Victor Hugo
Die Elenden. Erste Abtheilung. Fantine
Victor Hugo

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IV.
Tholomyès ist so lustig, daß er ein spanisches Lied singt

Dieser Tag war von einem Ende bis zum andern aus Morgenröthe gebildet. Die ganze Natur schien auf Urlaub gegangen zu sein und zu lachen. Die Blumenbeete von Saint-Cloud hauchten Wohlgerüche aus; der leise Wind der Seine bewegte ein wenig die Blätter; die Zweige gesticulirten in dem Winde, die Bienen plünderten den Jasmin; eine ganze Zigeunerbande von Schmetterlingen ließ sich auf die Schafgarbe, den Klee und den wilden Hafer nieder. Es gab in dem erhabenen Parke des Königs von Frankreich eine Masse Vagabonden, die Vögel.

Die vier munteren Paare, gemischt mit der Sonne, den Feldern, den Blumen und den Bäumen, glänzten vor Freude.

Und in dieser Gemeinschaft des Paradieses plaudernd, singend, laufend, tanzend, Schmetterlinge jagend, Winden pflückend, ihre rosig durchbrochenen Strümpfe in dem hohen Grase feucht machend, frisch, thöricht, durchaus nicht boshaft, empfingen Alle dann und wann die Küsse Aller, ausgenommen Fantine, welche sich in den träumerischen und wilden Widerstand zurückzog und welche liebte. – »Du,« sagte Favourite zu ihr, »Du hast immer so etwas Eigenes!«

Das sind Freuden. Dieses Vorüberkommen glücklicher Paare ist ein vielsagender Aufruf an das Leben und an die Natur und entlockt Allen Liebkosung und Licht. Es gab einmal eine Fee, welche die Wiesen und die Bäume ausdrücklich für die Liebenden schuf. Daher dieses ewige Aufsuchen der Bäume und der Wiesen durch die Liebenden, so lange es Bäume, Wiesen und Liebende geben wird. Daher die Beliebtheit des Frühlings bei den Denkern. Der Patricier und der Scheerenschleifer, der Herzog und Pair und der Rechtsverdreher, die Leute des Hofes und die Leute der Stadt, wie man ehedem sagte, Alle sind diesem Fest unterworfen. Man lacht, man sucht sich, es herrscht in der Luft eine Klarheit der Apotheose; welche Transfiguration, zu lieben! Die Schreiber, die Notare sind Götter. Und die kleinen Schreie, die Verfolgungen auf dem Grase, die flüchtig umfaßten Taillen, die Redensarten, welche Melodieen sind, die Anbetungen, welche sich in der Art, eine einzige Silbe auszusprechen, äußern, die Kirschen von einem Munde dem andern entreißen, Alles das flammt und geht in himmlischer Ruhe über. Die schönen Mädchen verschleudern sich selbst auf eine süße Weise. Man sollte glauben, das könnte nie ein Ende nehmen. Die Philosophen, die Dichter, die Maler betrachten diese Entzückungen und wissen nicht, was sie daraus machen sollen, so sehr werden sie dadurch geblendet. Der Aufbruch nach Cythere! rief Watteau; Lancret, der Maler des Bürgerstandes, betrachtet diese Bürger, die sich in das Blaue aufschwingen; Diderot streckt allen diesen Leidenschaften die Arme entgegen und d'Urfé mischt Druiden hinein.

Nach dem Frühstück waren die vier Paare nach dem Platze, den man damals das Viereck des Königs nannte, gegangen, um eine Pflanze zu besehen, die erst kürzlich aus Indien gekommen war und deren Name uns in diesem Augenblicke entfallen ist, die aber damals ganz Paris nach Saint-Cloud zog. Es war ein eigenthümliches und reizendes Strauchgewächs auf einem hohen Stiel, dessen zahllose Zweige, fein wie Fäden, ohne Blätter, mit einer Million kleiner, weißer Fleckchen bedeckt waren; dadurch sah der Strauch aus, wie ein mit Blumen bestreuter Haarkopf. Er war stets von einer bewundernden Menge umgeben.

Als die Pflanze besehen war, rief Tholomyès: »Ich biete Esel an!« und nach dem Abkommen mit den Eseltreibern waren sie über Vanvres und Issy zurückgekehrt. In Issy ein Ereigniß. Der Park, ein Nationalgut, welches in jener Zeit der Armeelieferant Bourguin besaß, war zufällig geöffnet. Sie durchschritten das Gitterthor, besuchten die Puppe des Einsiedlers in seiner Grotte, machten eine Probe mit den geheimnißvollen Wirkungen des berüchtigten Spiegelkabinets, jener lascifen Falle eines Satyrs, der Millionair geworden, oder Turcaret, metamorphisirt in Priap. Kräftig schüttelten sie das große Schaukelnetz, welches an den beiden Kastanienbäumen befestigt war, die durch den Abbé von Bernis berühmt geworden sind. Indem sie darin die Schönen, Eine nach der Anderen, schaukelten, wodurch unter allgemeinem Gelächter Faltenwürfe der Röcke entstanden, durch die Greuze seine Rechnung gefunden hätte, sang der Toulouser Tholomyès, ein wenig Spanier, weil Toulouse eine Cousine von Tolosa ist, nach einer melancholischen Weise den alten Gesang gallega zu dem wahrscheinlich irgend eine Schöne begeisterte, die auf einem Seile zwischen zwei Bäumen in die Höhe geschleudert wurde:

Soy de Badajoz,
Amor me llama
Toda mi Alma
Es en mis ojos
Porque enseñas
A tus piernas.

Fantine allein wollte sich nicht schaukeln lassen.

»Ich liebe es nicht, wenn man solch ein Wesen macht,« murmelte Favourite ziemlich bitter.

Als die Esel verlassen waren, neue Freude; man fuhr im Kahne über die Seine und von Passy aus erreichten sie zu Fuß die Barrière de l'Etoile. Sie waren wie man sich erinnern wird, seit fünf Uhr Morgens auf den Beinen, aber »bah! es giebt Sonntags keine Ermüdung« sagte Favourite; »Sonntags arbeitet die Anstrengung nicht

Gegen drei Uhr wollten die vier Paare, außer sich vor Glück, die russischen Berge hinab. Ein sonderbares Gebäude, welches damals die Höhe von Beaujon einnahm und deren geschlängelte Alleen man unter die Bäume der Champs-Elysées hin erblickt.

Von Zeit zu Zeit rief Favourite:

»Und die Ueberraschung? Ich verlange die Ueberraschung!«

»Geduld!« antwortete Tholomyès.

*


 << zurück weiter >>