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Montfermeil liegt zwischen Livry und Chelles, an dem südlichen Saum des hohen Plateaus, das Ourcq von der Marne scheidet. Heutzutage ist es ein ziemlich bedeutender Ort, aber 1823 gab es in Montfermeil nicht so viel weiße Landhäuser und nicht so viel wohlhabende Leute wie jetzt. Es war nur ein mitten in einem Walde gelegenes Dorf. Hier und dort sah man wohl einige Villen aus dem 18. Jahrhundert, die sich mit ihren kunstvollen, eisernen Balkons und ihren hohen Fenstern recht vornehm ausnahmen. Aber Montfermeil war darum doch nur ein Dorf. Die Rentiers und Sommerfrischler hatten es noch nicht entdeckt. Es war ein stiller, reizender, aber abgelegener Ort, wo es sich gemüthlich und billig leben ließ. Nur war das Wasser selten wegen der Höhe des Plateaus.
Man mußte es ziemlich weit herholen. Das eine Ende des Dorfes, dasjenige, das nach Gagny hin liegt, versorgte sich aus den herrlichen Teichen, die im Walde sind; die am anderen Ende um die Kirche und nach Chelles hin wohnten, mußten bis zu einer kleinen Quelle gehen, die eine Viertelstunde von Montfermeil an der Chaussee nach Chelles liegt.
Die Versorgung mit Wasser war also eine sehr umständliche. Die größeren Haushaltungen, wie die aristokratischen Familien u. s. w., ließen sich das Trinkwasser von einem Mann bringen, der sich damit acht Sous pro Tag verdiente; aber dieser arbeitete im Sommer nur bis sieben Uhr Abends und im Winter nur bis fünf. Wer sich bis dahin nicht vorgesehen hatte, und Durst bekam, mußte selbst gehen und welches holen, oder sich den Durst vergehen lassen.
Das Wasserholen war der Schrecken der kleinen Cosette, die nachdem die Mutter für sie das Kostgeld zu zahlen aufgehört hatte, trotzdem bei den Thénardiers blieb. Sie konnten das arme Wesen zu häuslichen Arbeiten gut gebrauchen. Unter Anderm mußte sie das Wasser herbeischleppen, das im Hause gebraucht wurde. Die Kleine paßte auch bei Tage gut auf, daß es nie an Wasser fehlte, weil sie sich sehr grauelte und nicht in der Dunkelheit zur Quelle wandern mochte.
Im Jahre 1823 ging es gegen Weihnachten in Montfermeil sehr lustig zu. Der Anfang des Winters war ein sehr milder gewesen, und es hatte bisher weder gefroren noch geschneit. Pariser Akrobaten ersuchten den Herrn Bürgermeister um die Erlaubniß ihre Buden in der Hauptstraße des Dorfes aufrichten zu dürfen und eine Menge Händler hatten sich die Gelegenheit zu Nutze gemacht, um auf dem Platz der Kirche und bis in die Rue du Boulanger hinein, wo Thénardier sein Geschäft betrieb, ihre Waare zum Verkauf auszustellen. Das brachte Leben in das stille Dorf und füllte die Schänken mit neuen Kunden. Als gewissenhafter Geschichtsschreiber müssen wir sogar noch hinzufügen, daß in einer Menagerie von gräulichen zerlumpten Clowns einer jener schrecklichen, brasilianischen Geier gezeigt wurde, die in unserm königlichen Museum erst seit 1845 zu sehen sind. Dieser Vogel führt eine dreifarbige Kokarde im Auge. Die Naturforscher nennen ihn Caracara polyborus; er gehört zur Ordnung der Apicidac und zur Familie der Vultures. Selbstredend gingen die im Dorf ansässigen, alten bonapartistischen Soldaten hin und sahen sich andachtsvoll das Wunderthier an, das sie an ihren Kaiser erinnerte. Die Menageriebesitzer aber versicherten, es handle sich hier um ein Unicum, das der liebe Gott nur für sie speziell geschaffen hätte.
Am Weihnachtsabend saßen mehrere Fuhrleute und Hausirer um einen mit Talglichtern beleuchteten Tisch und zechten. Frau Thénardier sah nach dem Abendessen, das an einem hellen Kaminfeuer briet, und ihr Mann unterhielt sich mit seinen Gästen über Politik und Geschäfte.
Cosette befand sich an ihrem gewöhnlichen Platze, nämlich unter dem Küchentisch, der in der Nähe des Kamins stand. Sie trug zerlumpte Kleider und an ihren bloßen Füßen Holzschuhe und strickte beim Schein des Kaminfeuers wollene Strümpfe für Ténardiers kleine Tochter. Ein junges Kätzchen spielte unter den Stühlen, und in der Nebenstube lachten und plapperten Eponine und Azelma.
Ueber dem Kamin hing an einem Nagel ein Kantschu.
Zeitweise übertönte den Lärm, den die Gäste machten, das durchdringende Geschrei eines kleinen Kindes, das irgendwo im Hause sein mußte. Es war ein Knabe, mit dem Frau Thénardier ihren Gemahl vor drei Jahren beschenkt hatte. Die Mutter hatte ihn gesäugt, konnte ihn aber nicht leiden. Wurde das Geschrei zu unangenehm, so meinte er wohl zu seiner Frau: »Du, Dein Sohn gnaut. Sieh doch mal nach, was er will!« »Ach was!« pflegte sie dann zu antworten. »Laß ihn. Es fehlte auch noch, daß ich mir mit dem Balg soviel Umstände machte.«
Und das arme Ding jammerte weiter.
Wir haben bis jetzt die Thénardiers nur ein wenig im Profil betrachtet; aber jetzt ist der Augenblick gekommen, wo wir uns das Pärchen genauer ansehen müssen.
Thénardier war über die Fünfziger hinaus; seine Frau stand vor den Vierzigern. D. h. es bestand, da die Frauen schneller altern, kein erwähnenswerther Unterschied zwischen ihnen.
Unsere Leser erinnern sich vielleicht noch der äußeren Erscheinung dieses weiblichen Ungethüms. Sie besorgte die ganze Wirtschaft, machte die Betten, die Zimmer, wusch, kochte u. s. w. ohne andere Bedienung, als die kleine Cosette. Ein Mäuschen im Dienste einer Elephantin! Alles zitterte beim Klange ihrer Stimme, die Fensterscheiben, die Möbel und auch die Menschen. Ihr breites, mit Sommersprossen reichlich versehenes Gesicht ähnelte einem Sieb. Auch Bart hatte sie, und man hätte glauben können, man habe einen als Frau verkleideten Lastträger vor sich. Sie fluchte grandios und prahlte gern damit, daß sie eine Nuß mit der Faust zerschlagen konnte. Hätte sie keine Romane gelesen und nicht zeitweise zierlich und zimperlich gethan, so wäre nie Jemand auf die Idee gekommen, das Ungeheuer wäre ein Frauenzimmer. Hörte man sie reden, so dachte man an Gendarmen; sah man sie trinken, an Fuhrleute; mißhandelte sie die arme Cosette, an Folterknechte.
Er war ein kleiner, schmächtiger, magerer, blasser Mann, der krank aussah und sich der besten Gesundheit erfreute. Schon mit seinem Aeußeren betrog er also die Leute. Er lächelte gewöhnlich Vorsichts halber und war gegen Jedermann höflich, sogar gegen den Bettler, dem er ein Almosen abschlug. Der Blick seiner Augen hatte etwas Marderartiges und auf seine Miene hin hätte man ihn für einen Litteraten halten können. Er paradirte gern vor den Fuhrleuten mit seinen Leistungen im Trinken, und Niemand hatte ihn je unter den Tisch bringen können. Er rauchte eine lange Pfeife. Gewöhnlich trug er einen Kittel und darunter einen alten schwarzen Rock. Er spielte sich gern auf den litterarisch und philosophisch gebildeten Mann heraus, citirte zur Bekräftigung seiner Behauptungen Voltaire, Raynal, Parny und sonderbarer Weise auch den heil. Augustin. Natürlich hatte er ein eigenes materialistisches System. Kurz, er war ein mit einem Gauner verbrämter Philosoph. Er behauptete, Soldat gewesen zu sein und erzählte gern mit großer Ausführlichkeit, daß er bei Waterloo als Sergeant bei dem sechsten oder neunten Chevaux-legers-Regiment allein einer Schwadron preußischer schwarzer Husaren Stand gehalten und einen schwer verwundeten General aus dem Kugelregen herausgetragen hätte. Daher sein buntes Wirtshausschild und die Bezeichnung seiner Herberge als Gasthaus zum Sergeanten von Waterloo.
In Wirklichkeit war der Halunke ein Flamänder aus Lille, der sich in Paris als Franzose, in Brüssel als Belgier gebarte und aller Wahrscheinlichkeit nach war er zur Zeit der Schlacht bei Waterloo ein Marketender, der mit seiner Frau den Armeen, und zwar immer den siegreichen, nachfuhr und stahl, wessen er habhaft werden konnte. Nach dem Feldzug war er mit dem »Draht«, den er angesammelt hatte, nach Montfermeil gekommen, um dort ein Geschäft zu eröffnen.
Aber all' die gestohlenen Börsen, Taschenuhren, goldenen Ringe, silbernen Kreuze hatten doch nicht so viel Draht ergeben, daß er es damit hätte weit bringen können.
Thénardier waren Gebärden und Flüche eigen, die an die Kaserne erinnerten, und das Zeichen des Kreuzes machte er so sachverständig und elegant, wie ein Seminarist. Auch suchte er etwas darin, sich gewählt auszudrücken und hatte durchaus nichts dagegen, wenn man ihn für einen Gelehrten hielt. Indessen hatte der Schullehrer ihn auf Schnitzern ertappt, und so viel er sich auch auf seine schön stilisirten Rechnungen zu Gute that, geübte Augen entdeckten doch Verstöße gegen die Rechtschreibung darin. Thénardier war duckmäuserig, leckermäulig und gefräßig, faul und pfiffig. Auch verschmähte er seine Dienstmädchen nicht, in Folge dessen seine Frau keine mehr hielt. Die Riesin war eifersüchtig. Sie bildete sich ein, alle Frauen seien lüstern nach ihrem vermeckerten Mann.
Thénardier, in dessen Charakter Hinterlist und Verschlagenheit die Hauptzüge ausmachten, gehörte zu der Gattung der Leisetreter, der sanften Schufte, also der schlimmsten, weil sie Heuchler sind.
Nicht, als ob er nicht gelegentlich im Stande gewesen wäre, in Zorn zu gerathen, nicht minder wie seine Frau; aber so etwas kam nicht oft vor, und dann konnte er gefährlich werden. Denn er haßte tiefinnerlich die ganze Menschheit und gehörte zu Denen, die Jeden und Alle für ihre Mißerfolge im Leben verantwortlich machen und beständig eine Gelegenheit suchen, ihre Wuth an irgend Jemand auszulassen. Wenn dann einmal all' der zurückgehaltene Groll herausplatzte, sich in Worten und Gebärden äußerte, war Freund Thénardier fürchterlich anzusehen, und wehe dem Wehrlosen, der ihm dann unter die Finger gerieth!
Zu seinen geistigen Gaben gehörte noch scharfe Beobachtung und ein durchdringender Verstand, so wie die Fähigkeit, zur rechten Zeit zu schweigen und zur rechten Zeit zu reden. Er war ein Diplomat.
Wer zum ersten Mal das Gasthaus betrat, kam beim Anblick der Frau Thénardier sofort auf den Gedanken: »Die ist Herr im Hause« Bewahre! Sie war nicht einmal die Herrin. Er war der Herr und die Herrin im Hause. Sie brachte nur seine Anordnungen zur Ausführung. Er lenkte das Ganze vermöge einer Art unsichtbarer und ununterbrochener magnetischer Kraftwirkung. Ein Wort, manchmal auch nur ein Wink, und der Mastodon parirte. Er war für sie, ohne daß es ihr recht zum Bewußtsein gelangte, eine Art besondres, höheres Wesen. Sie besaß denn auch die Tugenden, die sich aus einer solchen Denkweise mit Nothwendigkeit ergeben. Nie hätte sie, auch wenn sie über irgend einen Punkt mit ihm nicht übereinstimmte, was aber auch nicht möglich war, ihm öffentlich Unrecht gegeben; nie, um uns einer parlamentarischen Redensart zu bedienen, die geheiligte Person des Monarchen in die Debatte gezogen. Obwohl das Zusammenwirken der Beiden nur das Böse zum Zweck hatte, so entstammte doch die Unterwürfigkeit der Frau einer wirklichen Hochachtung und verzückten Bewunderung, der Ehrfurcht, die der Stoff der intellektuellen Kraft zollt. So grotesk, so häßlich aber solche Regungen des Menschenherzens sich auch äußern mögen, sie sind doch immer Bethätigungen des Schönen. Thénardier hatte Theil an dem Göttlichen, und deshalb herrschte er über seine Frau. Bald sah sie in ihm ein strahlendes Licht, bald zitterte sie vor ihm.
Sie war ein gräuliches Geschöpf, dem nur ihre Kinder Liebe, nur ihr Mann Furcht einflößte. Mutter war sie, weil sie zur Species der Säugethiere gehörte, und diese ihre Mutterschaft erstreckte sich nur auf ihre Mädchen, und reichte nicht an die Knaben heran. Er dagegen lebte und webte nur in dem Gedanken, wie er es anfangen müsse, um reich zu werden.
Er kam aber auf keinen grünen Zweig, es fehlte diesem großen Talent der rechte Wirkungskreis. In Montfermeil wartete seiner nur der Ruin, – wenn Einer, der nichts hat, sich ruiniren kann; in der Schweiz oder in den Pyrenäen hätte er es zu etwas Ordentlichem gebracht. Aber das Schicksal sagte nun einmal zu ihm: »Bleibe im Lande!« und da nährte er sich ebenso dürftig wie unredlich.
Im Jahre 1823 hatte Thénardier ungefähr fünfzehnhundert Franken Schulden, die ihm den Hals brechen konnten, und das machte ihm Sorgen.
So hartnäckig ihm das Schicksal grollen mochte, so verstand sich Thénardier doch im höchsten Grade auf etwas, das bei den Barbaren eine Tugend und bei den Kulturvölkern eine Waare ist, nämlich auf die Gastfreundschaft. Außerdem glänzte er als Wilddieb und war berühmt wegen seiner Treffsicherheit. Dabei hatte er ein gewisses kaltes und ruhiges Lächeln, das recht unheimlich war.
Interessant war die Auffassung seiner Berufspflichten, welche er gelegentlich seiner Frau einzuprägen versuchte. »Die Pflicht des Gastwirts,« raunte er ihr eines Tages ärgerlich zu, »ist, dem ersten Besten für Eß- und Trinkbares, Schlaf, Licht, Wärme, schmutzige Betttücher, Liebe, Flöhe und Freundlichkeit Geld abzunehmen, die Vorüberwandernden in sein Haus hereinzuziehen, mit Anstand kleine Börsen leer und schwere Börsen leicht zu machen; sich Alles und Jedes bezahlen zu lassen, das Recht durch das Fenster zu blicken, es auf- und zuzumachen, am Kamin, auf dem Lehnstuhl, auf dem Schemel zu sitzen, die Abnutzung des Spiegels, je nachdem der Gast öfter oder weniger oft hineinsieht. Alles, Alles, sogar die Fliegen, die sein Hund frißt.
Während der Mann so über die Mittel sich zu bereichern sann und tiftelte, dachte sie nicht im Geringsten an die Gläubiger, machte sich keine Sorgen um ihre Vergangenheit oder Zukunft und lebte ganz dem Augenblick.
Zwischen zwei solchen Unholden war also die arme Cosette festgequetscht, wie zwischen einer Thür und einer Wand. Sie drückten, Jedes auf seine Weise. Die Prügel kamen von ihr; wenn sie im Winter barfuß gehen mußte, so verdankte sie das ihm. Kein Erbarmen, so furchtbar das kleine Ding sich auch quälen mochte. Im Thénardierschen Hause war ein Ideal der Tyrannei verwirklicht, war die Dienstmagd so wehrlos gegen ihre Herrschaft, wie die Fliege in einem Spinnengewebe.
Wie mag es wohl in so einem Seelchen, das eben erst aus Gottes Schoß hervorgegangen ist, aussehen, wenn die Menschen ihm von vornherein so grausam die Flügel beschneiden?
Vier neue Gäste hatten sich eingestellt.
Cosette war in trübsinnige Gedanken versunken; denn ob sie gleich erst acht Jahr alt war, hatte sie schon so viel Ungemach in ihrem Leben erduldet, daß sie schwermüthig, wie eine Greisin, grübeln konnte.
Dazu kam, daß ihr das eine Auge dick aufgelaufen war. Das machte sie nicht hübscher, und Frau Thénardier, deren kräftiger Faust sie die Beule verdankte, konstatirte auch mit inniger Genugthuung, wie häßlich der Ekel mit dem blauen Auge aussah.
Cosette dachte also daran, daß es Nacht, finstere Nacht war, daß wegen der unerwarteten Ankunft der vier Gäste viel Wasser in ihre Karaffen und Kannen gefüllt werden mußte, und daß demzufolge der Wasserbehälter so ziemlich leer war.
Etwas beruhigte sie allerdings, daß man bei den Thénardiers nicht viel Trinkwasser konsumirte. An großem Durst mangelte es ja den Gästen nicht, aber der galt einem andern Getränk als dem Wasser. Wer sich hier mit einem Glas Wasser zu den vielen Weintrinkern gesetzt hätte, wäre für einen ungemüthlichen Kauz gehalten worden. Dennoch geschah es einmal, daß die kleine Cosette Angst bekam, nämlich als die Thénardier den Deckel von einer Kasserolle hochhob, ein Glas ergriff und hastig an den Wasserbehälter ging. Sie drehte den Hahn, während die Kleine sie aufmerksam beobachtete, und nur ein dünner Strahl Wasser floß heraus und füllte das Glas nur zur Hälfte. »I, es ist ja kein Wasser mehr da!« rief sie und schwieg ein Weilchen, während das Kind vor Angst verging.
»Ach was!« meinte sie dann plötzlich. »Es geht auch wohl so.«
Cosette nahm ihre Arbeit wieder auf, aber eine ganze Viertelstunde lang klopfte ihr das Herz, als wollte es ihr die Brust zersprengen.
Sie zählte die Minuten, die so verstrichen, und wünschte, sie hätte erst die Nacht hinter sich.
Zeitweise warf einer der Trinker einen Blick durch das Fenster und rief: »Draußen ist es dunkel, wie in einem Backofen!« oder: »Bei der Dunkelheit wagt sich kaum eine Katze auf die Straße!« Und jedesmal lief es dann der Kleinen eiskalt über den Rücken.
Plötzlich trat ein Logirgast in die Stube und sagte unwirsch:
»Mein Pferd hat kein Wasser gekriegt.«
»Doch, doch!« versicherte Frau Thénardier.
»Ich sage aber nein!« entgegnete der Gast.
Inzwischen war Cosette unter dem Tisch hervorgekrochen und rief jetzt eifrig:
»Wirklich, das Pferd hat zu saufen gekriegt. Es hat den Eimer, den ganzen Eimer ausgesoffen. Ich selber habe ihm das Wasser gebracht.«
Es verhielt sich nicht so. Cosette log.
»Denkst Du, Käsehoch, Du kannst schon erwachsenen Leuten die Hucke voll lügen? Ich sage Dir noch mal, Du infames Balg, mein Pferd hat noch kein Wasser gekriegt. Es schnauft auf eine gewisse Weise, und ich weiß, was es damit sagen will.«
Cosette wollte das Spiel nicht verloren geben und antwortete, heiser vor Angst:
»Es hat eine ganze Menge Wasser gesoffen!«
»Laß das!« rief ärgerlich der Gast. »Ich will, daß mein Pferd was zu saufen kriegt, und damit basta!«
Jetzt retirirte Cosette unter den Tisch.
»Ja freilich!« meinte die Thénardier; »sein Wasser muß das Thier kriegen.«
Dabei sah sie sich um und fragte:
»Nanu! wo hat sie sich denn verkrümelt?«
Sie bückte sich und erblickte Cosette, die sich bis unter die Füße der Zecher an das andere Ende des Tisches verkrochen hatte.
»Wirst Du vorkommen!« schrie sie.
Cosette tauchte aus ihrem Versteck hervor.
»So, Du Nichtsnutz, jetzt gehst Du und bringst dem Pferd sein Wasser hin.«
»Es ist ja kein Wasser da!« jammerte das Mädchen mit kaum hörbarer Stimme.
»Nun, dann hole welches!« kommandirte Frau Thénardier und riß die Straßenthür weit auf.
Cosette ließ das Köpfchen hängen und holte einen leeren Eimer, der in der Nähe des Kamins stand.
Der Eimer war größer als sie, und sie hätte sich bequem hineinsetzen können.
Die Thénardier trat jetzt wieder an ihren Kochofen und kostete mit einem Holzlöffel den Inhalt der Kasserolle.
»Hm! Das trifft sich ja ganz gut. Ein Bischen mehr Wasser zu den Zwiebeln kann nicht schaden.«
Darauf wühlte sie in einer Schublade, wo sich kleines Geld, Pfeffer und Schalotten befanden.
»Hier, Du Ungeziefer, hast Du fünfzehn Sous. Bringe, wenn Du zurückkommst, ein großes Brod mit.«
Cosette steckte stillschweigend das Geldstück in ihre Schürzentasche, rührte sich aber mit ihrem Eimer nicht von der Stelle. Es war, als warte sie darauf, daß ihr irgendwie Hülfe werden solle.
»Willst Du wohl machen!« schrie die Thénardier.
Cosette ging, und die Thür schloß sich hinter ihr.
Es war nahe an Mitternacht, wo die Leute zur Weihnachtsmesse gehen mußten, und die Buden, die von der Kirche bis zu Thénardiers Haus reichten, waren hell erleuchtet mit Talglichtern in Papiertrichtern, was eine »magische Wirkung« hervorbrachte, nach der Ansicht des Schulmeisters, der sich auch in der Schänke befand. Dafür war aber kein Stern am Himmel zu sehen. In der letzten Bude, die gerade vor Thénardiers Haus stand, prangte allerhand Flitter, bunte Glassachen, blitzendes Blech- und Zinngeschirr. Ganz vorn aber hob sich gegen einen Fond von weißen Servietten ein beinahe zwei Fuß hohes Prachtexemplar von einer Puppe ab. Die Herrliche war mit einer rosa Krepprobe bekleidet, hatte wirkliche Haare und Emailleaugen. Den ganzen Tag war das Wunderwerk der Augenschmaus aller kleinen Mädchen von Montfermeil gewesen, aber noch hatte sich keine Mutter gefunden, die so reich oder so spendabel gewesen wäre, ihre Tochter damit zu beglücken. Eponine und Azelma hatten, in andächtige Betrachtung versunken, Stunden lang vor der schönen Bude gestanden, und auch Cosette unterstand sich, wenn auch nur verstohlen, die unvergleichliche Puppe anzusehen.
Als sie nun jetzt mit dem Eimer in der Hand aus dem Hause trat, konnte sie, so trübsinnig und niedergedrückt sie auch war, nicht umhin, die Augen zu der feinen Puppe, der Dame, wie Cosette sie nannte, zu erheben. Wie versteinert blieb das arme Ding stehen. Sie hatte die Puppe noch nicht aus so großer Nähe gesehen! Das war ja eine überirdisch herrliche Erscheinung, und die Bude kam ihr so grandios vor, wie Andern der schönste Palast. Hier strahlten urplötzlich, umwoben von mährchenhafter Pracht, Reichthum, Glück und Freude dem von düsterm Elend umnachteten Kinde entgegen. Mit der naiven und wehevollen Ueberlegung der Kindheit maß sie die Kluft, die sie von der Puppe trennte. Nur eine Königin oder mindestens eine Prinzessin konnte sich »so was Schönes« genehmigen. Nein, dieses reizende rosa Kleid, dieses schöne glatte Haar! »Muß die Puppe glücklich sein!« Kein Auge konnte sie von der zauberhaften Bude abwenden. Und je länger sie hinsah, desto mehr blendete sie all der Glanz. Ihr däuchte, sie schaue das Paradies. Hinter der großen Puppe standen noch andere, die ihr wie Feen und Genien vorkamen. Der Verkäufer, der im Hintergrund seiner Bude auf und ab ging, sah auch beinah so aus, als könnte er der Herrgott selber sein.
So von Ehrfurcht befangen vergaß sie Alles, sogar den Auftrag, den man ihr gegeben hatte, Plötzlich rief Frau Thénardiers unliebliche Stimme sie in die Wirklichkeit zurück. »Was! Du Nöhlliese, Du bist noch nicht fort? Na warte! Dir werde ich Beine machen! Da frage ich einen Menschen, was sie du zu thun hat! Nein, dieser Nichtsnutz!'«
Nun rannte Cosette so schnell sie konnte, mit ihrem Eimer davon.
Da das Thénardier'sche Gasthaus in demjenigen Theil des Dorfes lag, der die Kirche umgiebt, so mußte Cosette zu der Quelle im Walde, nach Chelles zu, gehen.
Sie sah sich keine Bude mehr an. So lange sie in der Rue du Boulanger und in der Nähe der Kirche war, beleuchteten die Lichter in den Buden ihren Weg, aber die Freude dauerte nicht lange. Bald umgab sie tiefe Dunkelheit, und ihr wurde bange ums Herz. Dies Gefühl bekämpfte sie aber tapfer, indem sie den Eimerhenkel schwenkte. Das verursachte ein Geräusch, welches ihr Gesellschaft leistete.
Je weiter sie trippelte, desto schwärzer wurde die Finsterniß. Es war kein Mensch mehr auf der Straße zu sehen. Nur einer Frau begegnete sie, die stehen blieb und vor sich hinmurmelte: »Wo mag denn das kleine Mädchen hingehen? Ob das vielleicht ein Wechselbalg ist?« – Dann aber erkannte sie Cosette und rief: »I, das ist ja die Lerche!«
So durchwanderte die Kleine den Wirrwarr von krummen und öden Straßen, in den das Dorf Montfermeil hier endet. Sie blieb noch ziemlich dreist, so lange sie auf beiden Seiten Häuser oder auch nur Gartenmauern hatte. Denn von Zeit zu Zeit fiel ein Lichtstrahl durch einen Fensterladen. Dahinter war doch etwas Lebendiges, waren doch Leute! Allein je weiter sie kam, desto langsamer ging sie und als sie an der Ecke des letzten Hauses angelangt war, blieb sie ganz stehen. Es war ihr schwer genug gefallen, über die letzte Weihnachtsbude hinauszugehen; aber das letzte Haus hinter sich zu lassen, das grenzte an das Unmögliche. Sie stellte den Eimer auf die Erde, fuhr mit der Hand in ihre Haare und kraute sich langsam den Kopf, ein Zeichen von Angst und Unentschlossenheit bei Kindern. Vor ihr lagen die Felder, eine schwarze Oede. Sie sah mit Entsetzen in die Dunkelheit hinein, wo kein Mensch mehr war, nur Thiere und vielleicht auch Gespenster. So angestrengt blickte sie hinein, daß sie die Thiere im Grase gehen hörte, daß sie ganz deutlich die Gespenster in den Aesten sah. Da nahm sie, kühn entschlossen vor lauter Furcht, den Eimer auf, meinte: »Ach was! Ich sage ihr, es war kein Wasser mehr da« und kehrte tapfer in das Dorf zurück.
Kaum hatte sie aber hundert Schritte zurückgelegt, als sie wieder stehen blieb und sich das Köpfchen kratzte. Jetzt sah sie im Geiste die scheußliche Thénardier mit ihrem Hyänenmaul und ihren wuthentflammten Augen. Das Kind blickte kläglich vor sich und hinter sich. Was thun? Wohin gehen? Hierhin oder dorthin? Endlich siegte die Angst vor der Thénardier. Sie rannte, rannte in der Richtung der Quelle, rannte ohne sich umzuschauen, ohne auf irgend etwas zu horchen. Erst als ihr der Athem ausging, hielt sie in ihrem Lauf inne, blieb aber nicht stehen, sondern ging, nur etwas langsamer, weiter. Sie hätte weinen mögen, aber sie marschirte, halb bewußtlos vor Angst, geradeaus durch die finstere Nacht, durch den grausigen Wald.
Von dem Saum des Waldes bis zur Quelle hatte sie nur sieben bis acht Minuten zu gehen. Sie kannte auch den Weg, den sie ja täglich mehrere Mal zurückzulegen hatte. Sie verirrte sich auch nicht trotz ihrer Angst. Ein Rest von Instinkt führte sie richtig, denn sie blickte weder rechts noch links, aus Furcht, sie könnte was Grauliges im Gesträuch und in den Baumkronen sehen. So kam sie endlich bei der Quelle an.
Es war ein ungefähr zwei Fuß tiefes, natürliches Becken, das sich das hervorquellende Wasser in dem Thonboden gebildet hatte und das mit großen Steinen gepflastert worden war. Moos und Doldenpflanzen umgaben es.
Cosette gönnte sich nicht die Zeit, Athem zu schöpfen. Es war zwar sehr finster, aber sie war ja gewohnt zur Quelle zu kommen. Sie tastete also mit der linken Hand nach einer über das Wasser geneigten Eiche, bekam einen Ast zu fassen, hing sich daran, neigte sich nieder und tauchte den Eimer in das Wasser. Die Aufregung verdreifachte ihre Kräfte. Aber während sie sich bückte, vergaß sie auf ihre Schürzentasche zu achten und das Fünfzehnsousstück fiel ins Wasser. Cosette sah und hörte es nicht, zog den fast bis zum Rande gefüllten Eimer heraus und stellte ihn auf die Erde hin.
Jetzt wurde sie inne, daß sie vor Mattigkeit nicht weiter konnte. Sie wäre gern sogleich aufgebrochen; aber die Anstrengung, die sie eben durchgemacht hatte, war so groß gewesen, daß sie keinen Schritt thun konnte. Sie kauerte sich also in das Gras nieder und machte, ohne zu wissen weshalb, die Augen bald zu, bald wieder auf.
Ueber ihr war der Himmel mit großen schwarzen Wolken überzogen, die Rauchsäulen ähnlich sahen. Am Rande des Gesichtsfeldes stand der Jupiter im Begriff unterzugehen. Die Kleine sah mit verstörten Augen dem großen Stern nach, den sie nicht kannte, und vor dem sie Angst hatte. Seine Strahlen fielen jetzt durch eine dicke Dunstschicht, so daß sie eine grausige, rothe Farbe annahmen und der Planet sehr groß erschien. Er sah aus, wie eine blutige Wunde.
Ein kalter Wind wehte von der Ebene her. Die Blätter an den Bäumen rauschten schaurig; die Sträucher neigten sich mit einem zischenden Geräusch; die Grashalme wallten heftig auf und nieder und schlängelten sich wie Aale; die Dornen krümmten sich wie lange mit Klauen bewaffnete Arme, die nach Beute umhertasteten. Einige trockene Blätter und Halme sausten, vom Winde gepeitscht, durch die Luft, als wollten sie vor einem Verfolger fliehen. Nach allen Seiten hin ein schauervoll bewegtes Treiben!
Der Mensch bedarf des Lichtes, um Herr seines Bewußtseins zu bleiben. In der Dunkelheit schnürt sich das Herz zusammen, schwindet auch dem Stärksten der Muth. Sieht das Auge wenig und unklar, so trübt sich auch der Verstand, so wird das Gleichmaß der Geisteskräfte gestört. Die Phantasie gewinnt die Oberhand und zaubert in das finstere Nichts eine chimärische Welt hinein, vor der die Wirklichkeit entweicht. Einige kläglich wenige und undeutliche Umrisse vervollständigt sie zu ausführlichen, genauen Bildern, die, unter dem Eindrucke der Furcht entstanden, auch Fürchterliches darstellen. Besonders auf das Gemüth der Kinder, die wehrloser sind als die Erwachsenen, deren Verstand schwächer ist, übt die Nacht eine unsäglich qualvolle, gefährliche Wirkung aus.
Ohne sich über ihre Empfindungen Rechenschaft geben zu können, fühlte auch Cosette, daß die finsteren Naturmächte sie unter ihrem Bann hielten. Es überkam sie etwas, das noch fürchterlicher war, als die Furcht. Ein seltsamer eisiger Schauer durchrieselte sie bis ins Mark hinein, und eine Art wilder Irrsinn bemächtigte sich ihrer.
Erschrocken über diesen Gemüthzustand, den sie nicht verstand, begann sie, um ihn abzuschütteln, instinktmäßig zu zählen. Eins, zwei, drei, vier – bis zehn und dann wieder von vorn an. Dies gab ihr den Sinn für die Wirklichkeit wieder. Sie fühlte jetzt die Kälte an ihren Händen, die sie sich beim Wasserschöpfen benetzt hatte. Rasch stand sie auf. Die Furcht hatte sie wieder gepackt, eine natürliche, unüberwindliche Furcht. Sie hatte nur noch einen Gedanken, davonlaufen, Hals über Kopf, durch den Wald, über Stock und Stein bis zu den Häusern, bis zu den Fenstern, wo Licht brannte. Da fiel ihr Blick auf den Eimer, und wieder siegte die Angst vor Frau Thénardier über jede andere Empfindung. Sie umklammerte den Henkel mit beiden Händen und machte sich auf den Heimweg.
So that sie etwa ein Dutzend Schritte, aber der Eimer war voll und entsetzlich schwer; sie mußte ihn wieder niedersetzen. Sie schöpfte Athem, packte den Henkel recht fest und ging dies Mal eine etwas größere Strecke, ehe sie sich wieder ausruhen mußte. Nach einigen Sekunden Aufenthalt brach sie wieder auf. Sie marschirte mit vornüber geneigtem Oberkörper und gesenktem Kopfe wie eine alte Frau; der schwere Eimer spannte ihre magern Aermchen aufs Aeußerste, die Berührung des eisernen Henkels verklammte ihre nassen Finger immer mehr, und jedes Mal, wenn sie den Eimer niedersetzte, schwappte er über und benetzte ihre nackten Beine. Dies trug sich zu in einem Walde, bei Nacht, im Winter, weitab von jedem menschlichen Auge, und es war ein achtjähriges Kind! Gott allein sah die traurige Scene.
Und vielleicht auch die Mutter.
Denn es giebt Dinge, die auch die Toten im Grabe zwingen, ihre Augen aufzumachen.
Cosette keuchte, daß es sich wie ein qualvolles Röcheln anhörte; ein heftiges Geschluchz schnürte ihr die Kehle zu; aber sie wagte nicht zu weinen, so sehr fürchtete sie sich vor der Thénardier, selbst wenn sie nicht gegenwärtig war. Pflegte sie sich doch immer vorzustellen, ihre Peinigerin sei da.
Indessen konnte sie auf diese Weise nicht schnell vorwärts kommen, und sie ging sehr langsam. Mochte sie die Pausen noch so sehr verkürzen und jedes Mal eine große Strecke zurücklegen, sie brauchte doch immer eine Stunde zu dem Heimwege und dachte mit Angst an die Schläge, die sie bekommen würde. Schon war sie ganz hin vor Schwäche und hatte doch noch nicht den Wald hinter sich. Bei einem ihr bekannten Kastanienbaum angelangt, hielt sie endlich recht lange an, um sich gründlich auszuruhen und marschirte dann wieder tapfer darauf los. Aber doch entrang sich dem gequälten, armen Wesen der Jammerruf: »O mein Gott! mein Gott!«
In dem Augenblick fühlte sie plötzlich das Gewicht des Eimers vermindert. Eine Hand, die ihr mächtig groß schien, hatte ihn ergriffen und half ihn tragen. Sie schaute empor. Neben ihr ging ein Mann, der von hinten gekommen war.
Bei allen Begegnungen mit Unbekannten regt sich der Instinkt. Der kleinen Cosette sagte er jetzt, daß sie sich nicht zu fürchten brauche.
An dem Nachmittag desselben Weinachtstages ging in dem einsamsten Theil des Boulevard de l'Hôpital zu Paris ein Mann umher, der eine Wohnung zu suchen schien. Vorzugsweise wählte er sich zu diesem Zweck die bescheidensten Häuser dieses armen Stadtviertel Saint-Marceau aus.
Wir werden weiterhin sehen, daß er in der That ein Quartier in dieser abgelegenen Gegend gemiethet hatte.
In seiner Kleidung sowohl, wie in seiner Person, verwirklichte dieser Mann den Typus jener Menschen, die man »die anständigen Bettler« nennen könnte, jene Vereinigung der äußersten Armuth und der peinlichsten Sauberkeit, die verständnisvollen Seelen doppelte Achtung einstößt. Er trug einen sehr alten, stark abgebürsteten Hut, einen fadenscheinigen Rock aus grobem Tuch und, was damals nichts Auffälliges hatte, von ockergelber Farbe, eine große, vorsintflutliche Weste, schwarze Kniehosen, die am untern Rande grau geworden waren, lange, schwarze, wollene Strümpfe und schwere Schuhe mit kupfernen Schnallen. Kurz, er sah aus, wie ein ehemaliger Hauslehrer aus einer vornehmen Familie, der mit der Emigration nach Frankreich zurückgekehrt war. Seine weißen Haare, seine gefurchte Stirn, seine fahlen Lippen, die Mattigkeit und der Lebensüberdruß, der aus allen seinen Zügen sprach, ließen vermuthen, daß er weit über sechzig Jahre hinter sich hatte. Aber wer den festen, obschon langsamen Gang und die merkwürdige Energie seiner Bewegungen beachtete, mußte ihn auf höchstens fünfzig schätzen. Die Runzeln auf seiner Stirn waren hübsch vertheilt und nahmen aufmerksame Beobachter zu seinen Gunsten ein. Um seine Lippen lagerte eine Falte, die auf den ersten Blick strenge schien und doch auf Bescheidenheit deutete. In der Tiefe seiner Augen lag ein Ausdruck von wehmuthsvoller Seelenruhe. Er trug in der linken Hand ein Packet in einem Taschentuch; seine Rechte stützte sich auf einen Stock, der aus einer Hecke herausgeschnitten schien. Derselbe war mit einer gewissen Sorgfalt gearbeitet und sah nicht übel aus; die Benutzung der Knoten im Holz zeugte von Kunstsinn, und der rothe Siegellack, der Korallen vorstellen sollte, nahm sich recht gut aus. Es war ein furchtbarer Knüttel und sah wie ein feiner Spazierstock aus.
Auf dem Boulevard de l'Hôpital ist, besonders im Winter, der Verkehr ein geringer. Aber auch den Wenigen, denen unser Unbekannter begegnete, schien er scheu aus dem Wege zu gehen.
Zu jener Zeit fuhr König Ludwig XVIII. fast täglich nach Choisy-le-Roy. Es war dies eine seiner Lieblingspromenaden. Gegen zwei Uhr Nachmittags eilte die königliche Equipage in gestrecktem Galopp den Boulevard de l'Hôpital entlang.
So pünktlich, daß die armen Leute, die keine Uhr hatten, die Zeit danach berechneten. »Jetzt ist es zwei, er fährt eben nach den Tuilerieen zurück.«
Dann liefen die Einen herbei, während Andere auswichen; denn einen König sieht das Publikum gern vorbeifahren. Uebrigens sah auch eine Fahrt Ludwigs XVIII. durch die Straßen von Paris majestätisch genug aus. Dieser König, den die Gicht des richtigen Gebrauchs seiner Gliedmaßen beraubte, liebte schnelle Bewegung und hätte seine Equipage am liebsten vom Blitze ziehen lassen. Seine schwerfällige, über und über vergoldete und mit Lilien bemalte Berline war von einer großen Kavalkade umgeben. Kaum, daß man die Zeit hatte, einen Blick hineinzuwerfen. Man sah dann in dem rechten Winkel des Rücksitzes, auf weißen, kapitonnirten Atlaskissen, ein breites und röthliches Gesicht, ein Paar stolze, feste und kluge Augen, ein intelligentes Lächeln, zwei große Epauletten, einen Civilrock, den Orden des goldenen Vließes, ein Ludwigskreuz, das Kreuz der Ehrenlegion, den silbernen Stern des heiligen Geistes, einen dicken Bauch und eine blaue Schnur. Bei der Fahrt vor den Thoren von Paris nahm er seinen Federhut ab und hielt ihn auf seinen mit hohen englischen Gamaschen bedeckten Knieen; kehrte er in die Stadt zurück, so setzte er ihn wieder auf und grüßte nur selten. Das Volk sah er kalt an, und es vergalt ihm Gleiches mit Gleichem. Als er sich zum ersten Mal in dem Stadtviertel Saint-Marceau sehen ließ, trug er keinen weiteren Erfolg davon, als daß ein Arbeiter zu seinem Freunde sagte: »Du, der Dicke da ist die Regierung.«
Diese pünktliche Durchfahrt des Königs durch das Viertel Saint-Marceau war also das Hauptereigniß des Tages auf dem Boulevard de l'Hôpital.
Der Spaziergänger mit dem gelben Rock war offenbar in dem Viertel nicht heimisch und vielleicht nicht einmal ein Pariser, denn er wußte nichts von dieser Gewohnheit des Königs. Als nun um zwei Uhr die königliche Equipage, umgeben von einer Schwadron silberbetreßter Gardes-du-Corps um die Salpêtrière auf den Boulevard sprengte, schien der Fremde erstaunt und fast erschrocken. Es befand sich gerade kein Anderer als er in der Seitenallee und doch trat er hastig hinter einen Winkel der Umwallungsmauer, was den Herzog von Havré nicht hinderte, ihn zu bemerken. Der Herzog saß als dienstthuender Gardehauptmann in der Equipage dem König gegenüber: »Der Mensch sieht verdächtig aus!« bemerkte er zu Sr. Majestät. Einigen Polizisten, die dem königlichen Wagen vorausgegangen waren, fiel der Fremde gleichfalls auf, und Einer von ihnen erhielt Befehl, ihm zu folgen. Aber der Unbekannte verschwand in den kleinen Straßen der Vorstadt und, da der Tag zur Neige ging, verlor der Polizist seine Spur, laut einem noch am Abend desselben Tages verfaßten Bericht an den Polizeipräfekten und Staatsminister Grafen Anglès.
Als der Mann mit dem gelben Rock den Schutzmann von seiner Fährte abgebracht hatte, ging er schneller, nicht ohne sich recht oft umgesehen zu haben, ob ihm auch Niemand folge. Um ein Viertel auf fünf, also als die Nacht schon hereingebrochen war, kam er an dem Theater der Porte-Saint-Martin vorbei, wo an jenem Tage das Stück: »Die beiden Sträflinge« gegeben wurde. Dieser Titel fesselte seine Aufmerksamkeit, denn so eilig er es zu haben schien, blieb er doch stehen, um den Theaterzettel zu lesen. Einen Augenblick darauf befand er sich in der Sackgasse de la Planchette und trat in den Plat d'Etain, wo damals ein Postbüreau war. Vor der Thür stand reisefertig die Diligence, die nach Lagny fuhr, und die Passagiere kletterten eilig die hohe eiserne Treppe zu dem Deck empor.
»Haben Sie noch einen Platz?« fragte der Mann mit dem gelben Rock den Kutscher.
»Einen einzigen, neben mir auf dem Bock.«
»Gut, den belege ich.«
»Dann steigen Sie herauf.«
Aber ehe der Wagen abfuhr, musterte der Kutscher die bescheidene Kleidung und das winzige Bündel des Passagiers und fand es gerathen, ihm das Fahrgeld vorher abzuverlangen.
»Fahren Sie bis Lagny?« fragte ihn der Kutscher.
»Ja.«
Der Wagen setzte sich in Bewegung. Als er aus der Stadt heraus war, versuchte der Postillon ein Gespräch mit dem Passagier anzuknüpfen. Dieser aber verhielt sich sehr einsilbig, und der Kutscher mußte sich daran genügen lassen, zu pfeifen und auf seine Pferde zu schimpfen.
Gegen sechs Uhr Abends war man in Chelles angelangt, und der Postillon hielt, um seine Pferde verschnaufen zu lassen, vor der Herberge an, die in den alten Gebäuden der königlichen Abtei installirt ist.
»Ich steige hier ab!« bemerkte der Passagier mit dem gelben Rock, ergriff seinen Stock und sein Bündel, sprang vom Wagen hinab und war einen Augenblick darauf verschwunden.
In die Herberge war er nicht hineingegangen, und als nach einigen Minuten die Diligence nach Lagny weiterfuhr, begegnete sie ihm nicht in der Hauptstraße von Chelles.
Der Kutscher wandte sich zu den Insassen des Innern:
»Der Mann ist nicht aus dieser Gegend, denn ich kenne ihn nicht. Er sieht aus, als hätte er keinen rothen Heller, und doch kommt es ihm aufs Geld nicht an; er bezahlt bis Lagny und fährt nur bis Chelles. Es ist Nacht, alle Häuser sind geschlossen, er geht nicht in die Herberge, und doch sieht man ihn nirgends. Er muß geradezu in die Erde versunken sein.«
Der Passagier war nicht in die Erde versunken, sondern hatte mit eiligen Schritten die Hauptstraße von Chelles durchmessen und war vor der Kirche in den Feldweg links eingebogen, der nach Montfermeil führt, mußte also wohl in dem Ort Bescheid wissen.
Auch auf diesem Wege ging er sehr rasch. An der Stelle, wo sich der Weg mit der alten Chaussee kreuzt, die Lagny mit Gagny verbindet, hörte er Leute kommen, verbarg sich eilig in einem Graben und wartete, bis sie sich entfernt hatten. Die Vorsicht war freilich so gut wie überflüssig, denn es war, wie schon gesagt, eine sehr dunkle Decembernacht. Kaum, daß ein paar Sterne am Himmel schienen.
Hier beginnt der Boden anzusteigen, aber der Fremde ging nicht weiter auf dem Wege nach Montfermeil, sondern schlug sich seitwärts und eilte querfeldein dem Walde zu.
Erst hier ging er langsamer, indem er sorgfältig alle Bäume betrachtete, als bezeichneten sie ihm einen, nur ihm bekannten Weg. Einmal blieb er auch unschlüssig stehen, fand sich aber doch zurecht und gelangte an eine Lichtung, wo ein großer Haufen Steine lag. Auf diese rannte er zu und sah sie gleichfalls sehr genau an, als habe er sie früher gezählt und wolle sehen, ob keiner fehle. Nicht weit von diesem Steinhaufen stand ein dicker Baum, der mit Auswüchsen, so zu sagen pflanzlichen Warzen, bedeckt war. An den trat er jetzt heran und ließ seine Hand über die Rinde hingleiten, als suche er die Auswüchse wiederzuerkennen.
Diesem Baum, einer Esche, gegenüber stand eine Kastanie, der ein Theil der Rinde abgefault war, und der man deshalb einen Streifen Zink aufgenagelt hatte. Nach diesem griff er und betastete ihn gleichfalls, indem er sich auf die Fußspitzen erhob.
Dann stampfte er eine Weile auf dem zwischen dem Baum und den Steinen gelegnen Boden herum, als ob er sich hätte versichern wollen, daß die Erde nicht frisch aufgewühlt worden sei.
Als auch dies abgemacht war, orientierte er sich und marschirte weiter durch den Wald.
Dies war der Mann, der Cosette den Eimer abgenommen hatte.
Cosette also hatte sich vor dem Unbekannten nicht gefürchtet.
»Das ist eine schwere Last für Dich, mein Kind!« sagte er ernst und halblaut.
Cosette sah ihn an und erwiderte:
»O ja, lieber Herr!«
»Gieb ihn her. Ich werd' ihn Dir tragen.«
Cosette ließ den Eimer los, und der Unbekannte ging damit neben ihr her.
Das ist wirklich eine schwere Last!« sagte er halb für sich. – »Wie alt bist Du, Kleine?«
»Acht Jahr.«
»Kommst Du weither mit dem Eimer?«
»Von der Quelle im Walde.«
»Und wie weit hast Du noch zu gehen?«
»Eine gute Viertelstunde.«
Der Unbekannte schwieg eine Weile und fragte dann plötzlich:
»Hast Du denn keine Mutter?«
»Ich weiß nicht,« antwortete das Kind. – »Ich glaube nicht. Die andern Kinder haben eine Mutter, ich nicht.«
Und nach einer Pause fuhr sie fort:
»Ich glaube, ich habe nie eine gehabt.«
Ihr Begleiter blieb stehen, stellte den Eimer hin, beugte sich über sie und hielt beide Hände auf ihre Schultern, während er sich bemühte, ihre Züge in der Dunkelheit zu erkennen.
»Wie heißt Du?«
»Cosette.«
Den Unbekannten durchzuckte es wie ein elektrischer Schlag. Er betrachtete Cosettes blasses und mageres Gesichtchen bei dem schwachen Licht des Himmels, ließ dann ihre Schultern los, nahm den Eimer wieder in die Hand und marschirte weiter.
»Kleine, wo wohnst Du?« hob er nach einiger Zeit wieder an.
»In Montfermeil, wenn Sie das kennen.«
»Dort geht unser Weg hin?«
»Ja, lieber Herr.«
Wieder schwieg er eine Weile.
»Wer hat Dich denn so spät in den Wald nach Wasser geschickt?«
»Frau Thénardier.«
In einem Ton, der gleichgültig klingen sollte, aber eigenthümlich zitterte, forschte er dann:
»Was ist das für eine Frau?«
»Bei der bin ich im Dienst. Sie hat eine Gastwirtschaft.«
»Eine Gastwirtschaft? Gut, dann will ich diese Nacht da einkehren. Führe mich hin.«
»Wir sind auf dem Wege,« beschied ihn die Kleine.
Er ging ziemlich schnell. Aber Cosette konnte mitkommen. Sie fühlte keine Müdigkeit mehr. Zeitweise schlug sie die Augen mit einem unbeschreiblich ruhigen Vertrauen zu ihrem Begleiter empor. Nie hatte jemand sie gelehrt, sich an die Vorsehung zu wenden und zu beten. Aber diesem Fremden gegenüber empfand sie etwas, das mit der Hoffnung, der Freude verwandt war, das zum Himmel stieg.
So verstrichen einige Minuten, bis er wieder fragte:
»Hat Frau Thénardier keine Magd?«
»Nein.«
»Bist Du allein?«
»Ja.«
Wieder trat eine Pause ein. Da rief Cosette:
»D. h., es sind zwei kleine Mädchen da.«
»Was für kleine Mädchen?«
»Ponine und Selma.«
Dies waren Cosettens Abkürzungen für die Romannamen, die Frau Thénardier ihren Töchtern beigelegt hatte.
»Wer ist das, Ponine und Selma?«
»Die Fräuleins von Frau Thénardier. Was man ihre Töchter nennt.«
»Was haben Die zu thun?«
»O, die haben schöne Puppen, hübsche Sachen, wo Gold und schöne Geschichten dran sind. Sie spielen, sie amüsiren sich.«
»Den ganzen Tag?«
»Ja wohl.«
»Und Du?«
»Ich arbeite.«
»Den ganzen Tag?«
Das Kind schlug ihre großen Augen empor, in denen eine Thräne glänzte, und antwortete:
»Ja, lieber Herr.«
Dann setzte sie nach einer Pause hinzu:
»Manchmal, wenn ich mit der Arbeit fertig bin und man mir's erlaubt, amüsire ich mich auch.«
»Wie fängst Du das denn an?«
»Wie ich kann. Viel Spielsachen habe ich nicht. Ponine und Selma wollen nicht, daß ich mit ihren Puppen spiele. Ich habe nur einen bleiernen Säbel. So lang ist er«, und sie zeigte ihren kleinen Finger.
»Und scharf ist er auch nicht, nicht wahr?«
»Doch, man kann Salat und Fliegen damit durchschneiden.«
So gelangten sie in das Dorf, wo Cosette den Fremden führte. Sie kamen auch an dem Bäckerladen vorbei, aber die Kleine vergaß hineinzugehen und das verlangte Brot mitzunehmen. Ihr Begleiter hatte aufgehört, sie auszuforschen und beobachtete ein düsteres Stillschweigen. Als sie aber die Kirche hinter sich hatten, fragte er beim Anblick der vielen Buden:
»Ist denn hier Jahrmarkt?«
»Nein, Weihnachten.«
Dicht bei der Herberge angelangt, berührte Cosette ihren Begleiter furchtsam am Arm.
»Lieber Herr . . .«
»Was denn, mein Kind?«
»Jetzt sind wir gleich zu Hause.«
»Nun, und . . .?«
»Wollen Sie mir jetzt den Eimer wiedergeben?«
»Wozu denn?«
»Ja, wenn die Frau sieht, daß ich ihn mir habe tragen lassen, dann haut sie mich.«
Er gab ihr den Eimer und gleich darauf befanden sie sich vor dem Hause.
Cosette warf noch einen Blick seitwärts nach der schönen Puppe in der Bude und klopfte dann. Die Thür ging auf, und die Thénardier erschien mit einem Licht in der Hand.
»Ach, Du bist's. Du Lumpenmatz! Du hast ja eine recht hübsche Zeit vertrödelt. Sag' mal, wo hast Du Dich denn rumgetrieben?«
»Es ist ein Herr da,« antwortete Cosette zitternd. »Er will die Nacht hier logiren.«
Schleunigst setzte Frau Thénardier ihre liebenswürdigste Miene auf, eine physiognomische Verwandlung, die Gastwirte bekanntlich sehr rasch zu vollziehen verstehen.
»Der Herr?« forschte sie.
»Ganz richtig!« antwortete der Fremde, indem er den Hut abnahm.
Einer solchen Höflichkeit pflegen reiche Gäste sich nicht zu befleißigen. Als die Thénardier nun noch die Kleidung und das Gepäck des Ankömmlings einer raschen Okularinspektion unterzogen hatte, that sie sich keinen Zwang mehr an und ließ ihre natürlich unwirsche Laune wieder vortreten.
»Kommen Sie herein, Mann.«
Der Mann trat ein. Die Thénardier musterte ihn zum zweiten Mal, besonders den schäbigen Rock und den etwas demolirten Hut; dann sah sie, indem sie den Kopf schüttelte, die Nase rümpfte und mit den Augen zwinkerte, zu ihrem Mann hinüber, der noch immer mit den Fuhrleuten kneipte. Er machte statt aller Antwort ein kaum bemerkbares Zeichen mit dem Zeigefinger, was zugleich mit einer gewissen Schwellung der Lippen: »Vollständiger Dalles!« bedeutete. Dann wandte sich die Théniardier wieder zu dem Ankömmling mit den Worten:
»Thut mir leid, lieber Mann, aber ich habe kein Zimmer mehr.«
»Bringen Sie mich unter, wo Sie wollen, auf dem Boden, im Stall. Ich werde so viel zahlen, als wenn Sie mir ein Zimmer gäben.«
»Zwei Franken.«
»Meinetwegen.«
»Zwei Franken!« sagte ein Fuhrmann leise zu Frau Thénardier. »Ein Zimmer kostet doch blos einen Franken!«
»Für den zwei!« flüsterte die Thénardier, »Armen Leuten rechne ich zwei Franken an.«
»So ist's recht,« setzte der Mann in sanftem Ton hinzu. »Solche Gäste schaden Einem.«
Mittlerweile hatte der Ankömmling sein Bündel und seinen Stock auf eine Bank gelegt und sich an einem Tisch niedergelassen, auf den Cosette mit eifriger Dienstwilligkeit eine Flasche Wein und ein Glas gestellt hatte. Den Eimer Wasser hatte der Hausirer seinem Pferde selbst in den Stall gebracht, und Cosette saß jetzt wieder an ihrem gewohnten Platze und strickte.
Der Fremde nippte kaum an dem Wein, den er sich eingeschenkt hatte, und betrachtete Cosette mit eigenthümlicher Theilnahme.
Das Kind war häßlich. Wäre es ihr besser gegangen, so hätte sie hübsch sein können. Wir haben die äußere Erscheinung des unglücklichen kleinen Wesens schon beschrieben. Sie war acht Jahre alt, und wer es nicht wußte, schätzte sie auf sechs. Ihre großen tief eingesunkenen Augen waren glanzlos von den vielen Thränen, die sie geweint. An ihren Mundwinkeln konnte man jene Krümmung wahrnahmen, die beständige Angst kennzeichnet, und namentlich verurtheilten Verbrechern, so wie unheilbar Kranken eigenthümlich ist. Ihre Hände waren, wie ihre Mutter geahnt, mit Frostbeulen übersät. Ihre schreckliche Magerkeit wurde bei dem Schein des Kaminfeuers, das die spitzen Knochen schärfer hervorhob, noch auffälliger, als gewöhnlich. Besonders die Vertiefungen am Schlüsselbein waren erbarmenswerth anzusehen. Da sie immer fröstelte, hatte sie sich auch gewöhnt, die beiden Kniee gegen einander zu drücken. Ihre Kleidung bestand aus lauter Lumpen, deren Anblick im Sommer Mitleid und im Winter Entsetzen einflößte. Sie hatte nur durchlöcherte Leinwand, keinen Fetzen Wolle am Leibe. Stellenweise konnte man die bloße Haut sehen, nebst braunen Flecken, den Striemen und Beulen, Spuren von Frau Thénardiers Mißhandlungen. Ihre dünnen Beinchen waren roth gefroren. Ihr ganzes Benehmen, alle ihre Bewegungen, ihre Sprache, ihr Stillschweigen, ihre Blicke, Alles, Alles zeugte, daß dies Wesen in fortwährender Furcht lebte.
Furcht durchdrang sie vollständig, bestimmte ihre Geberden. Die Furcht bewirkte, daß sie die Ellbogen an die Hüften drückte, und die Fersen unter ihren Rock zog, damit sie recht wenig Platz einnehme, und beständige Furcht sah man ihr an den Augen an.
So groß war diese Furcht, daß Cosette, bei ihrer Heimkunft nicht gewagt hatte, sich am Feuer zu trocknen, sondern sofort wieder an ihre Arbeit gegangen war.
Der Blick dieses achtjährigen Kindes war immer so hoffnungslos und bisweilen so tragisch, daß man hätte meinen können, sie sei im Begriff blödsinnig oder teuflisch bösartig zu werden.
Sie wußte, wie gesagt, nicht was Beten heißt; nie hatte sie einen Fuß in die Kirche gesetzt. »Hab' ich die Zeit dazu?« sagte die Thénardier.
Der Mann mit dem gelben Rock verwandte kein Auge von Cosette.
Plötzlich rief Frau Thénardier:
»Wo ist denn aber das Brod, das Du mitbringen solltest.«
Wie immer, wenn die Thénardier keifte, kroch Cosette rasch unter dem Tisch hervor.
Das Brod hatte sie vollständig vergessen, und nahm ihre Zuflucht zu dem gewöhnlichen Rettungsmittel aller übermäßig verschüchterten Kinder. Sie log.
»Beim Bäcker war's schon zu!«
»Dann hättest Du anklopfen sollen.«
»Das habe ich auch gethan.«
»Nun?«
»Er hat nicht aufgemacht.«
»Ich werde morgen fragen, ob das wahr ist, und hast Du gelogen, so setzt es was Gehöriges. Vorläufig gieb mir aber das Fünfzehnsoustück wieder.«
Cosette fuhr mit der Hand in die Tasche, und alle Farbe wich aus ihrem Gesicht. Das Geldstück war nicht mehr da.
»Nun? Hast Du nicht gehört?«
Cosette wendete ihre Tasche hin und her, aber es war nicht darin. Was mochte wohl aus dem Gelde geworden sein? Die unglückliche Kleine konnte kein Wort über die Lippen bringen. Sie war starr vor Schrecken.
»Hast Du das Geld verloren?« krächzte die Thénardier, »oder willst Du's behalten?«
Zugleich langte sie nach dem Kantschu, der in der Kaminecke hing.
Jetzt bekam Cosette wieder so viel Kraft, daß sie schreien konnte:
»Gnade! Gnade! Ich will's nicht wieder thun!«
Die Thénardier hakte jetzt den Kantschu ab.
Währenddessen hatte der Mann mit dem gelben Rock in seine Westentasche gegriffen, ohne daß Jemand es bemerkt hatte. Die andern Gäste tranken, plauderten, spielten Karten und achteten nicht auf das, was um sie vorging.
Cosette aber drückte sich angstvoll in die Kaminecke und bemühte sich dem Feinde, der auf sie zuschritt, einen möglichst geringen Theil ihres Körpers darzubieten.
»Verzeihung, Frau Wirtin,« sagte jetzt der Unbekannte, »aber soeben habe ich etwas gesehen, das der Kleinen aus der Tasche gefallen ist, etwas Rundes. Vielleicht ist es das.«
Damit bückte er sich und schien etwas am Boden zu suchen.
»Richtig! Da ist es!«
Mit diesen Wort reichte er der Thénardier ein Geldstück.
»Ja wohl, das ist es!« bestätigte sie. Es war aber ein Zwanzigsousstück, das die Thénardier einsteckte; sie hatte Profit dabei und fand sich folglich nicht veranlaßt, Einwände zu machen. Nur warf sie dem armen Mädchen noch einen grimmigen Blick zu, nebst der Drohung: »Laß Dir das nicht wieder passiren!«
Cosette kroch unter den Tisch zurück, und ihre großen, auf ihren Retter gerichteten Augen nahmen einen Ausdruck an, dessen sie bisher unfähig gewesen waren. Sie empfand vorläufig ein naives Erstaunen, dem sich aber Vertrauen beimischte.
»Wünschen Sie vielleicht noch etwas zu essen?« fragte jetzt Frau Thénardier den Fremden.
Er war in tiefes Nachdenken versunken und antwortete nicht.
»Was für Einer mag das sein?« dachte Frau Thénardier. »Gewiß ein gottserbärmlicher Hungerleider, der sich kein Abendessen genehmigen kann. Ob ich wenigstens das Nachtquartier von ihm bezahlt kriege? Man kann noch von Glück sagen, daß er das Geld vorhin, das auf der Erde lag, nicht in seine Tasche gesteckt hat.«
Mittlerweile waren durch eine Stubenthür Eponine und Azelma hereingekommen.
Die beiden Mädchen hatten sich prächtig entwickelt und sahen wie feine Städterinnen, nicht wie Bauernkinder, aus. Sie waren überaus reizend, die Eine mit ihren kastanienbraunen, glänzenden Flechten, die Andere mit ihren langen schwarzen Zöpfen, wohl genährt, sauber gehalten, gesund und munter, daß man seine Freude an ihnen haben konnte. Die Mama mußte wohl eine besondere Sorgfalt auf die Toilette ihrer Lieblinge verwenden, denn trotzdem sie dicke Wollstoffe trugen, sah ihre Kleidung nichts weniger, als schwerfällig und ungraziös aus; sie paarte anmuthig den Ernst des Winters mit der hellen Heiterkeit des Frühlings. Zudem bewies ihr sicheres, selbstbewußtes Auftreten, ihre Ausgelassenheit, daß sie keine Sklavenkinder waren, wie die arme Cosette. Frau Thénardier empfing sie auch mit einer Miene zärtlicher Bewundrung, der ihre scheinbar mürrische Anrede keinen Eintrag thun konnte:
»Na, seid Ihr wieder da?«
Dann nahm sie Eine nach der Andern auf den Schoß glättete ihnen eifrig die Haare, knüpfte ihnen aufgegangene Schleifen zurecht, und setzte sie mit einem liebevoll derben und durchaus ungefährlichen Ruck, der allen Müttern eigen ist, wieder auf die Erde.
»Nein, wie sie wieder aussehen!« ein Ausruf, der natürlich das Gegentheil bedeuten sollte, nämlich, daß ihre Abgötter überaus niedlich geputzt seien.
Die beiden Mädchen setzten sich vor den Kamin und spielten mit einer Puppe, wobei Cosette ihnen von Zeit zu Zeit schwermuthsvoll zusah und ihren Strickstrumpf vergaß.
Eponine und Azelma ihrerseits beachteten Cosette nicht, die ihnen nicht mehr galt, als ein Hund. Keine vierundzwanzig Jahre zählten diese drei kleinen Mädchen zusammengenommen, und schon boten sie in ihrem Verhalten gegeneinander ein treues Bild der großen menschlichen Gesellschaft dar: Auf der einen Seite Neid, auf der andern Geringschätzung.
Die Puppe der beiden Schwestern war sehr abgegriffen, alt, entzwei, aber trotzdem betrachtete Cosette sie mit ungemischter Bewunderung. Hatte sie doch in ihrem Leben keine »richtige Puppe« gehabt, um uns eines allen Kindern verständlichen Ausdrucks zu bedienen.
Plötzlich bemerkte die Thénardier, die in der Stube hier und dort zu thun hatte, daß Cosette Allotria trieb und statt zu arbeiten, ihren glücklicheren Gefährtinnen zuschaute.
»Ertapp' ich Dich wieder mal beim Faulenzen? Na warte, der Kantschu soll Dich arbeiten lehren.«
Ohne von seinem Sitz aufzustehen, fiel ihr der Fremde schüchtern ins Wort:
»So lassen Sie das Kind doch spielen, Frau Wirtin!«
Von Seiten jedes Gastes, der sich Braten, nebst zwei Flaschen Wein zum Abendessen bestellt und nicht wie ein »erbärmlicher Hungerleider« ausgesehen hätte, wäre solch eine Bitte ein Befehl gewesen. Aber daß ein Kerl mit einem ramponirten Hute und einem schäbigen Rock sich erdreisten sollte einen Wunsch zu äußern, das glaubte Frau Thénardier nicht dulden zu dürfen. Sie erwiederte also in unliebenswürdigem Tone:
»Sie muß arbeiten; dazu erhalte ich sie nicht, daß sie die Hände in den Schoß legen soll.«
»Was arbeitet sie denn da?« fragte der Fremde mit seiner sanften Stimme, die mit seiner bettelhaften Kleidung und mit seinen Lastträgerschultern in eigentümlichem Gegensatz standen.
Die Thénardier geruhte zu antworten:
»Strümpfe für meine Töchter, sie brauchen welche höchst nöthig.«
Der Fremde ließ einen Blick auf die roth gefrorenen Füße der armen Cosette fallen und fuhr fort:
»Wieviel Zeit braucht sie zu so einem Paar Strümpfe?«
»Wenigstens drei bis vier Tage, so faul wie sie ist.«
»Und wieviel mag solch ein Paar wert sein, wenn es fertig ist?«
Die Thénardier streifte ihn mit einem verächtlichen Blick, als sie antwortete:
»Wenigstens dreißig Sous.«
»Würden Sie sie mir für fünf Franken überlassen?«
»Na ob!« meinte ein Fuhrmann, der dem Gespräch zugehört hatte. »Fünf Franken? Alle Hagel!«
Hier glaube Frau Thénardier's Gemahl sich einmischen zu müssen:
»Gewiß, mein Herr! Wenn Ihnen das Vergnügen machen kann, sollen Sie das Paar Strümpfe für fünf Franken bekommen. Wir halten es für unsere Pflicht, unsern Gästen nichts abzuschlagen.«
»Wir müssen das Geld aber gleich haben!« kommandirte die kurz angebundene Frau Thénardier.
»Gut, ich kaufe die Strümpfe,« antwortete der Gast. Hier ist das Geld.«
Und zu Cosette gewendet fuhr er fort:
»Jetzt gehört Deine Arbeit mir. Geh und spiele.«
So sehr imponirte das Fünffrankenstück, das der schäbige Gast auf den Tisch gelegt hatte, dem Fuhrmann, daß er sein Glas Wein stehen lieb und herbeieilte. »Wahrhaftig, fünf Franken!« rief er. »Und wirklich echt!«
Der Wirt trat heran und steckte stillschweigend das Geld in seine Tasche.
Seine Frau fand kein Wort der Erwidrung. Aber sie biß sich in die Lippen, und ihre Mienen nahmen einen Ausdruck des Hasses an.
Währenddem zitterte Cosette, erkühnte sich aber doch zu erfragen:
»Frau Wirtin, darf ich wirklich spielen?«
»Ja!« brüllte wüthend Frau Thénardier.
»Danke, Frau Wirtin!«
Und während sie sich mit dem Munde bei Frau Thénardier bedankte, schlug ihr Herz dem Fremden entgegen.
Unterdessen hatte sich der Wirt wieder an seinen Tisch gesetzt, um weiter zu trinken. Seine Frau machte sich jetzt einen Augenblick in seiner Nähe zu schaffen und flüsterte ihm ins Ohr:
»Was mag das für ein Mensch sein, der Gelbe?«
»Es giebt Millionäre, kann ich Dir sagen, die solche Röcke tragen. Ich selber habe welche gekannt!«
Cosette hatte ihren Strickstrumpf bei Seite gelegt, ohne ihren Platz zu verlassen. Das nahm sie sich nicht leicht heraus! Sie begnügte sich aus einer Schachtel, die hinter ihr stand, einige Läppchen und ihr bleiernes Säbelchen herauszunehmen.
Eponine und Azelma beachteten nicht, was um sie vorging, da ein neues Vergnügen ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Der Puppe überdrüssig, nahm Eponine, die Aelteste, sich die junge Katze vor und wickelte sie, so sehr das Thier sich auch sträubte und miaute, in eine Menge blaue und rothe Lappen ein. Welchen Zweck dieses schwierige Stück Arbeit hatte, erklärte sie ihrer Schwester in jener allerliebsten Kindersprache, deren Anmuth getreu wiederzugeben so unmöglich ist, wie die Fixirung der bunten Farben des Schmetterlings:
»Nämlich, Selmachen, die Puppe ist besser, als die andere. Die ist lebendig und schreit. Wir wollen mit der spielen. Das ist also meine Tochter und ich bin eine feine Dame. Ich komme bei Dir zu Besuch und bringe sie mit. Du merkst, daß sie einen Schnurrbart hat, und wunderst Dich. Und die Ohren und den Schwanz siehst Du auch und wunderst Dich und sagst: ›Gott erbarme sich!‹ Und ich sage: ›Ja, ja, gnädige Frau, das ist meine Tochter. Die kleinen Mädchen von heutzutage sehen alle so aus.‹«
Ein Vorschlag, den Selma natürlich mit Begeisterung annahm.
Wie die Vögel alles Mögliche zu ihrem Nest gebrauchen können, so machen sich die Kinder aus allem Möglichen eine Puppe. Während also Eponine und Azelma die Katze einmummelten, kleidete Cosette den Säbel ein, nahm ihn auf die Arme und wiegte und sang ihn in Schlaf.
Das Spiel mit der Puppe ist eins der gebieterischsten Bedürfnisse und einer der nettesten Instinkte der kleinen Mädchen. Hegen und pflegen, kleiden, entkleiden, wieder ankleiden, putzen, ermahnen, schelten, wiegen, hätscheln, in Schlaf singen sind ja die Hauptbeschäftigungen einer zukünftigen Mutter.
Ein kleines Mädchen ohne Puppe ist beinahe so unglücklich, beinahe solch' ein Unding, wie eine Frau ohne Kinder.
Deshalb hatte sich Cosette aus einem Säbel eine Puppe gemacht.
Die Thénardier ihrerseits war wieder zu dem »Gelben« zurückgekommen.
»Mein Mann hat Recht«, dachte sie. »Wer weiß, ob das nicht ein Bankier ist! Es giebt sonderbare Käuze unter den Reichen.«
»Mein Herr . . .«, hob sie an, indem sie sich zu ihm an den Tisch setzte.
Bei dieser Anrede stutzte der Fremde. Sie hatte ihn bisher nur »Mann!« titulirt.
»Sehen Sie, mein Herr«, fuhr sie fort und setzte dabei ihre freundliche Fratze auf, die noch widerwärtiger war, als ihre wüthige Miene, »ich habe ja nichts dagegen, ich sehe es ja ganz gern, wenn die Kleine spielt; aber das kann nur einmal so hingehen, weil Sie freigebig sind. Das hat nichts. Das muß arbeiten.«
»Es ist also nicht Ihr Kind?«
»Bewahre. Es ist ein armes Ding, das wir aus reiner Barmherzigkeit bei uns aufgenommen haben. Sie ist schwachsinnig. Ich denke mir, sie hat Wasser im Kopf. Sehen Sie ihn sich mal an, wie groß er ist. Wir thun für sie Alles, was in unseren Kräften steht, aber wir sind nicht reich. Auf die Briefe, die wir schreiben, kriegen wir seit einem halben Jahr keine Antwort. Die Mutter muß also wohl gestorben sein.«
»Hm!« antwortete der Unbekannte und grübelte weiter.
»Mit der Mutter war nicht viel los; sie hat ihr Kind von sich gegeben.«
Während dieses Gesprächs hatte Cosette unter dem Tische, als ahne sie, daß von ihr die Rede war, von Frau Thénardier kein Auge verwandt und sang nun, indem sie in das Kaminfeuer starrte: »Meine Mutter ist tot! Meine Mutter ist tot!«
Auch die Trinker sangen, um die heilige Weihnacht würdig zu begehen, ein Lied, das sich nicht so schwermüthig und nicht so naiv anhörte, wie Cosettens Komposition. Es waren frische und fröhliche Zoten, die sich auf die Geschichte der Jungfrau Maria und des kleinen Jesus bezog. Das Lied erregte großartige Heiterkeit, so daß auch die Thénardier zu ihnen eilte, um an dem schönen Amüsement teilzunehmen. Auf diese Weise wurde der Fremde ihre Gesellschaft los, aber es dauerte nicht lange, so kam sie wieder zu ihm zurück und nöthigte ihn, sich ein gutes Abendessen bereiten zu lassen. Der Gast gab nach und bestellte – eine Portion Brot und Käse.
»Der Kerl ist doch ein Lump!« dachte Frau Thénardier.
Plötzlich hörte Cosette mit ihrem Gesang auf. Sie hatte sich umgedreht und bemerkte die Puppe der kleinen Fräulein, die sie, nicht weit von dem Küchentisch, auf dem Boden hatten liegen lassen.
Da ließ sie ihren Säbel fallen, der ihr als Puppe nicht ganz gefallen wollte, und sah sich aufmerksam in der Stube um. Frau Thénardier unterhielt sich leise mit ihrem Manne und zählte Geld; Ponine und Selma spielten mit der Katze; die Gäste aßen, tranken oder sangen; Niemand blickte nach ihr hin. Die Gelegenheit mußte sie schnell wahrnehmen. Sie kroch also unter dem Tisch hervor, blickte sich noch einmal um, ob Keiner sie beobachtete, und bemächtigte sich dann rasch der Puppe. Eine Sekunde darauf saß sie wieder an ihrem gewohnten Platze, von den Anwesenden abgekehrt, so daß ihr Schatten auf die Puppe fiel und spielte mit leidenschaftlichem Eifer.
Nur der Fremde, der langsam sein frugales Mahl verzehrte, hatte das Manöver gesehen.
Aber die Freude, mit einer wirklichen Puppe spielen zu können, währte nur eine Viertelstunde. So vorsichtig Cosette auch war, so passirte es ihr doch, daß der eine Fuß des geliebten Wesens aus dem Schatten hervorragte und von dem grellen Licht des Kaminfeuers bestrahlt wurde. In Folge dessen bemerkte auch endlich Azelma, was unter dem Küchentisch vorging und sie stieß ihre Schwester an, mit den Worten: »Du, sieh' mal dahin!«
Nein, so was! Cosette hatte sich unterstanden die Puppe anzufassen!
Eponine stand auf, ging, ohne die Katze loszulassen, zu ihrer Mutter hin und zupfte sie am Kleide.
»So laß mich doch! Was willst Du denn von mir!« brummte Frau Thénardier.
»Mutter, sieh doch mal dahin!«
Und sie zeigte auf Cosette, die über ihrer Verzückung nichts sah und nichts hörte.
Wilde Wuth malte sich in den Zügen der Megäre, deren Hochmuth auf's empfindlichste verletzt war. Cosette hatte sich respektwidrig benommen, hatte sich erfrecht, die Puppe der »Fräulein«, der Kinder ihrer Herrschaft, anzurühren.
Eine Zarin, die einen Bauern dabei ertappen würde, wie er sich das Ordensband ihres Sohnes anprobirte, könnte nicht zorniger aussehen, als Frau Thénardier bei jenem Anblick.
»Cosette!« krächzte sie wüthend.
Die Arme fuhr zusammen, als hätte die Erde unter ihr gebebt. Sie wandte sich um.
»Cosette!« wiederholte ihre Peinigerin.
Die Unglückliche legte respektvoll die Puppe hin, wandte die Augen nicht von ihr weg und rang die gefalteten Händchen, eine schreckliche Gebärde bei Kindern. Dann that sie, was keine Aufregung dieses Unglückstages, was weder die Schrecknisse des Waldes, noch die schwere Last des Eimers, noch der Verlust des Geldes, noch der Anblick des Kantschus hatte bewirken können: Sie weinte, schluchzte.
»Was ist denn?« fragte der Fremde, indem er aufstand.
»Sehen Sie denn nicht?« entgegnete die Thénardier, indem sie auf das corpus delicti, die Puppe, hinwies.
»Ich verstehe nicht!«
»Das Bettelbalg hat sich erlaubt, die Puppe der Kinder anzufassen.«
»Viel Lärmen um nichts!« spottete der Gast. »Was ist denn dabei, wenn sie mit der Puppe spielt?«
»Sie hat sie mit ihren schmutzigen Händen angefaßt, der Ekel!« kreischte die Thénardier entrüstet, ohne auf den Einwand zu achten.
Cosette schluchzte nur noch lauter.
»Wirst Du still sein!« herrschte Frau Thénardier sie an.
Nun trat der Fremde auf die Straßenthür zu, machte sie auf und ging hinaus.
Diese Abwesenheit machte sich Frau Thénardier zu Nutze. Sie versetzte Cosette einen tüchtigen Fußtritt, so daß die Arme laut aufheulte.
Bald aber that sich die Thür wieder auf, und der Gast kam herein mit der unvergleichlichen Puppe, die bei den Kindern des Dorfes so hohe Bewunderung erregt hatte. Die stellte er jetzt vor Cosette hin mit den Worten:
»Da, die schenke ich Dir!«
Er hatte also offenbar, trotz seiner Zerstreutheit, die prunkvoll erleuchtete Bude vor der Thür bemerkt.
Cosette hob die Augen auf, sah mit grenzenloser Ehrfurcht den Fremden an, der ihr solch eine Puppe schenkte, sah ihn wieder, sah die Puppe an. Dann wich sie langsam zurück und verkroch sich ganz hinten unter den Küchentisch, in den äußersten Winkel der Stube.
Sie weinte nicht mehr, sie schrie nicht mehr; sie wagte kaum noch zu athmen.
Frau Thénardier, Eponine und Azelma waren wie versteinert. Sogar die Trinker wurden aufmerksam, und es trat eine feierliche Stille in der Kneipe ein.
Stumm vor Staunen setzte die Thénardier ihre Muthmaßungen fort: »Wer mag der Alte sein? Ein Millionär? Oder vielleicht ein Spitzbube?«
Das Gesicht ihres Mannes aber nahm jene Faltung an, die sich jedesmal, wenn der Hauptinstinkt in seiner ganzen bestialen Macht angeregt ist, auf dem menschlichen Gesicht abprägt. Er betrachtete aufmerksam, bald die Puppe, bald den Fremden, und es war, als ob ein Raubthier eine Beute wittere. Diese Prüfung vollzog sich aber mit Blitzesschnelle. Dann trat er an seine Frau heran und flüsterte:
»So ein Ding kostet wenigstens dreißig Franken. Den Mann müssen wir mit Respekt behandeln.«
Rohe Menschen haben mit den Naiven das gemeinsam, daß sie allmählicher Uebergänge nicht fähig sind.
»Nun, Cosette,« fragte die Thénardier in einem Ton, der freundlich klingen sollte, aber ihre widerwärtige Bosheit schlecht verschleierte, »nimmst Du denn die Puppe nicht?«
Cosette wagte sich aus ihrer Ecke heraus.
»Liebe Cosette,« stimmte Thénardier mit wohlwollender Miene ein, »der Herr schenkt Dir eine Puppe. Nimm sie. Sie gehört Dir!«
Die Kleine betrachtete die Wunderpuppe mit einer Art frommen Schreckens. Ihr Gesicht war noch naß von Thränen, aber ihre Augen leuchteten allmählich hell auf, wie der Himmel beim Aufgang der Sonne. Was sie in diesem Augenblick empfand, war ein so seliges Entzücken, als sei sie Königin von Frankreich geworden.
Wenn sie die Puppe anfaßte, dachte sie, würde ein Blitzstrahl ihr entgegenzucken.
Eine nicht ganz unrichtige Ahnung, denn sie sagte sich, daß die Thénardier sie schelten und schlagen würde.
Aber die Anziehungskraft der Puppe behielt doch die Oberhand. Sie kam heran und fragte furchtsam die Thénardier:
»Darf ich?«
Keine Sprache vermöchte das Gemisch von Verzweiflung, Entsetzen und Entzücken wiederzugeben, das sich auf dem Gesicht der Kleinen abspiegelte.
»Na gewiß« versicherte Frau Thénardier. »Sie gehört Dir, der Herr hat sie Dir ja geschenkt.«
»Wirklich und wahrhaftig? Mir schenken Sie die feine Dame?«
Dem Fremden standen die Augen voller Thränen, und er konnte offenbar vor Rührung nicht sprechen. Er nickte blos statt aller Antwort und legte die Hand der Puppe in die Hand Cosettens.
Die Kleine trat hastig zurück, als brenne die Hand der »Dame« in der ihrigen, und sah zu Boden. Leider müssen wir zugeben, daß sie zugleich auch ihre Zunge weit aus dem Munde heraushängen ließ. Plötzlich aber wandte sie sich um und griff hastig nach der dargebotenen Puppe.
»Ich will sie Kathrine nennen!« sagte sie.
Es sah absonderlich genug aus, als das zerlumpte Kind das hübsche rosa Kleid mit den schönen Bändern umfaßte.
»Darf ich sie auf einen Stuhl setzen?« fragte sie Frau Thénardier.
»Ja wohl, mein Kind!«
Jetzt sahen Eponine und Azelma zu Cosette mit Neid empor.
Cosette setzte ihre Puppe auf einen Stuhl, kauerte vor ihr nieder und betrachtete sie mit andachtsvoller Bewunderung.
»Spiele doch, Cosette!« mahnte der Fremde.
»O ich spiele schon!«
Diesen Fremden, diesen Unbekannten, den die Vorsehung der armen Cosette geschickt zu haben schien, haßte jetzt Frau Thénardier mehr als irgend etwas und irgend Jemanden auf der Welt. Sie mußte sich indessen Gewalt anthun. Was sie ausstand, ging allerdings über das gewöhnliche Maß hinaus, so sehr sie sich auch auf Verstellung und Heuchelei verstand. Sie befahl ihren Mädchen, sich zur Ruhe zu begeben, und bat den Fremden um »die Erlaubniß«, Cosette gleichfalls zu Bett zu schicken. »Sie hat sich heute gehörig gequält!« sagte sie gütig, worauf die Kleine mit Kathrinen im Arm schlafen ging.
Dann aber ging die Thénardier von Zeit zu Zeit zu ihrem Manne hinüber, der an dem andern Ende der Stube saß. Sie mußte, meinte sie, ihrer Wuth etwas Luft machen, sonst würde sie platzen.
»Das alte Rindvieh! Was fällt dem eigentlich ein? Wie kommt er dazu, seine Nase in Alles hineinzustecken? Die kleine Kanaille soll spielen! Schenkt eine Puppe, die ihre vierzig Franken wert ist, einem Balg, das ich für vierzig Sous gern hingeben möchte. Es fehlt nicht viel, so würde er »Ew. Majestät« zu ihr sagen, als wenn's die Herzogin von Berry wäre! Hat das Alles Sinn und Verstand? Verrückt muß der Kerl sein! Wenn man blos daraus klug werden könnte!«
»Na, die Sache ist doch sehr einfach!« widerlegte sie ihr Mann. »Du willst, daß Cosette arbeitet; er will, daß sie spielt. Ein Gast hat das Recht zu thun und zu verlangen, was er will, wenn er nur bezahlt. Wenn der Alte ein Philantrop ist, so geht's Dich nichts an. Ist er ein Schafskopf, so hast Du Dich ebenso wenig darum zu bekümmern. Wenn er nur Geld hat!«
Gegen den formellen Willen ihres Herrn und Gebieters konnte die arme Frau Thénardier ebenso wenig aufkommen, wie seine Gastwirtsweisheit widerlegen. Sie mußte sich fügen.
Der Fremde hatte sich wieder an seinen Tisch gesetzt und seine nachdenkliche Miene angenommen. Die andern Gäste waren weiter von ihm abgerückt und sangen nicht mehr. Sie betrachteten ihn nur aus der Ferne mit respektvoller Scheu. Alle Achtung vor einem Kunden, dem Silbermünzen und Goldstücke so lose in der Tasche saßen, der kleinen Schmutznickeln riesige Puppen schenkte!
So vergingen mehrere Stunden. Schon war der Gottesdienst zu Ende, die Trinker hatten sich zerstreut, die Schänke war geschlossen und noch immer saß der Fremde an seinem Tisch, ohne ein Wort zu sprechen, ohne seine Haltung zu verändern. Höchstens, daß er den einen Ellbogen vom Tische nahm und den andern aufstützte.
Der Gastwirt und seine Frau leisteten ihm aus Schicklichkeitsgründen und aus Neugierde Gesellschaft. »Will er die ganze Nacht so sitzen bleiben?« brummte Frau Thénardier. Aber als die Uhr zwei schlug, war ihre Geduld zu Ende und sie sagte zu ihrem Mann: »Ich gehe zu Bett. Sieh' Du zu, wie Du mit ihm fertig wirst.« Thénardier setzte sich in einer Ecke an einen Tisch, zündete ein Talglicht an und vertiefte sich in das Studium des Courier français.
So verging eine gute Stunde. Wenigstens drei Mal hatte schon der Wirt seine Zeitung von A bis Z durchgelesen, aber der Fremde rührte sich noch immer nicht.
Thénardier hüstelte, räusperte und schnaubte sich, machte Lärm mit seinem Stuhl; aber vergebens. – »Ob er schläft?« dachte Thénardier. – Der Gast schlief nicht, aber er ließ sich nicht wecken.
Endlich nahm Thénardier seine Mütze ab, ging auf ihn zu und wagte die Frage:
»Wollen der Herr sich nicht zur Ruhe begeben?«
»Wollen Sie nicht schlafen gehen?« hätte zu simpel, zu familiär geklungen. Die Anwendung der anderen, respektvolleren Formel besitzt auch die geheimnißvolle und erfreuliche Kraft, die Ziffern der Hotelrechnungen erheblich hinaufzuschrauben. Eine Schlafstube kostet zwanzig Sous die Nacht; ein Zimmer, in dem man »ruht«, zwanzig Franken.
»Ach so!« rief der Gast. »Ja, Sie haben Recht. Wo ist Ihr Stall?«
»Gestatten Sie, mein Herr, daß ich Ihnen vorangehe«, sagte Thénardier mit einem feinen Lächeln.
Er nahm das Licht, der Gast ergriff sein Bündel und seinen Stock, und Thénardier führte ihn in ein Zimmer des ersten Stockwerks, in dem es sehr üppig aussah. Die Möbel waren aus Mahagoni, und das pompöse Kahnbett war mit einem schönen Vorhang versehen.
Der Gast betrachtete es mit Verwunderung.
»Unser Hochzeitsbett«, belehrte ihn der Wirt. »Meine Frau und ich schlafen in einem anderen Zimmer. Dieses wird nur ausnahmsweise benutzt.«
»Der Stall wäre mir eben so lieb gewesen«, versetzte barsch der Gast.
Thénardier reagirte nicht auf diese nicht sehr schmeichelhafte Bemerkung, sondern zündete ruhig zwei ganz neue Wachskerzen an, die auf dem Kaminsims standen.
»Und was ist das?« forschte der Gast und zeigte auf eine Glasglocke, unter der ein weiblicher Kopfputz aus Silberdraht und ein Kranz aus Orangenblüthen zu sehen war.
»Der Hochzeitshut meiner Frau.«
Dem Gast war es anzumerken, daß es ihm schwer fiel, sich die Thénardier als eine zarte, verschämte Jungfrau vorzustellen.
In der That log der Wirt. Er hatte das Zimmer, als er das Haus miethete, schon so vorgefunden und Alles, was darin war, käuflich erworben. Der Brautkranz umgab seine Gemahlin mit einem Nimbus von zarter Anmuth und die ganze Ausstattung des traulichen Heims verlieh der Familie Thénardier ein Gepräge von Solidität und Ordnung, das unser Abenteurer für seine Zwecke gut gebrauchen konnte.
Als der Gast sich umwandte, war der Wirt verschwunden. Thénardier hatte sich bescheiden gedrückt, ohne auch nur eine gute Nacht zu wünschen. Einem Gast, dem man eine gepfefferte und gesalzene Rechnung präsentiren will, darf man nicht mit respektwidriger Herzlichkeit behandeln.
Als Thénardier in sein Schlafzimmer trat, lag seine Frau schon im Bett, schlief aber noch nicht. Bei dem Geräusch seiner Tritte wandte sie sich um und sagte:
»Weißt Du was? Morgen setze ich Cosette an die Luft!«
»Na na!« entgegnete er ruhig.
Andere Reden tauschten sie nicht aus, und einige Minuten später war ihr Licht ausgelöscht.
Der Gast seinerseits hatte sein Paket und seinen Stock in einem Winkel untergebracht. Dann setzte er sich auf einen Lehnstuhl und sah nachdenklich eine Weile vor sich hin. Hierauf zog er seine Schuhe aus, nahm eine der beiden Kerzen in die Hand, blies die andere aus, stieß die Thür an und trat auf den Korridor, wo er sich umsah. Alsdann ging er auf eine Treppe zu. Hier hörte er ein leises Geräusch von regelmäßigen sanften Athemzügen, dem er nachging. Da sah er, zwischen der Wand und den Stufen, einen dreieckigen Raum, in dem unter alten Körben, zerbrochenem Geschirr, Schmutz, Staub und Spinnengeweben ein Bett stand, d. h. es lag auf der Erde ein zerlöcherter Strohsack und eine zerrissene Decke. In diesem »Bett« schlief Cosette, ihrer Gewohnheit gemäß, vollständig angekleidet, um weniger zu frieren.
In ihren Armen hielt sie die Puppe, deren große offene Augen in der Dunkelheit glänzten. Von Zeit zu Zeit stieß sie einen schweren Seufzer aus, als sei sie im Begriff aufzuwachen und dann drückte sie ihre Puppe krampfhaft an sich. Neben ihrem Bett stand nur einer von ihren Holzschuhen.
Nachdem der Fremde sie eine Weile aufmerksam betrachtet hatte, trat er durch eine offene Thür in ein neben Cosettens Kabüse gelegenes, großes und dunkles Zimmer. Im Hintergrunde sah man durch eine Glasthür zwei Kinderbettchen, Azelmas und Eponinens. Von diesen Betten halb verdeckt stand eine Wiege, in der das Söhnchen der Thénardiers schlief.
Der Fremde muthmaßte, dieser Raum müsse mit dem Schlafzimmer der beiden Eheleute in Verbindung stehen und wollte schon umkehren, als sein Blick auf den Kamin fiel, ein altes Ungethüm von Hotelkamin, in dem immer ein sehr bescheidenes Feuer oder auch gar keins brennt, und bei dessen bloßem Anblick man friert. Auch in diesem hier war nicht einmal Asche, geschweige denn ein Feuer zu sehen; dennoch sah der Fremde etwas, das seine Aufmerksamkeit fesselte, nämlich zwei niedliche Kinderschuhe von verschiedener Größe. Ihr Anblick erinnerte ihn an die uralte, hübsche Sitte, daß am Weihnachtsabend die Kinder einen Schuh in den Kamin stellen, damit ihre gute Fee ein Geschenk für sie hineinlegen kann. Eponine und Azelma hatten das nicht vergessen, und die Fee, nämlich die Mutter, hatte auch schon ihre Schuldigkeit gethan, denn in jedem Schuh sah der Fremde ein funkelnagelneues Fünfzigsousstück.
Der Fremde war im Begriff zu gehen, als er ganz hinten in der Ecke, im dunkelsten Theil des Kamins, einen anderen Gegenstand bemerkte. Er sah genauer hin; es war ein Holzschuh, ein greulicher grober Holzschuh. Cosette hatte ebenfalls, mit jener kindlichen Vertrauensseligkeit, die sich oft täuschen, nie entmuthigen läßt, ihren Schuh in den Kamin gestellt.
Es ist etwas Erhabenes und Liebes um diese Hoffnungsfreudigkeit eines Kindes, das nur die Verzweiflung kennen gelernt hat.
In Cosettens Holzschuh war natürlich nichts.
Der Fremde faßte in seine Westentasche und steckte einen Louisd'or in den Schuh.
Dann schlich er sacht nach seinem Zimmer zurück.
Zwei Stunden vor Tagesanbruch saß Thénardier in der Gaststube und redigirte die Rechnung für den Herrn mit dem gelben Rock.
Seine Frau stand halb vorgeneigt hinter ihm und sah ihm zu. Sie tauschten kein Wort mit einander aus. Einerseits tiefsinnige Nachdenklichkeit, andererseits jene andächtige Aufmerksamkeit, die allen Wunderwerken des Menschengeistes zukommt. Man hörte ein Geräusch im Hause: Es war die Lerche, die fegte.
Nach einer guten Viertelstunde und mancherlei Radirungen entfloß endlich der Feder Thénardiers folgendes Meisterwerk:
Rechnung für den Herrn im Zimmer Nr. 1.
Abendessen | 3 | Franken |
Zimmer | 10 | " |
Wachskerzen | 5 | " |
Heizung | 4 | " |
Bedienung | 1 | " |
—— | ||
Summa | 23 | Franken |
»Dreiundzwanzig Franken!« rief Frau Thénardier mit einem Enthusiasmus, der aber mit einiger Bedenklichkeit versetzt war.
Auch Thénardier war nicht ganz mit seinem Werk zufrieden – wie ja auch alle echten Künstler bescheiden sind.
»Bah!« meinte er achselzuckend, wie Castlereagh, als er auf dem Wiener Kongreß die Rechnung aufsetzte, die Frankreich bezahlen mußte.
»Du hast ganz Recht, Mann!« sagte Frau Thénardier, eingedenk der Beschenkung Cosettes in Gegenwart ihrer Töchter. »So viel ist er uns schon schuldig, aber es wird ihm zu viel sein.«
Thénardier lächelte in seiner gewohnten, kalten Art und sagte:
»Er wird sich nicht weigern.«
Dieses Lachen klang so siegesgewiß, daß seine Frau nichts mehr zu erwidern wußte. Sie machte sich an ihre Arbeit und ordnete Stühle und Tische in der Stube, während ihr Mann auf und abging.
»Bedenke, daß ich fünfzehnhundert Franken Schulden habe!«
Dann setzte er sich nachdenklich an den Kamin und wärmte sich die Füße über der glimmenden Asche.
»Noch eins!« hob seine Frau wieder an. »Cosette schmeiße ich heute ganz gewiß zum Hause hinaus. Das nichtswürdige Biest! Was die mich mit ihrer Puppe ärgert! Ich möchte lieber Ludwig XVIII. heiraten, als sie einen Tag länger im Hause behalten.«
Thénardier ließ sie reden, steckte seine Pfeife an und sagte:
»Du bringst ihm die Rechnung!«
Mit diesen Worten ging er zur Thür hinaus.
Kaum war er fort, als der Fremde in die Gaststube trat.
Auf der Stelle erschien auch in der halboffenen Thür Thénardier wieder und blieb da stehen, so daß er nur für seine Frau sichtbar war.
Der Mann mit dem gelben Rock trug sein Paket und seinen Sack in der Hand.
»So früh auf!« sagte Frau Thénardier. »Wollen der Herr uns schon verlassen?«
Dabei drehte sie verlegen die Rechnung in den Händen herum und kniff mit ihren Nägeln hinein. Ganz gegen ihre Gewohnheit empfand sie in diesem Augenblick Gewissensbisse. Es schien ihr keine Kleinigkeit, einem Gast, der so »hungerleiderisch« aussah, eine so fürchterliche Rechnung zu präsentiren.
Der Fremde dagegen schien nachdenklich und zerstreut. Er antwortete ihr:
»Ja wohl, Frau Wirtin, ich muß fort.«
»Der Herr hatten also keine Geschäfte in Montfermeil zu besorgen?«
»Nein, ich komme hier blos durch. – Was bin ich schuldig, Frau Wirtin?«
Statt der Antwort überreichte sie ihm die Rechnung.
Er faltete sie auseinander und sah sie an, aber offenbar waren seine Gedanken wo anders beschäftigt.
»Frau Wirtin, machen Sie hier in Montfermeil gute Geschäfte?«
»Mittelmäßige,« antwortete sie, hoch erstaunt, daß Alles so glatt abging!
»Es sind schlimme Zeiten, mein Herr!« jammerte sie weiter, »und in unserer Gegend wohnen nicht viel wohlhabende Herrschaften. Lauter kleine Leute. Wenn nicht ab und zu reiche und generöse Gäste wie Sie, mein Herr, hierdurch kämen, so wüßte ich nicht, was aus uns werden sollte! Was haben wir für Ausgaben. Z. B. die Kleine, die kostet uns die Augen aus dem Kopfe.«
»Welche Kleine?«
»Nun, Sie wissen ja, Cosette, die Lerche, wie sie von den Leuten genannt wird.«
»So!« sagte der Gast.
»Was diese Bauern dumm sind, mit ihren Beinamen! Sie sieht doch eher wie eine Fledermaus als wie eine Lerche aus. Sehen Sie mein Herr, wir bitten nicht um Almosen, können aber keine geben. Wir verdienen nichts und sollen viel zahlen. Wer weiß, wie viel Steuern muß man aufbringen! Und meine Töchter kosten mir genug. Die Sorge um anderer Leute Kinder würde ich gern missen!«
Der Gast fragte in einem Ton, der recht gleichgiltig klingen sollte, aber verrätherisch zitterte:
»Nun, was meinen Sie dazu, wenn man Ihnen die Last abnähme?«
»Wen? Cosette?«
»Ja freilich!«
Die scheußliche Fratze der Kneipwirtin leuchtete hell auf vor widerwärtiger Freude.
»Nehmen Sie sie mit, einzigster, liebster Herr! Machen Sie mit ihr, was Sie wollen, und möge es Ihnen gut bekommen und seien Sie dafür gesegnet von der heiligen Jungfrau Maria und allen Heiligen des Himmels!«
»Einverstanden!«
»Wirklich? Sie nehmen sie mit?«
»Ich nehme sie mit.«
»Sofort! Rufen Sie das Kind!«
»Cosette!« schrie die Thénardier.
»Vorläufig will ich Ihnen aber die Rechnung bezahlen. Wieviel macht es?«
Er warf einen Blick auf die Rechnung und konnte nicht ganz eine Regung des Erstaunens zurückdrängen.
»Dreiundzwanzig Franken!«
Dann wiederholte er, dies Mal in einem fragenden Ton:
»Dreiundzwanzig Franken?«
Frau Thénardier, die Zeit gehabt hatte, sich vorzubereiten, entgegnete mit Dreistigkeit:
»Ja gewiß! Dreiundzwanzig Franken!«
Der Fremde legte fünf Fünffrankenstücke auf den Tisch und sagte:
»Holen Sie die Kleine.«
In diesem Augenblick trat Thénardier in die Stube herein und sagte:
»Der Herr hat sechsundzwanzig Sous zu bezahlen.«
»Sechsundzwanzig Sous!« rief seine Frau verwundert.
»Zwanzig Sous für das Zimmer,« sagte ruhig Thénardier, »und sechs Sous für das Abendessen. Was die Kleine anbelangt, so möchte ich über diesen Punkt mit dem Herrn noch sprechen. Laß uns allein, Frau!«
In Frau Thénardier's Hirn blitzte eine Ahnung auf, daß etwas großartig Gescheidtes im Werke sei. Jetzt trat ja der Hauptmatador auf, und daher entfernte sie sich schleunigst, ohne ein Wort der Erwidrung.
Sobald sie allein waren, bot Thénardier dem Gast einen Stuhl an. Dieser setzte sich, während der Wirt stehen blieb und eine recht simple, gutmüthige Miene annahm.
»Ich wollte Ihnen blos sagen, mein Herr, daß ich das Kind schrecklich lieb habe.«
Der Fremde sah ihm scharf in die Augen:
»Welches Kind?«
Thénardier fuhr fort:
»So sonderbar es sein mag, aber man schließt solch ein kleines Ding in sein Herz. Was ist das für Geld da? Nehmen Sie doch ihre Fünfsousstücke wieder zurück. Das Kind ist mir ans Herz gewachsen.«
»Je nun, unser Cosettchen. Sie wollen sie ja von uns fortnehmen. Ich sag's Ihnen ganz offen; so wahr Sie ein wackerer Mann sind, ich kann auf Ihren Wunsch nicht eingehen. Sie würde mir fehlen. Ich habe das aufwachsen sehen. Allerdings kostet sie uns Geld, allerdings hat sie ihre Fehler, allerdings sind wir nicht reich, allerdings habe ich blos, als sie das eine Mal krank war, mehr als vierhundert Franken für Arzneien ausgegeben. Aber um des lieben Herrgotts Willen muß man doch auch etwas thun! Das hat weder Vater noch Mutter; ich habe sie großgezogen. Ich habe noch ein Bischen Brod zu essen, und davon soll sie noch etwas abbekommen. Ich kann mich nicht von dem armen Ding losreißen. Es mag ja eine Dummheit sein, aber wenn man doch einmal ein zu weiches Herz hat, so hört man nicht auf Vernunftgründe. Ich liebe das Kind. Meine Frau auch, obgleich sie mitunter ein Bischen zu lebhaft ist. Wir betrachten sie wirklich als ein eignes, leibliches Kind. Es ist ein Bedürfnis für mich, daß ich ihr allerliebstes Gepapel im Hause höre.«
Während dieser ganzen Rede hatte der Fremde dem Gastwirth scharf in die Augen gesehen. Dieser aber fuhr fort:
»Außerdem, ich bitte Sie tausendmal deswegen um Entschuldigung, aber man übergiebt doch sein Kind nicht so ohne weiteres einem Fremden. Nicht wahr, das sehen Sie ein? Es könnte ja zu ihrem Besten sein, denn Sie sind reich, Sie sind ganz gewiß ein guter Mann, aber – man kann doch nicht wissen. Gesetzt also, ich wollte das Kind von mir fort lassen und das Opfer bringen, so möchte ich doch wissen, wo sie bleibt, sie nicht aus dem Gesicht verlieren; ich möchte wissen, bei wem sie ist, damit ich sie von Zeit zu Zeit besuchen könnte, damit sie weiß, daß ihr guter Pflegevater da ist und nach ihr sieht, ob's ihr gut geht. Kurz und gut, es giebt Dinge, die sich nicht machen lassen. Ich weiß ja nicht einmal, wie Sie heißen. Nähmen Sie das Kind mit, so würde ich immerzu denken: ›Was mag denn blos aus unserer kleinen Lerche geworden sein.‹ Wenn ich wenigstens ein Bischen was Schriftliches zu sehen bekäme, wäre es auch nur ein Paß!«
Ohne seinen durchdringenden Blick von seinem Gegner abzuwenden, antwortete der Fremde nachdrücklich und bestimmt:
»Herr Thénardier, wenn man eine so kurze Reise, wie die von Paris nach Montfermeil macht, braucht man keinen Paß und läßt ihn zu Hause. Nehme ich Cosette mit, so ist damit Alles abgemacht. Sie werden nicht erfahren, wie ich heiße, wo ich wohne, wo sie bleibt, und es ist mein Wunsch, daß sie nie wieder mit Ihnen zusammenkommt. Ich schneide den Faden durch, der sie festhält, und sie geht auf und davon. Paßt Ihnen das, ja oder nein?«
Wie die Dämonen und Genien an gewissen Zeichen die Gegenwart eines höheren Gottes erkannten, so begriff auch Thénardier mit seiner gewohnten, raschen Auffassungsgabe, daß er mit einem tüchtigen Gegner zu thun hatte. Während er in der vergangenen Nacht mit den Fuhrleuten zechte, rauchte, zotige Lieder sang, hatte er unausgesetzt den Unbekannten im Auge behalten und mit wissenschaftlicher Genauigkeit beobachtet, theils mit Berechnung, theils zum Vergnügen, theils aus Instinkt. Keine Bewegung, keine Gebärde des Mannes mit dem gelben Rock war seiner Aufmerksamkeit entgangen. Noch ehe der Unbekannte seine Theilnahme für Cosette bekundete, hatte Thenardier sie errathen. Er hatte gesehen, wie aufmerksam der Gast Cosette ansah. Warum interessirte ihn das Kind? Was war er für ein Mensch? Wozu der elende Aufzug, da er doch Geld genug in der Tasche hatte? Alles Fragen, die er nicht zu lösen vermochte und das verdroß ihn. Er hatte die ganze Nacht über die Sache nachgedacht. Cosettens Vater konnte der Mann nicht sein. Vielleicht ihr Großvater? Warum gab er sich dann aber nicht sogleich zu erkennen? Wenn man ein Recht hat, so macht man's doch geltend. Offenbar hatte der Mann keine berechtigten Ansprüche auf Cosette. Was hatte dann aber die ganze Geschichte zu bedeuten? Thénardier stellte alle möglichen Vermuthungen auf, aber keine wollte ihm einleuchten, keine Stich halten. Wie dem aber auch sein mochte, er war, als er das Gespräch einleitete, fest überzeugt, daß es sich um ein Geheimniß handele, daß es dem Unbekannten darauf ankäme, außer Spiel zu bleiben und daß er Herr der Situation sei. Aber als der Fremde ihm so entschieden gegenübertrat, als er sah, daß das Geheimniß ein so einfaches war, fühlte er sich seiner Sache nicht mehr sicher. So etwas hatte er nicht erwartet. Jetzt waren alle seine Muthmaßungen aus dem Felde geschlagen. Aber er gehörte zu den Menschen, die eine gegebene Lage rasch überschauen und traf seine Entscheidung im Laufe einer Sekunde. Er war der Ansicht, der Augenblick sei gekommen, seine Batterien sofort zu demaskiren.
»Ich verlange fünfzehnhundert Franken, mein Herr!« sagte er.
Der Fremde nahm aus einer Seitentische eine alte, schwarze Brieftasche und entnahm ihr drei Kassenscheine, die er auf den Tisch legte. Dann sagte er, während er mit seinem breiten Daumen das Geld festhielt, zu dem Gastwirt:
»Lassen Sie Cosette kommen.«
Was machte Cosette während dieser Zeit?
Sie hatte, als sie aufwachte, nach ihrem Holzschuh gesehen und das Goldstück darin gefunden. Sie war wie geblendet. Ihr Glück fing an, sie zu berauschen. Sie wußte nicht, was ein Goldstück war; sie hatte nie eins gesehen! Sie versteckte ihren Fund so hastig in ihrer Tasche, als hätte sie das Geld gestohlen. Und doch fühlte sie, daß es wirklich ihr gehörte. Sie ahnte, wo das Geschenk herkam; aber ihrer Freude war Furcht beigemischt. Sie war zufrieden, vor allen Dingen aber verdutzt. Diese prachtvollen und hübschen Sachen schienen ihr keine Wirklichkeit zu haben. Die Puppe flößte ihr Furcht ein, das Goldstück gleichfalls. Nur dem Fremden gegenüber empfand sie dieses Gefühl nicht. Im Gegentheil, sie hegte Vertrauen zu ihm. Seit dem vergangenen Abend beschäftigte sich ihr kleiner Kinderverstand mit dem Manne, der so alt und arm und traurig aussah und sich so reich und so freundlich zeigte. Seitdem sie dem guten Manne im Walde begegnet war, hatte sich Alles zu ihrem Besten verändert. Nicht so glücklich, wie die geringste Schwalbe unter dem Himmelsdach, hatte Cosette nie gewußt, was es heißt, unter den Flügeln der mütterlichen Liebe eine Zuflucht suchen. Seit fünf Jahren, also so weit sie zurückdenken konnte, ließ der kalte Wind des Unglücks alle seine Wuth an ihr aus; jetzt aber war sie bekleidet, geschützt. Sie fürchtete sich nicht mehr so sehr vor der Thénardier. Sie war nicht mehr allein, sie besaß Einen, der sie vertheidigte.
Wie gewöhnlich hatte sie sich am Morgen schnell an ihre Arbeit gemacht. Aber das Goldstück in ihrer Tasche ließ ihr keine Ruhe. Sie wagte nicht, es anzurühren. Nur von Zeit zu Zeit sah sie in ihre Tasche hinein und weidete sich wohl fünf Minuten hintereinander an seinem Glanze, wobei sie zum Zeichen ihrer Bewunderung die Zunge weit aus dem Munde hängen ließ.
Während einer dieser Bewunderungspausen kam die Thénardier herzu, um sie auf Wunsch ihres Mannes zu holen. Merkwürdiger Weise versetzte sie ihr keinen einzigen Puff und schalt sie nicht aus. Sie sagte mit einer beinah sanften Stimme:
»Cosette, komm sofort!«
Einen Augenblick darauf stand sie in der Gaststube vor dem Fremden.
Dieser knüpfte das Bündel, das er mitgebracht hatte, auf. Es enthielt ein wollenes Kinderkleid, eine Schürze, ein Barchent-Jäckchen, einen Unterrock, ein Umschlagetuch, wollene Strümpfe, Schuhe, kurz einen vollständigen Anzug für ein siebenjähriges Mädchen. Alles übrigens schwarz.
»Nimm diese Sachen, mein Kind und zieh' sie Dir schnell an.«
Bei Tagesanbruch sahen die Leute, die zu der Zeit ihre Hausthüren aufmachten, in der Hauptstraße einen ärmlich gekleideten Mann und ein kleines Mädchen in Trauerkleidung mit einer Puppe auf dem Arm Hand in Hand. Sie wanderten in der Richtung nach Livry.
Niemand kannte den Mann und Viele erkannten Cosette nicht, da sie nicht mehr mit Lumpen bekleidet war.
Cosette ging. Mit wem? Wohin? Sie wußte es nicht. Sie verstand nur, daß sie das Thénardiersche Haus hinter sich ließ. Niemandem war es eingefallen, ihr Lebewohl zu sagen, so wenig, wie sie daran gedacht hatte, von irgend Jemand Abschied zu nehmen. Sie haßte die Andern, und die Andern haßten sie.
Ein armes, sanftes Wesen, dessen Liebefähigkeit unentwickelt geblieben war!
Mit ernster Miene und die weit geöffneten Augen zum Himmel emporgerichtet, ging sie neben dem Unbekannten her. Von Zeit zu Zeit neigte sie aber den Kopf und sah nach dem schönen Louisdor, den sie in der neuen Schürzentasche trug, um alsbald zu ihrem Wohlthäter emporzublicken. Ihr war zu Muthe, als halte der liebe Gott sie an der Hand.
Frau Thénardier hatte, ihrer Gepflogenheit gemäß, ihren Mann gewähren lassen. Sie machte sich auf etwas großartiges gefaßt. Als der Fremde und Cosette fort waren, ließ Thénardier eine gute Viertelstunde verstreichen, ehe er sie bei Seite nahm und ihr die fünfzehnhundert Franken zeigte.
»Nicht mehr?« fragte sie.
Es war das erste Mal seit ihrer Verheiratung, daß sie sich unterfing, an ihrem Gebieter Kritik zu üben.
Der Hieb saß.
»Du hast Recht,« sagte er. »Ich bin ein Schafskopf. Gieb mir meinen Hut.«
Er steckte die drei Kassenscheine in seine Tasche und rannte in aller Eile davon, aber er ging irrthümlicher Weise zuerst nach rechts. Einige Nachbaren, bei denen er sich erkundigte, brachten ihn dann auf die richtige Fährte und benachrichtigten ihn, daß die Lerche und der Unbekannte nach Livry zu marschirt seien. Er kehrte also um und eilte den Beiden nach.
»Der Gelbe«, dachte er, »ist ein verkappter Millionär, und ich bin ein Rindvieh. Er hat einen Franken, dann fünf Franken, dann fünfzig, dann fünfzehnhundert hingegeben, und immer mit derselben Bereitwilligkeit. Er hätte auch fünfzehntausend Franken rausgerückt. Aber ich hole ihn noch ein.«
Außerdem, daß er die Kleider für die Kleine bereit gehalten hat, das ist sehr sonderbar. Dahinter stecken Geheimnisse, und wenn man ein Geheimniß reicher Leute entdeckt hat, muß man's sich zu Nutze machen. Man braucht bloß solch einen Schwamm richtig zu drücken, dann kommt Gold heraus. Nein, was für ein Esel bin ich gewesen!«
Wenn man aus Montfermeil heraus ist und das Knie der Landstraße von Livry erreicht hat, kann man die Straße sehr weit überschauen. An diesem Punkte rechnete er sich aus, daß er den Fremden und das Kind zu Gesicht bekommen würde. Aber so weit er auch seine Blicke sandte, er sah sie nicht. Er erkundigte sich wieder bei den Vorübergehenden, aber damit ging Zeit verloren. Endlich erhielt er den Bescheid, die Beiden, die er suchte, hätten die Richtung nach Gagny eingeschlagen. Dahin eilte er ihnen dann nach.
Sie hatten einen Vorsprung, aber ein Kind geht langsam, und er lief schnell. Auch war er mit der Gegend gut vertraut.
Plötzlich blieb er stehen und schlug sich vor die Stirn, wie Jemand, der die Hauptsache vergessen hat und umkehren will.
»Ich hätte mein Gewehr mitnehmen müssen!«
Thénardier war eine jener zwiefach gearteten Naturen, denen wir im Leben oft begegnen, und die unerkannt an uns vorübergehen, weil das Schicksal nur eine ihrer beiden Seiten hervorkehrt. Thénardier hätte unter gewissen Bedingungen, in einer finanziell gesicherten Lebenslage, einen rechtschaffnen Geschäftsmann abgegeben, – natürlich nur, weil in einem solchen Beruf sein Vortheil Rechtschaffenheit erheischt hätte. Andrerseits hatte er aber auch den Stoff zu einem Schuft, einem Verbrecher, wenn gewisse andere Umstände und Anregungen gegeben waren. Satan mochte sich wohl bisweilen vor Thénardier niederkauern, ihn zu bewundern.
Nachdem er einen Augenblick gezögert hatte, sagte er:
»Nein, sie hätten Zeit, mir zu entwischen.«
Und er setzte sich rasch wieder in Bewegung, in der sichern Erwartung des Erfolges, mit dem Spürsinn eines Fuchses, der eine Kette Repphühner wittert.
Er irrte sich auch nicht. Als er nämlich über die Teiche hinausgekommen war, und die große, rechts von der Bellevue-Allee gelegene Lichtung durchquerte, sah er hinter einem Strauch einen Hut, der viele Vermuthungen in ihm anregte. In der That saß dort der Fremde und neben ihm Cosette, die müde geworden war und der Erholung bedurfte.
»Entschuldigen Sie gütigst, mein Herr!« keuchte er, von dem raschen Marsche erschöpft, »aber hier bringe ich Ihnen Ihre fünfzehnhundert Franken wieder.«
Mit diesen Worten hielt er dem Fremden drei Kassenscheine hin.
Der Angeredete sah empor.
»Was soll das heißen?«
Thénardier antwortete in höflichem Ton:
»Das soll heißen, daß ich Cosette wieder haben will.«
Cosette erbebte und schmiegte sich ängstlich an ihren Beschützer.
Dieser sah seinem Gegner tief ins Auge.
»Sie – wollen – Cosette – wiederhaben?« sagte er, indem er die Wörter lang auszog.
»Ja wohl. Ich will Ihnen erklären, warum. Im Grunde genommen habe ich ja gar nicht das Recht, sie Ihnen anzuvertrauen. Ich bin ein gewissenhafter Mann. Das Kind gehört mir nicht. Nur ihre Mutter darf über sie verfügen. Nur der kann ich sie wiedergeben. Sie werden einwenden: Die Mutter ist aber gestorben. Gut! In dem Fall könnte ich das Kind nur Jemand übergeben, der mir etwas Schriftliches von der Mutter brächte. Das ist doch sonnenklar.«
Der Unbekannte griff, ohne zu antworten, in seine Tasche, und holte die unserm Freund Thénardier wohl bekannte Brieftasche hervor.
Den Kneipwirt durchfuhr ein freudiger Schreck.
»Hurrah!« dachte er. »Jetzt wollen wir uns mal zusammennehmen. Er wird mich bestechen wollen.«
Ehe er die Brieftasche öffnete, sah sich der Unbekannte nach allen Seiten um. Es war weit und breit keine Menschenseele zu sehen. Dann nahm er nicht die Kassenscheine heraus, auf die Freund Thénardier sich spitzte, sondern ein Blatt Papier, das er auseinander faltete und dem Kneipwirt hinhielt.
»Sie haben Recht. Lesen Sie dies.«
Es war der Brief, den Fantine unterschrieben hatte, und in dem Thénardier aufgefordert wurde, dem Ueberbringer ihre Tochter Cosette zu übergeben.
»Kennen sie die Unterschrift?« fragte der Fremde.
Thénardier konnte nichts machen. Er empfand einen zwiefachen Ärger. Erstens weil ihm die gehofften Goldfüchse entschlüpft waren, und zweitens, weil er seinen Meister gefunden.
»Sie können den Zettel behalten, falls nach dem Verbleib Cosettens gefragt werden sollte.«
Thénardier trat den Rückzug an.
»Die Unterschrift ist ziemlich gut nachgeahmt,« brummte er. »Na, meinetwegen!«
Er besann sich aber alsbald eines Andern und machte noch einen verzweifelten Angriff auf die Börse seines Gegners.
»Sehr wohl. Diese Sache wäre also in Ordnung. Aber in dem Brief verspricht man auch, mir meine Auslagen wiederzuerstatten. Ich habe ganz bedeutende Forderungen.«
Der Fremde stand vom Boden auf und sagte, während er seinen Aermel von Staub befreite und Halme, Holzpritzelchen u. dgl. mit dem Mittelfinger wegschnellte:
»Herr Thénardier, im Januar schuldete Ihnen die Mutter einhundert und zwanzig Franken; Sie schickten ihr im Februar eine Rechnung über fünfhundert Franken. Sie haben Ende Februar dreihundert und Anfang März wieder dreihundert Franken erhalten. Seitdem sind neun Monate verflossen, was, den Monat zu fünfzehn Franken gerechnet, einhundertfünfunddreißig Franken ausmacht. Da Sie hundert Franken zu viel bekamen, haben Sie noch Anspruch auf fünfunddreißig Franken. Vorhin gab ich Ihnen fünfzehnhundert Franken.«
Herrn Thénardier war zu Muthe wie einem Wolf, wenn eine Falle ihn packt.
»Das ist ja ein Teufelskerl!« dachte er.
Dann machte er es wie der gefangene Wolf, er rüttelte an der Falle. Hatte er doch schon mit Frechheit einmal Erfolg gehabt.
»Herr Unbekannter,« sagte er entschlossen und den höflichen Ton aufgebend, »ich nehme Cosette wieder mit, oder Sie geben mir dreitausend Franken.«
»Komm, Cosette!« sagte ruhig der Fremde, ergriff ihre Hand mit seiner linken und langte mit der rechten seinen Stock von der Erde auf.
Thénardier bemerkte nur zu gut, wie stark der Knüttel, wie öde die Gegend war, und schaute den Beiden, die tiefer in den Wald hineingingen, unbeweglich und verdutzt nach.
Er betrachtete die breiten Schultern, die gewaltigen Fäuste seines Gegners, und verglich damit seine dünnen Arme und fleischlosen Hände. – »Ich muß doch wohl ein Dummkopf sein. Gehe auf die Jagd und nehme kein Gewehr mit!«
Gleichwohl fiel es ihm noch nicht ein, seine Beute fahren zu lassen.
»Ich muß wissen, wo er hingeht,« sagte er und folgte den Beiden in einer gewissen Entfernung.
Der Unbekannte marschirte mit Cosette auf Livry und Bondy zu. Er hielt den Kopf auf die Brust gesenkt, sah nachdenklich und schwermüthig aus und ging sehr langsam. Dazu kam, daß es Winter und das Laub von den Bäumen abgefallen war, so daß Thénardier sie nicht aus dem Gesicht verlor, und doch ziemlich weit hinter ihnen bleiben konnte. Aber der Unbekannte wandte sich hin und wieder um, ob ihm Niemand folge, und bemerkte endlich Thénardier. Sofort schlug er sich mit Cosette in ein Dickicht, wo sie leicht verschwinden konnten. – »Donnerwetter!« fluchte ihr Verfolger und verdoppelte seine Schritte.
Er kam ihnen auch näher, und als sie sich in dem dichtesten Theil des Dickichts befanden, drehte sich der Fremde um, und Thénardier gelang es nicht, sich so zu verstecken, daß er nicht bemerkt werden konnte. Der Fremde sah ihn mit einem sorgenvollen Blick an, schüttelte den Kopf und wanderte weiter. Der Gastwirth wieder hinter ihm her. So gingen sie zwei- bis dreihundert Schritte weit. Da wandte sich der Fremde wieder und bemerkte seinen Verfolger, sah ihn aber dies Mal in einer so unheimlichen Weise an, daß Thénardier einsah, es sei »unnütz«, ihm weiter nachzulaufen und umkehrte.
Jean Valjean war nicht umgekommen.
Als er in das Meer fiel oder vielmehr sich fallen ließ, war er, wie schon angegeben, von seiner Kette befreit. Er konnte also leicht unter Wasser bis zu einem Schiff, das vor Anker lag, schwimmen, kletterte in ein Boot, das an das Schiff angebunden war, und verbarg sich darin bis zum Abend. Als es dunkel geworden, schwamm er weiter und stieg in einiger Entfernung von dem Cap Brun ans Land. Hier konnte er sich, da er an Geld keinen Mangel litt, andere Kleider verschaffen. Diesen Umtausch bewerkstelligte er in einer Schänke bei Balaguier, deren Wirt nebenbei dies einträgliche Geschäft zum Nutzen und Frommen der entsprungenen Galeerensklaven betrieb. Dann wanderte Jean Valjean, wie alle die unglücklichen Flüchtlinge, die versuchen müssen, die Schergen des Gesetzes und der Gesellschaft von ihrer Spur abzubringen, auf Nebenwegen und in einer gewundenen Linie in das Land hinein. Endlich kam er nach Paris, wo er sich zu allererst angelegen sein ließ, sich mit einem Traueranzug für ein sieben- bis achtjähriges Mädchen zu versehen und sich eine Wohnung zu miethen. Hierauf hatte er sich nach Montfermeil begeben.
Zum Glück hielt man ihn für tot, und dies verdichtete das Dunkel, das ihn umgab. In Paris fiel ihm auch eine Zeitung in die Hand, in der er die Notiz las, daß er verunglückt sei. Das beschwichtigte seine Besorgnisse und ließ wieder etwas Ruhe in sein Gemüth einziehen, beinahe so viel, als wenn er wirklich gestorben wäre.
Noch an dem Abend des Tages, wo er Cosette den Klauen der Thénardiers entrissen, kam er mit ihr in Paris an. Hier stieg er in ein Kabriolett, das ihn nach der Esplanade des Observatoriums brachte. Von dort aus wanderten Beide durch eine Menge öder Straßen nach dem Boulevard de l'Hôpital.
Es war ein merkwürdiger und ereignißreicher Tag für Cosette gewesen. Sie hatten, hinter Hecken versteckt, Brod und Käse, das sie in abgelegenen Gastwirthschaften gekauft, essen müssen, waren bald in diese, bald in jene Diligence gestiegen, hatten manche Strecken zu Fuß zurückgelegt. Cosette klagte nicht, aber sie war müde; das machte sich bemerkbar, indem sie sich von Jean Valjean ziehen ließ. Er mußte sie endlich auf den Rücken nehmen und den Kopf an seine Schulter gelehnt, schlief sie, ohne Kathrinen loszulassen, fest ein.