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In dieser nämlichen Nacht schlief Quasimodo nicht. Er hatte eben seine letzte Runde in der Kirche gemacht. Er hatte nicht bemerkt, daß in dem Augenblicke, wo er die Thüren schloß, der Archidiakonus an ihm vorübergegangen war und einige üble Laune gezeigt hatte, als er ihn die große eiserne Eingangspforte, deren weite Flügel so fest als eine Mauer waren, sorgfältig verschließen und verriegeln sah. Der Archidiakonus hatte ein noch verstörteres Aussehen, als gewöhnlich. Seit dem nächtlichen Abenteuer in der Zelle mißhandelte er den armen Quasimodo bei jeder Gelegenheit; aber mochte er ihn schelten, bisweilen sogar schlagen, nichts erschütterte die Geduld und Ergebenheit des treuen Glöckners der Liebfrauenkirche. Von dem, der ihn an Kindesstatt angenommen, duldete er Alles, selbst Schläge, ohne Vorwurf und Klage. Höchstens folgte er ihm unruhig mit den Blicken, wenn der Priester die Thurmtreppe hinaufstieg; aber Claude Frollo hatte selbst keine Lust, der Aegypterin wieder unter die Augen zu treten.
In dieser Nacht also saß Quasimodo auf der Spitze des mitternächtlichen Thurmes und sah auf die unter ihm liegende Stadt herab. Die Nacht war sehr dunkel. Paris bot dem Auge einen verwirrten Haufen schwarzer Massen dar, die da und dort durch den weißlichen geschlängelten Lauf der Seine durchschnitten waren. Quasimodo sah nur noch ein einziges Licht an dem Fenster eines entfernten Gebäudes, das auf der Seite des Thores von Sanct-Anton lag und über die andern Gebäude hervorragte.
Quasimodo war voll unaussprechlicher Unruhe und schien mit seinem einzigen Auge den dunkeln Horizont durchdringen zu wollen. Seit mehreren Tagen war er auf seiner Hut. Er sah fortwährend Leute von verdächtigem Aussehen um die Kirche schleichen, die das Asyl der Aegypterin mit den Augen zu hüten schienen. Er dachte sich undeutlich, daß irgend ein Complott gegen die Unglückliche geschmiedet werde. Er bildete sich ein, daß der Volkshaß sie verfolge, wie ihn, und daß ihr wohl etwas zustoßen könnte. Deßhalb hielt er fleißig Wache auf seinem Thurm; er schlief nicht und blickte voll Mißtrauen in die Nacht hinaus. Die Natur hatte, als eine Art Vergütung, seinem einzigen Auge einen so durchdringenden Blick gegeben, daß es beinahe die andern Organe, welche ihm fehlten, ergänzte. Jetzt erblickte er von der Seine her eine seltsame Bewegung wie wandelnder Schatten. Er verdoppelte seine Aufmerksamkeit. Die Bewegung schien sich der Altstadt zuzuwenden. Uebrigens war nirgends ein Licht zu sehen.
Endlich sah Quasimodo, so dunkel es auch war, die Spitze einer Colonne durch die Straße Parvis hervorkommen und in einem Augenblicke sich auf dem Platze der Liebfrauenkirche ausbreiten. Jetzt schienen sich seine Besorgnisse wegen der Gefahr, die der Aegypterin drohte, zu verwirklichen. Er hatte ein unbestimmtes Gefühl, daß es sich hier um irgend eine Gewaltthat handle, In diesem kritischen Augenblicke ging er mit sich selbst zu Rath und faßte einen besseren und schnelleren Entschluß, als man von ihm bei einem so schlecht organisirten Gehirne hätte erwarten sollen. Sollte er die Aegypterin wecken, damit sie entfliehe? Auf welchem Wege? Die Straßen waren besetzt, die Kirche stieß an den Fluß! Es war kein Schiff da, nirgends ein Ausweg! Es blieb ihm nichts übrig, als sich auf der Schwelle der Liebfrauenkirche niedermachen zu lassen, wenigstens so lange Widerstand zu leisten, bis von irgend einer Seite Hülfe käme. Inzwischen wollte er Esmeralda's Schlaf nicht stören, die Unglückliche erwachte immer zu früh zum Tode. Nachdem einmal Quasimodo einen festen Entschluß gefaßt hatte, beobachtete er die Bewegung des Feindes mit mehr Ruhe.
Die Menschmmasse vor der Liebfrauenkirche schien mit jedem Augenblicke zuzunehmen, doch mußte sie sich in tiefer Stille bewegen, was der Taube daraus schloß, daß weder auf dem Platze noch in den Straßen irgendwo ein Fenster geöffnet wurde. Plötzlich erglänzte ein Licht, und einen Augenblick darauf flackerten mehrere Fackeln über den Häuptern der Menschenmasse. Quasimodo sah jetzt deutlich eine große Menge Männer und Weiber, in Lumpen gekleidet und mit Waffen aller Art versehen. Er erinnerte sich unbestimmt dieser Menge, und glaubte alle die Köpfe zu erkennen, die ihn einige Monate zuvor als Narrenpabst begrüßt hatten. Ein Mann, der in der einen Hand eine Fackel, in der andern eine Sense hielt, stieg auf einen Brunnen und schien eine Anrede zu halten. Zu gleicher Zeit machte diese seltsame Armee einige Bewegungen und schien rund um die Kirche Posto zu fassen. Quasimodo nahm seine Laterne und stieg auf die Plattform zwischen den beiden Thürmen hinab, um besser sehen und Anstalten zur Vertheidigung treffen zu können,
Clopin Trouillefou hatte seine Armee so in Schlachtordnung gestellt, daß sie einem unvermutheten Angriff im Rücken und auf den Seiten begegnen konnte. Es war übrigens kaum zu besorgen, daß die Bestürmung und Einnahme der Liebfrauenkirche von irgend einer Seite gestört werden würde. Im Mittelalter war eine Unternehmung wie diejenige, welche jetzt die Gauner wagten, nichts Seltenes. Das, was wir jetzt Polizei nennen, war damals nicht vorhanden. In den volkreichen Städten, besonders in den Hauptstädten, gab es keine Centralgewalt. Das Feudalwesen hatte diese großen Gemeinden auf eine seltsame Weise gebildet. Eine Stadt war ein Verein von hundert und mehr verschiedenen Herrschaften von verschiedener Größe und Einteilung. Daher gab es hundert verschiedene Polizeien, oder vielmehr gar keine Polizei. Alle diese Feudalherren erkannten die Oberherrschaft des Königs nur dem Namen nach an; alle hatten in ihrer Herrschaft die Gerichtsbarkeit.
Nachdem die nöthigen Verfügungen getroffen waren, stieg der würdige Obergeneral der Armee auf eine Erhöhung, wendete das Gesicht der Liebfrauenkirche zu, schwang seine Fackel, erhob seine rauhe Stimme und hielt folgende Rede: »An Dich, Ludwig von Beaumont, Bischof von Paris, Rath im Parlamentshof, ich, Clopin Trouillefou, König des Königreichs Kauderwelsch, Fürst der Gauner und Bischof der Narren: Unsere Schwester, wegen Zauberei fälschlich verurtheilt, hat sich in Deine Kirche geflüchtet, Du mußt sie beschützen. Nun will das Parlament sie herausreißen, und Du gibst es zu, so daß sie am morgenden Tage aus dem Grèveplatz gehängt würde, wenn Gott und meine getreuen Unterthanen nicht wären. Wir haben es also mit Dir zu schaffen, Bischof von Paris. Ist Deine Kirche geheiligt, so ist es unsere Schwester auch; ist unsere Schwester nicht geheiligt, so ist es Deine Kirche auch nicht. Demnach fordern wir Dich auf, uns unsere Schwester herauszugeben, wenn Du Deine Kirche retten willst, wo nicht, so holen wir unsere Schwester mit Gewalt und plündern Deine Kirche. Somit wollen wir uns zu Recht verwahrt haben, und ich, Clopin Trouillefou, König des Königreichs Kauderwelsch, pflanze hier meine Fahne auf. Hiemit sagen wir Dir ab, Bischof von Paris.«
Einer der Gauner bot dem König seine Fahne dar, und dieser pflanzte sie feierlich zwischen zwei Pflastersteinen aus. Diese Fahne war eine große Heugabel, an deren Zinken ein noch blutendes Stück Aas hing. Nachdem diese feierliche Handlung vorüber war, wandte sich der König seiner Armee zu und rief mit lauter Stimme: »Jetzt vorwärts, Kinder!«
Dreißig starke Männer, mit Hämmern, Zangen und Eisenstangen, traten aus den Reihen, stiegen die Stufen am Hauptthor hinauf und suchten es mit ihren Werkzeugen einzubrechen. Ein großer Haufe Anderer folgte ihnen, theils um bei dem Werke behülflich zu sein, theils um zuzusehen.
Das große Thor hielt fest. Die Angreifenden arbeiteten mit großer Anstrengung. Clopin Trouillefou sprach ihnen Muth ein: »Munter, Kameraden!« rief er, »ich setze meinen Kopf an einen alten Weiberpantoffel, daß ihr die Thüre gesprengt, das Mädchen befreit und den Hauptaltar entkleidet habt, ehe ein Büttel aufwacht. Die Schlüssel krachen ja schon!«
Hier wurde er durch ein furchtbares Geräusch in seinem Rücken unterbrochen. Er wendete sich um. Ein ungeheurer Balken war von oben herabgefallen und hatte ein Dutzend Gauner erschlagen. In einem Augenblicke lief der Haufen der Stürmenden auseinander, und Clopin selbst zog sich in ehrerbietige Entfernung von der Kirche zurück.
»Dem bin ich noch glücklich entgangen, aber ich habe den Wind davon gespürt!« schrie der Mühlenhans.
Staunen und Bestürzung hatte die Armee des Königs Clopin Trouillefou ergriffen. Die Gauner standen einige Minuten, die Augen in die Höhe gerichtet und bestürzter über dieses Stück Holz, das wie vom Himmel gefallen war, als wenn sie von tausend Bogenschützen des Königs angegriffen worden wären,
»Satan!« murmelte der Herzog von Aegypten, »das geht nicht mit rechten Dingen zu, das ist ja wie aus den Wolken gefallen!«
»Oder vom Monde,« fügte ein Anderer hinzu, »es heißt, der Mond sei mit der heiligen Jungfrau befreundet!«
»Was faselt Ihr da, Ihr Dummköpfe!« schalt sie Clopin Trouillefou, obgleich er selbst nicht wußte, wie er sich den plötzlichen Fall dieses ungeheuren Balkens erklären sollte.
Inzwischen regte sich nichts, weder in der Kirche, noch aus den Thürmen. Der gewichtige Balken lag auf der Mitte des Platzes, und man hörte nur die Seufzer der Verwundeten, deren Glieder er zerschmettert hatte.
Clopin Trouillefou fand, nachdem er sich von seinem ersten Staunen erholt hatte, endlich eine Erklärung, die seinen Gefährten wahrscheinlich vorkam: »Bei Gottes Wunden! Vertheidigen sich denn diese Mönche? Dann Alles in die Pfanne gehauen!«
»In die Pfanne gehauen! In die Pfanne gehauen!« wiederholte die Menge mit einem wüthenden Hurrah. Zugleich flogen die Pfeile hageldicht gegen die Plattform hinauf.
Jetzt wachten die Bewohner der benachbarten Häuser auf und man erblickte brennende Lichter und Schlafmützen unter den Fenstern.
»Schießt auf die Fenster!« schrie Clopin Trouillefou.
Alsbald schlössen sich die Fenster wieder, die Lichter erloschen und die bestürzten Bürger kehrten zitternd in ihre Betten zurück.
Inzwischen wagte es noch Niemand, sich der Kirche zu nähern. Die Gauner betrachteten bald das Gebäude, bald den Balken. Der Balken lag ruhig auf dem Platze, die Kirche schien verlassen; aber irgend ein unbestimmtes Gefühl erfüllte die Herzen der Angreifenden mit Schrecken.
»Frisch an's Werk! Brecht die Thüre ein!« schrie Clopin Trouillefou.
Niemand rührte sich.
»Tod und Teufel!« fuhr Clopin Trouillefou fort. »Habt Ihr denn Furcht vor einem Stück Holz?«
Ein alter Gauner erwiederte ihm: »Vor dem Balken fürchten wir uns nicht, aber das Thor ist mit Eisenstangen verwahrt, gegen welche unsere Zangen nichts ausrichten.«
»Was braucht Ihr denn, um es einzubrechen?«
»Wir brauchen einen Sturmbock,«
Clopin Trouillefou setzte den Fuß auf den gewichtigen Balken und rief: »Hier ist ein Sturmbock, die Mönche haben ihn Euch vom Thurme herabgeworfen. Schönen Dank, ihr Pfaffen!« fügte er hinzu und verbeugte sich gegen die Kirche.
Dieser Spaß that seine Wirkung, die Furcht vor dem Balken war verschwunden. Die Gauner faßten neuen Muth, und der schwere Balken, von zweihundert kräftigen Armen wie ein Federkiel in die Höhe gehoben, donnerte gegen das Thor der Kirche. Die Pforte, die halb aus Metall bestand, wiederhallte wie eine ungeheure Trommel, sie brach nicht; aber die furchtbaren Stöße des Sturmbocks erschütterten das Gebäude bis in seinen tiefsten Grund.
Als eben die Angreifenden in bester Arbeit waren, fiel ein Regen großer Steine von oben herab.
»Den Teufel auch!« schrie der Mühlenhans, »senden uns die Thürme ihre Mauersteine herab?«
Inzwischen war der Anstoß einmal gegeben, und man fuhr trotz des Steinhagels, der manches Hirn zerschmetterte, in der Arbeit rüstig fort.
Man wunderte sich, daß diese Steine nur einzeln, einer nach dem andern, fielen; aber sie folgten so schnell auf einander, daß wenn einer den Boden berührte, schon ein zweiter über den Köpfen der Angreifenden schwebte. Dieser Steinhagel hatte schon eine große Niederlage angerichtet, der Boden war mit Todten und Verwundeten bedeckt; aber die Wuth der Angreifenden wurde durch diesen Widerstand nur noch mehr angefeuert. Der Balken donnerte unaufhörlich gegen das Thor, es erbebte in seinen Angeln, und unausgesetzt flogen von oben die Steine auf die Häupter der Stürmenden herab.
Es war Quasimodo, der Glöckner, der diesen unerwarteten Widerstand leistete. Zum Unglück war der Zufall seinem Muth zu Hülfe gekommen.
Nachdem er auf die Plattform zwischen den beiden Thürmen herabgestiegen war, sah es ziemlich verwirrt in seinem Kopfe aus. Er lief einige Minuten lang wie ein Narr hin und her, blickte auf die Menschenmasse hinab, die sich eben zum Angriff bereitete, und betete zu Gott und dem Teufel um Kraft, die Aegypterin zu retten. Der Gedanke kam ihm, in den südlichen Thurm zu steigen und die große Glocke zu läuten, aber bis sie ertönte und bis Hülfe kam, konnte das Thor zehnmal eingebrochen werden. Eben jetzt rückten die Angreifenden mit ihren Werkzeugen gegen die Eingangspforte vor. Was war jetzt zu machen?
Plötzlich erinnerte sich Quasimodo, daß den ganzen Tag Handwerksleute an der Mauer, am Holzwelk und dem Dache des südlichen Thurmes gearbeitet hatten. Jetzt ging ihm ein Licht auf. Die Mauern waren von Stein, das Dach von Blei, das Sparrenwerk von Holz.
Quasimodo lief in diesen Thurm. Der untere Boden war mit Materialien aller Art angefüllt: Balken, Mauersteine, große Stücke Blei lagen umher. Es war ein vollständiges Arsenal. Der Augenblick war dringend. Die nahende Gefahr verdoppelte die Kraft des Zwergs; er hob den längsten und schwersten Balken auf, schob ihn durch eine Oeffnung hinaus, schleppte ihn auf die Plattform und warf ihn in den Abgrund hinab. Der schwere Balken drehte sich in seinem Falle von 160 Fuß mehrmals um seine eigene Axe, gleich dem Flügel einer Windmühle. Endlich berührte er den Boden, ein furchtbares Geschrei stieg gen Himmel, und der schwarze Balken, durch die Gewalt des Falles mehrmals auf dem Pflaster in die Höhe springend, glich einer großen Schlange, die auf ihre Beute stürzt.
Quasimodo sah vom Thurme herab, wie die Angreifenden auseinander stürzten, und benützte ihren plötzlichen Schrecken, seine Vertheidigungsmittel zu bereiten. Er häufte in der Stille Steine, Balken, Stücke Blei auf der Plattform an und warf sie hinab, sowie die Angreifenden den Sturm auf's Neue begannen. Der Zwerg zeigte eine bewundernswürdige Thätigkeit, die Steine flogen hageldicht, Quasimodo sah ihnen nach, wie sie fielen, und wenn einer wohl traf, lachte er zufrieden vor sich hin.
Inzwischen verloren die Stürmenden den Muth nicht. Das dicke Thor krachte unter dem Gewicht ihres Sturmbocks, vermehrt durch die Kraft von zweihundert Armen. Obwohl Quasinwdo taub war und die donnernden Schläge des Widders an die Pforte nicht hörte, so merkte er doch an der Erschütterung des ganzen Gebäudes, daß das Thor nicht lange mehr widerstehen würde. Er sah von oben, wie die Stürmenden, voll Wuth und Siegestaumel, die Fäuste gegen die Fenster und Thürme hinauf ballten, und er wünschte der Aegypterin und sich die Flügel der Nachteulen, die, aufgeschreckt von dem furchtbaren Lärm, zu Dutzenden um sein Haupt schwirrten.
Sein Steinhagel reichte nicht mehr hin, die Angreifenden abzutreiben. In diesem angstvollen Augenblicke bemerkte er auf der Plattform zwei lange steinerne Rinnen, die gerade oberhalb der großen Eingangspforte ihr Wasser ausströmten. Die innere Mündung dieser Rinnen ging von dem Pflaster der Plattform aus. Ein glücklicher Gedanke kam ihm; er holte ein Reisachbüschel, zündete an der Mündung der beiden Rinnen ein Feuer an und häufte Bauholz und Bleiklumpm, untereinander vermischt, darauf. Da, während er diese Arbeit verrichtete, kein Steinhagel mehr fiel, so hatten die Stürmenden nicht mehr in die Höhe geblickt. Die Gauner, athemlos wie eine Meute, die den Keuler in seinem Lager umstellt, drängten sich in Unordnung um die große Pforte, die durch den Sturmbock schon überall zerrissen und geöffnet war, aber noch in ihren Angeln festhielt. Sie warteten knirschend auf den letzten mächtigen Streich, der sie vollends einstürzen würde. Alle drängten sich möglichst nahe dazu, um, sobald das Thor fallen würde, in die Kirche einzudringen, in welcher Schätze von drei Jahrhunderten aufgehäuft waren. In diesem Augenblicke mochten wohl die Meisten weniger an Esmeralda's Befreiung, als an die Plünderung der Liebfrauenkirche denken.
Plötzlich, als sie eben den Sturmbock mit letzter Kraft spielen ließen, als jeder der Stürmenden seinen Athem an sich hielt und seine Muskeln anspannte, um dem entscheidenden Schlage mehr Nachdruck zu geben, erhob sich in ihrer Mitte ein noch furchtbareres Geheul, als der Fall des großen Balkens verursacht hatte. Wer nicht todt oder verwundet war, blickte staunend in die Höhe. Zwei Ströme geschmolzenen Bleis ergossen sich von oben herab auf die dichtgedrängte Menge. Todte und Verwundete lagen auf dem Boden umher. Das Geschrei der Verwundeten und Sterbenden war herzzerreißend. Die Angreifenden ließen den Sturmbock fallen und flohen bestürzt davon. Zum zweiten Male war der Sturm abgeschlagen.
Alle Blicke richteten sich nun auf die Plattform. Auf dem obersten Gipfel der Galerie sah man zwischen den beiden Glockentürmen eine große, hochemporschlagende Flamme aufsteigen. Unterhalb dieser Flamme spieen zwei Dachrinnen, welche offene Rachen von Ungeheuern darstellten, unaufhörlich einen feurigen Regen aus, der sich über der großen Eingangspforte ergoß.
Die Angreifenden verstummten vor Schrecken, und man konnte jetzt das Angstgeschrei der in ihrem Kloster eingeschlossenen Mönche deutlich hören. Die Anführer der Armee des Königreichs Kauderwelsch hatten sich inzwischen unter den Balkon des Hauses Gondelaurier zurückgezogen und hielten dort Kriegsrath. Der Herzog von Aegypten, auf dem Rande eines Brunnens sitzend, betrachtete mit abergläubischer Furcht das phantasmagorische Feuer, das zwischen den Thürmen brannte, und die glühende Lava, die sich aus einer Höhe von zweihundert Fuß ergoß,
Clopin Trouillefou ballte wüthend seine plumpen Fäuste und murmelte zwischen den Zähnen: Es ist nicht möglich, dem Eingang zu nahen!
»Das ist eine alte verhexte Kirche,« sagte der Zigeunerfürst, Matthias Hungadi Spiccali. »Seht Ihr dort die Teufelsgestalt, die vor dem Feuer hin und herlauft?«
»Das ist ja der verfluchte Glöckner der Liebfrauenkirche, der verdammte Quasimodo,« rief Clopin Trouillefou aus.
Der Herzog von Aegypten schüttelte den Kopf: »Ich sage Euch, es ist der Geist Sabnac, der Dämon der Festungswerke. Er gleicht einem bewaffneten Soldaten und hat einen Löwenkopf. Bisweilen reitet er auf einem scheußlichen Pferde. Er verwandelt die Menschen in Steine und baut damit seine Thürme. Er hat fünfzig Legionen Teufel unter sich; ich kenne ihn wohl, dort oben steht er. Bisweilen trägt er auch ein schönes goldenes Kleid nach türkischem Schnitt.«
»Wo ist Bellevigne de l'Etoile?« fragte Clopin Trouillefou.
»Er ist todt,« antwortete ein Weib.
»Gibt es denn kein Mittel, durch diese Pforte einzudringen?« schrie König Clopin wüthend und stampfte mit dem Fuße auf die Erde.
Der Herzog von Aegypten deutete betrübt auf die beiden geschmolzenen Bäche Blei's, die noch immer von oben herabfloßen, und sagte seufzend: »Man hat Kirchen gesehen, die sich selbst vertheidigten. Die Sophienkirche zu Constantinopel, es sind jetzt vierzig Jahre her, hat Mahomets Halbmond dreimal hinter einander zur Erde geworfen, indem sie ihre Thürme, gleich einem lebendigen Haupte, schüttelte. Wilhelm von Paris, der die Liebfrauenkirche gebaut hat, war ein Zauberer.«
»Sollen wir denn Reißaus nehmen, wie begossene Hunde, und unsere Schwester morgen hängen lassen?« fragte Clopin Trouillefou.
»Und die Sakristei, wo man einen Wagen Gold und Silber aufladen kann?« fügte einer der Gauner hinzu.
»Bei Mahomets Bart! Wir müssen noch einen Versuch machen,« schrie der König.
Der Herzog von Aegypten schüttelte den Kopf: »Durch die große Pforte kommen wir nicht hinein. Man muß ein Hinterpförtchen suchen; irgend ein Fenster, irgend ein Loch, auf das der Zauber der alten Hexe nicht wirkt.«
»Frisch an's Werk! Wer ist mit mir?« fragte Clopin Trouillefou. Wo ist denn der kleine Student in seiner eisernen Rüstung?« fügte er hinzu.
»Er wird wohl todt sein, man hört ihn nicht mehr lachen,« antwortete ein Gauner.
»Um so schlimmer, denn er war ein muthiger Junge. Und wo ist Peter Gringoire.«
»Hauptmann, er hat sich aus dem Staube gemacht, ehe wir noch das Ufer des Flusses erreicht hatten.«
»Hol ihn der Teufel, den Schwätzer! Er führt uns da mitten in den Dreck und läßt uns darin sitzen!«
»Da kommt der kleine Student!« riefen mehrere Stimmen.
»Gelobt sei Pluto!« sagte Clopin; »aber was schleift er denn da nach sich?«
Es war wirklich der Mühlenhans, der eine lange Leiter auf dem Pflaster nach sich schleifte und so schnell herbeikam, als ihm seine gewichtige Rüstung erlaubte.
»Te Deum laudamus!« rief der Student schon von Ferne. »Hier ist die Leiter der Packer vom Hafen Saint Landry.«
Clopin Trouillefou ging auf ihn zu: »Sohn, was willst Du mit dieser Leiter machen?«
»Ich habe sie,« antwortete Johannes athemlos. »Ich wußte, wo sie war. Unter dem Schoppen des Hauses, wo der Lieutenant wohnt. Es ist ein Mädchen dort, die ich kenne, und die mich schön findet wie Cupido. Ich habe ihr gute Worte gegeben, bis ich die Leiter hatte.«
»Recht, aber was willst Du mit dieser Leiter machen?« fragte Clopin.
Der Mühlenhans warf einen schelmischen Blick auf ihn und erwiederte mit angenommener Würde: »Was ich damit machen will, erhabener König des Königreichs Kauderwelsch? Seht Ihr dort jene Reihe von Bildsäulen, die so dumme Gesichter haben?«
»Ja! Und was weiter?«
»Das ist die Galerie der Könige von Frankreich.«
»Was liegt mir daran!«
»So wartet doch! Am Ausgang dieser Galerie ist eine Thüre, die nur mit einer Klinke geschlossen ist. Mit dieser Leiter steige ich hinauf, und ich bin in der Kirche.«
»Herzenssohn, laß mich zuerst hinaufsteigen.«
»Nicht doch, Freund! Die Leiter gehört mir. Du magst der Zweite sein.«
»Hol Dich der Teufel! Ich bin König und der Zweite von Niemand.«
»Je nun, König, so hole Dir eine Leiter!«
Der Mühlenhans zog seine Leiter nach sich und schrie, indem er über den Platz weglief, mit lauter Stimme: »Mir nach, Kinder!«
In einem Augenblicke war die Leiter an der Galerie aufgestellt. Die Gauner drängten sich um sie her und jeder wollte zuerst hinaufsteigen. Aber der Mühlenhans hielt fest an seinem Rechte und setzte zuerst den Fuß auf die Stufen der Leiter. Er stieg langsam hinauf unter dem Gewicht seiner schweren Rüstung, in der einen Hand seine Armbrust haltend, mit der andern die Stufen der Leiter fassend. Die Gauner folgten ihm aus dem Fuße. Auf jeder Stufe der Leiter stand ein Mann.
Jetzt hatte er die Höhe erreicht und sprang unter dem Beifalljauchzen der auf dem Platze versammelten Gauner auf die Galerie. Nachdem er sich im Besitz der Citadelle sah, stieß er selbst einen Freudenschrei aus; aber in demselben Augenblicke fuhr er versteinert zurück. Er sah hinter der Bildsäule eines Königs Quasimodo's funkelndes Auge auf sich gerichtet.
Ehe noch ein Zweiter auf der Galerie Fuß fassen konnte, sprang der furchtbare Zwerg aus seinem Versteck hervor, ergriff mit seinen kräftigen Fäusten die beiden Spitzen der Leiter, rückte sie von der Mauer weg und warf sie mit übermenschlicher Kraft nebst Allen, die darauf standen, aus den Platz hinab. Die Leiter stand einen Augenblick aufrecht, dann schwankte sie und fiel in einem Bogen von achtzig Fuß mit ihrer ganzen Last auf das Pflaster. Ein einziger furchtbarer Schrei ertönte, dann wurde es stille, und einige wenige Verstümmelte krochen mühsam aus dem Haufen der Todten hervor.
Ein Geschrei des Zorns und Schmerzes folgte jetzt auf das erste Triumphgeschrei der Belagerer. Quasimodo, die beiden Ellenbogen auf das Geländer stützend, blickte ruhig auf den Platz hinab. Er hatte das Ansehen eines alten bärtigen Königs, der aus seinem Fenster schaut.
Johannes Frollo befand sich in einer mißlichen Lage, allein auf der Gallerie mit dem gewaltigen Zwerg, durch eine Höhe von achtzig Fuß von seinen Waffengefährten getrennt. Während Quasimodo die Leiter umwarf, war der Student dem Hinterpförtchen zugelaufen, das er offen glaubte. Dem war nicht so. Der Zwerg hatte es hinter sich geschlossen. Jetzt versteckte sich Johannes hinter der Bildsäule eines Königs, hielt den Athem an sich und warf unheimliche Blicke auf den mißgestal- teten Zwerg.
In den ersten Augenblicken achtete der Taube seiner nicht! endlich aber wendete er das Gesicht und erblickte ihn.
Der Mühlenhans machte sich auf einen harten Strauß gefaßt: aber Quastmodo rührte sich nicht und blickte ihm unbeweglich ins Gesicht.
»Ho! ho!« sagte der Student, »was schaust Du mich da mit Deinem einzigen Auge so melancholisch an?«
Mit diesen Worten spannte er seine Armbrust. »Quasimodo!« rief er, »ich will Dir Dein einziges Äuge ausschießen, dann bist Du so blind als taub.«
Der Pfeil zischte durch die Luft und traf den linken Arm des Zwergs. Quasimodo zog ihn ruhig aus der Wunde und zerbrach ihn auf seinem plumpen Knie. Der Student hatte nicht Zeit zum zweitenmal zu schießen. Nachdem der Pfeil zer- brochen war, schnaubte der Zwerg wie ein verwundeter Tiger und faßte ihn in einem Satze.
Quasimodo ergriff mit seiner linken Faust die beiden Arme des Studenten, der sich nicht einmal wehrte, so sehr fühlte er sich überwältigt. Mit der rechten Hand entkleidete er ihn, schweigend und langsam, eines Stücks seiner Rüstung nach dem andern. Hierauf faßte er ihn an den beiden Füßen, hob ihn, den Kopf abwärts, über das Geländer hinaus und ließ ihn in den Abgrund fallen.
Ein Schrei des Entsetzens stieg von dem Platze auf.
»Rache! Rache!« schrie Clopin Trouillefou mit lauter Stimme. »Lauft Sturm! Lauft Sturm!« erscholl es aus hundert Kehlen.
Der Tod des lustigen Studenten hatte die Belagerer wüthend gemacht. Sie schämten sich und zürnten, daß ein elender Zwerg ihnen den Besitz der Kirche so lange streitig gemacht hatte. Ihre Wuth ließ sie Leitern finden, und bald sah man sie von allen Seiten den Thurm ersteigen. Viele hundert Fackeln, die man auf dem Platze angezündet hatte, erleuchteten die furchtbare Scene. Noch immer schlug das Feuer auf der Plattform hoch in die Wolken. Die Stadt schien allmählig zu erwachen. In der Ferne ertönten Sturmglocken. Die Belagerer heulten, fluchten, stürmten. Quasimodo, ohnmächtig gegen so viele Feinde, für Esmeralda zitternd, rang verzweiflungsvoll die Hände und flehte den Himmel um ein Wunder an.