel nicht bloß für die sichere Scheidung der Begriffe, sondern auch für die ästhetische und sittliche Bildung gewonnen. Kunst und Dichtung waren unmittelbar an das Edelste im Menschen geknüpft, dargestellt als dasjenige, woran er erst zum Bewußtsein der ihm inwohnenden, über die Endlichkeit hinausstrebenden Natur erwacht. So waren beide auf die Höhe gestellt, welcher sie wirklich entstammen. Sie auf dieser vor der Entweihung jeder kleinlichen und herabziehenden Ansicht, jeder nicht aus ihrem reinen Element entsprungenen Empfindung zu sichern, war im eigentlichsten Verstande Schillers beständiges Bemühen, erschien als seine wahre, ihm durch seine ursprüngliche Richtung gegebene Lebensbestimmung. Seine ersten und strengsten Forderungen ergehen daher an den Dichter selbst, von dem er nicht bloß gleichsam abgesondert wirkendes Genie und Talent, sondern eine der Höhe seines Berufs zusagende Stimmung des ganzen Gemüts, nicht bloß eine augenblickliche, sondern eine zum Charakter gewordene Erhebung verlangt. »Ehe er es unternimmt, die Vortrefflichen zu rühren, soll er es zu seinem ersten und wichtigsten Geschäft machen, seine Individualität selbst zur reinsten, herrlichsten Menschheit hinaufzuläutern.« Die Rezension der Bürgerschen Gedichte, aus welcher diese Stelle genommen ist, hat Schillern den Vorwurf der Ungerechtigkeit gegen diesen mit Recht beliebten Dichter zugezogen. Allerdings ist sie streng. Denn solange der ungefähr gleiche Zustand der Sprache den Gedichten unsrer Zeit in Deutschland allgemeinen Eingang verstattet (eine Bedingung, an welche das Wirken aller Dichtung geknüpft ist), wird Bürger gewiß jede Phantasie auf das poetischste anregen und jedes Gemüt mit einer ihm ganz eignen Wahrheit und Innigkeit ergreifen. Schiller gesteht in einem seiner späteren Briefe auch selbst ein, in jener Kritik das Ideal zu unmittelbar auf einen besonderen Fall angewendet zu haben. Allein an den darin aufgestellten allgemeinen Forderungen würde er darum gewiß nichts nachgelassen haben, und diese verdienen gerade hier, als wahrhaft individuelle und persönliche Ansicht Schillers herausgehoben zu werden. An niemand richtete er diese Forderungen so streng als an sich selbst. Man kann von ihm mit Wahrheit sagen, daß, was auch nur von fern an das Gemeine, selbst an das Gewöhnliche grenzte, ihn niemals berührte, daß er die hohen und edeln Ansichten, die sein Denken erfüllten, auch ganz in seine Empfindungsweise und sein Leben übertrug und im Dichten immer mit gleicher Lebendigkeit, auch bei kleinen Produktionen, vom Streben nach dem Ideale begeistert war. Daher findet sich in seinen Werken so weniges, was man matt oder mittelmäßig nennen müßte. Allerdings trug dazu auch das, was ich früher berührte, sehr viel bei, daß nämlich seine Geisteskraft immer mit gleicher Anstrengung arbeitete und daß es ihm durchaus fremd war, sie bei einer gleichsam erholenden Arbeit eine Abspannung finden zu lassen. Es mag Individualitäten geben, welchen seine ganze Dichtungsweise und seine ganze philosophische Ansicht minder zusagt. Allein nur wenig einzelnes wird man, als seiner nicht würdig, ausstoßen, indem man das andre enthusiastisch erhebt, und der Tadel selbst, um dies hier im Vorbeigehen zu bemerken, wird gerade seine individuellsten Seiten treffen und also die hohe Einheit seiner Natur in ein noch helleres Licht stellen. Die Strenge seines Urteils über seine frühesten Produktionen spricht eine Stelle in der Bürgerschen Rezension klar und mit Stärke aus, und noch deutlicher die zwei Jahre vor seinem Tode geschriebene Vorerinnerung zu der Sammlung seiner Gedichte. Allein was darin seinen großen und zarten Sinn verletzte, der in dem, was man die zweite Epoche seines Lebens nennen kann, im »Don Carlos« so hell leuchtend hervortrat und seitdem nie durch einen Flecken getrübt ward, ging nicht die Individualität, nicht die Persönlichkeit des Dichters an. Seine hohe, reine, nach Totalität strebende Ansicht der menschlichen Natur und des Lebens spricht auch aus jenen Produktionen. Das in ihnen Verletzende bedurfte nur einer künstlerischen Berichtigung, entsprang nur aus mißverstandenen Begriffen von poetischer Wahrheit, aus noch nicht hinlänglich gefühlter Notwendigkeit der Unterordnung der Teile unter die Einheit des Ganzen, dann im einzelnen aus nicht gehörig geläutertem Geschmack. Zugleich trugen die gewählten Stoffe dazu bei. Im »Carlos« befand sich Schiller wie in einer anderen Sphäre. Hier stellte sich ihm der große Gegensatz weltbürgerlicher Ansicht und sich tief dünkender, beengter Staatsklugheit dar und zeigte ihm von aller Erfahrung absehende Ideen im Kampf mit einer Beschränktheit, die Erfahrung ohne Ideen möglich hält. Unmittelbar daran hing das Schicksal in ihren Volks- und Gewissensrechten gekränkter, in gerechtem Abfall begriffener Provinzen, und in dies große politische Interesse war eine in ihrem ersten Aufwallen reine und schwärmerische und schuldlos und zart erwiderte Liebe verwebt. So umgab dieser Stoff den Dichter wie mit einem höher emportragenden Element. Allerdings entsprang die Wahl desselben aus der ihr vorangehenden Stimmung des Gemütes. Diese zeigt sich auch in der veränderten äußeren Form, dem Verlassen der Prosa, zu der er zwar in den ersten Entwürfen zum »Wallenstein« zurückkehrte, bald aber, wieder zum Verse hingerissen, seinen Irrtum, und nun für immer, erkannte. Die erste Szene zwischen Max und Thekla, früher ausgearbeitet als die ihr vorangehenden, widerstrebte dem prosaischen Ausdruck; sie war die erste in Versen.

Der Poesie unter den menschlichen Bestrebungen die hohe und ernste Stellung, von der ich oben gesprochen, anzuweisen, von ihr die kleinliche und die trockene Ansicht abzuwehren, welche, jene ihre Würde, diese ihre Eigentümlichkeit verkennend, sie nur zu einer tändelnden Verzierung und Verschönerung des Lebens machen oder unmittelbar moralisches Wirken und Belehrung von ihr verlangen, ist, wie man sich nicht genug wiederholen kann, tief in deutscher Sinnes- und Empfindungsart gegründet. Schiller sprach, nur auf seine individuelle Weise, darin aus, was seine Deutschheit in ihn gelegt hatte, was ihm aus den Tiefen der Sprache entgegenklang, deren geheimes Wirken er so trefflich vernahm und so meisterhaft wieder zu benutzen verstand. Es liegt in der großen Ökonomie der Geistesentwicklung, welche die ideale Seite der Weltgeschichte gegenüber den Taten und Ereignissen ausmacht, ein gewisses Maß, um welches der einzelne, auch am günstigsten Bevorrechtete sich nur über den Geist seiner Nation erheben kann, um, was dieser ihm unbewußt verlieh, durch Individualität bearbeitet, in ihn zurückströmen zu lassen. Die Kunst nun und alles ästhetische Wirken von ihrem wahren Standpunkte aus zu betrachten, ist keiner neueren Nation in dem Grade als der deutschen gelungen, auch denen nicht, welche sich der Dichter rühmen, die alle Zeiten für groß und hervorragend erkennen werden. Die tiefere und wahrere Richtung im Deutschen liegt in seiner größeren Innerlichkeit, die ihn der Wahrheit der Natur näher erhält, in dem Hange zur Beschäftigung mit Ideen und auf sie bezogenen Empfindungen und in allem, was hieran geknüpft ist. Dadurch unterscheidet er sich von den meisten neueren Nationen und, in näherer Bestimmung des Begriffes der Innerlichkeit, wieder auch von den Griechen. Er sucht Poesie und Philosophie, er will sie nicht trennen, sondern strebt sie zu verbinden, und solange dies Streben nach Philosophie, auch ganz reiner, abgezogener Philosophie, das auch sogar unter uns nicht selten in seinem unentbehrlichen Wirken verkannt und gemißdeutet wird, in der Nation fortlebt, wird auch der Impuls fortdauern und neue Kräfte gewinnen, den mächtige Geister in der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts unverkennbar gegeben haben. Poesie und Philosophie stehen, ihrer Natur nach, in dem Mittelpunkte aller geistigen Bestrebungen, nur sie können alle einzelnen Resultate in sich vereinigen, nur von ihnen kann in alles einzelne zugleich Einheit und Begeisterung überströmen, nur sie repräsentieren eigentlich, was der Mensch ist, da alle übrigen Wissenschaften und Fertigkeiten, könnte man sie je ganz von ihnen scheiden, nur zeigen würden, was er besitzt und sich angeeignet hat. Ohne diesen zugleich erhellenden und Funken weckenden Brennpunkt bleibt auch das ausgebreitetste Wissen zu sehr verstückelt und wird die Rückwirkung auf die Veredlung des einzelnen, der Nation und der Menschheit gehemmt und kraftlos gemacht, welche doch der einzige Zweck alles Ergründens der Natur und des Menschen und des unerklärbaren Zusammenhanges beider sein kann. Das Forschen um der Wahrheit und das Bilden und Dichten um der Schönheit willen werden zum leeren Namen, wenn man Wahrheit und Schönheit da aufzusuchen flieht, wo ihre verwandten Naturen sich nicht zerstreut an einzelnen Gegenständen, sondern als reine Objekte des Geistes offenbaren. Schiller kannte keine andre Beschäftigung als gerade mit Poesie und Philosophie, und die Eigentümlichkeit seines intellektuellen Strebens bestand gerade darin, die Identität ihres Ursprungs zu fassen und darzustellen. Die obigen Betrachtungen knüpfen sich daher unmittelbar an ihn an.

Eine Idee, mit der Schiller vorzugsweise gern sich beschäftigte, war die Bildung des rohen Naturmenschen, wie er ihn annimmt, durch die Kunst, ehe er der Kultur durch Vernunft übergeben werden konnte. Prosaisch und dichterisch hat er sie mehrfach ausgeführt. Auch bei den Anfängen der Zivilisation überhaupt, dem Übergange vom Nomadenleben zum Ackerbau, bei dem, wie er es so schön ausdrückt, mit der frommen, mütterlichen Erde gläubig gestifteten Bund verweilte seine Phantasie vorzugsweise gern. Was die Mythologie hiermit Verwandtes darbot, hielt er mit Begierde fest; ganz den Spuren der Fabel getreu bleibend, bildete er Demeter, die Hauptgestalt in diesem Kreis, indem er sich in ihrer Brust menschliche Gefühle mit göttlichen gatten ließ, zu einer ebenso wundervollen als tief ergreifenden Erscheinung aus. Es war lange ein Lieblingsplan Schillers, die erste Gesittung Attikas durch fremde Einwanderungen episch zu behandeln. Das »Eleusische Fest« ist an die Stelle dieses unausgeführt gebliebenen Planes getreten.

Hätte Schiller das Aufleben der indischen Literatur erlebt, so würde er eine engere Verbindung der Poesie mit der abgezogensten Philosophie kennen gelernt haben, als die griechische Literatur aufzuweisen hat, und die Erscheinung würde ihn lebhaft ergriffen haben. Die indische Poesie, in ihrer früheren Epoche nämlich, hat überhaupt einen mehr feierlichen, frommen und religiösen Charakter als die griechische, ohne darum, gleichsam unter fremder Herrschaft stehend, an eigner Freiheit einzubüßen. Nur am Vorzug des Plastischen möchte sie dadurch wirklich verlieren.

Es ist in hohem Grade zu beklagen, aber auch gewissermaßen zu verwundern, daß Schiller bei seinen Räsonnements über den Entwicklungsgang des Menschengeschlechts auch nicht einmal der Sprache erwähnt, in welcher sich doch gerade die zwiefache Natur des Menschen, und zwar nicht abgesondert, sondern zum Symbole verschmolzen, ausprägt. Sie vereinigt im genauesten Verstande ein philosophisches und poetisches Wirken in sich, letzteres zugleich in der im Wort liegenden Metapher und in der Musik seines Schalles. Zugleich bietet sie überall einen Übergang ins Unendliche dar, indem ihre Symbole die Kraft zur Tätigkeit reizen, allein dieser Tätigkeit nirgends Grenzen stecken und auch das höchste Maß des in sie Gelegten durch ein noch größeres überboten werden kann. Sie hätte daher gerade in Schillers Ideenkreis als ein willkommener Gegenstand erscheinen müssen. Indes gehört die Sprache allerdings der Nation und dem Geschlecht, nicht dem einzelnen an, und der Mensch kann sie, ehe er sie begreifen lernt, lange als ein totes Werkzeug gebrauchen, ohne von dem sie durchdringenden Leben ergriffen zu werden. Unbedingt kann sie daher nicht als ein Bildungsmittel gelten. Es gibt aber dennoch eine, zwar nicht ursprünglich schaffende, allein doch still fortbildende Einwirkung des Menschen auf seine Sprache, und die Sprachen haben ihren höchsten poetischen und musikalischen Gehalt immer in ihrer früheren, dann mit einem besondren Schwunge der Phantasie der Völker, die sie reden, verbundenen Formung. Sie verlieren von diesem Gehalt im Laufe der Zeit, allein ihr Aufsteigen dazu ist wenigstens uns selten sichtbar und bleibt eher problematisch. Wenn man daher von der Betrachtung des wundervollen Baues von Sprachen ganz kulturloser Nationen, sich ihrer Zergliederung, wie der eines Naturgegenstandes, mit offnem und unbefangnem Sinne hingebend, zur Erwägung des in ewiges Dunkel gehüllten ursprünglichen Zustandes des Menschengeschlechts übergeht, so sollte man, da die Sprache mit dem Menschen gegeben ist und vor ihr nichts Menschliches in ihm gedacht werden kann, eher ahnden, daß dieser Zustand ein friedlicher, besonnener, sich keinem tieferen und zarteren Eindruck verschließender gewesen sei und daß gesellschaftliche Verwilderung erst einer späteren Periode angehöre, wo der Kampf widriger Ereignisse mit wilder Leidenschaft die Stimme der eignen Brust übertäubte. Wenigstens würde Schiller auf diesem Wege schwerlich die Schilderung eines Naturstandes, wie sie die »Ästhetischen Briefe« enthalten, notwendig erachtet und überhaupt weniger scharf getrennt haben, was in der entschieden primitivsten Emanation der menschlichen Natur, in der Sprache, als fest vereinigt und innig verschmolzen erscheint.

Der Trieb nach Beschäftigung mit abstrakten Ideen, das Streben, alles Endliche in ein großes Bild zu fassen und es an das Unendliche anzuknüpfen, lag von selbst und ohne fremden Anstoß in Schiller; es war mit seiner Individualität gegeben. Es entwickelte sich am freiesten und lebendigsten in der zweiten und dritten Periode seines Lebens, wenn man die erste seine drei früheren, die vierte seine letzten Trauerspiele, vom »Wallenstein« an, einnehmen läßt. Von »Don Carlos« habe ich in dieser Rücksicht schon gesprochen. Die zuerst in der »Thalia« abgedruckten »Philosophischen Briefe«, mit welchen die »Resignation«, die ein Produkt desselben Jahrs ist, in dem kühnen Schwunge einer leidenschaftlich philosophierenden Vernunft eine auffallende Verwandtschaft hat, sollten den Anfang einer Reihe philosophischer Erörterungen machen. Aber die Fortsetzung unterblieb, und eine neue Epoche des Philosophierens begann für Schiller in »Anmut und Würde«, hauptsächlich begründet durch seine Bekanntschaft mit Kantischer Philosophie. Jene beiden Stücke könnte man nur mit Unrecht als einen Ausdruck wirklicher Meinungen des Dichters selbst ansehen, sie gehören aber zu dem Besten, was wir von ihm besitzen. Die Briefe sind mit hinreißendem Feuer geschrieben und mit einem noch vom Zwange keiner Schule, auch nur von fern, berührten Geiste. Die »Resignation« trägt Schillers eigentümlichstes Gepräge in der unmittelbaren Verknüpfung einfach ausgedrückter großer und tiefer Wahrheiten und unermeßlicher Bilder und in der ganz originellen, die kühnsten Zusammenstellungen begünstigenden Sprache an sich. Den durch das Ganze durchgeführten Hauptgedanken kann man nur als vorübergehende Stimmung eines leidenschaftlich bewegten Gemüts ansehen, aber er ist darin so meisterhaft geschildert, daß die Leidenschaft ganz in der Betrachtung aufgegangen und der Ausspruch nur Frucht des Nachdenkens und der Erfahrung zu sein scheint.

Kant unternahm und vollbrachte das größeste Werk, das vielleicht je die philosophierende Vernunft einem einzelnen Manne zu danken gehabt hat. Er prüfte und sichtete das ganze philosophische Verfahren auf einem Wege, auf dem er notwendig den Philosophien aller Zeiten und aller Nationen begegnen mußte; er maß, begrenzte und ebnete den Boden desselben, zerstörte die darauf angelegten Truggebäude und stellte, nach Vollendung dieser Arbeit, Grundlagen fest, in welchen die philosophische Analyse mit dem durch die früheren Systeme oft irregeleiteten und übertäubten natürlichen Menschensinne zusammentraf. Er führte im wahrsten Sinne des Worts die Philosophie in die Tiefen des menschlichen Busens zurück. Alles, was den großen Denker bezeichnet, besaß er in vollendetem Maße und vereinigte in sich, was sich sonst zu widerstreben scheint: Tiefe und Schärfe, eine vielleicht nie übertroffene Dialektik, an die doch der Sinn nicht verloren ging, auch die Wahrheit zu fassen, die auf diesem Weg nicht erreichbar ist, und das philosophische Genie, welches die Faden eines weitläuftigen Ideengewebes nach allen Richtungen hin ausspinnt und alle vermittelst der Einheit der Idee zusammenhält, ohne welches kein philosophisches System möglich sein würde. Von den Spuren, die man in seinen Schriften von seinem Gefühl und seinem Herzen antrifft, hat schon Schiller richtig bemerkt, daß der hohe philosophische Beruf beide Eigenschaften (des Denkens und des Empfindens) verbunden fordert. Verläßt man ihn aber auf der Bahn, wo sich sein Geist nach einer Richtung hin zeigt, so lernt man das Außerordentliche des Genies dieses Mannes auch an seinem Umfange kennen. Nichts weder in der Natur noch im Gebiete des Wissens läßt ihn gleichgültig, alles zieht er in seinen Kreis, aber da das selbsttätige Prinzip in seiner Intellektualität sichtbar die Oberhand behauptet, so leuchtet seine Eigentümlichkeit am strahlendsten da hervor, wo, wie in den Ansichten über den Bau des gestirnten Himmels, der Stoff, in sich erhabner Natur, der Einbildungskraft unter der Leitung einer großen Idee ein weites Feld darbietet. Denn Größe und Macht der Phantasie stehen in Kant der Tiefe und Schärfe des Denkens unmittelbar zur Seite. Wie viel oder wenig sich von der Kantischen Philosophie bis heute erhalten hat und künftig erhalten wird, maße ich mir nicht an zu entscheiden; allein dreierlei bleibt, wenn man den Ruhm, den Kant seiner Nation, den Nutzen, den er dem spekulativen Denken verliehen hat, bestimmen will, unverkennbar gewiß. Einiges, was er zertrümmert hat, wird sich nie wieder erheben; einiges, was er begründet hat, wird nie wieder untergehen; und was das wichtigste ist, so hat er eine Reform gestiftet, wie die gesamte Geschichte der Philosophie wenig ähnliche aufweist. So wurde die bei dem Erscheinen seiner »Kritik der reinen Vernunft« unter uns kaum noch schwache Kunde von sich gebende spekulative Philosophie von ihm zu einer Regsamkeit geweckt, die den deutschen Geist hoffentlich noch lange beleben wird. Da er nicht sowohl Philosophie als zu philosophieren lehrte, weniger Gefundenes mitteilte, als die Fackel des eigenen Suchens anzündete, so veranlaßte er mittelbar mehr oder weniger von ihm abweichende Systeme und Schulen, und es charakterisiert die hohe Freiheit seines Geistes, daß er Philosophien, wieder in vollkommner Freiheit und auf selbstgeschaffnen Wegen für sich fortwirkend, zu wecken vermochte.

Ein großer Mann ist in jeder Gattung und in jedem Zeitalter eine Erscheinung, von der sich meistenteils gar nicht und immer nur sehr unvollkommen Rechenschaft ablegen läßt. Wer möchte es wohl unternehmen, zu erklären, wie Goethe plötzlich dastand, der Fülle und Tiefe des Genies nach gleich groß in seinen frühesten wie in seinen späteren Werken? Und doch gründete er eine neue Epoche der Poesie unter uns, schuf die Poesie überhaupt zu einer neuen Gestalt um, drückte der Sprache seine Form auf und gab dem Geiste seiner Nation für alle Folge entscheidende Impulse. Das Genie, immer neu und die Regel angebend, tut sein Entstehen erst durch sein Dasein kund, und sein Grund kann nicht in einem Früheren, schon Bekannten gesucht werden; wie es erscheint, erteilt es sich selbst seine Richtung. Aus dem dürftigen Zustande, in welchem Kant die Philosophie, eklektisch herumirrend, vor sich fand, vermochte er keinen anregenden Funken zu ziehen. Auch möchte es schwer sein, zu sagen, ob er mehr den alten oder den späteren Philosophen verdankte. Er selbst mit dieser Schärfe der Kritik, die seine hervorstechendste Seite ausmachte, war sichtbar dem Geiste der neueren Zeit näher verwandt. Auch war es ein charakteristischer Zug in ihm, mit allen Fortschritten seines Jahrhunderts fortzugehen, selbst an allen Begegnissen des Tages den lebendigsten Anteil zu nehmen. Indem er, mehr als irgendeiner vor ihm, die Philosophie in den Tiefen der menschlichen Brust isolierte, hat wohl niemand zugleich sie in so mannigfaltige und fruchtbare Anwendung gebracht. Diese in alle seine Schriften reichlich verstreuten Stellen geben ihnen einen ganz eigentümlichen Reiz.

Eine solche Erscheinung konnte an Schiller nicht unbemerkt vorübergehen. Ihn, der immer über seiner jedesmaligen Beschäftigung schwebte, der die Poesie selbst, für welche die Natur ihn bestimmt hatte und die sein ganzes Leben durchdrang, doch auch wieder an etwas noch Höheres anknüpfte, mußte eine Lehre anziehen, deren Natur es war, Wurzel und Endpunkt des Gegenstandes seines beständigen Sinnens zu enthalten. Plötzlich emporgegangen und jahrelang unbeachtet, wurde sie außerdem gerade in der Zeit und der Gegend, wo sich Schiller damals befand, mit einem Enthusiasmus ergriffen, der noch in der Erinnerung erfreut. Auf welche Weise Kant von Schiller gewürdigt ward, hat Schiller in mehreren Stellen seiner Schriften geäußert, noch mehr aber durch die Tat gezeigt. Er eignete sich die neue Philosophie seiner Natur gemäß an. In den eigentlichen Bau des Systemes ging er wenig ein; er heftete sich aber an die Deduktion des Schönheitsprinzips und des Sittengesetzes. Hier mußte es ihn mächtig ergreifen, das natürliche, menschliche Gefühl in seine Rechte eingesetzt und in seiner Reinheit philosophisch begründet zu finden. Gerade hier hatten die unmittelbar vorher herrschend gewesenen Theorien die wahren Gesichtspunkte verrückt und das Erhabne entadelt. Dagegen fand Schiller, seinem Ideengange nach, die sinnlichen Kräfte des Menschen teils verletzt, teils nicht hinlänglich geachtet und die durch das ästhetische Prinzip in sie gelegte Möglichkeit freiwilliger Übereinstimmung mit der Vernunfteinheit nicht genug herausgehoben. So geschah es, daß Schiller, als er zuerst Kants Namen öffentlich aussprach, in »Anmut und Würde« als sein Gegner auftrat.

Es lag in Schillers Eigentümlichkeit, von einem großen Geiste neben sich nie in dessen Kreis herübergezogen, dagegen in dem eignen, selbstgeschaffenen durch einen solchen Einfluß auf das mächtigste angeregt zu werden; und man kann wohl zweifelhaft bleiben, ob man dies in ihm mehr als Größe des Geistes oder als tiefe Schönheit des Charakters bewundern soll. Sich fremder Individualität nicht unterzuordnen, ist Eigenschaft jeder größeren Geisteskraft, jedes stärkeren Gemüts, aber die fremde Individualität ganz, als verschieden, zu durchschauen, vollkommen zu würdigen und aus dieser bewundernden Anschauung die Kraft zu schöpfen, die eigne nur noch entschiedner und richtiger ihrem Ziele zuzuwenden, gehört wenigen an und war in Schiller hervorstechender Charakterzug. Allerdings ist ein solches Verhältnis nur unter verwandten Geistern möglich, deren divergierende Bahnen in einem höher liegenden Punkte zusammentreffen, aber es setzt von selten der Intellektualität die klare Erkenntnis dieses Punkts, von selten des Charakters voraus, daß die Rücksicht auf die Person gänzlich zurückbleibe hinter dem Interesse an der Sache. Nur unter dieser Bedingung gehen Bescheidenheit und Selbstgefühl, wie es die Bestimmung ihres idealischen Zusammenwirkens ist, wahrhaft in Unbefangenheit über. So nun stand Schiller auch Kant gegenüber. Er nahm nicht von ihm; von den in »Anmut und Würde« und den »Ästhetischen Briefen« durchgeführten Ideen ruhen die Keime schon in dem, was er vor der Bekanntschaft mit Kantischer Philosophie schrieb, sie stellen auch nur die innere, ursprüngliche Anlage seines Geistes dar. Allein dennoch wurde jene Bekanntschaft zu einer neuen Epoche in Schillers philosophischem Streben, die Kantische Philosophie gewahrte ihm Hilfe und Anregung. Ohne große Divinationsgabe läßt sich ahnden, wie, ohne Kant, Schiller jene ihm ganz eigentümlichen Ideen ausgeführt haben würde. Die Freiheit der Form hätte wahrscheinlich dabei gewonnen.

Bei der Art, wie ich hier von der Form rede, meine ich natürlich nicht den Stil. Diesen hat im Historischen und Philosophischen, wie im Poetischen, Schiller sich ganz eigen geschaffen. Was er in einer Stelle seiner Schriften über die Art sagt, wie die Sprache den Ausdruck umhüllen soll, das hat er selbst in hohem Grade erreicht. Wer einen Stil zu würdigen versteht, der nicht den gleichsam schon fertigen Gedanken nüchtern auszudrücken strebt (ein notwendig mißlingendes Bemühen, da der Gedanke erst im Ausdruck seine Vollendung erhält), sondern mit dem er, in jedem Augenblick selbsttätig erzeugt, zugleich hervorzuspringen scheint, der wird den Schillerschen bewundern. Denn indem er den Stempel der Originalität an sich trägt, gibt er zugleich die Regel des nur auf jedes eigene Weise allgemein zu Erringenden.

Was ich hier von Schillers Stil sage, gilt in noch viel prägnanterem Sinne von denjenigen seiner Gedichte, welche vorzugsweise der Ausführung philosophischer Ideen gewidmet sind. Sie erzeugen die Idee, umkleiden sie nicht bloß mit einem dichterischen Schmuck. Sie erfüllen dadurch die Forderung dieser Gattung der Poesie. Der Leser gewinnt die Überzeugung, daß die sich ihm darbietende Idee jenseits einer Kluft liege, über welche der Verstand keine Brücke zu schlagen, die nur die dichterisch begeisterte Einbildungskraft zu überspringen vermag. Der Dichter, der immer nur hervorbringt, was er selbst empfindet, muß, um jene Überzeugung zu bewirken, erst in sich die geeignete Stimmung erzeugen, er muß die Kraft besitzen, die Idee, als gedacht, rein in der dichterischen Darstellung aufgehen zu lassen, und seinen Stoff in die Sphäre des Unendlichen hinüberführen, in welchem allein, nicht auf dem Gebiet des Verstandes, die poetischen Kräfte mit den erkennenden zusammentreffen. Schiller klagt irgendwo, daß es noch kein wahres didaktisches Gedicht gebe. Aber einige der seinigen können, gerade in der von ihm aufgestellten Idee, dafür gelten. Unter diesen spricht vielleicht der »Spaziergang«, in dem sich Schiller zugleich in malerischen Naturschilderungen selbst übertroffen hat, am meisten die Phantasie und das allgemeine Gefühl an. Sonst möchte man in dieser Gattung einige frühere, »Die Götter Griechenlands«, »Die Künstler«, späteren vorziehen, welche der Ausführung der darin angeregten Ideen auf philosophischem Wege nachfolgten. Denn in Schiller selbst entwickelten sich, wie es in einem Dichter nicht anders sein konnte, die philosophischen Ideen aus dem Medium der Phantasie und des Gefühls.

Schillers historische Arbeiten werden vielleicht von einigen nur als Zufälligkeiten in seinem Leben und als durch äußere Umstände hervorgerufen angesehen. Dazu, daß sie eine größere Ausdehnung erhielten, trugen diese Ursachen unleugbar bei, allein an sich mußte Schiller durch seine Geisteseigentümlichkeit ebensowohl zu historischem als philosophischem Studium hingezogen werden. Nur um dies mit wenigen Worten anzudeuten, berühre ich diesen Punkt hier. Wer, wie Schiller, durch seine innerste Natur aufgefordert war, die Beherrschung und freiwillige Übereinstimmung des Sinnenstoffes durch und mit der Idee aufzusuchen, konnte nicht da zurücktreten, wo sich gerade die reichste Mannigfaltigkeit eines ungeheuren Gebietes eröffnet; wessen beständiges Geschäft es war, dichtend den von der Phantasie gebildeten Stoff in eine Notwendigkeit atmende Form zu gießen, der mußte begierig sein, zu versuchen, welche Form, da das Darstellbare es doch nur durch irgendeine Form ist, ein durch die Wirklichkeit gegebener Stoff erlaubt und verlangt. Das Talent des Geschichtschreibers ist dem poetischen und philosophischen nahe verwandt, und bei dem, welcher keinen Funken dieser beiden in sich trüge, möchte es sehr bedenklich um den Beruf zum Historiker aussehen. Dies gilt aber nicht bloß von der Geschichtschreibung, sondern auch von der Geschichtforschung. Schiller pflegte zu behaupten, daß der Geschichtschreiber, wenn er alles Faktische durch genaues und gründliches Studium der Quellen in sich ausgenommen habe, nun dennoch den so gesammelten Stoff erst wieder aus sich heraus zur Geschichte, konstruieren müsse, und hatte darin gewiß vollkommen recht, obgleich allerdings dieser Ausspruch auch gewaltig mißverstanden werden könnte. Eine Tatsache läßt sich ebensowenig zu einer Geschichte, wie die Gesichtszüge eines Menschen zu einem Bildnis bloß abschreiben. Wie in dem organischen Bau und dem Seelenausdruck der Gestalt, gibt es in dem Zusammenhange selbst einer einfachen Begebenheit eine lebendige Einheit, und nur von diesem Mittelpunkt aus läßt sie sich auffassen und darstellen. Auch tritt, man möge es wollen oder nicht, unvermeidlich zwischen die Ereignisse und die Darstellung die Auffassung des Geschichtschreibers, und der wahre Zusammenhang der Begebenheiten wird am sichersten von demjenigen erkannt werden, der seinen Blick an philosophischer und poetischer Notwendigkeit geübt hat. Denn auch hier steht die Wirklichkeit mit dem Geist in geheimnisvollem Bunde. Im Sammeln der Tatsachen, im Studium der Quellen, soweit es ihm vergönnt war, in sie hinabzusteigen, war Schiller sehr genau und sorgfältig. Auch bei seinen poetischen Arbeiten versäumte er nie, sich die historische oder Sachkunde, welche sie erforderten, zu verschaffen. Wenn ihm etwas in dieser Art mißlang, so lag es gewiß nicht an der Emsigkeit seines Strebens, sondern am Mangel von Hilfsmitteln, an seiner Kränklichkeit und anderen zufälligen Umständen. Nur muß man einzelne faktische Unrichtigkeiten nicht immer als Instanzen gegen die Allgemeinheit dieser Behauptung ansehen. Er eignete sich bei diesen Studien zu poetischen Arbeiten natürlich vorzugsweise das Ganze des Eindrucks an. Mit welcher Liebe er sich dem Geschichtsfache widmete, geht aus einem seiner Briefe an Körner hervor. Nur wo er historische Arbeiten bloß für äußere Zwecke, wie für die »Horen«, übernehmen mußte, wurden sie ihm lästig. Sonst war auch gerade in seiner spätesten Zeit die Lust zur Geschichte nicht in ihm erloschen. Er sprach mir, noch als ich ihn das letztemal im Herbst 1802 sah, mit leidenschaftlicher Wärme von dem Plan einer Geschichte Roms, den er sich für höhere Jahre aufsparte, wenn ihn vielleicht das Feuer der Dichtkunst verlassen hätte. In der Tat kommt wohl keine andere Geschichte dieser an dramatischer Größe gleich. Besonders wurde Schiller so lebendig durch die Idee ergriffen, wie sich die größesten welthistorischen Verhängnisse im Altertum und der neueren Zeit gerade an die Örtlichkeit dieser Stadt anknüpften. Man erinnert sich hierbei an Goethes schönen Ausspruch, daß sich von Rom aus die Geschichte ganz anders als an jedem Orte der Welt liest. »Anderwärts liest man von außen hinein, in Rom glaubt man von innen hinaus zu lesen; es lagert sich alles um uns her und geht wieder aus von uns.«

Das Genie in jeder Art der Hervorbringung ist die Spannung der ganzen Intellektualität auf den einen ihr von der Natur angewiesenen Punkt. Von der Beschaffenheit dieses Ganzen hängen zwei, bei jeder intellektuellen Charakterisierung notwendige Bestimmungen ab: das besondre Gepräge des Genies, da es sich in jeder Gattung wieder sehr verschieden gestalten kann, und die Freiheit des Geistes neben und außer demselben zu allgemeinerer Überschauung des intellektuellen Standpunkts. In den Grenzen dieses Typus und dem Verhältnis der darin zusammenwirkenden Potenzen liegen, was jedoch hier nicht der Ort zu entwickeln ist, alle Verschiedenheiten der menschlichen Intellektualität, die in jedem Menschen, wie verdunkeltes immer sein mag, vorzugsweise auf einen Punkt hin bezogen ist. Darum schien es mir notwendig, um Schiller, den jeder als Dichter fühlt, auch, so viel das möglich ist, dem Begriff nach als Dichter zu schildern, vorzüglich von seiner ganzen Geistesrichtung und namentlich von seiner philosophischen zu sprechen. Gerade um sein Dichtergenie zu charakterisieren, redete ich von dem, worin er die Bahn des Dichters zu verlassen schien. Die Schilderung einer großen geistigen Natur setzt notwendig wieder einen genialen Blick in das Wesen und Zusammenwirken aller sich individuell verteilenden Intellektualität voraus. Ich darf daher nicht die Hoffnung nähren, den Leser wirklich ganz auf den Standpunkt geführt zu haben, Schillers Eigentümlichkeit, wie er sie bisher empfunden hat, nunmehr auch klar und entschieden in ihrem Zusammenhange zu übersehen. Bin ich hierin aber auch nur einigermaßen glücklich gewesen, so können Schillers philosophische und historische Bestrebungen nicht bloß als eine vielseitige Geistesbildung, noch weniger aber als ein unsichres Umhersuchen nach seinem wahren Beruf, sondern beide nur als mit der poetischen aus einer und ebenderselben tiefen, reichen und mächtigen Urquelle in ihm hervorbrechend erscheinen. Wie in den Körpern die Stoffe nach Wahlverwandtschaften verschiedenartige Verbindungen eingehen, so war in Schiller die Dichtung innig an die Kraft des Gedanken gebunden. Sie strömte darum nicht weniger frei aus der Anschauung und dem Gefühle hervor. Sie schöpfte vielmehr gerade aus dieser die Einbildungskraft schon durch den zu überwindenden Kontrast steigernden Verbindung ein Feuer, eine Tiefe und Stärke, wie sie auf diese Weise kein andrer älterer noch neuerer Dichter bewiesen hat. Gedanke und Bild, Idee und Empfindung treten immer in ihm in Wechselwirkung, und in den gelungenen Stellen durchdringen sie einander, ohne von ihrer Eigentümlichkeit aufzugeben. Man kann sich im Geiste nichts als ruhend und gelegentlich zur Tätigkeit übergehend, nichts getrennt und abgesondert aufeinander einwirkend denken. Was in ihm ist, ist nur durch Tätigkeit, was er in sich faßt, ist eins, nur verschieden durch Spannung und Richtung, die oft durch den Impuls verschiedener, ja entgegengesetzter Kräfte gegeben wird. Der Gedanke jedes Augenblicks trägt den ganzen in diese Gestaltung gegossenen Geist. Dies energische Erscheinen der ganzen Intellektualität in dem einzelnen Gedanken macht Schiller, was nur aus der Energie der wirklichen Verknüpfung in ihm selbst entsprang, vorzugsweise fühlbar. Das schöne Bild, durch das er in der »Macht des Gesanges« die Dichtung überhaupt charakterisiert: »ein Regenstrom aus Felsenrissen« usw., steht in besonderer Beziehung auf die seinige. Was ihn aber daneben, wenn es auch für seinen Dichterberuf als gleichgültig erscheinen könnte, auszeichnet, ist die Höhe, in der er sich über jeder einzelnen Bestrebung in ihm, selbst über seinem Dichtergenie befindet, einem der mächtigsten und gewaltigsten, welche je die menschliche Brust bewegt haben. Es ist nicht Freiheit bloß, sondern ganz eigentlich Übermacht.

Wenngleich diese ihn sichtbar, auch als Dichter, hob und emportrug, so mußte ebendarum unleugbar auch sein Dichten aus einer doppelt energischen Kraft hervorgehen. Alles Künstlerische und Dichterische trägt zwar den Charakter des Freiwilligen an sich, darum aber fällt doch auch dem Künstler und Dichter nicht ganz ohne Mühe ihr glücklich Los. Auch sie bedürfen der Arbeit, nur einer Arbeit ganz eigner Natur, und diese war Schillern gerade durch die Vorzüge seiner Eigentümlichkeit erschwert. Sein Ziel war ihm höher gesteckt, weil er das Ziel aller Dichtung klarer vor sich sah, ihre verschiedenen Bahnen sicherer übermaß, das ganze Getriebe des geistigen Wirkens, wenn dieser Ausdruck auf das Walten der höchsten Freiheit übergetragen werden kann, heller durchschaute. Er erkannte das Ideal in seiner ganzen, von ihm aber immer erhebend, nicht niederdrückend empfundenen Größe, und indem er, nach seiner eignen lichtvollen Einteilung, durchaus zur Klasse der sentimentalischen Dichter gehörte, so steigerte seine Individualität noch den Begriff dieser Gattung. Zugleich schwebend über seinen eignen und den Leistungen andrer, war er nicht bloß Schöpfer, sondern auch Richter und forderte Rechenschaft von dem poetischen Wirken auf dem Gebiete des Denkens. Es war daher doppelt zu bewundern, daß die den Dichter unbewußt und unerklärbar mit sich fortreißende wahre Naturkraft darum nichts an ihrer Macht in ihm verlor. Hier aber, wie in allem, wirkte wieder die Totalität seiner Natur. Niemand drang so sehr als er auf die absolute Freiheit des sinnlichen Stoffs, auf seine vollendete und von der Idee ganz unabhängige Ausbildung vor der Anschauung und der Phantasie, und daß er dies tat, war nicht etwa Folge theoretischer Ideen. Er schöpfte vielmehr diese erst selbst aus dem gleichen, ihn beherrschenden, mächtigen innern Drange. Was andren sentimentalischen Dichtern begegnete, ebendarum weil sie dies waren, in ihren Werken weniger plastisch zu sein, ihnen weniger sinnliche Gestaltung zu geben, konnte für ihn nie eine Klippe werden. Vielmehr war er wieder in höherem Grade naiv, als es die entschiedene Hinneigung zur sentimentalischen Gattung zuzulassen schien. Seine sich selbst überlassene Natur führte ihn mehr der höheren Idee zu, in welcher sich der Unterschied zwischen jenen Gattungen wieder von selbst verliert, als sie ihn in eine von beiden verschloß, und wenn er dieses Vorrecht mit einigen der größesten Dichtergenies teilte, so gesellte sich dazu noch in ihm, daß er schon in die Idee selbst die Forderung absoluter Freiheit des sich idealisch bildenden Sinnenstoffs legte.

Das bloß Rührende, Schmelzende, einfach Beschreibende, kurz die ganze unmittelbar aus der Anschauung und dem Gefühle genommene Gattung der Dichtung findet sich bei Schiller in unzähligen einzelnen Stellen und in ganzen Gedichten. Ich brauche hier nur an »Die Ideale«, »Des Mädchens Klage«, den »Jüngling am Bach«, »Thekla, eine Geisterstimme«, »An Emma«, »Die Erwartung« u. a. m. zu erinnern, die nur den empfangenen Eindruck wiederzugeben scheinen und in denen man Schillers intellektuelle Eigentümlichkeit nur wie in einem sanften Widerscheine erkennt. Die wundervollste Beglaubigung vollendeten Dichtergenies aber enthält »Das Lied von der Glocke«, das in wechselnden Silbenmaßen, in Schilderungen der höchsten Lebendigkeit, wo kurz angedeutete Züge das ganze Bild hinstellen, alle Vorfälle des menschlichen und gesellschaftlichen Lebens durchläuft, die aus jedem entspringenden Gefühle ausdrückt und dies alles symbolisch immer an die Töne der Glocke heftet, deren fortlaufende Arbeit die Dichtung in ihren verschiednen Momenten begleitet. In keiner Sprache ist mir ein Gedicht bekannt, das in einem so kleinen Umfang einen so weiten poetischen Kreis eröffnet, die Tonleiter aller tiefsten menschlichen Empfindungen durchgeht und auf ganz lyrische Weise das Leben mit seinen wichtigsten Ereignissen und Epochen wie ein durch natürliche Grenzen umschlossenes Epos zeigt. Die dichterische Anschaulichkeit wird aber noch dadurch vermehrt, daß jenen der Phantasie von fern vorgehaltenen Erscheinungen ein als unmittelbar wirklich geschilderter Gegenstand entspricht und die beiden sich dadurch bildenden Reihen zu gleichem Ende parallel nebeneinander fortlaufen.

Wenn man sich vergegenwärtigt, was ich hier über Schillers rastlose Geistestätigkeit und die enge Verbindung seines dichterischen Genies mit der mächtigen Kraft gesagt habe, die in ihm alles in das Gebiet ihres Denkens zog, so wird man jetzt besser die Epoche verstehen, die ich im vorigen als die kritische in seiner poetischen Laufbahn ansah. Jede große poetische Arbeit fordert eine Stimmung und Sammlung des Gemüts, die Schiller, als er nach Jena zurückkehrte, seit Jahren vermißte. Zum Teil lag die Schuld davon wohl in dem Plane zum »Wallenstein«, den er lange bei sich trug, ehe er wirklich Hand an die Arbeit legte. Dieser Stoff war in seinem Umfange zu gewaltig und seiner Beschaffenheit nach zu spröde, um nicht der größesten Zurüstungen vor seiner Ausführung zu bedürfen. Wer dies Gedicht richtig zu würdigen versteht, wird erkennen, daß es eine wahre poetische Riesenarbeit ist; selbst Schillers formender Geist vermochte diesen weit ausgreifenden Stoff doch nur in drei zusammenhängenden Stücken zu bezwingen. Allein auch die Forderungen, welche Schiller an seine theatralischen Werke machte, hatten sich gesteigert; da das schöpferische Genie augenblicklich feierte, trat desto geschäftiger die richtende Kritik, und nicht ohne Besorgnisse, an ihre Stelle. In allem künstlerischen Schaffen verlangt die Zuversicht das Beispiel des schon wirklich Gelungenen. Dies fehlte Schillern hier, nicht nach dem Urteil seiner Nation, aber nach seinem eignen. Die früheren Stücke konnten ihm nicht als Beglaubigungen des Talentes gelten, dessen Entwicklung ihm jetzt allein seiner und der Kunst würdig erschien. »Don Carlos« war durch äußere Umstände in einem langen Intervalle gedichtet worden, und die Einheit und Glut der ersten Auffassung hatten die Länge der Arbeit nicht überdauert. So glaubte Schiller am Anfänge einer neuen Laufbahn zu stehen, und wirklich drückte er, da er sich einmal der Fesseln entledigt hatte, die seinen neuen Aufflug hemmten, der Tragödie ein Gepräge auf, mit dem sie niemals vorher die Bühne betreten hatte. Zugleich fiel dies in eine Zeit, wo Schillers inneres Bestreben vorzüglich ein philosophisches war. Denn es ist nicht zu verkennen, daß zur Zeit unmittelbar nach der Arbeit am »Don Carlos« er bemüht war, die in ihm rege gewordnen philosophischen Ideen zur Klarheit und Bestimmtheit zu bringen. Schon die Wahl des »Don Carlos« zum Gegenstand einer Tragödie war, wie man aus den Briefen über ihn sieht, nicht frei vom Anteil dieses innern, auf Ideen gerichteten Triebes, und dies in seiner Art einzige, im einzelnen mit der ganzen Fülle des Schillerschen Genies ausgestattete, wenngleich in der Form und Zusammenfügung des Ganzen nicht gleich den späteren gelungene Stück verrät die Spuren dieses Ursprungs. Ein innerer auf Ideen gerichteter Trieb war es in der Tat: da er aber in dem Erscheinen der Kantischen Philosophie Nahrung fand, und nachdem er sich einmal in »Anmut und Würde« in bestimmter Klarheit auszusprechen begonnen hatte, lag die vollendete Ausbildung des in diesem Aufsatze angedeuteten und teilweise ausgeführten Systems als eine innere Aufgabe in Schiller, die, seiner Individualität nach, gelöst sein mußte, ehe er in ein andres Gebiet übergehen konnte. Es war ihm unmöglich, etwas Unklares oder Ungewisses in seinem Geiste zurückzulassen, solange er nicht die Hoffnung aufgeben mußte, es zur Klarheit und Gewißheit zu bringen, die Ideen, welche die Grundsäulen seines ganzen intellektuellen Strebens ausmachten, mit denen er sein poetisches Schaffen – das Element seines Lebens-unauflöslich-verschwistert sähe, sobald es ihm Gegenstand der Betrachtung und des Nachdenkens wurde, mußten bis zu ihren Endpunkten hin rein ausgesponnen vor ihm liegen. Beharrlichkeit der Ausdauer war ein charakteristischer Zug bei jeder Arbeit in Schiller, und so ruhte er nicht eher, bis die ihm von seiner innersten Natur gestellte Aufgabe in den »Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen« gelöst war. Bis dahin konnte er aber auch nichts anderes ergreifen. Was seinen Geist anzog, beschäftigte ihn immer ausschließlich und ganz.

Es ist sehr merkwürdig, wie in der Periode, von welcher hier die Rede ist, die beständig in Schiller fortlebende Sehnsucht nach dramatischer Dichtung langsam, aber immer allmählich sich Luft machend, die Oberhand über das philosophische Streben gewann. Im ersten Jahre seiner Rückkehr nach Jena beschäftigten ihn noch ausschließlich die »Ästhetischen Briefe« und gelegentliche historische Arbeiten. Dann blühte die Poesie zuerst nur in kleineren lyrischen und erzählenden Gedichten ihm auf, und die Philosophie näherte sich in den Abhandlungen »Über naive und sentimentalische Dichtung« in mehr leichter und heiterer Form der nun schon herrschend werdenden Arbeit der Phantasie. Endlich begann der »Wallenstein«. So trat Schiller, wie in ein leichteres, ihm eigentümlicheres Element, in die glänzende dichterische Periode seiner letzten Jahre, die dann durch nichts weiter unterbrochen wurde. Sein, wie er uns auch schmerzlich bewegt, großer und schöner Tod führte ihn mitten in einer schon herrlich zurückgelegten und mit immer weiter strebender Kraft verfolgten Laufbahn hinweg.

In jene Periode der Rückkehr Schillers zur dramatischen Dichtung fallt auch der Anfang seines vertrauteren Umgangs mit Goethe, und gewiß als die am stärksten und bedeutendsten mitwirkende Ursach. Der gegenseitige Einfluß dieser beiden großen Männer aufeinander war der mächtigste und würdigste. Jeder fühlte sich dadurch angeregt, gestärkt und ermutigt auf seiner eigenen Bahn, jeder sähe klarer und richtiger ein, wie auf verschiedenen Wegen dasselbe Ziel sie vereinte. Keiner zog den andern in seinen Pfad herüber oder brachte ihn nur ins Schwanken im Verfolgen des eignen. Wie durch ihre unsterblichen Werke, haben sie durch ihre Freundschaft, in der sich das geistige Zusammenstreben unlösbar mit den Gesinnungen des Charakters und den Gefühlen des Herzens verwebte, ein bis dahin nie gesehenes Vorbild aufgestellt und auch dadurch den deutschen Namen verherrlicht. Mehr aber darüber zu sagen, würde teils überflüssig sein, teils verbietet es eine natürliche und gerechte Scheu. Schiller und Goethe haben sich in ihren Briefen selbst so klar und offen, so innig und großartig über dies einzige Verhältnis ausgesprochen, daß so Gesagtem noch etwas hinzuzufügen niemand versucht werden kann.

In dem Briefwechsel mit mir gibt es Stellen, wo Schiller seinem Dichterberufe zu mißtrauen scheint, und Ähnliches findet sich in Körners Lebensbeschreibung angeführt. Ich erwähnte auch dessen schon im Anfänge dieser Vorerinnerung. Solche augenblicklichen Aufwallungen, sowie der sonderbare Mißgriff, sich mehr für epische als dramatische Dichtung geboren zu halten, werden niemanden irremachen, der mit dem menschlichen Kopfe und Herzen vertraut ist. Nie hat einer, wenn man Momente einzelner Verstimmung ausnimmt, so klar und entschieden gewußt, was er, durch seine Natur gedrungen, wollen und suchen mußte, nie einer sein Streben und sein Gelingen so richtig und unbefangen gewürdigt als Schiller; nie war einem mehr als ihm unsichres Umhertappen nach seiner naturgemäßen Bestimmung fremd und verhaßt. Seine Bestimmung aber war offenbar die dramatische Dichtung. Die Schärfe der Einbildungskraft, die alles auf einen Punkt hinführt, die Fähigkeit, auf einen gewaltigen Effekt hinzuarbeiten, die höchste Spannung in der Wirklichkeit hervorzubringen und die erhabenste Lösung in der Idee daran zu knüpfen, welches alles durch Schillers Individualität unmittelbar gegeben war, sagt vorzugsweise dieser Dichtungsart zu, deren Charakter sich, nach Goethes treffender Bemerkung, daraus ableiten läßt, daß sie ihren Gegenstand in die Gegenwart versetzt. Denn auch sie sammelt ihre ganze Wirkung auf einen Endpunkt, verfolgt mehr eine Linie, als sie sich auf eine Fläche verbreitet, und steht, wie auch der Gedanke, in engerem Bunde mit der Zeit als mit dem mehr der Anschauung zusagenden Raume. Wenn Schiller dies und selbst den dichterischen Genius in ihm augenblicklich zu verkennen schien, so war es in den besten Momenten dieses Mißtrauens die Höhe des Ideales, die den Blick schwindeln macht, und die immer am Erreichen des erwünschten Ziels zweifelnde Heftigkeit der tiefen inneren Sehnsucht.

Des Einflusses, den äußere Umstände auf den Wechsel in Schillers Beschäftigungen ausüben mochten, habe ich mit Absicht gar nicht erwähnt. Allerdings zwar wurden die prosaischen Aufsätze großenteils durch die »Thalia« und die »Horen«, die Gedichte durch die Musenalmanache hervorgerufen. Der erste von 1796 veranlaßte geradezu alle, die er von Schiller enthält; keines stammt aus einer früheren Periode. Demungeachtet lag dieser wechselnde Übergang von poetischen zu philosophischen, prosaischen zu rhythmischen Arbeiten hauptsächlich und im ganzen allein in der oben geschilderten Geistesstimmung Schillers. Nur weil das Große, was er in sehnender Erwartung in sich trug, noch nicht seine Reife erlangt hatte, weil die Sammlung und Stimmung des Gemüts noch nicht vollkommen war, welche die einzig mögliche Zurüstung zu künstlerischem Schaffen und Dichten ist, ließ er sich zu Unternehmungen dieser Art gehen, die ihm hernach allerdings bisweilen störend erschienen, allein mehr schienen, als in der Tat waren. Bewundernswürdig blieb dabei, wie diese äußeren Motive ihm niemals Anlaß zu mittelmäßigen Arbeiten wurden und wie die Nötigung (denn so mußte man es oft bei Arbeiten, zu bestimmten Zeiten zugesagt, nennen), sobald sich die glücklich empfangene Idee dem Geiste darstellte, in schöne Freiwilligkeit überging, die jede Spur des äußeren Ursprungs in dem Werke selbst austilgte. Denn niemand wird selbst den weniger bedeutenden unter den Almanachs- und Horengedichten den Stempel echter Genialität abzusprechen vermögen.

Was seine späteren dramatischen Werke vorzugsweise auszeichnet, ist erstlich ein sorgfältigeres und richtiger verstandenes Streben nach einem Ganzen der Kunstform, dann eine tiefere Bearbeitung der Gegenstände, durch die sie in eine größere und reichere Weltumgebung treten und höhere Ideen sich an sie anknüpfen, endlich eine mehr vollendete Austilgung alles Prosaischen durch einen reineren Schwung des Poetischen in Darstellung, Gedanken und Ausdruck. In allen Punkten ist der Begriff der von einem Gedicht zu fordernden Kunst in ihnen gesteigert, und indem die lebendige poetische Form den Stoff vollkommner durchdringt, wird dieser wieder auch in höherem Sinne Natur. In mehreren Stellen seiner Briefe gibt Schiller die größere Rücksicht auf die Form des Ganzen als den eigentlichen von ihm gemachten Fortschritt an und tadelt das Hängen am Einzelnen und die durch Vorliebe geleitete Behandlung der Teile. Viel früher aber spricht er dies höchste Erfordernis eines Kunstwerks wundervoll klar und schön in den »Künstlern« aus. Was er unter einer solchen Behandlung eines dramatischen Stoffes verstand, zeigte er gleich an dem schwierigsten in dieser Hinsicht, am »Wallenstein«. Alles Einzelne in der großen, so unendlich vieles umfassenden Begebenheit sollte der Wirklichkeit entrissen und durch dichterische Notwendigkeit verbunden erscheinen, alle Grundlagen, auf welche der kühne Held sein gefahrvolles Unternehmen stützen wollte, alle Klippen, an welchen es scheiterte, die politische Lage der Fürsten, der Gang des Krieges, der Zustand Deutschlands, die Stimmung des Heers, sollte vor den Augen des Zuschauers dichterisch und anschaulich dargestellt werden. Selten hat ein Dichter größere Forderungen an sich und seinen Stoff gemacht, wenn man Shakespeare ausnimmt, nicht leicht ein zweiter eine solche Welt von Gegenständen, Bewegung und Gefühlen in einer Tragödie umfaßt.

Die auf »Wallenstein« folgenden Stücke zeigen, daß Schiller in gleicher Art fortarbeitete. In der Tat bestand sein Leben darin, daß er als Dichter übte, was er irgendwo vom idealisch gebildeten Menschen überhaupt sagt, so viel Welt, als er mit seiner Phantasie zu erfassen vermochte, mit der ganzen Mannigfaltigkeit ihrer Erscheinungen in sich zu ziehen und in die Einheit der Kunstform zu verschmelzen. Daher sind seine Tragödien nicht Wiederholungen eines zur Manier gewordnen Talents, sondern Geburten eines immer jugendlichen, immer neuen Ringens mit richtiger eingesehenen, höher aufgefaßten Anforderungen der Kunst. Tiefer in sie einzugehen ist meine Absicht nicht. Seine letzten Trauerspiele haben längst das Urteil der Mitwelt erfahren; sie können mit Ruhe das der nachfolgenden Geschlechter erwarten. Lange noch werden sie die Bühne beschäftigen, dann ihren Platz in der Geschichte deutscher Dichtung einnehmen. Der Dichter führt nicht neue Wahrheiten ans Licht, sammelt nicht Tatsachen. Er wirkt in der Art, wie er schafft; der Phantasie aller Zeiten führt er Gestalten vor, die erheben und bilden, er leistet dies in der Form, in die er seine Gegenstände kleidet, in den Charakteren, mit welchen er die Menschheit idealisch bereichert, in seinem eignen, aus allen seinen Werken widerstrahlenden Bilde. So begeisternd und bildend durch Erhebung und Rührung wird auch Schiller lange und mächtig auf seine Nation fortwirken.

Er wurde der Welt in der vollendetsten Reife seiner geistigen Kraft entrissen und hätte noch Unendliches leisten können. Sein Ziel war so gesteckt, daß er nie an einen Endpunkt gelangen konnte, und die immer fortschreitende Tätigkeit seines Geistes hätte keinen Stillstand besorgen lassen; noch sehr lange hätte er die Freude, das Entzücken, ja wie er es in einem Briefe bei Gelegenheit des Plans zu einer Idylle so unnachahmlich beschreibt, die Seligkeit des dichterischen Schaffens genießen können. Sein Leben endete vor dem gewöhnlichen Ziele, aber solange es wahrte, war er ausschließlich und unablässig im Gebiete der Ideen und der Phantasie beschäftigt; von niemand läßt sich vielleicht mit so viel Wahrheit sagen, daß »er die Angst des Irdischen von sich geworfen hatte, aus dem engen, dumpfen Leben in das Reich des Ideales geflohen war«; er lebte nur von den höchsten Ideen und den glänzendsten Bildern umgeben, welche der Mensch in sich aufzunehmen und aus sich hervorzubringen vermag. Wer so die Erde verläßt, ist nicht anders als glücklich zu preisen.


Geschrieben 1830; zuerst erschienen als Einleitung zum Briefwechsel zwischen Schiller und Humboldt.

Gedruckt in der Roßbergschen Buchdruckerei in Leipzig.

 


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