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Auf einer Bank an dem rasch und energisch fließenden Strome, der die große Stadt teilte, saßen zwei Männer, von denen der jüngere, die Augen bohrend auf das unregelmäßige Gesicht des anderen geheftet, das Bild eines Gottesreiches entrollte, wie er sich ein solches vorstellte. Er sprach von den Schrecken des Krieges, der Lieblichkeit des Friedens, davon, daß die meisten Zwistigkeiten auf Mißverständnissen beruhten, daß die Menschen aufgeklärt, besser unterrichtet werden müßten, daß die Erde ausreichende Nahrung für alle böte, wenn jeder sich begnügte, und daß es nur darauf ankäme, die Menschen von der Wahrheit dieser Sätze zu überzeugen. »Und was machen wir mit den Bösen?« fragte der andere. »Die vermeintlich Bösen«, entgegnete der erste in gereiztem Tone, »sind meist nur schlecht erzogen und schlecht unterrichtet. Wer keine Kameraden zu bösem Tun findet, wer satt und gekleidet ist, wer nichts um sich her sieht, was schändliche Lüste reizt, muß wohl oder übel gut sein.«
»Etwas fade, dieses Gute, das du da aufgepäppelt hast«, sagte der andere und lachte.
»Du hörst mir nicht aufmerksam zu, Luzius,« sagte der erste, »weil du jenen Menschen im Soldatenmantel betrachtest, von dem du wohl weißt, daß er mir widerwärtig ist.«
»Du solltest«, sagte der, welcher Luzius angeredet wurde, belustigt, »mit deinen Grundsätzen friedfertiger sein. Dieser junge Mann war offenbar früher Offizier und hat jetzt nichts zu tun oder arbeitet gelegentlich. Er sieht arm aus, hält sich aber stolz aufrecht; das gefällt mir.«
Er könne nicht begreifen, sagte der Jüngere, warum Luzius etwas gefiele, was eine Folge von Dressur wäre. Übrigens sei natürlich der einzelne, der diesem Stande angehöre oder angehört habe, nicht für dessen Verwerflichkeit verantwortlich zu machen. Obwohl es sichtlich seinen Gefährten ärgerte, fuhr Luzius fort, den jungen Mann zu beobachten, der mit unbeweglichem Ernst, näher am Flusse stehend als die Bank, auf der jene saßen, in den durcheinander wühlenden weißen Schaum starrte. Die Dämmerung, die jetzt fiel, begann ihn zu verhüllen, kaum unterschied man noch die kreuzförmige Narbe, die seine den beiden Beobachtern zugekehrte Wange zeichnete. Immer ungestümer wurde der Südwind, der seit einer Stunde wehte und an dem alten Soldatenmantel riß; die Wellen spritzten so hoch auf, daß zuweilen einige Tropfen die auf der Bank Sitzenden trafen. »Es wird kalt«, sagte Luzius, ohne doch aufzustehen. Alle andern Bänke fingen an sich zu leeren, die zahlreichen Spaziergänger zerstreuten sich. Die Bewegung jedoch, die über die nahe bei der Bank mündende, den Fluß überspannende Brücke strömte, ließ nicht nach, nahm vielmehr zu. Durch das Pfeifen des Sturms und das Rauschen der Wellen hindurch hörte man Räderrollen und die scharfen Signale der Autos. Ab und zu orgelten abgerissene Gassenhauermelodien von Karussells dazwischen, die der Wind von einem nahen Platze herübertrug. Dieses gleichmäßige Getöse durchdrang plötzlich ein gellender Schrei: irgendein Unfall mußte sich begeben haben. Gleichzeitig, bevor noch recht begriffen werden konnte, was geschehen war, sah man über das Geländer der steinernen Brücke etwas Dunkles ins Wasser fliegen und unmittelbar darauf den Mann im Soldatenmantel zur Rettung in den Strom springen. Ein Autoführer hatte einem Hunde, der sich unversehens zwischen die Fahrzeuge gedrängt hatte, ausweichen wollen, wobei seine Maschine an einen Brückenpfeiler anprallte und der einzige Insasse des offenen Wagens herausgeschleudert wurde. Nun aber begab sich etwas Merkwürdiges: der junge Mann schwamm, den Verunglückten nach sich ziehend, ans Ufer, wo sich ihm viele hilfreiche Hände entgegenstreckten. Er selbst, der kaum erschöpft zu sein schien, half dem Geretteten, einem dicken, schwarzhaarigen, unbehilflichen Manne, hatte aber kaum den Juden in ihm erkannt, als er ärgerlich aufschrie: »Zum Teufel auch!« und den eben dem Tode Entronnenen wieder in den Fluß hinunterstieß. Während die Zuschauer zum Teil in Staunen erstarrt dastanden, zum Teil wütend auf den jungen Offizier einschrien, warf sich Luzius, der gleich zu Beginn des Vorfalls aufgesprungen war, in den Strom und rettete den dicken Mann zum zweiten Male. Da sich mehrere Leute anschickten, einen Arzt zu holen, denn der Mann lag bewußtlos da, hob Luzius abwehrend die Hand und sagte, das sei nicht nötig, der Mann lebe und werde sich bald erholen. Er kniete bei ihm nieder, richtete ihn in seinen Armen auf, öffnete ihm den Hemdkragen und drückte sein Gesicht gegen das bewegungslose; nur wenige Minuten vergingen, bis jener die Augen öffnete und sich angsterfüllt umsah. Obwohl er schwerer war als Luzius, trug dieser ihn zur nächsten Bank und wendete sich dann dem jungen Manne zu, der im Begriff war, seinen Mantel, den er abgeworfen hatte, als er ins Wasser sprang, sich wieder umzuhängen. »Schäme dich,« sagte er zu ihm, »eine gute Tat, die du unbesonnen tatest, besonnen wieder aufzuheben. Um eines abgeschmackten Vorurteils willen wolltest du zum Mörder werden, hättest du fast nicht nur ein fremdes, sondern auch dein eigenes Leben zugrunde gerichtet. Geh in dich, werde dir bewußt, daß ein Herr über dir ist, dem du verantwortlich bist für dein Denken und Tun. Bitte diesen Mann, den du so gröblich beleidigt hast, um Verzeihung.«
Mit dem jungen Manne, der die Ansprache zuerst halb trotzig, halb verlegen anhörte, ging eine Veränderung vor, als er seine dunkelblauen Augen zu dem Fremden aufschlug: er hatte einen solchen Menschen noch nie gesehen. Vor ihm stand ein mittelgroßer, gut gebauter Mann, der im Anfang der dreißiger Jahre sein mochte, mit einem Gesicht, das etwas Wildes und fast Erschreckendes hatte und doch zugleich einen unwiderstehlich hinreißenden Eindruck machte. Der Kopf erschien vielleicht noch größer, als er war, durch den dichten Haarwuchs, der einer Mähne glich, obwohl die Haare nicht lang in den Nacken fielen; sie waren wellig und hatten eine goldbraune Farbe, die an den Spitzen ins Rötliche überging, und kamen dem jungen Offizier in diesem Augenblick wie lodernde Flammen vor. Die Augen standen in seltsamer Verwandtschaft zu den Haaren, indem sie auch goldbraun waren und zuweilen rötliche Funken aus ihnen zu sprühen schienen. Nachdem er mit dem Offizier gesprochen hatte, wandte er sich zu dem Juden: »Danke du ihm, denn er hat dich immerhin aus dem Wasser gezogen, eh er dich wieder hineinwarf.« Rasch, als fürchtete er, es könne ihn wieder gereuen, ging der junge Mann dem erhaltenen Befehl gemäß zu dem auf der Bank zitternden Juden hinüber und bot ihm die Hand. »Ich bitte um Verzeihung«, sagte er dazu. »Ich habe nichts zu verzeihen, nur zu danken«, sagte jener. »Umarmt euch!« befahl Luzius, und die beiden taten es. »Nun aber«, fuhr er fort, »ist es Zeit, daß wir uns erwärmen und stärken, denn das Wasser ist noch sehr kalt; ich werde euch in ein gemütliches Gastzimmer führen, wo wir um ein offenes Feuer sitzen und uns trocknen können.« Nicht dreihundert Schritte entfernt sei das Gasthaus Zur alten Brücke, eine zwischen den hohen neuen Häusern versunkene und übersehene Herberge, wo nur wenig Menschen verkehrten; dort wohne er mit seinem Freunde. »Kommst du nicht mit uns, Lindor?« sagte er zu seinem ersten Gefährten, der während des ganzen Auftritts hinter der Bank gestanden und nur mit dem dicken Juden einige Worte gewechselt hatte. Das hübsche feine Gesicht des Angeredeten leuchtete auf, indem er zu Luzius hinüberging und sich an seinen Arm hängte. »Ich dachte, du hättest mich vergessen«, sagte er, schmollend wie ein Mädchen. Inzwischen war auch der Autoführer herangehinkt und begleitete die vier; er hatte an verschiedenen Stellen Schmerzen, die Luzius, nachdem er ihn flüchtig untersucht hatte, auf unerhebliche Quetschungen zurückführte.
In der Herberge war dem seltsamen Gast ein niedriges, braungetäfeltes Zimmer eingeräumt worden. Es befand sich darin ein altertümlicher Herd, auf dem jetzt ein offenes Feuer unter dem Kamin brannte, dessen lautlos bewegte Flammen huschende Lichter über die braungebeizten Wände, Tische und Stühle warfen. Die Gesellschaft richtete sich behaglich ein, die, welche im Wasser gewesen waren, zogen ihre Oberkleidung aus, hüllten sich in Decken, die der Wirt brachte, und ließen inzwischen das nasse Zeug am Feuer trocknen. Der Jude, welcher sich Simonetti nannte, blickte unschlüssig auf seinen Chauffeur und fragte ihn, ob er sich wohl genug fühle, um nach Hause zu fahren? Ja, sagte der, er empfinde kaum noch Schmerzen; aber die Maschine sei entzwei und für die nächsten Tage nicht benutzbar. Das sei ja ganz gleichgültig, sagte Simonetti, er solle jetzt irgendein Auto nehmen und heimfahren, damit die Familie sich wegen seines langen Ausbleibens nicht beunruhige. »Ich kann mich so schnell noch nicht von euch trennen«, setzte er hinzu, indem er Luzius und die beiden andern mit einem zaghaften Lächeln ansah. Der Wagenführer schien damit nicht ganz zufrieden zu sein. »Was soll ich denn sagen,« meinte er zögernd, »wenn die Gnädige fragt, wann Sie heimkommen?«
»Ihr Mann sei wohlauf,« sagte Luzius bestimmt, »sie solle Gott dafür danken; er verbringe diese Nacht mit denen, die ihn gerettet hätten!« Er sah, während der Chauffeur sich unter mehreren Verbeugungen verabschiedete, Simonetti mit einem schelmischen Lächeln des Einverständnisses an. Sein Gesicht schien, solange es in Ruhe war, älter als seine Jahre und oft düster; seine Freundlichkeit, die manchmal die eines hohen Herrn war, der sich zu Untergebenen herabläßt, manchmal die eines von Liebe berauschten Herzens, ließ es von Jugend, ja von Kindlichkeit glänzen. »Nun wollen wir«, sagte er, »ein festliches Mahl auftischen lassen und uns miteinander erfreuen.« Sie setzten sich um den Tisch, der mit Brot, Fleisch und Salat versehen wurde, auch zeigte sich, daß ein guter, feuriger Wein vorhanden war. »Das erste Glas«, sagte Simonetti zu Luzius, »sei Ihnen gebracht und den Glücklichen, die Sie begleiten dürfen.« Er erkundigte sich, ob Luzius Arzt wäre; er schiene sich ja vortrefflich auf die Behandlung von Kranken zu verstehen. »Ich bin kein Arzt in dem Sinne, daß ich die Heilkunde an Universitäten studiert hätte«, sagte Luzius. »Mir ist eine gewisse Heilkraft angeboren, die ich hauptsächlich zugunsten der Armen anwende. So hielt es meine Mutter, von der ich die Gabe geerbt habe. Oft sagte sie: Die Armen haben keinen Arzt, der sich vertraulich an ihr Bett setzt und mit ganzer Seele ihre Qualen zu lindern sucht. Er denkt gemeinhin: für die paar Groschen, die sie mir einbringen, brauche ich sie nur mit der linken Hand zu kurieren. Die Reichen, du lieber Gott! wenn sie nicht zuweilen eine rechtschaffene Krankheit bekämen, würden sie sich vollends einbilden, Götter zu sein, und sind sie auch krank, so haben die Ärzte allerhand Kunststückchen bereit, damit sie es nicht spüren.« – »Es ist wohl etwas daran,« sagte Simonetti; »aber ist es die Schuld der Reichen, daß sie reich sind?« Die anderen lachten. »So wenig und so viel, wie es die Schuld der Armen ist, daß sie arm sind«, sagte der Offizier namens Roland. »Sei ruhig,« sagte Luzius, »ich helfe dem, der mich braucht; aber es sind zumeist Arme, die mich brauchen, und nur Arme können mich begleiten.« So wäre er einmal froh, arm zu sein, sagte Roland, denn er könne sich nicht mehr von Luzius trennen. Wenn es Luzius recht wäre, möchte er sich ihm und Lindor anschließen und sie nie mehr verlassen. Er erzählte, daß er Offizier gewesen sei und nach der Auflösung des Heeres, um Geld zu verdienen, sich einem Bauern vermietet habe. Dies rauhe Leben sei ihm während der ersten Jahre ganz nach dem Sinne gewesen, ein wärmeres Verhältnis habe sich aber zwischen ihm und seinem Brotgeber nicht gebildet. Mit dem verdienten Gelde habe er, da man ihm das geraten, und da er zum Handwerk mehr Lust als zur Wissenschaft gehabt habe, die Töpferei erlernt, auch wohl Geschmack daran gefunden, ohne daß es ihn ganz befriedige. Als Bauernknecht habe er vielerlei erlernt, könne überall zugreifen und sein Brot verdienen, je nachdem die Gelegenheit es erfordere.
Der hübsche junge Mann, welcher Lindor hieß, hatte Chemie studiert, das Studium aber nicht vollenden können, weil seine Eltern zu den vielen gehörten, die ihr Vermögen einbüßten. Er beherrschte aber die französische und die englische Sprache und konnte sich mit Unterricht und Übersetzungen durchbringen. Er selbst, sagte Luzius, nähme für seine Heilungen keine Bezahlung an, außer daß dankbare Leute ihn und seine Gefährten etwa zum Essen einlüden oder ihm etwas Eßbares brächten; aber er sei gelernter Schmied, wie sein Vater einer gewesen sei, und übe das aus, wenn es je einmal nötig sei. Es habe ihnen noch nie am Notwendigen gefehlt, sogar überflüssig hätten sie, um anderen mitzuteilen.
Ja, sagte Simonetti, sie wären gut daran, er verstände sich nur auf seine kaufmännischen Geschäfte. Er sähe auch nicht ein, warum man durchaus arm sein müsse, um zu ihnen zu gehören. »Was mich persönlich betrifft,« sagte er, »so glaube ich, daß ich nirgends glücklicher sein könnte als in eurer Gesellschaft. Ich habe seit achtzehn Jahren ein eigenes Haus und Familie, aber ich habe mich noch nicht einen Augenblick zu Hause gefühlt. Meine Kinder hingen an mir, solange sie klein waren, jetzt bekümmern sie sich nur um mich, wenn sie Geld brauchen, sonst aber gehen sie mit meiner Frau ihren Gesellschaften, Theatervorstellungen und sonstigen Vergnügungen nach, ohne mich zu fragen oder mich dabei haben zu wollen. Auch begreife ich es wohl, denn ich kann in der Tat in Gesellschaft niemandem Ehre machen; ich weiß nicht, woran es liegt, aber es gelingt mir nicht, wie ein feiner Herr auszusehen, obgleich ich bei einem guten Schneider arbeiten lasse. Es ist kein Staat mit mir zu machen, ich sehe das ein. Zu Hause fürchte ich immer, etwas Ungehöriges zu sagen oder zu tun, gegen irgendeine Regel zu verstoßen oder sonst meiner Familie im Wege zu sein. Ihr würdet nicht nach dem Schnitt meines Rocks und meiner guten Manieren fragen, wenn ihr wüßtet, daß ich es gut meine.« Luzius lachte und streichelte mit der Hand über sein dichtes, schwarzes Haar. »Wirf deinen Geldsack von dir und geh mit uns,« sagte er, »dein Herz wird leicht und fröhlich werden.« Der dicke Mann warf sich unruhig auf seinem Stuhle hin und her. »Ich weiß nicht, wie Sie es machen,« sagte er, »Sie tauschen mir das Herz im Leibe und die Worte im Munde um. Die vernünftigsten Erwägungen verkehren sich in den einzigen Wunsch, in Ihrer Nähe zu bleiben.«
Laß die vernünftigen Erwägungen hören«, sagte Luzius lustig. »Gewiß hat der Aufsichtsrat irgendeiner Bank morgen eine Sitzung!« fügte Lindor hinzu. »Ganz richtig!« rief Simonetti eifrig aus. »Durch den Krach der Schwindelbank Bramaputra sind mehrere hochsolide Institute an den Rand des Verderbens gezogen. Morgen um zehn ist eine Zusammenkunft von Finanzleuten, die Auskunftsmittel finden wollen.«
»Laß die Toten ihre Toten begraben«, sagte Luzius. »Die Haare auf dem Haupte dieser bedrohten Bankherren sind alle gezählt, die hohe Finanz wird auch ohne dich dafür sorgen, daß keins verloren geht.«
»Ja, wenn jeder so denken wollte«, sagte Simonetti kleinlaut. »Sie rechnen auf mich. Und an der Bank Bramaputra sind mehrere Selbstmorde vorgefallen.«
»Alle Achtung!« rief Roland. »Wie es in den Tunnel des Zuchthauses hineinging, sprangen sie rasch aus dem Zuge.«
»Nun, sie haben aufrichtig betrogen«, meinte Lindor. »Wären die Menschen nicht durch Habgier verblendet, würde ihnen keiner in die Falle gegangen sein. Ihre Opfer sind nicht zu beklagen. Eure sogenannten honetten Geldgeschäfte sind viel gefährlicher, weil sie den Schein der Ehrlichkeit haben. Sie verpesten das ganze Volk.«
Simonetti wurde bleich. »Wo ist da die Grenze zu ziehen?« fragte er. »An diesen Geschäften nimmt doch ein jeder teil und Sie auch. Sie können doch nicht, wie die Bauern, Ihre verdienten Taler in einen Strumpf stecken!« – »Wenn ich Taler zurückzulegen hätte,« antwortete Lindor, »würde ich sie lieber wie ein Bauer in den Strumpf stecken, als wie ein Jude sie auf Wucher leihen.« Luzius trat zwischen die Streitenden. »Beleidigt euch nicht,« sagte er, »oder, wenn ihr es getan habt, verzeiht und versöhnt euch. Mißtraut euch aber nicht. Wer mir nachfolgt, ist guten Willens und fehlt nicht absichtlich. Freunde, wir haben den Geldgeschäften abgesagt, daran wollen wir uns genügen lassen und an der Hoffnung, zuweilen einen neuen Freund zu gewinnen wie diesen guten, feigen Simonetti.« Simonetti umarmte ihn. »Was brauche ich Mut?« sagte er. »Du hast für uns alle. Wenn ihr mich haben wollt, bin ich euer. Mein Vermögen vermache ich meiner Frau und den Kindern, meine Person werden sie nicht vermissen.« Man drückte ihm die Hand und bewunderte ihn, nannte ihn neckend den heiligen Franziskus. Ihn bedrückte nur das eine, daß er nichts könne, um sich sein Brot zu verdienen; aber Luzius meinte, das würde sich finden; inzwischen wurde er zum Säckelmeister ernannt.
Aus Düren war die französische Besatzung abgezogen. Luzius und die Seinen waren etwa noch drei Stunden von der Stadt entfernt, als ihnen ein Mann entgegenkam, der aus Krankheit oder Schwäche sich mühsam fortschleppte. »Was fehlt dir?« sprach Luzius ihn an. »Hast du Hunger? Ist dir schlecht? Ich will dir helfen.« Der Mann spähte mit seinen matten, flachen Augen ängstlich wie nach einem Ausweg herum; die vier Männer schienen ihm eher Schrecken als Beruhigung einzuflößen; allein wie einer, der sich widerstandslos ergibt, weil er muß, sagte er: »Ich kann nicht weiter, ich habe seit zwei Tagen nichts gegessen.« Sein graues Gesicht bedeckte sich mit Schweiß, er wäre zusammengebrochen, wenn die Männer ihn nicht unter den Arm gefaßt und gestützt hätten. Simonetti förderte ein Stück Brot aus der Tasche und reichte es dem Ausgehungerten, der es verschlang. »Das genügt nicht«, sagte Luzius. »Wir wollen nun doch in eins jener Bauernhäuser gehen und dort Mittag halten.« Der Mann erschrak und beteuerte, daß er weitergehen könne, er sei gewohnt, mit wenigem auszukommen. »Man sollte meinen,« sagte Luzius, indem er den Mann fest ansah, »du wärest ein Räuber oder Mörder und müßtest fürchten, von den Menschen erkannt zu werden.«
»Ein Räuber oder Mörder bin ich nicht,« entgegnete der Mann, »aber mehr gehaßt und verfolgt als ein solcher. Warum? Weil ich arm bin. Es wäre den Armen besser, man bände ihren Neugeborenen einen Stein um den Hals und ersäufte sie, wenn es ihnen noch nicht weh tut.«
»Man verfolgt niemanden, weil er arm ist«, sagte Roland. »Du wirst es mit den Franzosen gehalten haben, und nun sie fort sind, fürchtest du Rache.« – »Laßt ihn sprechen, wenn er gegessen und sich ausgeruht hat«, sagte Luzius, indem er einen Seitenpfad einschlug, der zu einem ansehnlichen Gehöft führte. Der Mann, den er ansprach, lehnte die Zumutung, fünf fremde Männer zu bewirten, mit lautem Hohn ab. »Nun die fremden Heuschrecken abgezogen sind,« sagte er, »möchten die einheimischen wegfressen, was jene übriggelassen haben. Ich wollte, der Teufel holte alle miteinander.« – »Das ist ein sehr unchristlicher Wunsch,« sagte Luzius, »oder wäre es, wenn es dir Ernst wäre. Habe ich gesagt, daß wir umsonst essen wollen? Wir wollen dir gern für deine Bewirtung leisten, was sie wert ist, in Geld oder in Arbeit.« Damit stellte er seine Gefährten vor und zählte auf, was sie verständen; er selbst sei Arzt, und der Bauer könne ihm bringen, was er an Kranken, Mensch oder Vieh, im Hause habe. Während der Mann feindselig schwieg, kam ein etwa zehnjähriger kleiner Bursche gelaufen und sagte, die Mutter sei krank, der Herr solle doch zur kranken Mutter kommen und sehen, ob er ihr helfen könne. »Gute Ärzte pflegen nicht wie Wegelagerer von Haus zu Haus zu ziehen«, brummte der Mann; der Knabe indessen sagte errötend, indem er seine klaren blauen Augen bittend auf den Fremden heftete, sein Vater sei unwirsch aus Kummer über die Krankheit der Mutter, meine es jedoch nicht böse. Er führte Luzius in ein helles und nettes Zimmer, wo eine noch junge, aber leidend aussehende Frau im Bette lag. »Es fehlt Euch wenigstens nicht an guter Pflege«, sagte Luzius, indem er sich umsah und die roten Geranien bemerkte, die in grüngestrichenen Kästen am Fenster standen. »Das tut alles mein Fritz,« sagte die Frau, »und er wird euch Herren auch ein Mittagessen herrichten, wenn ihr nur ein Viertelstündchen Geduld habt.«
»Hilfstruppen sind gekommen«,rief Roland draußen. »Weise uns an, Bübchen, daß wir das Festessen zur Genesung bereiten.« Das Bübchen sprang hierhin und dorthin, griff unter die Hühner, zeigte, wo die Eier zu finden wären, und lief in Keller und Stall, hinterdrein laut scheltend der Vater, der einmal sogar dem Eifrigen, als er seiner habhaft wurde, schnell eine Ohrfeige versetzte, ohne daß dieser sich stören ließ. Indessen saß Luzius am Bette der Frau und ließ sich von ihr erzählen, daß sie vor einem Jahre an der Grippe erkrankt sei und, als sie wieder habe aufstehen wollen, die Beine nicht mehr habe gebrauchen können. Einmal wäre ein Arzt dagewesen, dessen Arznei aber nicht geholfen hätte; ihr Mann sei leider geizig, wolle nichts von den Ärzten wissen und sehe scheel auf sie wegen der Krankheit, als ob sie sie mutwillig auf sich gezogen hätte. Trotzdem habe sie es gut, weil der Fritz für sie sorge und immer um sie her sei, so daß ihr oft zumute sei, als wäre sie im Himmel. »Ich bin froh,« sagte sie, »daß ich den widrigen Mann habe; denn es ist doch wohl nicht Gottes Wille, daß wir auf Erden schon im Himmel leben.« Luzius sagte: »Er läßt die, die ihn lieb haben, schon auf Erden davon kosten. Der Himmel ist mit der Erde verbunden durch unsichtbare Gänge, und an manchem Ort, wo es niemand ahnt, sind Pforten, die hineinführen. Da weht eine süßere Luft von den himmlischen Gärten, und es mag sein, daß eine solche hier in der Nähe ist.« Wenn dem so wäre, sagte die Frau, wolle sie sich darein schicken, krank zu sein und auch zu sterben, obwohl sie gern dem Fritz zur Seite bleiben möchte, wenigstens bis er ein Jüngling wäre. Sie könne ja aber vielleicht nach dem Tode noch um ihn sein, und vielleicht werde auch ihr Mann wieder zugänglicher, wenn er keine Kranke mehr zu unterhalten habe. »Es ist Gottes Wille,« sagte Luzius, »daß Ihr wieder gesund und kräftig werdet; deshalb hat er mich dieses Weges geführt.« Damit ging er ans Fenster und rief dem Bübchen zu, es müsse warmes Wasser gerichtet werden zu einem Bad für die Mutter, worauf es wie der Blitz in die Küche sprang und dann mit Lindors Hilfe eine Badewanne in das Schlafzimmer schleppte. Nachdem er sie abgestellt hatte, lief der Kleine zu Luzius hin, der am Bett saß, und fragte: »Soll ich gleich für die Mutter mit decken?« – »Tu das,« sagte Luzius, »und eile dich mit dem Essen, damit sie gleich zu Tisch gehen kann, wenn sie aufsteht.« Der Junge verbeugte sich und flog davon. »Ich weiß es, ich weiß es,« sagte er zu Simonetti, der eben die geschälten Kartoffeln in einen großen Topf schüttete, »ihr seid Engel, obwohl ihr keine Flügel habt, und obwohl ich mir als Kind die Engel ganz anders vorstellte.« Er maß Simonetti mit einem interessiert forschenden Blick. »Aber die Engel, die zu Abraham kamen, hatten auch keine Flügel, denn er merkte zuerst nicht, daß es Engel waren.« Der Bauer, welcher dies gehört hatte, während er einige Kartoffeln aus dem Kochtopf wieder herauszufischen suchte, rief zornig: »Ha, nicht genug, daß ich eine Kranke mitschleppen muß, macht ihr mir auch einen Narren aus dem Jungen!« Fritz schüttelte seine Ohrfeige ab, warf die vom Vater zurückgenommenen Kartoffeln wieder in den Topf und sagte zu Simonetti: »Du mußt ihn entschuldigen, er hat zu viel zu arbeiten, um die Heilige Schrift zu lesen. Mutter sagt, er sei wie Martha und meine es nicht böse.« Dann trug er Simonetti leise auf, am Herd stehen zu bleiben und die Kartoffeln vor dem Vater zu schützen, und lief wie ein Pfeil in den Garten, um jungen Salat unter der Hülle hervorzusuchen.
Als das Essen aufgetragen auf dem langen eichenen Tische stand, tat sich die Tür auf, und die Frau trat mit langsamen, noch ein wenig unsicheren Schritten herein. Sie hatte um den Halsausschnitt ihres schwarzwollenen Kleides ein seidenes Tüchlein gelegt, die großen blauen Augen strahlten, und ihr Mund lächelte lustig. Sie gab allen, die sich auf sie zudrängten, die Hand und sagte: »Gott hat ein Wunder an mir getan. Ich gelobe es hier vor euch allen, daß ich es nie vergessen werde, sondern versuchen will, es zu verdienen.« Der Bauer, der im ersten Augenblick vor Staunen starr dagestanden hatte, brach in lautes Grollen aus: »Habe ichs nicht immer gesagt, wenn du nur wolltest, könntest du? Es war ja kein äußerlicher Schaden da. Die Überraschung hättest du mir auch eher machen können.« Die Frau errötete vor Unwillen, und es sprang ihr ein heftiges Wort auf die Lippen, aber sie bezwang sich und sagte ruhig, indem sie sich zu Luzius wendete: »Der eine sieht es so, der andre so an. Ich weiß, was ich Ihnen verdanke, und Sie habens ja nicht um den Habedank getan. Nun setzt euch alle und nehmt vorlieb!« Als jeder einen Platz gefunden hatte, antwortete Luzius: »Ihr sagt sehr richtig, daß es auf unsere Augen ankommt, in welcher Welt wir leben. Die Welt ist nicht wie ein Kieselstein, den man auf den Tisch wirft, und da liegt er und so ist er, sondern ein großer Teppich, an dem alle mitweben.« »Ja,« rief die Frau lebhaft aus, »das ist wahr, und sonderbar ist es, wie die rechten Farben immer zur Hand sind, wenn man sie brauchen will, und daß zuletzt die herrlichen Bilder entstehen, obwohl viel faule und dumme Weber dabei sind, denen nichts Gescheites einfällt.« Ihre leuchtenden Augen folgten dem kleinen Fritz, der behende um den Tisch lief und die Gläser und Teller füllte. Einzig der Bauer und der fremde Arbeiter beteiligten sich nicht an dem Gespräch, das zwischen den andern fröhlich hin und her ging.
Als sie aufbrechen wollten, sagte Luzius zu der Frau, er und seine Begleiter hätten nichts nötig, wenn sie aber dem Fremden eine Wegzehrung mitgeben wollte, so möchte das angebracht sein, da er vielleicht nicht so bald Arbeit fände. »Ich habe ihm schon allerlei in ein Bündel geschnürt,« sagte die Frau, »um Euretwillen. Er hats wohl mit den Franzosen und den Kommunisten gehalten, und seine Freundin kann ich nicht sein, aber zur Richterin hat mich ja Gott auch nicht bestellt. Und wenn er noch einen oder ein paar Tage bei uns bleiben und auf dem Hof arbeiten will, so soll er nicht wohlgelitten, aber doch gelitten sein.« Indessen der Mann wollte nicht, drängte vielmehr zum Weggehen. Simonetti zog vor dem Abschied das Bürschchen in eine Ecke und steckte ihm etwas Zuckerwerk zu. »Es ist für dich,« sagte er, als Fritz damit in seine Tasche fuhr, »Erwachsene machen sich nichts daraus.«
»Oh,« sagte der Kleine, »so erwachsen ist meine Mutter nicht. Ich spare aber nicht nur für sie, sondern auch für die Pferde, die Kühe mögen es nicht.« Er lud seinen Freund ein, mit ihm in den Stall zu kommen, und gestand ihm, er würde sehr glücklich sein, wenn der Meister das Vieh segnete, aber er habe nicht den Mut, ihn darum zu bitten. Simonetti vermittelte den Wunsch, worauf Luzius durch den Stall ging, wo es warm und wohlig war, Schwalben aus und ein flogen, und das leise in seinem Futter rauschende Vieh bewunderte und streichelte.
»Wichtiger wäre es gewesen,« sagte Roland, als sie wieder auf dem schmalen Pfade der Landstraße dahingingen, »du hättest dem andern Vieh, dem Bauern, einen nachdrücklichen Segen gegeben, damit er der Frau und dem Buben das Leben nicht so sauer macht.« Luzius meinte lachend, die beiden hätten das Übergewicht, sie könnten ihn allein in den Himmel schleppen. Der Arbeiter hielt sich an Lindor, weil er gemerkt hatte, daß der kein Gegner der Franzosen war. Er war nun einigermaßen gekräftigt und bedankte sich. »Ich habe nichts,« sagte er, im Begriff sich zu verabschieden, »womit ich mich erkenntlich zeigen könnte als einen Rat. Der ist: geht nicht in die Stadt, heute nicht und morgen nicht.« Man drang in ihn, sich näher zu erklären, er zögerte und sagte endlich: sie hätten ihm vielleicht das Leben gerettet, deshalb halte er sich verpflichtet, zu sprechen. Er habe einen Franzosen gekannt, dem er öfter gefällig gewesen sei und der deshalb Vertrauen zu ihm gehabt hätte. Eines Tages sei der Franzose, der sehr auf Weiber erpicht gewesen sei, von einem schönen Mädchen zu einem Stelldichein in ein Wäldchen vor der Stadt bestellt gewesen; als er hingekommen sei, hätten ihn zwei maskierte Männer überfallen und verprügelt, daß er halbtot liegen geblieben sei. Er habe nie herausbekommen, wer die beiden gewesen wären, und sich geschworen, an der ganzen Stadt Rache zu nehmen. Noch heute oder am folgenden Tage werde er vom Flugzeug eine neue Art von Bomben auf die Stadt herunterwerfen, die in Frankreich erfunden wäre, wodurch die Luft vergiftet würde, so daß die Menschen im weiten Umkreise durch Erstickung oder im Wahnsinn sterben würden, um so mehr, als sie unvorbereitet wären. »Bist du deshalb heute fortgegangen, um dem Gruß deines Freundes und Beschützers auszuweichen?« fragte Roland. Der Mann zuckte die Achseln. »Ich hätte mich auch sonst nicht halten können«, sagte er. »Wer sich von den Franzosen hat anstellen lassen, den verfolgen sie jetzt wie einen tollen Hund.« – »Du wirst wissen, warum sie dich verfolgen«, entgegnete Roland scharf. Luzius schnitt den Wortwechsel ab, indem er dem Arbeiter Lebewohl sagte, der dann den rüstig Zuschreitenden noch eine Warnung nachrief.
Es war zwischen vier und fünf Uhr, als die Wanderer am äußersten Rande von Düren ankamen. Ein Durcheinanderschwirren von Karussellmusik zeigte an, daß ein Jahrmarkt gefeiert wurde; der Abzug der Franzosen sollte auf die verschiedenste Art und jedem Geschmack entsprechend festlich begangen werden. Bald erklang es: Puppchen, du bist mein Augenstern, und gleich daneben: Auf in den Kampf, Torero! Die abgerissenen und durcheinanderschwirrenden Melodien verbanden sich wunderlich zu einem anregenden Getöse. Ein großer Platz zwischen den Ausläufern häßlicher Vorstadtstraßen, auf einer Seite in freies Feld mündend, war erfüllt von Menschen, die trotz der Kälte auf und ab wogten. Die blutrot untergehende Sonne warf Bündel von Licht auf die mit dünnem Schnee bedeckten, schon frühlingsgrünen Bäume, die den Platz umgaben, und auf die flittergeschmückten Dächer der Karussells, so daß eine verzauberte Stadt unter einem Behang von Kostbarkeiten zu glitzern schien. Junge Burschen und alte Frauen trugen Büschel von roten und blauen Luftbällen, kletternde Affen und gellende Instrumente umher. Ein knisterndes Feuer, von Bänken umgeben, wo Bier und Kaffee gereicht wurde, schien farbensprühend mit dem starken Strom des letzten Sonnenlichtes wetteifern zu wollen. Simonetti steuerte mit Vergnügen und Sachkenntnis mitten in das Gedränge, sich unbewußt im Takte der jeweilig aufgefaßten Musik bewegend. Er war ein Kinderfreund und erinnerte sich der glücklichen Zeit, wo er seine eigenen Kinder, die damals noch anhänglich und dankbar gewesen waren, auf die Spielplätze geführt hatte. »Seht«, sagte er, »den Kranz sehnsüchtiger armer Kinder um die Karussells herum; das ist die Melancholie der Jahrmärkte.« – »Mich stimmen Jahrmärkte überhaupt traurig,« sagte Lindor, »und ich habe sie deshalb immer gemieden.« – »Auch im Zuschauen liegt ein Vergnügen«, sagte Luzius. »Ihr müßt nicht meinen, daß es nur auf den Genuß ankomme. Das Wünschen und Hoffen ist ein großer Reiz, und was wir nicht haben können, erstattet uns die Phantasie hundertmal so schön.« – »Sie sehen aber mager und traurig aus«, meinte Simonetti, nicht überzeugt. Lindor sagte, die Phantasie sei wie das Feuer und könne leuchten, aber auch verzehren. Indessen erwog Simonetti, der außer der gemeinsamen Kasse heimlich eigenes Geld bei sich trug, ob er davon nehmen sollte, um die Kinder fahren zu lassen, zögerte aber aus Besorgnis, es möchte auffallen, denn die Gefährten hatten ihn schon geneckt, weil er immer die Taschen voll Süßigkeiten hatte. Da legte Luzius ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Heute, weil wir gerade hier sind, soll ein Kinderglückstag sein. Verdienen wir rasch ein paar Groschen und lassen wir die Kleinen fahren.« Er habe, sagte er, schon einen Zahnwehkranken mit verbundener Backe bemerkt, den wolle er heilen, Lindor könne aus den Händen wahrsagen und die anderen je nach Erfindungsgabe treiben, was sie wollten. Nach einer halben Stunde fanden sie sich wieder zusammen: Roland hatte in den Schießbuden nach dem Ziele geschossen, gewonnen und seine Gewinne wieder verkauft; seine Augen blitzten, er war von einer Schar Knaben umgeben, die ihn anstaunten. Lindor hatte das meiste Geld. »Sie würden ihr Hemd geben, um etwas über sich selbst und ihre Zukunft zu hören«, sagte er mit einem Zuge von Verachtung um die schmalen Lippen. »Du hast ihnen wohl keine Rosen auf den Pfad gestreut?« fragte Roland lachend. »Ich habe ihnen gesagt, daß sie heute einer großen Gefahr entgehen würden«, sagte Lindor. Simonetti war schon mitten im Betriebe; wahrend er und Luzius die Kinder in die Wagen und auf die Pferde setzten und aufpaßten, daß jedes an die Reihe kam, kauften Roland und Lindor Pfeffernüsse, Schokolade und dergleichen, damit auch diese Sehnsucht befriedigt werde. Die Kinder begriffen schnell, daß Wundermänner erschienen waren, um sie zu beglücken, und drängten sich zu ihnen, wie von einem Magneten gezogen. Ein Teil war bescheiden und geduldig, zufrieden fast mehr über die Gegenwart der hilfreichen Männer als über das Karussellfahren; andere drängten sich lärmend und knuffend vor und streckten zudringlich die Hände hin. »Gerade diese«, sagte Simonetti entrüstet, »haben Geld und zu essen genug und möchten den Armen noch ihr Almosen abdringen, um doppelt zu genießen.« Auch halbelegante Pärchen mit verschwärmten Gesichtern wollten fahren, je mehr die Dunkelheit hereinbrach, und schoben die Kinder beiseite. Einer der Karussellführer, ein hinkender und schielender Bursche, der gewandt wie ein Affe über die Wagen und Pferde im vollen Schwunge leicht hingaukelte, setzte sich mit Luzius ins Einvernehmen. »Ich sehe,« sagte er, »daß Sie den armen Kindern eine Freude bereiten wollen. Das ist schön, das ist nobel, und darum will ich Ihnen entgegenkommen. Ich nehme von Ihnen nur fünf Pfennige anstatt zehn, der Meister, der ein Mann ohne Grundsätze ist, braucht es nicht zu erfahren.« – »Du bist ein guter Bursche,« entgegnete Luzius, »dafür will ich dir grade Augen machen, wenn du willst.« – »Danke, danke,« rief der Mensch, »die wollen wir lieber lassen, wie sie sind. Die Mädchen laufen mir nach wie die Narren, meine Mutter meint, das Schielen habe es ihnen angetan, und sie muß es ja wissen.« Unterdessen war es ganz dunkel geworden, die Feuer in der Mitte des Platzes schlugen mit scharlachroter Flamme empor, wenn die Umsitzenden Holzscheite oder Tannenzapfen und Mist hineinwarfen. Plötzlich faßte Roland Luzius am Arm, der eben ein kleines Mädchen aus dem langsamer fahrenden Karussell hob, und flüsterte ihm zu: »Ein Flugzeug! Der Mann hat recht gehabt!« Luzius trat vom Karussell weg und folgte Rolands Blick nach dem Himmel. Lindor und Simonetti sahen nichts; man hörte auch nichts, wie angestrengt man auch hinhorchte. »Der Lärm ist zu groß,« sagte Roland; »außerdem sollen sie in Frankreich lautlos gleitende Flugzeuge erfunden haben. Das würde beweisen, daß es wirklich ein Franzose ist.« – »Du hast Augen wie ein Falk,« sagte Luzius; »aber jetzt habe ich es auch gesehen. Auf jener dunkelgrauen Wolke sieht man die metallenen Schuppen blitzen.« Auch die anderen glaubten es nun zu bemerken. »Hat der Mann darin recht gehabt,« sagte Lindor, »so wird auch das übrige stimmen. Luzius, Luzius, verhüte das Unglück!« – »Du wirst es doch tun?« bat Simonetti, »denke an die vielen unschuldigen Kinder.« Deutlich sahen sie es jetzt aus einer dunklen Wolke, die sich wetterdrohend zusammengezogen hatte, hervorschimmern; der Punkt schien größer zu werden. »Blickt nicht hin,« sagte Luzius, »damit die Leute nicht aufmerksam werden; es könnte eine Panik entstehen, die ebenso gefährlich wäre wie das Flugzeug selbst. Beschäftigt euch mit den Kindern, laßt mich allein.« Er kniete nieder und verbarg das Gesicht in den Händen; hätte ihn jemand im Gedränge bemerkt, würde er gedacht haben, der Mann suche etwas. Die drei Freunde waren nicht imstande, das Spiel mit den Kindern weiterzutreiben; sie starrten atemlos auf Luzius, der unbeweglich blieb, nur daß sein ganzer Körper sich immer tiefer gegen den Boden zu beugen schien. »Es donnert von ferne«, sagte Roland leise. Die andern schüttelten den Kopf; sie hätten nichts gehört und glaubten es nicht. Eine unendlich lange Zeit schien ihnen vergangen zu sein, als Luzius aufstand. »Die Knie zittern mir,« sagte Simonetti, auf ihn zugehend; »sind wir tot oder lebendig?« – »Wir leben,« sagte Luzius, »jener stürzt ab.« – »Er stürzt?« rief Lindor entsetzt. »Du läßt ihn stürzen?« Alle blickten nach der Wolke: man sah den blitzenden Punkt nicht mehr. »Nicht ich tue es,« sagte Luzius, »sein böser Wille hat ihn gestürzt.« Inzwischen war beim Karussell nach der Entfernung der vier Männer ein Krawall entstanden. Für die zuletzt eingestellten armen Kinder war noch nicht bezahlt worden, ein paar größere Jungen wollten sie gewaltsam entfernen, der Besitzer des Karussells beschimpfte den Schielenden, der das Gesindel zugelassen habe, eine allgemeine Prügelei war im Gange. Durch den Lärm aufmerksam gemacht, wandte Luzius sich um und war mit einem Satz unter den Zeternden. »Ihr Bestien,« rief er, »könnt ihr euren Neid und eure Habgier nicht einen Augenblick im Zaume halten!« Er hatte keine sehr starke Stimme, aber sie schwang sich wie ein musikalischer Ton über die andern, die daneben trocken zu Boden fielen. Der Schielende stand mit untergeschlagenen Armen vor seinem Brotherrn und ließ dessen Schimpfreden auf sich niederprasseln. »Ein gutes Gewissen hat eine harte Haut«, sagte er lächelnd. »Wer hat sich geärgert? Wer hat sich aufgeregt? Wer hat sich blamiert? Ich bedaure nur, daß diese noblen Herren Zeugen eines so ungebildeten Auftritts werden mußten.« Während Simonetti bezahlte, sagte Luzius zu den Kindern, sie sollten eilig heimgehen, es sei ein Gewitter im Anzuge, und ihre Eltern würden sich um sie sorgen. Sie gehorchten, nachdem sie Simonetti umarmt und ihn hatten versprechen lassen, er werde am folgenden Tage wiederkommen. Hörbar rollte jetzt ein Donner im Bogen über den schwarzverhangenen Himmel und erregte allgemeines Erstaunen. Ein Gewitter im Frühling, während noch Schnee lag! »Wir müssen eine Herberge aufsuchen, wenn wir nicht naß werden wollen«, sagte Luzius. Lindor ging langsam und warf immer wieder einen Blick nach der Wolke, durch die jetzt weiße Blitze jagten. »Der unglückliche Flieger!« sagte er. »Wo mag er sein? Was mag aus ihm geworden sein?« – »Bedauerst du etwa den französischen Meuchelmörder?« fragte Roland empört. »Wer weiß, ob er feindliche Absichten hatte!« sagte Lindor. »Jener Mann kann auch gelogen haben.« Luzius legte seinen Arm um Rolands Schulter und zog ihn mit fort. »Ich bin müde«, sagte er; er war in der Tat sehr blaß im Gesicht und fast verfallen.
Ein paar Tage später beschloß Luzius, eine große Strumpffabrik zu besuchen, die am Rande der Stadt lag. Er hatte nämlich mehrere der Kinder auf dem Jahrmarkt nach der Beschäftigung ihrer Eltern gefragt und öfters zur Antwort erhalten, sie arbeiteten in Strowischs Strumpffabrik, was sie in einem feierlich stolzen Tone sagten, als wäre vom Hofe eines Monarchen die Rede. Durch Erkundigung erfuhr er leicht, daß Strowisch der reichste Mann Deutschlands, vielleicht Europas, eine höchst bedeutende Persönlichkeit sei, und daß seine Fabriken musterhaft geordnet wären. Die Schilderung aller der Vorzüge Strowischscher Betriebe machte ihn begierig, eine solche Anstalt in Augenschein zu nehmen. Dort ging es gerade an diesem Vormittage unruhig zu im Zusammenhang mit dem Abzuge der Franzosen, indem gegen verschiedene Arbeiter die Beschuldigung erhoben wurde, es mit dem Feinde gehalten zu haben. Ganz frei von diesem Verdacht waren zwei Damen, Frau Heim und ihre Tochter Hero, die überhaupt eine Ausnahmestellung unter den Arbeiterinnen einnahmen. Frau Heim und ihre Tochter sahen sich gezwungen, da sie ihr Vermögen verloren hatten, zu verdienen, und sie ergriffen auf gut Glück die Gelegenheit, die sich ihnen durch gesellschaftliche Beziehungen bot. Verhältnismäßig rasch gewöhnten sie sich an die regelmäßige, ununterbrochene Tätigkeit und wußten sich eine vergleichsweise angenehme Stellung zu schaffen. Frau Heim war eine schöne majestätische Erscheinung mit gleichmäßig ruhigem, etwas kühlem Wesen; sie rückte bald zur Aufseherin einer Gruppe junger Anfängerinnen vor. Ganz von ihr verschieden war Hero, die sich, obwohl ihr, ohne daß sie es wußte, eine sie von den meisten Menschen unterscheidende Würde angeboren war, mit den Arbeitern und Arbeiterinnen freundschaftlich stellte, als wäre sie mit ihnen aufgewachsen, und den Ton traf, der ihr die Herzen gewann. Immer fiel ihr zur rechten Zeit etwas Spaßhaftes ein, womit sie alle ins Lachen brachte, das größte Entzücken aber erregte sie, wenn sie mit wohllautender Stimme, die wie ein Glöckchen durch das Gesurr der Maschinen hindurchläutete, Lieder sang, deren sie unendlich viele wußte. Sie kannte volkstümliche Lieder und die neuesten Berliner Gassenhauer und Wiener Schlager, und sie sang auch Arien mit einem Pathos, das komisch wirken sollte und doch zuweilen rührte. Während die meisten Mädchen mit Begeisterung an ihr hingen, gab es doch auch Neidische und Eifersüchtige, und eine solche war besonders Notburga, allgemein Burgi genannt, ein dunkelhaariges Mädchen von gedrungener Erscheinung und leidenschaftlichem Wesen. Ihre Eifersucht wurde dadurch gesteigert, daß ein Werkmeister, den sie liebte, Hero offensichtliche Huldigungen darbrachte; und der Umstand, daß Hero mit gänzlicher Nichtbeachtung darüber hinwegging, reizte sie nur noch mehr, denn einerseits argwöhnte sie, die gefallsüchtige Feindin wolle ihn dadurch anfeuern, anderseits schien ihr darin eine empörende Verachtung dessen zu liegen, was sie über alles hochhielt und begehrte. Hero, der das Mädchen leid tat, suchte sie durch Freundlichkeit und Scherz zu gewinnen. »Sie könnten ein hübsches Mädchen sein, Burgi,« pflegte sie zu ihr zu sagen, »wenn Sie nicht ein so böses Gesicht machten. Venus selbst hätte wie eine Kröte ausgesehen, wenn sie ihren Mund so aufgeworfen hätte, wie Sie es tun.« Dabei versuchte sie mit ihrem lieblichen Gesicht Burgi nachzumachen, was sich so lustig ausnahm, daß diese wider Willen lachen mußte. An diesem Tage war Burgi die Zielscheibe von Angriffen, indem man ihr nachsagte, sie habe es mit einem französischen Offizier gehalten, der sich unter dem Vorwande der Inspektion in die Fabrik gedrängt und nicht ganz ohne Erfolg die Mädchen belästigt hatte. Eine, die sich selbst schuldig fühlen mochte, suchte den Verdacht von sich abzulenken, indem sie die ganz unschuldige Burgi verklagte. Hierüber streitend standen mehrere Mädchen auf einer Seitengalerie, wo nicht gearbeitet wurde, zusammen, und ihre Stimmen wurden so laut, daß Hero, die sich in einem unteren Stockwerk befand, es hörte. Sie ging hinauf, denn es war gerade eine kurze Pause, und mischte sich unter die andern, um zu hören, was es gäbe. Im Bestreben Burgi beizustehen, legte sie den Arm um das erregte Mädchen und sagte lachend: »Wie könnt ihr so töricht sein, der Burgi einen solchen Vorwurf zu machen, deren Herz doch anderswo ganz sicher aufgehoben ist!« Burgi, schon erzürnt, daß Hero von der Angelegenheit überhaupt etwas erfuhr, erblickte in der Anspielung eine tödliche Kränkung, stieß Hero heftig zurück und machte eine Bewegung gegen sie, die Hero so deutete, als wolle sie sie schlagen. Erschreckt wich sie in der Richtung des Stoßes, den sie empfangen sollte, weiter zurück, verlor den Boden unter den Füßen, stürzte und lag im nächsten Augenblick unten im Maschinenraum. Die Galerie war nämlich durch eine Balustrade geschützt, damit Unglücksfälle verhütet würden, diese war aber ungenügend erschienen, abgenommen und noch nicht durch eine neue ersetzt worden. Inzwischen war der Zutritt zu dieser Galerie verboten, was zum Überfluß auch eine Warnungstafel anzeigte, aber es pflegten sich gerade dorthin alle zu begeben, die unter sich etwas besprechen wollten, und so hatte das Unglück geschehen können.
Ein unbeschreiblicher Schrecken ging durch die ganze Fabrik, um so mehr, als das Kleid des regungslos daliegenden Körpers sich so in ein Rad verfangen hatte, daß die Tote in der nächsten Minute davon mitgerissen und zerfleischt werden mußte. Burgi, die den Unfall veranlaßt hatte, lag laut jammernd am Boden. Frau Heim, von einer entsetzlichen Ahnung erfaßt, als sie das Geschrei hörte, lief hinauf und wollte sich ihrer Tochter nachstürzen; aber der Augenblick, wo ihre Natur unwillkürlich zurückschauderte, genügte den Umstehenden, sie zu umfassen und zurückzuhalten. »Stellt die Maschinen ab! Stellt die Maschinen ab!« brüllten verschiedene Stimmen. Der Werkmeister, derselbe, welcher sich in Hero verliebt hatte, war der einzige, welcher das tun konnte, und stand halb irrsinnig vor Angst, Grauen und Ratlosigkeit da. Er durfte das Werk nur im höchsten Notfall und eigentlich nur nach telephonischer Befragung des Direktors abstellen; war nun ein solcher Notfall da, oder schien es ihm nur so, weil er das Mädchen liebte? Tot war sie ohnehin, es handelte sich also nicht um ein Menschenleben. Der Angstschweiß trat ihm auf die Stirn, seine Gedanken verwirrten sich; da, in diesem Augenblick wurde der stampfende Rhythmus, der das große Gebäude unermüdlich belebte, unterbrochen, der Schlag wurde langsamer; ein Ächzen und Beben lief durch alle Räume, dann trat vollkommene Ruhe ein; die Maschinen standen stille. Luzius und seine Begleiter waren eben durch das große Tor in die Halle des Erdgeschosses eingetreten, und man hörte seine helle Stimme wie eine Trompete durch das schreckensvolle Schweigen: »Was ist hier geschehen? Führt mich zu dem Mädchen!« Nun kam Bewegung in die Erstarrten, alle liefen hinunter, soweit sie nicht schon dort waren, und drängten sich Luzius und seinen Begleitern nach in den Maschinenraum, wo Hero, mit dem Oberkörper schon halb in die Maschine hineingezogen, lag. Luzius machte sie los und legte sie so, daß ihr Kopf auf seinem Arm ruhte. Äußerlich schien sie nicht verletzt zu sein. Ihre Mutter lag neben Luzius auf den Knien und jammerte, kaum wissend, daß sie es tat: »Mein Kind, mein Kind! Gott, laß mir mein Kind!« Er hatte sich inzwischen tief über die Bewegungslose gebeugt, so daß sein Gesicht fast das ihre berührte. Nach einer Viertelstunde lautlosen Schweigens, das nur der eintönige Jammer der Mutter unterbrach, richtete er sich langsam auf und sagte, indem er sich zu ihr umwendete: »Gott hat dein Gebet erhört: dein Kind atmet.« Sie stieß einen leisen Schrei aus und griff nach den Kleidern des jungen Mädchens, in die sie ihr Gesicht drückte; das Schluchzen der vielen umstehenden Menschen ging durch den Raum. Plötzlich ertönte eine etwas näselnde Stimme, die alle zusammenfahren ließ: es war die des Direktor Möller, welcher eine in nächster Nähe liegende Villa bewohnte und von dem überraschenden Stillestehen des Werkes unterrichtet worden war. »Bliffert,« sagte er zu dem Werkmeister, »was soll ich davon denken? Warum liegt das Werk still? Warum wird nicht gearbeitet? Was hat diese beispiellose Unordnung zu bedeuten?« Bliffert trat näher und bemühte sich, das Geschehene zu erklären. »Der Sturz hätte nicht vorkommen dürfen,« sagte der Direktor tadelnd, »die Warnung ist deutlich genug angebracht. Wären alle an ihren Plätzen gewesen und hätten gearbeitet, so wäre nichts passiert. Und was hat der durch eigene Schuld verursachte Sturz mit der Maschine zu tun? Wer hat sie abgestellt?« Im pelzbesetzten Mantel stand er auf seinen Stock gestützt und blickte ungnädig in die Runde. »Bliffert, leugnen Sie nicht, Ihre Schuld liegt am Tage.« Bevor der Werkmeister etwas entgegnen konnte, ging Roland zu Möller hinüber und sagte: »Der Mann hat nichts damit zu schaffen, die Sache ist ganz anders zu erklären. Es muß aber vor allen Dingen für das junge Mädchen gesorgt werden.« Der Direktor maß Roland mit einem halb erstaunten, halb ärgerlichen Blick und näherte sich der Gruppe um Hero, die eben die Augen aufschlug, lächelte, kaum hörbar sagte: »Ach so!« und sie dann wieder schloß. »Dies Mädchen«, sagte Luzius, »muß noch ein paar Stunden ruhen und schlafen, ebenso ihre Mutter. Wenn ihre Wohnung nicht in der Nähe ist, sollten sie im nächsten Hause versorgt werden.« – »Sie war tot, und er hat sie lebendig gemacht«, sagte Frau Heim mit einem Glanze von Seligkeit in den Augen. »Da hört sich alles auf!« sagte Direktor Möller stirnrunzelnd. »Seid ihr alle meschugge? Ist niemand da, mit dem ein vernünftiger Mensch vernünftig reden kann?«
»Ich kam mit meinen Freunden vor einer halben Stunde hierher,« sagte Luzius, »um diese Fabrik zu besichtigen, die man uns als besonders gut eingerichtet gerühmt hatte. Dies Mädchen war eben gestürzt und ist nun gerettet. Weder sie noch ihre Mutter können heute arbeiten. Ich vertraue es Ihnen an, dafür zu sorgen.« Der Direktor lüftete seinen Hut und verbeugte sich. »Man soll die beiden Frauen hinüber in mein Haus schaffen«, ordnete er mit lauter Stimme an. »Bitte die Herren, mich zu begleiten,« fuhr er fort, »meine Frau wird sich sehr freuen, Bekanntschaft zu machen.« ›Vielleicht ist es‹, dachte er bei sich, ›irgendeine interalliierte Kommission, es ist heutzutage so schwer, das Solide vom Unsoliden zu unterscheiden. Sie machen den Eindruck gebildeter Leute, und daß sie keine Hüte tragen, das kann Vorschrift eines Vereins sein oder zur Weltanschauung gehören. Vielleicht sind es aber doch nur Ethiker. Warum habe ich Isolde nicht mitgenommen, die würde sich besser auskennen.‹ »Gestatten Sie, daß ich vorangehe«, sagte er zu Luzius mit einem grollenden Seitenblick, da er sich eben vorgenommen hatte, nicht allzu höflich zu sein. Der Werkmeister riß die Tür auf, ließ die Herren hinausgehn und hatte sie kaum hinter ihnen geschlossen, als ein Zittern durch den Raum lief und ein ächzender Ton die Bewegung des Triebwerks einleitete. Direktor Möller drehte sich um, puterrot im Gesicht. »Da soll doch dieser und jener!« rief er aus. »Jetzt muß mir aber der Bliffert heraus mit der Sprache.« – »Ihr Werkmeister hat nichts damit zu tun«, sagte Luzius lachend, indem er die Hand auf Möllers Arm legte. »Lassen Sie es sich doch genug sein, daß das Werk arbeitet.« Simonetti begann ein ablenkendes Gespräch, indem er sich nach den Beziehungen und Unternehmungen der Fabrik erkundigte. ›Der Mann hat offenbar Sachkenntnis,‹ dachte Möller, ›es ist doch vielleicht eine Kommission. Aber daß die Maschine stillstand und sich wieder bewegte!‹ Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, obwohl es kühl war. In dem großen, elegant eingerichteten Vestibül trat ihm seine Frau erschreckt entgegen; denn man hatte eben Hero hereingetragen. »Ist sie tot?« fragte sie aufgeregt; »ist ein Unglück geschehen?« – »Kein Unglück, gnädige Frau,« sagte Luzius begütigend, »sondern ein Glück. Dies Mädchen stürzte in den Maschinenraum, ist aber unverletzt und soll nur einige Stunden schlafen und, wenn sie erwacht, etwas Kräftiges zu essen bekommen.« Während Frau Möller in liebenswürdiger Bewegung Frau Heim umarmte, kam ein dunkles, hochgewachsenes Mädchen die Treppe herunter und sagte, indem sie die Fremden mit einer Neigung des Kopfes begrüßte: »Dafür werde ich mit Freuden sorgen.« Sie klingelte, worauf zwei Mädchen erschienen, denen sie Anweisungen gab, und in wenigen Minuten waren Mutter und Tochter in das für sie hergerichtete Zimmer gebracht. »Laßt ihr eure Gäste auf der Diele stehen?« rief sie lachend, als sie wieder die Treppe herunterkam; »ich habe im Speisezimmer ein kleines Frühstück auftragen lassen.« – »Das hast du gut gemacht, Isolde«, sagte der Direktor und schob seinen Arm in den der Tochter; »nach dieser Begebenheit wird uns eine Stärkung gut tun.« Man setzte sich um einen geschmackvoll gedeckten Tisch, und ein Diener schenkte Wein ein. »In der Fabrik sagt man,« sagte Frau Möller, sich zu Luzius wendend, »unsere liebe Hero wäre schon tot gewesen, und Sie hätten sie ins Leben zurückgerufen. Das wäre ja ein Wunder! Der Gedanke ist so schön, daß noch Wunder geschehen.« – »Davon kannst du mehr haben!« sage der Direktor. »Ist nicht auch das ein Wunder, daß die Maschine stillstand, als die Herren die Fabrik betraten, und wieder zu arbeiten anfing, als sie sie verließen? Was mich betrifft, so bin ich überzeugt, daß es für alle sogenannten Wunder eine natürliche Erklärung geben muß; und wenn man mir das Gegenteil bewiese, würde ich wahnsinnig werden.« – »Dann wollen wir doch lieber von anderen Gegenständen reden«, sagte Luzius. »Übrigens gibt es sicherlich für alles eine zureichende Erklärung, nur liegt sie nicht immer an der Oberfläche, sondern manchmal so tief, daß Menschen nicht dazu gelangen können.«
Inzwischen hatte Isolde zum Essen und Trinken genötigt und Roland und Lindor, neben denen sie saß, von Frau Heim und ihrer Tochter erzählt. Ihr Vater sei sehr gut, sagte sie, und werde gewiß alles mögliche tun, um ihnen eine angenehme Stellung zu verschaffen. »Ja, das Elend des Mittelstandes ist wirklich sehr groß,« sagte Herr Möller, »und wenn es so würdig getragen wird wie in diesem Falle, kann man den Leuten seine Sympathie nicht versagen.« – »Das Elend in allen Klassen ist groß,« sagte Isolde dunkel errötend, »die einen darben hier, die andern da.«
»Ganz richtig,« stimmte der Vater zu; »ich wäre jeden Augenblick bereit, mit dem geringst bezahlten Arbeiter meiner Fabrik zu tauschen. Der Mann hat weniger Sorgen als ich, das mögen mir die Herren glauben.« Frau Möller wiegte zweifelnd ihren hübschen schmalen Kopf. »Wenn ich in Armut geriete,« sagte sie, »müßte ich es machen wie die Bettlerin am Pont-des-Arts. Ich kann gar nichts, ich bin zu jeder Arbeit zu dumm. Das macht die Erziehung. Und doch bin ich eine Pfarrerstochter; aber ich habe sehr jung geheiratet.« Isolde lachte. »Ach, Erziehung!« sagte sie wegwerfend. »Habt ihr mich gut erzogen? Und doch könnte ich jederzeit eine Stelle als Haushälterin ausfüllen oder eine Schneiderei eröffnen und mich sehr wohl dabei fühlen. Arbeit ist nicht ein solches Unglück, wie viele Leute meinen.« – »Nein, besonders die Arbeit, die man tut, wann es einem beliebt und zwischen zwei reichlichen Mahlzeiten«, sagte Lindor scharf. »Das ist, was ich ihr immer sage«, seufzte Frau Möller. »Man muß nur die Leute ansehen, die wirklich arbeiten. Die sehen ganz anders aus als wir, und das hängt gewiß mit der Arbeit zusammen. Man kann leicht davon reden, wenn man weit davon ist. Daß aber die Leute arbeiten müssen, die kein Geld haben, das weiß ich auch nicht zu ändern.« Sie sah mit einem ratlosen Blick ihrer schönen blauen Augen zu ihrem Nachbar auf. Luzius stand auf, um sich zu verabschieden, mußte aber versprechen, am folgenden Abend mit seinen Freunden wiederzukommen; denn Frau Möller wollte Heros wunderbare Errettung durch ein kleines Festmahl feiern. Herr Möller, der vergnügt und gesprächig geworden war, kündigte an, daß er demnächst den Besuch der Herren erwidern werde; wo sie abgestiegen wären? »In der Herberge Zum goldenen Anker«, sagte Luzius. Herr Möller fuhr unwillkürlich zurück, in die Augen seiner Frau kam wieder der ratlose Ausdruck. »Ich kenne mich in den hiesigen Gasthäusern nicht aus«, sagte sie klagend. »Wenn man sein eigenes Haus hat!« Herr Möller räusperte sich. »Ich bringe meine Freunde gewöhnlich im Grand Hotel unter«, sagte er. »Sie würden mir eine große Freude machen, wenn Sie dort meine Gäste sein wollten. Wer weiß, durch was für ein Mißverständnis Sie in den Goldenen Anker geraten sind.« Bevor Luzius etwas erwidern konnte, trat Isolde dazwischen. »Das ist wieder wie mit der Arbeit«, sagte sie. »Es gibt Menschen, denen die eleganten Gasthäuser mit den hochvornehmen Kellnern gar nicht zusagen. Es gibt Menschen, die das Einfache, Volkstümliche geradezu vorziehen. Vielleicht wollen die Herren auch die Menschenklasse beobachten, die in jener Herberge verkehrt und die ihnen vielleicht viel interessanter ist als unsereiner.« Sie legte dabei wie beschützend den Arm um ihren Vater, und man trennte sich mit einem Scherz in bestem Einvernehmen.
»Ist es dir denn Ernst mit der Einladung?« fragte Lindor, als sie wieder auf der Straße waren. »Mir ist die Atmosphäre dieser Geldmagnaten äußerst zuwider. Ich verstehe nicht, wie du dich mit solchen Leuten befassen magst.« – »Sie sind doch auch Menschen,« antwortete Luzius, »und ich will ja nicht mein Leben zwischen ihnen verbringen.« Simonetti stimmte lebhaft ein. »Dieser Möller ist gar nicht böse,« sagte er, »und die Damen sind scharmant. Es ist für solche Leute schwer, in ein höheres geistiges Leben hereinzukommen, und sie sind oft dankbar, wenn man es ihnen ermöglicht.« – »Ja, so redest du!« sagte Lindor nicht ohne Hohn. »Es ist so«, beharrte Simonetti, ohne beleidigt zu sein. »Können diese Leute mehr für ihre Abgeschmacktheiten als ein Maurer für seine Roheit?« – »Reichtum ist tödlich für das Feuer,« sagte Lindor, »aber Armut ist wie Asche und erhält die Glut; räumst du sie fort, so lodern die Flammen hoch auf.« – »Ich rechne nicht auf Bekehrungen in diesem Kreise,« sagte Luzius, »aber da der Zufall mich mit ihnen zusammengeführt hat, macht es mir Freude, sie kennen zu lernen.« Sich zu Roland wendend, fragte er ihn, wie ihm die Damen gefallen hätten. »Die Mutter ist reizvoll,« sagte er; »aber die Tochter scheint mehr Charakter zu haben.« Er sagte nicht, daß die schlafende Hero ihm den tiefsten Eindruck gemacht hatte.
Feenhände schienen die Villa des Direktors am folgenden Abend geschmückt zu haben. Blumen und farbige Stoffe schimmerten überall verteilt, dazwischen blitzte Kristall und Silber, und doch störte nirgends grelle Buntheit oder aufdringliche Schaustellung des Reichtums. Die Hausfrau kam Luzius entgegen, indem sie sagte: »Als ich Sie gestern kennen lernte, schwante mir etwas, das ich nicht zu äußern wagte. Je mehr ich aber darüber nachdachte, desto fester ist meine Überzeugung geworden, daß Sie jener Luzius sein müssen, der in Schlesien so wohltätig auftrat, den man den wiederkehrenden Christus nannte und von dem die Blätter so viel Wunderbares berichtet haben.« Luzius antwortete, er wäre wirklich der, dankbare Menschen hätten ihm den höchsten Namen geben wollen, den sie kennten. »Mir waren Sie in der Tat der Heiland«, begann Frau Heim, indem sie auf ihn zu trat, um ihm zu danken; aber die Tränen stürzten ihr aus den Augen, so daß sie nicht weitersprechen konnte. Hero umarmte und küßte sie und trocknete ihr die Augen. »Du bist eine weinerliche Frau geworden, Mama,« sagte sie, »hoffentlich wirst du bald wieder meine Majestät. Laß mich ihm danken. Ich habe, offen gesagt, das Leben immer für eine ziemlich mühselige Angelegenheit gehalten; aber das neue Leben, das Ihr Geschenk ist, überfließt mich wie Sonnenschein. Ihre Hand muß ihm einen Zauber mitgegeben haben.«
»Den Zauber, daß man Sie liebhaben muß, brauchte ich Ihnen nicht zu geben«, sagte Luzius freundlich. »Ebensowenig den, andere liebhaben zu können«, setzte Frau Möller herzlich hinzu. »Unsere Hero hat ein Herz wie der Frühling im Juni. In ihrer Nähe ist gerade die Wärme, die man braucht und die die Rosen blühen macht.« Frau Heim, die bei Tisch neben Luzius saß, sagte zu ihm: »Gott schenkte mir dies Kind, das ich nicht verdiente und das ich anbetete. Ich sah mit Entzücken, wie, ohne daß sie sich anstrengte, Herzlichkeit und Freude von ihr auf alle andern überging, aber ich lernte nichts von ihr. Nur sie liebte ich und war kalt gegen alle andern. Erst in dem Augenblick, als ich sie verloren glaubte, habe ich das begriffen.« Herrn Möller hatte die Tatsache, daß Luzius eine bekannte und umstrittene Persönlichkeit war, verlegen und zurückhaltend gemacht; doch ließ er es sich nicht nehmen, Heros Gesundheit auszubringen und sie und ihre Mutter zu bitten, eine würdigere Stellung in der Fabrik anzunehmen, die er ihnen verschaffen wollte. »Etwa gar in einer Schreibstube sitzen und schreiben?« sagte Hero. Nein, das könne sie nicht aushalten. Sie bat inständig, sie da zu lassen, wo sie sich eingewöhnt habe. Die Arbeiterinnen hingen an ihr und sie an ihnen; auch Frau Heim sagte, sie habe sich vorgenommen und freue sich darauf, den Mädchen eine wahre Mutter zu sein, die sie bis jetzt nur pflichtmäßig und im Grunde ziemlich kühl behandelt hätte. Burgi war seit dem Unglücksfall aufgelöst in Reue und klammerte sich mit leidenschaftlicher Hingebung an Hero, die die neue Lage, wie sie dem neben ihr sitzenden Roland erzählte, mutwillig ausnützte. Ja, wenn es auf dich ankäme, so etwa sagte sie zu ihr, läge ich jetzt steif wie ein Stück Holz in einem häßlichen Sarge; aber dafür könnte ich dir deinen Bliffert nicht mehr abspenstig machen. Wenn Burgi dann in Tränen ausbreche, pflege sie sie zu trösten mit Zärtlichkeiten und Versprechungen, daß sie Herrn Bliffert veranlassen werde, sie zu lieben und zu heiraten. »Sie quälen das arme Mädchen«, sagte Roland. »Ja,« sagte Hero; »aber sie ist nicht so dumm, nicht zu fühlen, daß ich es aus Liebe tue.« – »Ich glaube,« sagte Roland, »Sie können auch quälen, ohne zu lieben.« Hero lachte unbefangen. »Sie spielen wohl auf Herrn Bliffert an?« sagte sie. »Ich werde es schon dahin bringen, daß er überzeugt ist, er habe nie eine andere als Burgi geliebt. Man muß das mit der Liebe nicht so wichtig nehmen.«
Isolde hatte Lindor an ihre Seite gesetzt und bemühte sich, ihn zu unterhalten; aber er blieb zerstreut und ablehnend. Zuweilen glitt der dunkle Blick seiner sammetbraunen Augen kosend zu Hero hinüber, die nichts davon zu bemerken schien.
Luzius war sehr aufgeräumt. Er erzählte bereitwillig von seiner Herkunft: daß seine Eltern aus einer deutschen Kolonie an der Wolga stammten, welche unter Katharina der Großen durch schwäbische Auswanderer gegründet worden war. Er erzählte, daß seine Eltern beide das Andenken an die schwäbische Heimat heilig gehalten und deutsche Überlieferung und Sitte treu bewahrt hätten, daß der Name Deutschland für sie alles Edle und Tüchtige bezeichnet habe. Seit im Anfange des Jahrhunderts zuweilen von der Möglichkeit eines Krieges gegen Deutschland die Rede gewesen sei, habe seine Mutter gewünscht, Rußland zu verlassen und in die Heimat zurückzukehren, damit ihr Mann nicht etwa gezwungen würde, gegen seine Landsleute zu kämpfen. Als dann er zur Welt gekommen sei, habe der Vater den immer dringenderen Bitten der Mutter nachgegeben. Beiden sei der Entschluß nicht leicht geworden, denn sie hätten dort ein großes, blühendes Bauernanwesen und ihr reichliches Auskommen gehabt, und die Verhältnisse in der Kolonie wären so gut geordnet gewesen, daß man sich jetzt in Deutschland kaum einen Begriff davon machen könne. Sein Vater habe wohl zuweilen geschimpft und auch Heimweh nach Rußland gehabt; aber die Mutter habe nur das unglückliche Vaterland beklagt und alles Häßliche und Böse, das sie erlebt hätten, den widerwärtigen Umständen zugeschrieben. Ferner erzählte er, daß er, obwohl er zur Zeit der Übersiedlung erst ein paar Monate alt gewesen sei, sich noch der großen Wasser der Wolga entsinne, über die sie gefahren wären. Das Wasser und das Feuer in der Schmiede seines Vaters wären seine ersten Eindrücke und gleichsam sein Spielzeug gewesen, indem er sich das Brausen des ungeheuren Stromes oder das lautlose Lodern der Flammen zu vergegenwärtigen gesucht hätte. Auch wußte er mehrere russische Lieder, besonders eines, das sein Vater bei der Arbeit zu singen pflegte und das auf deutsch so lautete:
Komm, Feuer, rotes,
Schön rotes Feuerspiel
Auf meine Hand dich,
Auf meinen Herd setze dich,
Und schlag deine Flügel,
Mein goldner Schmetterling!
Komm, Feuer, schönes,
Ins Herz dort fliege,
Ins Herz der Teuren,
Daß sie entbrenne
Für mich, für mich einen,
Den, der für sie in Flammen steht,
Unauslöschlichem Feuer!
Er sang es mit eigenartig wohllautender Stimme halb neckisch, halb schwermütig, und seine bräunlichroten, gelockten Haare, wie der Goldglanz seiner Augen begleiteten die Worte wunderbar.
Als man von Tisch aufgestanden war und plaudernd in einem Wohnzimmer umherstand, bemerkte Luzius ein kleines Ölbild in goldenem Rahmen, das neben anderen an der Wand hing. Es stellte einen Hirten dar, der auf der Flöte blies, während die Schafe etwas zurück auf einer grasbewachsenen Ebene weideten, die vielleicht die römische Campagna sein sollte. »O Gott, wie schön! wie schön!« sagte er, nachdem er eine Weile wie gebannt auf das Bild gestarrt hatte. »Glaubt man nicht die klagende Melodie zu hören, die der einsame Junge vor sich hin bläst? Sie löst sich von den bröckelnden Ruinen, die ins Gras versinken, von dem wolligen Vlies der in Dämmerung getauchten Schafe, von dem grünlichweißen Lichtstreifen, der sich schmal durch den dunkelnden Himmel zieht, und umgarnt unser Herz, daß es sich selbst und alle Schmerzen des Lebens vergißt, nein, die Bitternis in unaussprechliche Süßigkeit verwandelt.« Frau Möller sagte erfreut und stolz, das Bild stamme aus ihrem elterlichen Hause; es sei nicht bezeichnet, man nehme an, daß es von einem holländischen oder deutschen Maler zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts gemalt sei. Es sei ihr immer besonders lieb gewesen, allerdings vornehmlich als Andenken aus dem Vaterhause, sie sei keine Kennerin. »Und Sie?« fragte Frau Heim. »Sie könnten nicht so sehen und sprechen, wenn Sie die Kunst nicht sehr liebten.« – »Gibt es Menschen,« stieß er mit Heftigkeit hervor, »die unempfindlich für das Schöne sind? Göttlich ist die Kunst, göttlich wie die Musik. Und ich gehe verhüllten Hauptes daran vorüber.« Sein Gesicht hatte sich verdüstert und etwas fast Erschreckendes angenommen. Niemand wagte ihn weiter zu fragen.
Mit der Begebenheit in Schlesien, auf die Frau Möller anspielte, hat es folgende Bewandtnis. Ein schlesischer Gutsbesitzer, der als Offizier im Anschluß an den Weltkrieg gegen das bolschewistische Rußland gekämpft hatte, auf der Flucht nach Asien geraten war und dort allerlei unkontrollierbare Abenteuer erlebt hatte, kehrte nach Jahren in die Heimat zurück, die Gegend mit den Fabeln seiner Erlebnisse erfüllend. Er schrieb seine Rettung aus den vielen und verzweifelten Gefahren, von denen er umringt gewesen, einem Amulett zu, das er von einem mongolischen Priester in irgendeinem Kloster des mittelasiatischen Hochgebirges erhalten haben wollte und das er auch jetzt noch stets am Halse trug, so daß es jedermann sehen konnte. Es war aus altem, bräunlichem Elfenbein gefertigt und stellte ein affenähnliches Vieh dar, welches seinen Schwanz wie einen Rosenkranz durch die Krallen zog und grinste. Da jedermann einen ähnlichen Glücksbringer zu besitzen wünschte, kam ein Geschäftsmann auf den Gedanken, derartige Götzen in Menge machen zu lassen, die auch reißend abgingen. Es gab große und kleine, teure und billige, elfenbeinerne und hörnerne, irdene und metallene; und obwohl alle das erste Muster nachahmten, so war doch auch für Abweichungen gesorgt, indem die Grimasse bald freundlich, bald bösartig war, die Mähne kürzer oder länger, der Schwanz mehr einem Pinsel oder einem geringelten Wurme ähnlich. Mit diesen Affen wurde mehr und mehr Abgötterei getrieben, und es fehlte nicht viel, daß man sie in den Kirchen an Stelle der Kruzifixe angebracht hätte. Jedenfalls standen die Kirchen leer, denn die Leute glaubten sich viel besser zu stehen, wenn sie sich auf ihr häßliches Spielzeug verließen. Einen rechten Aufschwung aber nahm der Affenglaube erst, als es einem Fabrikanten einfiel, Götzenbilder mit beweglichem Kopf herzustellen, der sowohl nicken wie schütteln konnte, wenn man an einer bestimmten Stelle klopfte. Nun wurde es üblich, bevor man etwas unternahm, zu fragen, ob man Glück haben werde oder nicht, und danach pflegte man sich zu richten. Es geschah nichts mehr, als was die Affen gebilligt hatten; und wozu sie Auftrag gaben, das wurde unbedenklich ausgeführt.
In dem Landstädtchen, wo der alte Luzius das Gewerbe eines Schmiedes betrieb, war das Unwesen allgemein verbreitet und führte zu den wunderlichsten Ausschweifungen. Einmal begab es sich, daß die Mutter eines Gastwirts, eine dicke alte Frau, einen offenen Schaden am Bein bekam, worunter sie sehr zu leiden hatte. Anstatt einen Arzt zu rufen, wurde das Affenorakel in Betrieb gesetzt und mittels desselben herausgebracht, daß die Frau nur gesund werden könne, wenn man sie vierundzwanzig Stunden lang in den Brunnen hängte. Der alten Frau kam zwar die Verordnung nicht einladend vor, aber sie wagte nicht sich geradezu zu widersetzen, und so schritt man in einer Nacht dazu, ihr mit dicken, langen Stricken Leib und Arme zu umwickeln und sie daran in den alten Brunnen hinunterzulassen, der hinter dem Hause sich befand. Am folgenden Morgen in der Frühe hörte Adelhart Luzius, der Sohn des Schmiedes, ein jämmerliches Seufzen und Stöhnen im benachbarten Hofe, ging dem Tone nach und kam zu dem Brunnen, in dem die Kranke hing. Er befreite sie aus ihrer Lage, wofür sie zwar dankbar war, aber, obwohl halbtot, nicht ohne Furcht vor der Unzufriedenheit ihrer Angehörigen, besonders vor der Wut des Götzen. Er redete den Leuten ins Gewissen, und es gelang ihm auch Eindruck zu machen. Einen Rückschlag bewirkte die Gesundung der Alten; denn sie schrieben sie der Brunnenkur zu und wollten nicht glauben, daß Adelhart sie geheilt habe. Dies bewog ihn, auch andere Kranke gesund zu machen, und zugleich begann er öffentlich gegen die Affenraserei zu sprechen. Er hielt den Leuten vor, daß sie aus Christen Heiden geworden wären, denn heidnisch wäre es, sich zum Sklaven toter Dinge zu machen, während der Christ an die lebendige Kraft Gottes glaube, welche sich in seinen erwählten Söhnen und im Gewissen eines jeden offenbare. Gott wolle keine Sklaven, habe vielmehr den Menschen mit Vernunft und Liebe und vielen reichen Kräften des Geistes und Herzens ausgestattet, mit denen er sich und den andern in ihren Nöten zu helfen versuchen solle. Zwar glücke das nicht immer, dann bliebe noch das Gebet, durch das man Gott um besondere Zeichen anflehen könnte; die würden dann aber nicht aus ihrem eigenen dummen Kopfe kommen wie die Affenorakel. Nicht jeder Schmerz und jedes Leiden könne gehoben werden, der Mensch müsse durch Not und Tod hindurch, das sei seine Aufgabe, und sich dabei rein und freudig zu erhalten sein Ruhm. Auf das Ewige müsse der Wille vorzüglich gerichtet sein, jenes Reich des Glanzes müsse man vor Augen haben und sich durch Taten der Gerechtigkeit oder Leiden des Unerträglichen einen Platz darin verdienen.
Dies war der Beginn seiner merkwürdigen Laufbahn. Er hatte nur die Absicht, einen abgeschmackten Aberglauben zu überwinden, da riß ihn die Wirkung, die er ausübte, in immer weitere Kreise. Hilfesuchende aller Art drängten sich zu ihm, Jünger schlossen sich ihm an, und fast täglich sah er sich vor neue Aufgaben gestellt, als hätte das ganze Volk auf ihn gewartet.
Als Hero am Morgen nach dem Feste um halb sieben Uhr aus der Haustür trat, fiel ihr Auge auf Lindor, welcher in einer der Nischen lehnte, die das Portal mit der Mauer bildete. In seinem bleichen überwachten Gesicht lagen die Augen wie ein paar schöne, dunkle Sammetblumen. »Sie?« fragte Hero; »sind Sie auch ein Frühaufsteher?« Lindor schüttelte den Kopf. »Ich bin noch auf«, sagte er, »und habe die ganze Zeit hier gestanden und aus Sie gewartet.« Hero spielte die Überraschte; aber im Herzensgrunde war es ihr, als habe sie erwartet, ihn hier stehend zu finden. »Wenn Sie mich treffen wollten,« sagte sie, »konnten Sie doch eine Stunde früher aufstehen und hierherkommen.« Sie hatte ihren Weg eingeschlagen, und er ging neben ihr her; es war noch still in den Straßen. »Es wäre mir schade vorgekommen,« sagte er, »zu schlafen, während ich unter Ihrem Fenster stehen und an Sie denken konnte. Es war eine glückliche Nacht.« – »Ich kann mir keine Nacht glücklich denken,« entgegnete Hero, »wo ich nicht in einem weißen Bett liege und ein kleines, hübsches, weiches Kissen unter dem Kopfe habe; außer vielleicht im Walde unter hohen, gleichmäßig rauschenden Bäumen, wenn ich wüßte, daß einer neben mir wachte.« – »Sie sind ein süßes, furchtsames kleines Mädchen«, sagte Lindor. »Mir ist Tag und Nacht und Himmel und Hölle gleich, wenn ich nur bei Ihnen sein darf.« Aus ihren schmalen blinkenden Augen ließ Hero einen raschen Blick über ihren Begleiter huschen. »Wollen Sie den Verliebten spielen?« fragte sie. »Brauchen Sie ein Mädchen zum Tanz?« Er schüttelte müde den Kopf. »Ich wollte, ich könnte noch spielen«, sagte er. »Ich kann nur traurig zu Ihren Füßen liegen und bitten: Verzeih mir, daß ich dich liebe!« Sie näherten sich jetzt dem Fabrikgebäude, und Lindor mäßigte den Schritt, während Hero eiliger vorwärts drängte. »Das ist, was wir Mädchen am leichtesten verzeihen«, sagte sie. »Sie brauchen sich darüber keine Gedanken zu machen. Und nun müssen wir uns trennen.« Lindor griff nach ihrer Hand. »Lassen Sie mich mit hineingehen«, bat er. »Was kommt Ihnen in den Sinn,« erwiderte sie lachend, »Sie würden mich stören.« Er hielt sie am Kleide fest und flehte: »Lassen Sie mich doch! Ich werde still in einem Winkel stehen, nicht einmal mit den Augen Sie streifen. Es genügt mir zu wissen, daß ich im selben Raume atme wie Sie.« Sie nahm leise seine Hand und entfernte sie von ihrem Kleide. »Das geht nicht an«, sagte sie. »Sie müssen jetzt nach Hause gehen und sich ausruhen. Luzius und Ihre Freunde werden Sie vermissen. Aber ich erlaube, daß Sie mich heute abend abholen, wenn Sie mögen.« Er dankte stürmisch und zog ihre Hand an seine Lippen; mit seinem langen Kuß fühlte sie einen heißen Strom elektrisch durch ihren Körper zucken.
Abends, als sie mit ihrer Mutter die Fabrik verließ, stand Lindor wartend an der Tür. Sie bat um Erlaubnis, mit Herrn Lindor noch ein Stündchen vor dem Tee spazieren zu gehen; und nachdem diese bereitwillig erteilt war, trennte man sich. Hero blickte noch einmal zurück, um ihrer Mutter zu winken, die sich ebenfalls nach ein paar Schritten umwendete. »Aber jetzt gehören Sie ganz mir!« bat Lindor eifersüchtig. »Ganz?« sagte Hero lächelnd. »Sie müssen meine Aufmerksamkeit mit den Menschen teilen, denen wir begegnen, und mit den Bäumen, unter denen wir gehen.« – »Es tut nichts«, sagte er demütig. »Ich bin ein Bettler und lebe von Ihren Almosen, hie und da einem Wort, einem Blick. Und Sie kennen vielleicht kaum meine Stimme, wissen kaum, wie ich aussehe.« – »Wollen Sie hören,« fragte Hero, »daß Ihre Stimme klingt wie ein Akkord auf silbernen Saiten? Ich freute mich gestern abend jedesmal, wenn sie vom anderen Ende des Tisches zu mir herüberklang.« – »O Geliebte!« rief Lindor aus, »ich sprach nur für Sie! Ich betete, daß Sie mich hörten! Ich belud meine Stimme mit der Andacht meines Herzens, deshalb schien sie Ihnen wohllautend.« – »Das hörte ich nicht«, sagte Hero verwirrt. »O Liebe, Geliebte, Grausame, sagen Sie, daß Sie es hörten«, bat er, indem er sich näher an sie drängte; denn sie waren inzwischen in den die Stadt umgebenden Park eingebogen, wo sie nur wenigen Spaziergängern begegneten. »Oder wußten Sie nicht, von wem die Stimme kam? Hatten Sie mich noch nicht mit Bewußtsein gesehen? Wie sollten Sie auch! Was konnte ich für Sie sein als ein unbedeutender Mensch, der Sie nichts anging!« Hero litt es, daß er seine Hand auf ihren Arm legte. »Ich will Ihnen etwas erzählen«, sagte sie. »Als ich unten im Maschinenraume lag, hatte ich einen Traum; es war vielleicht der letzte Augenblick, bevor ich wieder Bewußtsein hatte, als ich aus dem ganz tiefen, traumlosen Todesschlaf erwachte. Da träumte mir, ich läge in dem Bettchen, das ich als kleines Kind hatte; es war aus goldbraunem Geflecht, wie eine Wiege geformt, und wir gebrauchten es lange nachher noch als Nähkorb. Ich sollte einschlafen und hörte die Stimme einer alten Kinderfrau, die ich längst vergessen hatte, wie sie mir das Gedicht von den vierzehn Engeln vorsprach: Soll ich in mein Bettchen gehn, Vierzehn Engel um mich stehn, Zwei mich zu decken, Zwei mich zu wecken, und zuletzt kommt: Zwei mich zu weisen In das himmlische Paradeisen. Ich spürte große Lust nachzusehen, ob die vierzehn Engel wirklich da wären, und wollte den grünseidenen Vorhang zurückschlagen, der einstmals an dem Bettchen befestigt gewesen, obwohl mir bewußt war, daß das unrecht wäre. Ich kämpfte mit mir, denn ich hatte Angst, gerade als könnte etwas Furchtbares sich begeben, wenn ich den Vorhang zur Seite schöbe, und doch konnte ich dem Wunsche nicht widerstehen und tat es: da fiel mein Blick auf dich, und eine Sekunde lang dachte ich, daß du der Engel wärest, der mich in das Paradies führen sollte.« Während sie mit ihrer tiefen, weichen Stimme erzählte, zog Lindor sie immer dichter an sich, und seine Augen schienen sie in sich hineinsaugen zu wollen. »Auf mich? auf mich?« rief er. »Sage es noch einmal! Nicht auf Luzius? Auf mich?« – »Ja, auf dich«, sagte Hero. »Nur eine Sekunde war es, aber das seltsam süße Gefühl der Gegenwart des geheimnisvollen Engels, das ich während der Sekunde hatte, ist noch in mir.« Lindor schwieg eine Weile wie vom Glück überwältigt. »Und wenn ich nun kein Engel wäre,« begann er dann, »vielleicht sogar ein Teufel?« Hero schüttelte lachend den Kopf. »Du wirst wohl ein Mensch sein,« sagte sie, »und das ist mir das liebste, da ich es auch bin.« – »Nein, du nicht,« sagte Lindor stürmisch, »du bist ein Kind, und wo du bist, ist das Paradies, sogar für mich, der längst daraus verstoßen ist.«
Einige Tage nach dem Fest überreichte der Diener Frau Direktor Möller eine Visitenkarte; der Herr bat um die Erlaubnis, seine Aufwartung zu machen. »Prinz Yp«, las Frau Möller laut zu ihrer Tochter gewendet. »Erinnerst du dich an den Namen?« – »Er ist abnorm genug, daß man ihn behalten könnte«, sagte Isolde ablehnend. Schon öffneten sich die Flügeltüren, und der Besucher trat ein, eine hochgewachsene, mit tadelloser Eleganz gekleidete Erscheinung. »Ich hatte vor zwei Jahren in Scheveningen den Vorzug, den Damen vorgestellt zu werden,« sagte er, »das hat mir den Mut gegeben, Sie aufzusuchen.« Er hatte ein regelmäßiges, etwas fades Gesicht; kein Wunder, daß es sich nicht eingeprägt hat, dachte Isolde. Frau Möller erkundigte sich, was den Prinzen, der, soweit sie sich erinnere, in München wohnhaft sei, nach dem Norden führe? »Ich lebe für gewöhnlich auf meinem Schloß in Franken«, erklärte Prinz Yp. »Was mich herführt, ist die Begebenheit, von der die Zeitungen voll sind und mit der Ihr Name, meine verehrte gnädige Frau, in Verbindung steht.« – »Ach,« sagte Frau Möller klagend, »wie kommen nur die Dinge immer in die Zeitungen! Von unserer Seite ist nichts dazu geschehen. Die Zeitungen müssen Radioapparate haben, die alles auffangen, was irgend geschieht.« – »Das ist doch kein Unglück,« sagte Isolde, »es ist nichts geschehen, dessen wir oder sonst jemand sich zu schämen hätte.« – »Im Gegenteil,« sagte Prinz Yp, »mir ist die Sache so wertvoll, daß ich sofort gekommen bin in der Hoffnung, den Mann für meine Zwecke zu gewinnen.« Frau Möller erkundigte sich erschreckt, was für Zwecke das wären. »Ich weiß nicht, meine Gnädigste,« sagte der Prinz, »ob Sie sich jemals mit Okkultismus beschäftigt oder davon gehört haben. Ich habe seit mehreren Jahren in dies dunkle Gebiet hineingeleuchtet und schöne Erfolge erzielt. Leider ist man, wenn man Experimente veranstalten will, auf gewisse, dazu veranlagte Menschen angewiesen, die fast immer ein ungebildetes, ziemlich übles Gesindel sind. Ich hoffe, hier ein gutes Medium zu erwischen.« – »Sie meinen Luzius, der das tote Mädchen lebendig gemacht hat«, sagte Frau Möller. »Ungebildetes Gesindel ist er nicht.« – »Um so besser«, sagte der Prinz. »Übrigens haben Sie ihn vielleicht noch nicht durchschaut. Diese Leute können sich sehr gut verstellen; sie machen sich gern interessant und suchen eine bedeutende Rolle zu spielen.« – »Man ist bedeutend,« sagte Isolde unmutig, »wenn man Tote auferweckt.« Der Prinz klemmte ein Monokel vor sein blaues Auge und wendete sich langsam Isolde zu. »Da haben Sie, mein gnädiges Fräulein,« sagte er, »vom Standpunkt des Laien wohl recht. Die Wissenschaft steht den Dingen natürlich viel kühler gegenüber.« – »Ich verstehe von der Wissenschaft gar nichts«, sagte Frau Möller. »Bitte erklären Sie mir doch. Gibt es Wunder oder nicht? Wie erklärt es die Wissenschaft, daß er das junge Mädchen aufweckte und daß die Maschine stillstand, als er kam, und wieder arbeitete, als er fortging?« – »Natürlich«, sagt Prinz Yp, »muß der Vorgang experimentell wiederholt werden, und zwar in ganz einwandfreier Form, vor zuverlässigen Zeugen und mit gebührenden Sicherheitsmaßregeln. Das verlangt die Wissenschaft. Bewahrheitet sich dann alles, so werden die Tatsachen und die bewegenden Kräfte wissenschaftlich eingereiht. Was hier geschehen ist, subsumiert sich offenbar unter die Fernwirkungserscheinungen. Sehen Sie, ich hatte kürzlich ein Medium, das auf fünfzig Schritte Entfernung Klavier spielte. Nur ein simples Stückchen: Kommt ein Vogel geflogen; aber das macht nichts; man sah die Tasten deutlich auf- und niedergehen.« – »Und wer spielte?« fragte Frau Möller. »Nun eben das Medium«, sagte der Prinz geduldig. »Es saß an Händen und Füßen gefesselt, außerdem von mehreren Vertrauenspersonen festgehalten, fünfzig Schritte vom Klavier entfernt im Trancezustande in einer Ecke meines Experimentierraumes.«
»Das ist furchtbar«, sagte Frau Möller. »Es wäre mein Tod, wenn ich das mitansehen müßte.« Prinz Yp lächelte. »War es nicht dasselbe,« sagte er, »wenn die Maschine in der Fabrik erst stillstand und dann sich bewegte?« – »Das mag sein, wie es will,« sagte Isolde, »ich sage Ihnen voraus, daß sich Luzius niemals zu solchen Experimenten hergeben wird.« »Er soll es ja nicht umsonst tun,« sagte der Prinz, »ich bezahle meine Medien sehr gut. Er kann nach Belieben fordern. Offenbar verfügt er über besonders starke Kräfte und darf sich hoch einschätzen; wenn es die Wissenschaft angeht, scheue ich keine Kosten!« – »Sie wissen vielleicht nicht,« sagte Frau Möller, »daß die Volksstimme eine Art Messias in Luzius sieht, daß man ihn geradezu den wiederkehrenden Christus nennt. Als er das Mädchen erweckte, soll er lange gebetet und Gott den Vater angefleht haben, ihm diese Seele zu schenken.«
»Hätten Sie sich mit Okkultismus beschäftigt,« sagte der Prinz, »würden Sie darin nichts Besonderes sehen. Die Medien schreiben ihre Eingebungen stets einer imaginären Person zu, die sie bald als alte Frau, bald als Zwerg, bald als Engel oder Führer bezeichnen. Der Vater ist im Grunde nichts als eine Abspaltung des eigenen Ich, die dem Medium als etwas Gesondertes erscheint. Man muß selbstverständlich auf diese Voraussetzungen eingehen, um die mediumistischen Vorgänge nicht zu stören.« Frau Möller legte die Hand über die Augen und sank in sich zusammen. »Sprach denn Christus, wenn er Gott anrief, auch nur mit einer Abspaltung der eigenen Person? Und wenn wir beten, spalten wir uns dann auch, reden mit uns selber?«
»Wenn diese Dinge Sie betrüben, gnädige Frau,« sagte der Prinz höflich, »streichen wir sie aus unserem Gespräch. Die Wissenschaft ist ohnehin eine Angelegenheit für Männer. Mir gibt die Erweiterung der Erkenntnis hohe Befriedigung; mir ist zumute wie einem, der hinter einem Bretterverschlag gelebt hat und dem sich nun endlich die Aussicht ins Freie öffnet. Aber wenn ich auch Gegner der Spiritisten bin, so liegt es mir doch fern, sie zu verachten oder sie mit Gewalt von ihren Vorurteilen zurückbringen zu wollen.« – »Aber ich bin doch keine Spiritistin«, sagte Frau Möller entrüstet. »Das sind Sie allerdings, meine gnädige Frau«, sagte Prinz Yp sanft. »Was mich betrifft, so halte ich den auferstehenden Christus für eine Materialisation. So erklärt sich dieser sonst etwas absurde Vorgang ungezwungen und vernunftgemäß.« – »Materialisation?« sagte Frau Möller. »Aber das ist doch das widerliche Zeug, was die hysterischen Personen ausspucken?« Und Isolde setzte hinzu: »Mit allen solchen Dingen hat Luzius nichts zu tun. Er verfällt nicht in Schlafzustände, sondern führt seine Heilungen, und was er sonst Wunderbares tut, wachend und bei hellem Bewußtsein aus.«
»Gerade deshalb«, sagte der Prinz, »hat er für mich Interesse und Bedeutung. Er steht darin durchaus nicht allein, man hat mehrfach Medien beobachtet, die ohne vorhergehende Einschläferung aktiv werden. Die Sache ist die, daß sie sich selbst, ohne es zu wissen oder auch absichtlich, in den Trancezustand versetzen.« Aufstehend entschuldigte er sich, daß er die Damen so lange in Anspruch genommen und vielleicht sogar belästigt habe. »Neue Ideen«, sagte Frau Möller liebenswürdig, »sind immer willkommen, auch wenn sie zuerst befremden. Sie haben mir viel Stoff zum Nachdenken gegeben.« Schließlich bat sie ihn, sich Luzius, der in ihrem Hause verkehre, mit Vorsicht zu nähern, was der Prinz versprach. »Seien Sie ganz ohne Sorge,« sagte er, »ich habe Übung im Umgange mit Medien. Lange hatte ich eins, das im Schlafzustande ein Kind zu sein glaubte und mit dem ich immer ein Stündchen Ball spielen mußte, eh es zu Erscheinungen kam. Warum sollte ich nicht mit dem Messias in Gleichnissen reden und Esel reiten?«
Frau Möller ließ sich seufzend in ihren Sessel zurückfallen, als sie mit ihrer Tochter allein war. »Was denkst du von allem diesem, Isolde?« sagte sie. »Du bist klug und hast dir gewiß schon ein Urteil gebildet. Übrigens werden wir nicht umhin können, den Prinzen einmal einzuladen. Laß nachsehen, ob noch französischer Sekt im Keller ist.«
»Ich denke, wir sollten keinen wieder anschaffen«, wendete Isolde ein.
»Es ist doch besser, gut versehen zu sein«, sagte Frau Möller. »Dein Onkel liebt einen vollständigen Tisch, obwohl er selbst wie ein Eremit lebt, und ich denke, er wird nächstens einmal vorbeikommen. Der Keller muß überhaupt ergänzt werden; wie lästig, daß ich mich um Dinge kümmern muß, die mich so wenig interessieren. Ich wollte, der Frühling käme endlich, und ich könnte die Natur aufsuchen.«
Papst Gregor spielte in der Dämmerung des Frühlingsabends mit dem Kardinal Sant' Elmo Schach und war sehr guter Laune, wie immer, wenn dieser sein Gegner war. Da er es durchaus nicht vertragen konnte zu verlieren, richteten die meisten Kardinäle es nicht ohne Mühe so ein, daß er gewann; Sant' Elmo aber spielte so schlecht, daß er wirklich besiegt wurde. Es war nicht Mangel an Begabung, sondern der ungestüme Charakter, der den Papst hinderte, erfolgreich zu spielen; er hielt es nicht aus, lange zu überlegen und ebensowenig auf den andern zu warten. Wenn er mit anderen spielte, merkte er, obwohl er sich Mühe gab es nicht zu tun, daß sie ihm zu Gefallen ihre Kräfte nicht ausnützten; dagegen fühlte er sich Sant' Elmo gegenüber von vornherein sicher und war unerschöpflich in Neckereien. »Es ist gut,« sagte er, »daß Sie nicht Soldat geworden sind; ich wenigstens würde Sie nicht zum General machen.«
»Und doch sind meine Vorfahren Krieger gewesen,« sagte Sant' Elmo, »die den Königen von Neapel und auch dem Heiligen Stuhl mit Auszeichnung gedient haben. Auch mir würde es an Mut nicht fehlen, nur das Anordnen, die Übersicht, das ist mir in der Tat nicht gegeben.«
»Ganz richtig,« sagte Gregor, »tollkühn wären Sie gewesen. Sie würden plötzlich allein mitten unter Feinden stehn, weil Sie Ihre Armee verloren hätten. Sie sind ein Träumer. Wo spazieren Ihre Gedanken heute?«
»Sie spazieren«, sagte der Kardinal, »in Deutschland, wohin mein Vetter, der Oberst Malanni, sie geführt hat. Ist es nicht absonderlich, daß der Messias, welcher dort seit einiger Zeit aufgetreten ist, immer mehr Anhang gewinnt? Er wird in der Tat nicht nur vom Volke, sondern auch von vielen Gebildeten für den wiederkehrenden Christus gehalten, der das tausendjährige Reich gründen wird.«
»Gebildete!« sagte der Papst wegwerfend. »Was man unter den Barbaren so nennt. Und warum sollte Gott gerade Deutschland auserwählt haben, um seinen Sohn dort Fleisch werden zu lassen?«
»Ja nun, warum?« meinte Sant' Elmo. »Seinerzeit ist Christus sogar unter den Juden aufgetreten. Große Herren haben ihre Launen.«
Der Papst schwieg eine Weile, in Gedanken verloren, und erkundigte sich dann, ob der Oberst Malanni den Wundermann selbst gesehen habe. Er selbst nicht, sagte Sant' Elmo, aber sein Bruder, der in Geschäften Deutschland bereist habe. Derselbe habe einen ausgezeichneten Eindruck von ihm gewonnen. Es sei irgendwo ein Kampf zwischen Kommunisten und Reichssoldaten ausgebrochen, und da sei es ihm gelungen, die Parteien zu versöhnen. Er, sein Vetter, habe zwar nicht verstanden, was jener gesagt habe, aber seine Persönlichkeit und seine Art und Weise habe ihm außerordentlich gefallen.
Der Papst legte gedankenvoll die Schachfiguren in die dazu bestimmte Schachtel. »Wenn der Mann brauchbar wäre!« sagte er. »Man müßte sich mit ihm in Verbindung setzen und ihn unverbindlich aushorchen.« – »Was meinen Eure Heiligkeit?« fragte der Kardinal, die Augen neugierig öffnend. »Würden Eure Heiligkeit ihn unter Umständen anerkennen?« – »Wenn er wirklich die Massen hinter sich hat,« sagte der Papst, »könnte er für den Einfluß in Deutschland gute Dienste leisten. Alles hängt davon ab, ob er sich für das große Werk der Einführung der Inquisition einsetzen würde. Stellen Sie sich einmal die erste Sitzung unter dem Ehrenvorsitz des Messias vor. Das müßte einen überwältigenden Eindruck machen. Der eigentlich Handelnde wäre natürlich ich.« Kardinal Sant' Elmo starrte den Papst halb erschreckt, halb andächtig an. »In der Tat,« sagte er, »das wäre etwas noch nie Dagewesenes. Und wer würde verbrannt werden?«
»O mein Lieber!« lachte der Papst, »da sind Freimaurer, Bolschewisten, Ketzer aller Art! Seien Sie froh, wenn die schlechten Schachspieler nicht auf die Liste kommen!«
Zwei Kardinäle, die in diesem Augenblick angemeldet und vorgelassen wurden, durften, da sie zu den Intimen des Papstes gehörten, an dem Gespräch teilnehmen. »Ich gebe Eurer Heiligkeit nochmals zu bedenken,« sagte De Trouchi, ein noch jüngerer, hübscher Mann, »daß wir die Inquisition in Deutschland nur mit Hilfe der Protestanten durchsetzen können, die sonst die alten Fabeln von der Grausamkeit, Herrschsucht und Gewalttätigkeit der Kirche wieder aufnehmen und alle Welt gegen uns aufhetzen würden. Bei der allgemeinen Verweichlichung der Gemüter würden sie damit williges Gehör finden.«
»Kläglich! kläglich!« sagte der Papst, indem er mit Geräusch den Deckel des Kästchens einschnappen ließ. »Ist es nicht eine Schmach, daß der Stellvertreter Gottes auf Erden, wenn er eine für die Menschheit segensreiche Einrichtung treffen will, heimliche Gänge graben, feilschen und markten muß!«
»Er muß nicht!« fiel Kardinal Donara ein, ein älterer Mann mit scharfem Profil und unruhigen, bohrenden Augen. »Wenn Eure Heiligkeit Ihre Stimme erheben und der Christenheit befehlen, was Ihnen gut scheint, so wird sich, da der Geist Gottes mit uns ist, die Welt beugen.«
»Für solche Experimente«, sagte De Trouchi, »steht Seine Heiligkeit zu hoch. Der kürzeste Weg ist nicht immer der beste. Wir können, vernünftig gesprochen, auch wenn die Inquisition eingeführt wird, nicht hoffen, alle Protestanten auszurotten. Gelingt es uns aber, sie in einer wichtigen Frage an uns zu binden, zu einer gemeinsamen, außerordentlichen, viel Widerspruch herausfordernden Tat zu bringen, so haben wir sie schon von uns abhängig gemacht. Der erste Schritt zur Unterordnung ist damit getan, vorausgesetzt, daß wir die Sache fein einfädeln.«
Gregor brachte die Rede wieder auf Luzius; ob er mehr Anhang bei den Katholiken oder bei den Protestanten habe, wußte niemand zu sagen. Es scheint, sagte Sant' Elmo, als habe die Konfession in bezug auf ihn gar nicht mitgespielt. Es solle sich ein Jude unter seinen Jüngern befinden. »Das gefällt mir nicht«, sagte Donara. »Wir bedürfen der scharfen Scheidung zwischen Gut und Böse. Die gewissenlosen Kompromisse sind es, die uns verdorben haben.« – »Ich habe da keine Vorurteile«, sagte De Trouchi. »Es können einmal nicht alle Römer sein; aber es können alle der römischen Herrschaft unterworfen werden.«
»Sehr wahr!« rief der Papst aus, sich energisch aufrichtend. »Schade, daß ich nicht selbst nach Deutschland reisen und mir einen Überblick verschaffen kann. Ihr wißt, daß ich den Menschen mit einem Blick durch Herz und Leber sehe.« Dies wurde bestätigt, doch waren die Herren sich einig, daß die geheiligte Person des Papstes der Neugier, dem Übelwollen, der Gleichgültigkeit des Auslandes nicht preisgegeben werden dürfe. Es müsse jemand nach Deutschland geschickt werden, der die deutsche Sprache beherrsche, Land und Leute kenne; ein solcher sei der ehemalige Nunzius Ondorelli. Der Papst warf ärgerlich den Kopf zurück. »Ondorelli!« sagte er. »Er ist vom Dienst zurückgetreten, weil er begriffen hat, daß er ein vertrottelter Greis ist. Ich liebe die alten Männer nicht. Auch ist seine Gesinnung verdächtig. Er soll sich mit Naturwissenschaften abgeben und für einen zweiten Galilei halten.«
»Seine Entdeckungen werden die Erde nicht aus den Angeln heben«, sagte De Trouchi. »Übrigens ist er auch an Furchtsamkeit ein Galilei; er würde nie den Mut haben, eine Meinung auszusprechen, die Eurer Heiligkeit mißfiele.«
»Wenigstens nicht laut«, ergänzte Donara.
»Er ist gerade wegen der von Eurer Heiligkeit scharfsinnig angedeuteten Eigenschaften in Deutschland beliebt«, fuhr De Trouchi fort. »Das Trottelhafte und Gebrechliche gefällt dort. Man sieht ihn für einen guten alten Mann an und öffnet ihm das Herz; er ist auch in protestantischen Kreisen beliebt. Wenn es zum Abschließen kommt, bedarf es anderer Elemente, aber zum Anklopfen, Anziehen, Vorbereiten halte ich ihn für geeignet, um so mehr, weil er, wie gesagt, der Sprache vollkommen mächtig ist.« Die grauen Augen in dem fetten Gesicht des Papstes glitzerten wie geschliffene Steine. »Das muß anders werden«, sagte er. »Die Barbaren müssen Italienisch sprechen, wie sie früher Lateinisch sprachen. Vielleicht wäre es gar nicht so übel, wenn man auf das Lateinische zurückkäme.«
»Wie?« rief Sant' Elmo. »Unsere göttliche italienische Sprache sollte verstummen? Latein ist ehrwürdig und gewaltig, aber der Wohllaut, der Schmelz, der unvergleichliche Zauber des Italienischen, sollten sich die Barbaren daran nicht eher gewöhnen als an das strenge Latein?«
»Der Zauber der Antike«, sagte der Papst, »ist der mächtigste von allen.«
»Das sagt der Herr der Christenheit«, sagte Donara mit einem Lächeln, welches scherzend sein sollte, aber eher grimmig ausfiel. »Ich ergreife die Gelegenheit, um zu den Füßen Eurer Heiligkeit die Ansicht niederzulegen, die meine Wenigkeit und mehrere andere Kardinäle über die geplante Heiligsprechung des Brutus vorzutragen haben.« Der Papst erhob sich mit einer rascheren Bewegung, als man von seinem schweren Körper erwartet hätte. »Ich erwarte«, sagte er, »ein paar neubekehrte schwedische Gräfinnen zur Audienz. »Zu einer eingehenden Besprechung ist keine Zeit mehr.« In diesem Augenblick hörte man unter den Fenstern das Rauschen und Murmeln einer bewegten Menge und lautes Evvivarufen. »Evviva,« tönte es, »unser Vater, unser Führer, unser Herr!« Das Gesicht des Papstes hellte sich auf, er trat an sein Fenster, öffnete es selbst und machte mit den Händen gegen die unten versammelten jungen Leute eine mehr grüßende als segnende Bewegung. Ein Schweizer trat ein und meldete, daß der junge Graf Scipio Colonna um die Ehre bitte, dem Heiligen Vater die Huldigung der neugegründeten Legion Brutus überbringen zu dürfen. Gleich darauf trat ein junger Mann im modischen Gesellschaftsanzug ein, über den eine Schärpe in den Farben der Stadt Rom geschlagen war. Sein krauses schwarzes Haar stand um seinen Kopf wie eine Plüschkappe, die Mattigkeit seines Gesichtes und seiner Augen gaben ihm etwas Fades, vermehrten aber das Elegante seiner Erscheinung. Er beugte in anmutiger Haltung das Knie vor dem Papste, neigte sich zum Fußkuß und sagte dann, die Legion habe sich aus den edelsten und tapfersten Jünglingen gebildet, um als freiwillige Leibwache zum Dienste des Heiligen Vaters bereit zu sein. Er möge die Gnade haben, ihre Ergebenheit anzunehmen, indem er ihnen gestatte, sich Heilige Legion Brutus zu nennen, und ihre Fahne segne. Die Fahne, auf welcher die römische Wölfin gestickt war, trug ein anderer junger Mann, der etwas weiter zurück schweigend kniete.
»Den Aufschwung junger und edler Herzen zu dämpfen,« sagte der Papst, »ist nicht in meinem Sinne. Als Fürst des Friedens ermahne ich euch, die Gesetze des Staates, innerhalb dessen wir leben, zu respektieren. Ihr seid Italiener; aber ihr seid auch Römer und Untertanen des höchsten Gottes, dessen Stellvertreter ich bin. Ihr nennt euch nach einem Namen, der bis an die Grenzen der bewohnten Erde die Erinnerung an eine Zeit erweckt, wo Rom der Welt Kultur und geordnete Herrschaft gab. Nach dem Verfall der Republik traten die römischen Päpste an die Stelle der Konsuln und Kaiser; nie hat Rom aufgehört, die Welt zu beherrschen. Ihr könnt eure jungen Kräfte keinem größeren, keinem heiligeren Namen widmen als Rom, das ich als Herr der Christenheit vertrete.« Bei diesen Worten hob er den noch immer knienden Colonna auf, umarmte ihn, küßte ihn auf beide Wangen und drückte dann die Fahne mit der Wölfin an sein Herz. »Ich werde meinen Kameraden die erleuchteten Worte Eurer Heiligkeit wiederholen«, sagte der junge Mann. Die Kardinäle hatten den Auftritt schweigend mitangesehen. »Ob dieser Junge imstande ist, die Worte Eurer Heiligkeit richtig aufzufassen?« sagte Donara, seine Mißbilligung kaum versteckend. Inzwischen mußte unten die Rede wiedergegeben sein, denn es erhob sich ein donnerndes: »Es lebe Gregor der Vierzehnte, Gregor der Große, unser Führer!«
»Die Herren hören,« sagte der Papst mit triumphierendem Lächeln, »daß ich verstanden bin.«
Als die Kardinäle den Vatikan hinter sich hatten, lösten sich ihre Zungen. »Was soll daraus werden!« rief Donara aus. »Können wir das so weitergehen lassen? Sollte diese verwünschte Heiligsprechung zustande kommen, wird der Heilige Stuhl vor aller Welt lächerlich werden.«
»Der Heilige Stuhl vielleicht,« sagte De Trouchi, »aber nicht der Mann, der daraufsitzt.« – »Nicht wahr?« sagte Sant' Elmo lebhaft; »er kann zuweilen, es läßt sich nicht leugnen, unausstehlich sein, aber lächerlich? Das glaube ich nicht. Warum auch? Warum sollte ein Brutus nicht heilig werden, so gut wie eine Katharina oder Margaretha?« Donara warf einen Blick der Verachtung auf den Sprechenden. »Ich weiß nicht, ob es Ihnen unbekannt ist,« sagte er, »daß Brutus lange vor Beginn der christlichen Ära lebte.«
»Durch solche Zufälligkeiten läßt sich ein Gregor nicht stören,« sagte De Trouchi, »und mit Recht. Ganz abgesehen davon, daß Christus nach unserem heiligen Glauben in die Hölle gefahren ist, um dort aufzuräumen, würde Gott auch sonst Mittel und Wege gefunden haben, die Heiden nachträglich zu bekehren, welche Gnade vor seinen Augen gefunden haben.«
»Das sind Probleme,« sagte Donara gereizt, »die kein Papst so im Handumdrehen für sich allein lösen kann. Außerdem dürften Sie so gut wie ich wissen, daß es ihm gar nicht auf die Bekehrung, sondern eben auf das Heidentum ankommt.«
»Mir auf keins von beiden, unter uns gesprochen«, sagte De Trouchi mit einem Lächeln und einem Seufzer.
»Ich bitte sehr,« sagte Donara, »dergleichen wirklich nur unter uns auszusprechen. Dies Bündnis könnte für die Kirche sehr gefährlich werden.«
»Wenn sie siegte, wären wir Alleinherrscher in Italien und vielleicht darüber hinaus«, sagte De Trouchi gelassen. »Nicht übel. Ich habe Sinn für gewagte Unternehmungen. Aber ich glaube, Sie, mein Lieber, haben nicht ganz mitkommen können!« Er sagte das zu Sant' Elmo gewendet. »Nein, wirklich«, erwiderte dieser, der erstaunt von einem zum andern gesehen hatte. »Ich war wohl noch etwas müde von der Schachpartie. Nicht wahr, Sie spielen morgen, Donara?«
»Nein, ich bitte dringend,« sagte dieser, »springen Sie morgen für mich ein; ich habe unaufschiebbare Geschäfte.« Da auch De Trouchi anderweitig in Anspruch genommen zu sein behauptete, gab Sant' Elmo nach, und die Herren trennten sich.
Sie mögen mich nicht, weil ich reich bin«, sagte Isolde zu Lindor, den sie auf der Straße getroffen und aufgefordert hatte, sie nach Hause zu begleiten. »Davon trifft nichts zu«, sagte Lindor. »Wäre es aber wahr, so bedenken Sie, wieviele Sie lieben, weil Sie reich sind, daß es also nur ausgleichende Gerechtigkeit wäre, wenn einmal einer das Gegenteil täte.« Isolde lachte nicht, noch war sie beleidigt, sondern sie beharrte: »Vielleicht würde ich richtiger sagen, Sie lieben mich nicht, weil Sie Hero Heim lieben.« Lindors blasses Gesicht veränderte sich nicht. »Meinen Sie, weil Fräulein Heim arm ist?« sagte er. »Ich habe, wie schon gesagt, in bezug daraus keine Grundsätze.«
Aus dem Salon, wo Frau Möller nachmittags den Tee zu nehmen pflegte, tönte den Ankommenden fröhliches Gelächter entgegen: man erkannte Heros liebliche Stimme. Isolde errötete tief und blieb unwillkürlich stehen; aber es war nun zu spät, um, ohne allzu auffällig zu werden, nicht einzutreten. Hero umarmte und küßte Isolde und gab Lindor die Hand, auf die er seine Lippen länger drückte als üblich. Ihre Blicke begegneten sich und flogen rasch wieder auf, wie zwei Schmetterlinge mit Süßigkeit beladen. Frau Möller sagte, daß Hero eben erzählt hätte, was sie angestellt habe, um den Werkmeister für Burgi zu interessieren. Inzwischen habe Burgi eine fast größere Liebe zu ihr, Hero, gefaßt, und diese leichte Abkühlung helfe sehr dazu, ihn anzuziehen. »Und warum wollen Sie ihn eigentlich nicht?« fragte Isolde. »Er ist recht ansehnlich, sehr anständig, und Papa würde ihn schon um Ihretwillen rasch befördern.« Hero betrachtete Isolde zweifelnd und lachte ein kleines weiches Lachen. »Er langweilt mich,« sagte sie »und Langeweile ist das einzige, was ich fürchte. Ich würde ihn zu Tode quälen.« Frau Möller wiegte nachdenklich den Kopf. »Männer sind immer langweilig,« sagte sie, »wenigstens die guten. Und die bösen machen uns sonst unglücklich.« Hero sagte, sie würde jedes Unglück der Langweile vorziehen, und Lindor meinte, wo sie sei, könne es nie langweilig sein. »Da irren Sie,« sagte Hero, »manchmal überfällt mich die Melancholie, und dann bin ich wie die Wüste Sahara: ein Haufen Sand voll Kamelsknochen.« Seine Augen hingen wie festgezaubert an ihrem sanftdurchglühten Gesicht mit dem kindlich plaudernden Munde, um den oft, wenn sie schwieg, ein Hauch von Wehmut flog; das Bewußtsein, daß Isolde ihn beobachtete, störte ihn durchaus nicht. Um ihn abzulenken, fragte Isolde nach Luzius; sie habe gemeint, er wolle schon wieder weiter, und ob Lindor mit ihm gehe. Sicherlich, sagte Lindor, er trenne sich nicht von ihm. Luzius wäre allerdings eingeladen, an einer in der Gegend von Magdeburg gegründeten Volkshochschule Vorlesungen über Religion zu halten; aber er wisse noch nicht, ob er darauf eingehen wolle. Er, Lindor, hoffe ihn zu überreden, daß sie noch eine Weile hierblieben. Dabei flog sein Blick bedeutungsvoll lächelnd zu Hero hinüber. Als sie aufstand und sich verabschiedete, schloß er sich ihr an. Ihr war es unlieb, weil sie fühlte, daß Isolde darunter litt, sie zusammen fortgehen zu sehen; aber sie wußte nicht, wie sie es hätte ändern sollen, und Lindor dachte nicht daran, darauf Rücksicht zu nehmen.
Als Mutter und Tochter allein waren, schlug Frau Möller vor, ob sie nicht die Heims ganz zu sich ins Haus nehmen sollten. Für Isolde würde Hero wie eine Schwester und dem ganzen Hause ein erwünschter Zuwachs sein, sie habe es an sich, Lust und Behagen zu verbreiten. Frau Heim könne mit der Zeit dem Haushalt vorstehen, Isolde werde ja doch einmal heiraten. Isolde sah vor sich nieder, ihre dichten, geraden Augenbrauen zogen sich finster zusammen. »Das geht nicht, Mama!« sagte Isolde kurz. »Warum nicht?« beharrte Frau Möller. »Du bist doch sonst nicht so schwerfällig. Unser Haus ist groß genug. Heros komische Einfälle, ihr anschmiegendes Wesen würden mir wohltun. Ich kann mir nicht denken, daß sie jemals störte.« – »Mich, ja!« sagte Isolde. »Möchtest du, daß ich sie eines Tages umbrächte?« Aus ihren dunklen Augen schlug eine Flamme der Leidenschaft, ihr schöner großer Mund bebte wie von Tränen. Frau Möller betrachtete sie furchtsam und versuchte hastig alles zu verstehen; mehrmals setzte sie an, um etwas zu sagen, verschluckte aber die Worte aus Angst, es möchten nicht die richtigen sein. »Isolde,« sagte sie endlich leise, ihre feinen Hände ineinander windend, »wenn du Lindor gern haben möchtest, wird dein Onkel das schon einrichten. Er kann ihn ja in jede beliebige Stellung bringen. Du mußt deshalb nicht niedergeschlagen sein.« Isolde preßte die Hände an die Schläfen. »Du verstehst mich nicht, Mama«, sagte sie gequält. »Ich möchte, daß er mich liebt. Aber er liebt Hero, du siehst es ja.« Sie habe nicht darauf geachtet, sagte Frau Möller; Hero scheine ihr aber ganz unbefangen zu sein. »Natürlich wird sie ihn lieben, wenn sie es nicht schon tut«, sagte Isolde. »Er liebt sie, weil sie arm ist. Fluch über unseren Reichtum!« Es folgte eine drückende Stille; dann sagte Frau Möller: »Die Männer lieben zuweilen arme Mädchen, aber heiraten tun sie die reichen. Und wenn er dich heiratet, wird er dich auch lieben.« Isolde stand auf und ging hinaus; nach einer Stunde kam sie wieder und umarmte ihre Mutter mit ungewöhnlicher Zärtlichkeit. »Laß uns jetzt nicht mehr davon sprechen«, sagte sie. »Luzius ist wahrscheinlich stärker als wir alle, und er wird ja nicht wollen, daß seine Anhänger wie übliche Assessoren und Assistenten mit einer Heirat endigen.«
Es gab einen kleinen Auflauf, als Luzius mit seinen Freunden über einen belebten Platz ging und zwei Autos, die im Begriff waren zusammenzustoßen, durch seinen Willen festhielt und dadurch die Insassen rettete. Er schlug den Weg in eine Nebenstraße ein, um dem Andrang der Neugierigen zu entgehen, von denen einige ihm aber auch dahin folgten. »Und doch zweifle ich,« sagte Luzius lachend, »ob ich es je auf zwölf bringen werde. Maulaffen sind noch keine Jünger.« – »Da ist aber einer,« sagte Roland, »dem es Ernst zu sein scheint; denn er geht uns immer nach: ein blasser Mann mit gelocktem Haar und einem weichen Hut, der sehr angenehm aussieht.« Ja, sagte Simonetti, der sei ihm auch schon aufgefallen. Er könne dem Aussehen nach ein Künstler sein. Übrigens folge er ihnen auch jetzt wieder auf hundert Schritte; er habe wohl nur nicht den Mut, sie anzusprechen. Luzius blieb stehen, damit der besprochene junge Mann herankäme. Dieser bemerkte, daß man auf ihn aufmerksam geworden war, zögerte und tat dann wieder ein paar Schritte, unsicher, ob seine Annäherung erwünscht sein würde. Als er nahe genug war, drehte Luzius den Kopf nach ihm und sagte: »Warum folgst du uns?« Der junge Mann lüftete den Hut, verbeugte sich und sagte: »Ich bin der Direktor der Fak, von der Sie sicher schon gehört haben.« Da Luzius den Kopf schüttelte, fuhr er fort: »Das ist Filmgesellschaft für aktuelle Gegenstände. Es handelt sich hier um eine Einrichtung von hohem Kulturwert, die für sittliche und ästhetische Hebung des Volkes schon viel geleistet hat. Wir erlösen das Volk von den nervenpeitschenden, albernen Erfindungen, die meistens gebracht werden. Wir zeigen ihm das wirkliche Leben, das uns umgibt, im veredelnden Lichte der Kunst, verklärt durch das Gewand der Schönheit, in das wir es hüllen.« Luzius sah den jungen Mann grimmig an. »Können Sie nicht Geld verdienen,« sagte er, »ohne so große Worte?« Der Direktor der Fak warf seinen Lockenkopf gekränkt zurück. »Sie verkennen mich«, antwortete er. »Ich muß Geld verdienen, um zu leben, das ja, aber ich könnte den Zweck besser erreichen, wenn ich mir nicht ein so hohes Ziel gesteckt hätte. Ich bringe meiner Idee jedes Opfer, ich arbeite Tag und Nacht, um zu erreichen, was mir vorschwebt. Es ist mir sofort die große Bedeutung klar geworden, die Ihr Erscheinen für das Volkswohl und die Erziehung der Volksseele mit sich bringt. Schon mehrfach habe ich Aufnahmen von Ihnen gemacht, ohne daß Sie es bemerkten; aber es widerstrebt mir, sie zur Darstellung zu bringen, ohne Ihre Genehmigung einzuholen.«
»Was versprechen Sie sich davon,« fragte Luzius, »wenn die Leute dasselbe im Kino sehen, was sie schon auf der Straße gesehen haben?«
»O, das ist doch zweierlei,« sagte der Direktor der Fak, zum ersten Male ganz wenig lächelnd, »ganz abgesehen davon, daß eine beschränkte Anzahl zufällig auf der Straße mit ansieht, was in allen Städten Deutschlands, ja der Erde zahllose Menschen im Kino miterleben. Wie wenige begreifen den Sinn dessen, was sie auf der Straße sehen. Die eingerahmte, ausgelöste Wiedergabe im Kino lehrt es. Dies ist übrigens nur ein Teil meiner Bestrebungen. Wenn Sie mir Gelegenheit geben möchten, Ihnen meine Absichten des breiteren auseinanderzusetzen, ich bin überzeugt, daß Sie Interesse dafür gewinnen würden, gerade weil ein Mann von eminent volksfreundlichem Sinne den verwandten Geist meiner Wirksamkeit herausfühlen wird.« Wie einer, der sich in Unvermeidliches schickt, schlug Luzius vor, in das nächste Café einzutreten, dort könne der Herr seine Meinung weitläufig erklären. Der Direktor der Fak, der Leisegang hieß, dankte und versicherte, daß die Herren sich für ihr Entgegenkommen belohnt finden würden. Es handle sich nicht um einen oberflächlichen Betrieb zur Belustigung auf der einen und zum Geldverdienen auf der anderen Seite, sondern um Fortschritt und Sittlichkeit. »Es ist merkwürdig,« sagte Roland, »wieviel volksfreundliche Gesinnung überall herrscht. Man muß sich wundern, daß unser Volk nicht das glücklichste und blühendste der Erde ist.« Herr Leisegang blieb ernst und zugänglich. »Die wahrhaft fortschrittlichen Bestrebungen finden doch nicht so viel Unterstützung, wie Sie glauben«, sagte er. »Sie selbst begegnen mir zum Beispiel noch mit Mißtrauen, was ich begreife. Ach, wenn ich Ihre Mitwirkung gewinnen könnte! Das würde Epoche machen! Nicht nur für Deutschland, für die Welt.« – »Aber so tun wir ihm doch den Gefallen«, sagte Lindor. »Turnen wir ihm etwas vor und treten wir als Zirkus Luzius die Rundreise durch die Welt an, wenn er sich so viel davon verspricht.« Während die anderen lachten, blieb Herr Leisegang ernst und sagte mit leisem Tadel: »Ich bringe auch einen Zirkus, weil er zu den Äußerungen des täglichen Lebens gehört. Aber Sie, meine Herren, möchte ich bitten, in einer Dichtung aufzutreten, welche ich selbst als eine Symbolisierung Ihres Wirkens entwerfen möchte.« Man hatte sich in den dunklen Winkel eines vorstadtmäßigen, schäbigen Cafés gesetzt, wo nicht viel Verkehr war, Kaffee bestellt, und Herr Leisegang begann seine Erzählung. Er habe mehrere Entwürfe im Kopf, sagte er, es handle sich hauptsächlich um zwei Gattungen, die mit glücklichem und die mit unglücklichem Ausgang. Es gebe viele Menschen, die das Herzzerreißende eines unglücklichen Ausgangs nicht ertragen könnten, die müsse man berücksichtigen. Sie flüchteten gewissermaßen aus einem meist unbefriedigenden Leben in eine Kunst, die alle Widersprüche löse und alle Wünsche erfülle. Man müßte diesem Bedürfnis entsprechen, ohne die Würde der Kunst und die Wahrheit des Lebens zu gefährden. Daran schloß Herr Leisegang die Darstellung eines Stoffes, den er sich zurechtgelegt hatte. Ein Heiland des Volks, den man geradeheraus Luzius nennen kann, wird von der Regierung und der Gesellschaft der Besitzenden geächtet, weil die Arbeiter, seinen Vorträgen über das Reich Gottes lauschend, ihre Arbeit vernachlässigen und den Respekt vor ihnen verlieren. Eines Tages wollen verelendete Arbeiter den Palast eines Fabrikanten plündern, der als Blutsauger verhaßt ist. Da Luzius ihnen entgegentritt und sie an der Ausführung hindert, wenden sie sich gegen ihn, und er wird von beiden Seiten, von der herrschenden und von der ausgebeuteten, verfolgt. Er flüchtet ins Gebirge und findet dort in der Wildnis einen alten Mann mit einer Pflegetochter, dem Urbild aller Lieblichkeit und unverdorbener Natürlichkeit. Der Alte flößt ihm unbedingtes Vertrauen ein, und er fühlt sich in seiner Hütte sehr wohl. Was begibt sich aber? Er erfährt, daß dieser Mann, der den Flüchtenden zärtlich bei sich aufgenommen hat, ein Mörder und Brandstifter ist. Vor zwanzig Jahren diente er als Knecht auf einem Bauernhof, dessen Besitzer ein harter, übermütiger Mann war. Nicht genug, daß er die Arbeitskraft seiner Untergebenen gewissenlos ausnutzte, verführte er auch eine Magd, die der Knecht liebte und heiraten wollte. Um sich zu rächen, zündet der erbitterte Knecht den Hof an und erreicht auch, was er wünschte, daß der Bauer und seine Frau in den Flammen umkommen, nicht minder die verführte Magd. Während er von gemischten Gefühlen durchwühlt in die Flammen starrt, hört er das Weinen eines kleinen Kindes; sein Herz erwacht, es krampft und windet sich, gebiert sich neu unter diesen schuldlosen Tönen, er stürzt sich in das Feuer und rettet mit Gefahr seines eigenen Lebens das Kind seines Feindes. In eisiger Winternacht flieht er schaudernd, das wimmernde Kind im Arme. Sein Verbrechen kommt nie ans Licht, kein Verdacht erhebt sich je gegen ihn. Ungestört lebt er in der Gebirgseinsamkeit, mit schwerer Arbeit sich und das geliebte Kind ernährend. Als eine Lilie der Wildnis, rein und gottesfürchtig, wächst sie heran, der Liebling aller, die sie kennen. Auch ihr Pflegevater genießt die allgemeine Achtung; aber an ihm selbst nagt das Bewußtsein der alten Schuld. Unter dem Einfluß seines edlen Gastes läutert er sich vollends so, daß die Sehnsucht in ihm erwacht, seine Tat zu bekennen und zu büßen. Er erzählt Luzius die Geschichte seines Lebens, dieser vergibt ihm die Sünde, dann liefert sich der Alte heiteren Sinnes den Gerichten aus.
»Dann werde ich wohl das Mädchen heiraten müssen«, sagte Luzius.
»Doch nicht«, entgegnete Herr Leisegang. »Das würde ich nicht passend finden. Es genügt vollständig, wenn einer der jüngeren Herren es tut, die wir ja zum Schluß noch einführen können.« Er warf dabei einen Blick auf Roland und Lindor. »Eine Heirat muß allerdings eintreten, damit das Mädchen sich über den Verlust des vermeintlichen Vaters desto eher tröstet. Wir müssen dem Gemütsbedürfnis der Menschen das kleine Zugeständnis machen. Die Hauptsache ist natürlich, daß der erste wahrhaft gute Mensch, den der Gottgesandte auf Erden findet, ein alter Bauernknecht und noch dazu ein Mörder und Brandstifter ist. Ich glaube, das wird monumental wirken: der Heiland und der durchfurchte bäuerliche Sünder, die sich im Angesicht der unbefleckten Gebirgswelt begegnen und erkennen.«
Simonetti fand die Geschichte wahrhaft rührend. »Wenn es aktuell sein soll,« sagte Lindor, »dürfen die Skifahrer nicht fehlen. Sie waren doch gewiß gewöhnt, in der Hütte des menschenfreundlichen Greises einzukehren und mit der lieblichen Tochter zu scherzen. Könnte da nicht noch eine Verwicklung eingeschaltet werden?« – »Das ließe sich bedenken«, sagte Leisegang. »Wenn die Herren es wünschen, bin ich gern bereit. Das Mädchen zieht schließlich den armen, aber bedürfnislosen Philosophen dem oberflächlichen, herzensleeren Sportsmann vor. Er könnte zwar auch ein guter Bursche sein, der bekehrt wird, freiwillig verzichtet und die Stelle des ausscheidenden Jüngers annimmt, der das Mädchen heiratet.«
»Nun habe ich genug!« sagte Luzius plötzlich, zahlte, stand auf und verließ das Lokal. Der Direktor der Fak war aufgesprungen und sah bestürzt vom einen zum andern. Lindor lachte und sagte, es sei mit dem Meister nicht immer gut Kirschen essen, Herr Leisegang brauche sich das nicht zu Herzen zu nehmen. »Ich finde im Gegenteil, daß er sehr langmütig ist«, sagte Roland, indem er einen zornigen Blick auf Lindor warf.
In seinem bequemen Studierzimmer saß der Konsistorialrat Lieselmeyer dem Monsignore Ondorelli gegenüber, einem zierlichen Männchen, das unter einer Menge wild gesträubter weißer Haare und einem feurigem schwarzen Augenpaare fast verschwand. Obwohl er sehr klein war, spürte man seine Gegenwart mehr als die des Konsistorialrats, der groß und breit gewachsen war, einen großen breiten braunen Bart trug und mit breiter und lauter Stimme zu sprechen pflegte. Noch erging er sich in Begrüßungsformeln gegen den Gast aus dem Süden und Erinnerungen gemeinsam verlebter schöner Stunden. »Ach, mein geliebtes Deutschland!« sagte Ondorelli, »mein Herz schlägt höher, wenn ich es wiedersehe. Sie wissen ja, zwei Göttern habe ich in meinem Busen einen Altar errichtet: der Wissenschaft und der Freiheit. Ich beneide Sie, daß Sie diesen Göttern öffentlich dienen dürfen.«
»Und warum dürfen wir Sie nicht zu den Unsern zählen?« fragte Lieselmeyer. »Könnte ich Sie auch nicht mehr schätzen und lieben, als ich tue, so wäre es doch ein hoher Gewinn und eine Ehre für unsere Kirche und unser Vaterland.« – »Sprechen Sie nicht davon!« rief Ondorelli aus, »gaukeln Sie mir nicht eine liebliche Fata Morgana vor, die niemals Wirklichkeit werden kann. Sie kennen ja mich und die Verhältnisse. Den Stürmen, die das entfesseln würde, bin ich nicht gewachsen. Ich wäre meines Lebens nicht sicher, und Sie, mein Freund, wollen ja meinen Tod nicht. Ich spreche Ihnen gegenüber so offen, wie wenn Sie mein Beichtvater wären; gewähren Sie mir die Erleichterung, nicht von mir zu fordern, wozu ich zu schwach bin.«
»Was denken Sie von mir!« erwiderte Lieselmeyer. »Bin ich denn ein Fanatiker? Ich bin durch und durch tolerant. Wenn ich Sie auf unserer Seite sehen möchte, so ist es einzig um des Beispiels willen, und um Sie für immer an meine Heimat zu fesseln. Die persönliche Hochschätzung wird nicht dadurch berührt.« Das Männchen ergriff herzlich die beiden großen und breiten Hände des Konsistorialrates. »Ich danke Ihnen!« rief er einmal über das andere aus. »Ich werde Ihnen mein Herz ausschütten im vollsten brüderlichen Vertrauen. Sehen Sie, der Heilige Vater beehrt mich mit seinem Zutrauen und holt oft meinen Rat ein. Es würde ihm das Herz brechen, wenn ich mich von der Kirche trennte. Er weiß, wie ich denke, denn das verhehle ich ihm nicht, und duldet es um den Preis meines Bleibens. Daß ich jetzt hier bin, hat er veranlaßt. Er selbst schickt mich hierher und zu Ihnen! Könnte ich ein solches Vertrauen täuschen?«
»Zu mir?« fragte der Konsistorialrat überrascht. »Was könnte der Heilige Vater mir zu sagen haben?«
»Es handelt sich um einen groß angelegten, um einen Plan von universeller Bedeutung«, begann Ondorelli. »Ich muß weit ausholen, um Ihnen zu erklären, wie dieser Plan entstand. Ich bin, wie Sie wissen, nicht in jeder Hinsicht mit unserem Gregor einverstanden, auch mit diesem Plane nicht durchaus; aber ich verkenne seine schwindelnde Größe nicht. Blicken Sie um sich, lieber Freund, in Deutschland, Italien, Europa, überall sehen Sie den Verfall des Glaubens nicht nur, sondern den Verfall der Sitten, der Kultur, aller Lebensäußerungen. Wir gehen dem Chaos entgegen. Wenn es eine Macht gibt, die verpflichtet wäre, der Auflösung halt zu gebieten und die Grundlage zu einem Neubau zu schaffen, so ist es die Kirche. Sie werden mir den Staat entgegenhalten; gut; aber was tut der Staat? Sind nicht bereits die Parlamente – von den Thronen ganz zu schweigen – ein Gegenstand des Zweifels, der Kritik, des Hohns geworden? Es täte not, daß etwas da wäre, was diesem Geiste des Moders ehernen Widerstand entgegensetzte. Sind Sie auch dieser Meinung?« Der Konsistorialrat öffnete erwartungsvoll die Augen. »Daß das not täte, ist unleugbar,« sagte er. »Aber wo ist es? Wer gibt es uns?« Das Männchen senkte die Stimme. »Die Inquisition!« flüsterte es, »die Inquisition! Das ist die Idee des Heiligen Vaters.«
Der Konsistorialrat prallte zurück. »Die Inquisition?« wiederholte er. »Aber das verträgt sich nicht mit dem friedsamen, toleranten Geist der Zeit. Sie wissen, ich bin durch und durch tolerant.«
Ondorelli lächelte fein. »Wir beide sind tolerant, aufrichtig und von Herzen«, sagte er. »Und doch begreife ich, daß die Toleranz das erste Steinchen löste, dem viele andere folgten, bis endlich die Auflösung da war. Genug jetzt! sagte Gregor; eine Richtschnur muß geschaffen werden! Ein höchstes Gericht muß da sein, dem alle, alle unterworfen sind und das erbarmungslos die taumelnden Menschen an eine heilige Ordnung bindet. Mit einer Grausamkeit, die im höheren Sinne Barmherzigkeit ist.«
Der Konsistorialrat krümmte sich in seinem Sessel. »Ich erkenne die Größe des Planes an,« sagte er; »aber es ist zuviel von uns verlangt, ihm zuzustimmen. Würden nicht wir Protestanten die ersten Opfer sein?« Wieder lächelte Ondorelli. »Hätte mich dann der Papst«, sagte er, »gerade zu Ihnen geschickt? Nein, er rechnet vielmehr auf Ihre Mitwirkung. Lassen Sie uns überhaupt die Inquisition nicht schlechthin als eine Wiederbelebung der früheren betrachten. Dem Fortschritt soll sein Recht werden. Nicht bloße Dogmen sollen uns als Maß dienen. Es soll vor allen Dingen die evangelische Kirche – sprechen wir nicht von Protestanten! – anerkannt werden, was sich eben darin äußern wird, daß mehrere Evangelische im Tribunal Sitz und Stimme haben. Neben den Dogmen wird auch Moral, Sitte und die göttliche Vernunft unsere Richtschnur sein. Jeder einzelne Fall wird besonders untersucht und nach seinen eigenen Bedingungen beurteilt werden.«
Der ehemalige Nunzius hatte seine Rede noch nicht beendigt, als die Tür unwirsch aufgerissen wurde und eine magere Dame eintrat, die den Kopf mit einem Staubtuch umwunden und einen Besen in der Hand trug. »Du hast mein Klopfen überhört, Theodor,« sagte sie vorwurfsvoll, »und vergessen, das Zimmer rechtzeitig zu räumen. Ich hatte dir gesagt, daß heute der Fußboden gewichst wird.« Der Konsistorialrat sprang erschrocken auf und machte Miene, seinen Gast mit der Frau des Hauses bekannt zu machen. Diese jedoch warf keinen Blick auf das Männchen und sagte: »Es ist hohe Zeit, wenn wir bis zum Abend fertig werden wollen. Du kannst ins Wohnzimmer oder in dein vielgeliebtes Café gehen.« Sie hielt die Tür offen und machte mit dem Besen eine einladende Bewegung nach dem Gange hin. Unter gemurmelten Entschuldigungen, die teils seiner Frau, teils seinem Gaste galten, verließ der Konsistorialrat, Ondorelli am Arme mit sich ziehend, das Studierzimmer.
»Ach die Frauen, die teuren, heiligen Wesen,« sagte Ondorelli, »die sind die einzige Stütze im allgemeinen Untergang. Welche Verderbnis auch überall einreißt, sie tun unentwegt ihre Pflicht, erhalten Ordnung und Reinlichkeit in ihrem kleinen Kreise. Ich glaube, die Frauen werden den Ideen des Heiligen Vaters Verständnis entgegenbringen.«
»Es ist eine große Sache,« sagte der Konsistorialrat, »groß und kühn. Ich möchte sie sehr gern sofort mit meinem Freunde, dem Justizrat Eierlieb, besprechen, der augenblicklich Vorsitzender des Landtages ist.«
Da der Nunzius damit einverstanden war, begaben sich die Herren zum Justizrat, der nach soeben geschlossener Sprechstunde die Besucher trotz Haufen dringender Arbeit unter lauten Freudebezeigungen empfing.
»Nun, was sagst du, Eierlieb, zu dieser unerhörten Neuigkeit?« sagte der Konsistorialrat, nach dem Ondorelli das Wesentliche des päpstlichen Planes dargelegt hatte. »Glaubst du, daß ein solches Tribunal sich in Deutschland errichten ließe?«
»Ich glaube,« sagte Eierlieb mit Nachdruck, »daß Deutschland jetzt dafür reif ist, ja, eigentlich danach seufzt. Vor Jahrhunderten verwarfen wir die Inquisition, weil wir einem Zeitalter aufblühender Wissenschaft entgegengingen. Aber wohin hat uns diese geführt? Ins Verderben. Was wir brauchen, ist eine Überzeugung, eine feste, unerschütterliche Überzeugung.« Ondorelli sprang auf, um den Justizrat zu umarmen. »Sie haben das treffende Wort gefunden!« sagte er. »Eine Überzeugung, ja, das ist es, was uns fehlt und was wir begründen wollen. Ferne sei es, die Wissenschaft und die Freiheit anzutasten, das will auch der Papst nicht, obwohl er in dieser Hinsicht nicht auf meinem, mehr evangelischen Standpunkt steht. Aber auch er will die wahre, echte Wissenschaft respektieren, nur die ungebundene, toll im subjektiven Belieben schwelgende bestrafen. Die Überzeugung der christlichen Kirche muß die Überzeugung der Welt werden. Besser die Übertreter werden durch das Feuer des Gerichtes verzehrt, als daß sie in Mutwillen, Verbrechen und Schande zugrunde gehen wie jetzt.«
»Und es sollen wirklich wieder Scheiterhaufen lodern,« meinte Lieselmeyer bedenklich, »mitten im hellen Tageslichte des zwanzigsten Jahrhunderts?«
»Ha, diese Helligkeit«, rief der Justizrat, »hat unsere Nerven auf das schädlichste überreizt. Wir bedürfen des Dunkels, der Stille, der Sammlung. Bald werden die Säuglinge an der Brust der Amme ihr Recht verlangen, das allgemeine Getöse mit ihrem Kreischen vermehrend. Schweigen und starke Führung tut uns not und noch eins: Angst. Die Menschen haben vor nichts mehr Angst außer vor Nichtigkeiten und albernen Einbildungen, einer versalzenen Suppe, einer unsympathischen Tapete, einem verpönten Datum, aber nicht vor dem Tode, dem Feuertode. Wahrhaftig, meine Freunde, ich wüßte mir nichts Zeitgemäßeres als den Scheiterhaufen!«
Der kleine Italiener blickte achtungsvoll und doch etwas besorgt auf den Justizrat, dessen gepflegte, fröhliche Erscheinung einen solchen Eifer gar nicht hatte erwarten lassen. Er sei immer der Meinung gewesen, sagte er, daß die wahre Kraft und die wahre Gründlichkeit bei den Deutschen, und zwar insbesondere bei den Evangelischen zu finden wären. Er sei überzeugt, wenn der Heilige Vater und der Justizrat sich kennten, sie würden Hochachtung und Freundschaft füreinander empfinden. Sie schienen eigentlich verwandte Seelen zu sein. Es sei ein Jammer, daß Menschen, die geschaffen schienen, einander zu verstehen, durch die Konfession geschieden wären.
Ach, die Konfession, sagte der Justizrat leichthin, die Konfession spiele für ihn gar keine Rolle. Ihm komme es auf das Wohl der Menschheit an. Allerdings wäre er Protestant und wolle Protestant bleiben, aber trotz seiner Freundschaft mit Lieselmeyer, der ja ein gelehrter Theologe wäre, kenne er kaum den Unterschied zwischen den christlichen Konfessionen. Aber die Kommunisten und Anarchisten, die kenne er, und andere Banditen, die nicht selten von der hohen Finanz unterstützt würden. Er habe Einblicke getan, wisse, wie es zuginge, auch wie man sich den Weg ins Ministerium bahne. Nein, ehe die Leute nicht Angst, eine richtige, begründete Angst vor einer allmächtigen Macht hätten, würde es nicht besser auf Erden.
Ondorelli erzählte, daß es in seiner Heimat nicht besser zugehe als in Deutschland. Im Gegenteil, in Deutschland herrsche doch Aufklärung, während in Italien die Finsternis der Unwissenheit im Volke noch sehr dick sei.
»Möge sie doch!« rief der Justizrat begeistert. »Ich sage Ihnen, wir brauchen Unwissenheit, Unwissenheit und Angst. Das viele Wissen und Denken erzeugt den Veitstanz im schwachen Menschengeschlecht. Ein Stand von Priestern und Richtern soll die Wissenschaft pflegen, das Volk soll bescheiden seiner Arbeit und seinen erlaubten Vergnügungen nachgehen. Dahin muß es wieder kommen! Ägypten muß unser Vorbild sein!«
»Aber du meinst doch nicht,« wandte der Konsistorialrat ein, »daß wir die heiligen Affen oder Götter mit Kamelsköpfen wieder einführen sollen?« – »Unter welchem Bilde die Gottheit verehrt wird,« sagte Eierlieb, »ist im Grunde gleichgültig, vorausgesetzt, daß sie verehrt und gefürchtet wird. Allein ich will durchaus nicht unter den jetzigen Stand unserer Einsicht zurückgehen, bekümmere mich überhaupt, wie ich schon sagte, nicht um religiöse Dogmen. Mir kommt es darauf an, daß eine Autorität errichtet werde, von der nicht an eine höhere appelliert werden kann; auch nicht an Gott!« Er fuhr sich mit der Hand durch die kurzen weißen Haare und blickte triumphierend in die Runde.
Nach einer Pause richtete sich der Konsistorialrat auf und sagte, so ganz könne der wissenschaftlichen Theologie doch nicht entraten werden. Wenn die Sache wirklich Gestalt gewönne, müßte eine Kommission aus Berufenen zusammentreten und ein Gerüst errichten über gewisse Punkte, auf welche Katholiken und Evangelische sich einigen könnten. Das sei selbstverständlich, sagte Ondorelli, er werde sich so schnell wie möglich mit einer Reihe von maßgebenden Persönlichkeiten in Verbindung setzen, und dann könne zur Bildung einer vorläufigen Kommission geschritten werden.
Während der besten Wechselreden hatte das Männchen mehrmals nach der Uhr gesehen und deutete nun an, daß er leider wegen einer wichtigen Verabredung das Gespräch abbrechen müsse. Er schüttelte dabei seine weißen Locken und sah mit bedeutungsvollem Lächeln zu Lieselmeyer hinüber, der ihn sogleich verstand; denn Ondorelli war von jeher dafür bekannt gewesen, daß er verliebte Stelldicheine hatte oder vortäuschte. Im Grunde glaubte der Konsistorialrat nicht daran, konnte aber doch ein Gefühl des Neides und der Bewunderung nicht unterdrücken. »Noch immer lustig?« fragte er halblaut, indem er Ondorelli auf die Schulter klopfte. Dieser antwortete durch ein listiges Augenzwinkern.
»Was denken denn die Herren«, fragte der Nunzius, als man sich schon erhoben und die Hände geschüttelt hatte, »von dem sogenannten neuen Heiland, der so viel von sich reden macht?«
»Viel zuviel spricht man davon«, sagte Lieselmeyer. »Das sind solche Blasen, die das Sensationsbedürfnis und der Aberglaube der Zeit wirft.«
»Aberglaube und Schwindel!« ergänzte der Justizrat.
»Es interessiert mich«, sagte Ondorelli, »zu hören, wie die Herren denken. Der Heilige Vater will dem Problem nähertreten. Sie sehen, wie vorurteilsfrei unser Gregor ist. Er hat mich beauftragt, Fühlung mit dem Manne zu gewinnen. Er ist der Ansicht, daß eine neue Offenbarung Gottes, wenn sie in Übereinstimmung mit der Kirche geschieht, seiner und ihrer Verherrlichung dienen könnte.«
Lieselmeyer nickte gedankenvoll mit dem Kopfe. »Wer wollte Gott von vornherein die Fähigkeit absprechen,« sagte er, »sich auch heutigentages zu offenbaren? Wir Evangelischen am wenigsten. Aber es ist denn doch sehr fraglich, welcher Art die Wirksamkeit dieses Wundertäters ist. Das müßte vor allen Dingen durch eine Kommission aus wissenschaftlich gebildeten Männern untersucht werden.«
»Diese Art Leute«, sagte Justizrat Eierlieb, »wollen gewöhnlich mit der Kirche nichts zu tun haben, und darin haben sie so unrecht nicht.« Er lachte humoristisch. »Nun, was mich betrifft, so sind mir derartige Marktschreier ein Greuel, wenn sie außerhalb des Jahrmarktes auftreten. Indes verkenne ich die großzügige Auffassung des Papstes nicht. In vernünftige Bahnen gelenkt, kann ein solcher Mensch, der es versteht mit dem Pöbel umzugehen, vielleicht Gutes wirken.«
Er werde, sagte Ondorelli, in den nächsten Tagen nach dem Westen weiterreisen und versuchen, sich selbst ein Urteil zu bilden, worauf sich die Herren im besten Einverständnis trennten.
Roland erteilte des Vormittags Reitstunden; wenn er aus der Reitschule in die Herberge ging, kam er durch die städtischen Anlagen, welche im englischen Stil mit gutgepflegten Rasenplätzen und Baumgruppen angelegt, sich weithin verbreiteten. Es war ein gewittriger Sommertag, als er, langsam unter hohen Silberpappeln einhergehend, einem jungen Menschen begegnete, der ihn ansah, als ob er ihn kennte oder zu kennen wünschte. Es ging Roland durch den Kopf, als sei er diesem jungen Menschen schon öfter begegnet, aus dessen braunem Gesicht ein paar strahlende blaue Augen kindlich hervorleuchteten. Indem er sich unwillkürlich nach dem langsam Gehenden umblickte, sah er, daß dieser sich im gleichen Augenblick umdrehte, worüber sie beide ins Lachen kamen. »Sie kommen mir bekannt vor,« sagte Roland; »wünschen Sie etwas von mir?« – »Ja, das tue ich,« erwiderte der andere, »nur hatte ich den Mut nicht, Sie anzusprechen.« Roland fragte, um was es sich handle; der junge Mensch zögerte. »Es Ihnen hier zu erklären, ist nicht der Ort«, sagte er dann. »Mein Vater bittet Sie um Ihren Besuch. Wären Sie geneigt, heute oder morgen um sieben Uhr abends mich hier zu erwarten, damit ich Sie hinführe?« Roland stutzte und betrachtete sich den Jungen noch einmal von oben bis unten. Dies geheimnisvolle Gebaren gefiel ihm nicht; sollte eine Liebesgeschichte dahinterstecken? Er erwog blitzschnell, ob der vermeintliche Knabe etwa ein verkleidetes Mädchen sein könne. Nein, das doch nicht; aber er konnte von einer Schwester abgesandt sein, die einen Mann oder Liebhaber brauchte, das kam ja vor. Manch eine glaubt, daß sie sich einen armen Teufel kaufen könne. Oder steckte etwas Ernsteres dahinter, etwas Gefährliches? »Ich begreife, daß Sie schwanken«, sagte der junge Mensch. »Ich kann Sie nur bitten, mir Vertrauen zu schenken, und Sie versichern, daß es sich um nichts Unreelles handelt. Bitte glauben Sie mir.«
Seine blauen Augen blickten so rein, daß Roland sich seines Argwohns schämte. »Es ist gut,« sagte er, »ich will heute um sieben zur Stelle sein.« Ein helles Freudenlicht ging über das junge braune Gesicht, und eine schlanke braune Hand streckte sich Roland entgegen. »Ich danke, ich danke im Namen meines Vaters!« sagte der junge Mensch. »Tun Sie auch bitte das noch uns zuliebe, daß Sie zu niemandem von unserer Begegnung und meiner Einladung sprechen.« Roland versprach es; als er allein seines Weges weiterging, schien es ihm doch, als wäre er dem Fremdling damit gar zu weit entgegengekommen. Sein brüderliches Verhältnis zu Luzius war so, daß das Verschweigen des geringsten Umstandes ihn drückte. Vielleicht steckte eine politische Verschwörung dahinter; dergleichen umgab sich stets mit Heimlichkeit und konnte sowohl feindliche wie freundliche Absichten gegen ihn haben. Er beschloß, für alle Fälle eine Waffe mitzunehmen; dem Jungen mißtraute er nicht, aber der konnte ein Werkzeug sein, das von andern mißbraucht wurde.
Der junge Mann empfing Roland wie einen ersehnten Freund. Sein Vater habe es ihm vorausgesagt: ein tapferer Mann vertraut; und daß Roland tapfer sei, sehe man nicht nur an seinen Narben. Sein Name sei, erzählte er, Heinrich von Finken, er sei der jüngere von zwei Söhnen, der ältere sei im Kriege gefallen, seine Mutter habe den Verlust nicht lange überlebt. So sei er allein bei seinem Vater, der General gewesen sei. Sein Vater habe mehrere Vorträge von Luzius gehört und dort auch ihn, Roland, gesehen. Weshalb er so dringend wünsche ihn kennen zu lernen, werde sein Vater selbst ihm erklären. Roland war erfreut, daß keine Schwester vorhanden war; noch zufriedener wurde seine Stimmung, als er in einem nicht gerade geschmackvoll, aber gediegen ausgestatteten Empfangszimmer dem General gegenüberstand. Dieser hätte den Jahren nach sein eigener Vater sein können, an den er ihn auch wenigstens durch die aufrechte Haltung und den festen kühnen Blick erinnerte. Während des Essens, das sehr gewählt war, fühlte sich Roland immer behaglicher; mit Rücksicht auf den geräuschlos hantierenden Diener und wohl auch um die gesunde Ruhe des Speisens nicht zu beeinträchtigen, streifte das Gespräch alle Gegenstände nur im Fluge. Erst als man im Erker beim Kaffee saß, schlug der General einen andern Ton an. Er wolle nun herausrücken, sagte er, mit dem, was er auf dem Herzen habe. Seit er einen Vortrag von Luzius gehört habe, sei neues Leben in ihn gefahren. Die Leute sagten, er sei Christus selbst, und das halte er wohl für möglich, es stehe ja auch in der Bibel, daß Christus wiederkommen werde, und folglich müsse man daran glauben. »Wie heißt doch die Stelle?« fragte er, indem er sich zu seinem Sohn wendete. »Ich werde von nun an nicht mehr von diesem Gewächs des Weinstocks trinken bis an den Tag, da ichs neu trinken werde mit euch in meines Vaters Reich«, zitierte dieser.
»Ganz richtig«, sagte der General. Dann besann er sich einen Augenblick. »In meines Vaters Reich. Heißt das denn nicht im Himmel? Nein, da wird doch kein Wein getrunken. Nun genug, es ist uns verheißen, daß Christus wiederkommen wird, und folglich muß es geglaubt werden. Und warum sollte er nicht jetzt kommen? Gerade jetzt ist der rechte Augenblick. Deutschland braucht einen Erlöser. Es ist natürlich, daß Gott jemanden schickt, um uns aus diesem Saustall zu führen. Erst muß er die Franzosen vernichten und dann den Kaiser wieder auf seinen Thron setzen; und um das mit Ihnen zu besprechen, habe ich Sie durch meinen Sohn einfangen lassen.« Roland suchte nach einer Antwort, während der General ihn mit triumphblitzenden Augen ansah. »Ich habe nie gedacht,« sagte er langsam, indem er sich mit der Hand über die Stirn strich, »daß Luzius sich dazu berufen fühlt.« – »Nein, Sie nicht,« lachte der General; »es heißt ja auch in der Bibel: Die Apostel verstanden ihn nicht. Oder wie heißt es, Heinrich? Ich habe ihn aber verstanden. Warum hätte er denn gesagt, daß man nicht feige sein soll, daß man den Tod nicht fürchten soll und daß nur der wahrhaft lebt, der sein Leben wegwerfen kann?« – »Wenn er dabei an den Krieg gedacht hat,« sagte Roland nachsinnend, »so war seine Meinung gewiß, daß der höchste Führer seinem Heere voran in den Tod hätte gehen sollen und, wenn er das unterließ, seine Stellung verscherzt hat.« – »Mag sein, mag sein,« sagte der General ungeduldig, »daran ist etwas Wahres. Lassen wir den Alten beiseite und halten wir uns an den Sohn. Der ist, ich versichere Sie, schneidig genug. Der hätte sich wie ein grüner Offizier an die Spitze seiner Truppen gestellt und ›Drauflos‹ kommandiert.«
»Der Augenblick ist verpaßt,« sagte Roland; »ich fürchte, er kommt nicht wieder.« Der General packte ihn heftig an der Schulter. »Was sagen Sie da?« rief er. »Das hängt von uns ab, ob er wiederkommt. Ich sage Ihnen, es sind Zahllose, die nur auf ein Zeichen warten. Ich rede da nicht in den Tag hinein. Aber wir brauchen jemand, der den Krieg populär macht. Und noch zu einem andern Zweck brauchen wir Ihren Luzius. Das werde ich Ihnen jetzt erklären.« Es werde erzählt, fuhr er fort, Luzius habe durch seine bloße Anwesenheit das ganze Maschinentriebwerk in der Möllerschen Strumpffabrik zum Stillstand gebracht. Ob dem so sei oder nicht? Ihm sei es von rechtlichen und verständigen Leuten bestätigt.
Es sei so, sagte Roland. Luzius selbst erkläre es sich so, daß die künstliche Bewegung durch die lebendige Bewegung der Seele gehemmt werde, und er wundere sich manchmal, daß nur von ihm diese Kraft ausgehe. Übrigens spreche er nicht gern davon, auch hänge die Wirkung nicht von seinem Willen ab, finde im Gegenteil manchmal statt, ohne daß er daran gedacht habe.
»Gut,« sagte der General, »ausgezeichnet. Dann können wir auch die Kriegsmaschinen der Feinde unschädlich machen. Die haben wir zu fürchten, weil wir zu wenig ins Feld führen können. Das ist ja eben die Schweinerei der gottverfluchten Verträge. Einerlei; wenn die Tanks und Maschinengewehre, und was sie sonst haben, umfielen wie gemähte Ähren – ich wollte auf der Stelle sterben, wenn ich das Entsetzen und die Panik mitmachen könnte, die das hervorrufen würde.« Er sprang auf und ging mit langen Schritten und leuchtenden Augen im Zimmer auf und ab. »Herr mein Gott im Himmel, nur den einen Augenblick der Rache gewähre mir, dann Schwamm über mein Leben; dann hat sichs gelohnt.«
»Sie führten«, sagte Roland zögernd, »die Bibel an. Da steht geschrieben: Die Rache ist mein, ich will vergelten, spricht der Herr.«
»Nun ja,« sagte der General, »er vergilt ja auch durch Luzius. Ich will allerdings nicht zurückstehen, sondern auch dreinschlagen, und zwar mit allen Kräften des Leibes und der Seele. Übrigens, muß ich nachher zur Hölle fahren, ist es mir auch gleich. Habe ich die Jahre nach dem Kriege durchgemacht, würde das auch überstanden. Herr, fürchten Sie sich etwa? Vor dem Feinde oder vor der Hölle?« Auch in Rolands Augen blitzte es auf. »Nein, mein General,« sagte er, »ich fürchte mich nicht vor dem Feinde und nicht vor der Hölle. Aber vor meinem Gewissen.« Der General sah den jungen Mann mit fassungslosem Staunen an. »Und was hätte Ihr Gewissen da dreinzureden?« sagte er. »Tun wir nicht ein gutes Werk, wenn wir die Blutsauger von unserm Volke abschütteln? Steht es nicht da wie ein Sklave, entehrt, mit dem Peitschenschlag im Gesichte? Sind wir nicht Juden geworden, die nur Handel und Schacher treiben? Und Sie glauben Unrecht zu tun, wenn wir uns wieder aufrichten und freie, edle Männer werden? Ihr Luzius wird doch nicht in das Gewäsch der Pazifisten einstimmen, man solle die andere Wange hinhalten, wenn man einen Backenstreich bekommen hat? Hundekerle die!«
»Nein,« sagte Roland, »ich habe nie gehört, daß er diesen Ausspruch auf den Krieg und unsere Lage anwendete. Er ist, soviel ich weiß, kein Pazifist.« – »Wenn er das wäre,« sagte der General, »wäre er unser Mann nicht. Aber er ist unser Mann, ich habe ihn verstanden. Daß Christus mit den Juden keinen Staat errichten konnte, das ist begreiflich. Es war eine Fatalität, daß er dort zur Welt kommen mußte. Sonderbar, sonderbar. Was mag Gott sich dabei gedacht haben?« Er sah mühsam nachdenkend vor sich hin.
»Vater,« sagte Heinrich bescheiden, »steht nicht in der Bibel, daß unser Herr sagt: Mein Reich ist nicht von dieser Welt? Und das Reich Gottes ist inwendig in uns?«
Der General fuhr ärgerlich aus seinem Sinnen aus. »Höre du,« sagte er, »du solltest das Bibellesen unterlassen, du bist noch nicht reif dazu. Inwendig in uns! Was heißt denn das? Das Reich Gottes ist der Himmel, wohin ich nach dem Tode mit Gottes Hülfe gelangen werde. Ich werde dort meinen Sohn wiedersehen zwischen den Erzengeln, in der Rüstung und mit dem Schwerte, die er brav getragen hat; darauf leb ich und sterb ich.« Er sah Roland drohend an, der schwieg. »Inwendig in uns«, fuhr er ruhiger fort, »das kann auch ein Fehler in der Übersetzung sein, die Bibel ist ja nicht in deutscher Sprache verfaßt. Aber wenn Christus auch im Himmel sein eigentliches Reich hat, so muß er doch danach trachten, auf Erden ein Reich zu gründen. Siehst du? Es heißt ja auch: Dein Reich komme. Es kann ihm nicht gleichgültig sein, wie es auf Erden zugeht. Wie ich euch schon sagte, mit den Juden, dem feigen Gesindel, konnte er keinen Staat gründen, aber wir Deutsche sind andere Kerle, wenn uns auch die Schweinebande augenblicklich kaltgestellt hat. Hatten wir nicht ein famoses Reich vor dem Kriege? Auch die Religion wurde respektiert, die Kirchen waren voll, geflucht wurde wenig. Die Frömmelei lieb ich nicht, aber Freigeisterei hab ich in meinem Hause und bei meinen Untergebenen nie geduldet. Was uns not tut, ist, daß die alte Ordnung wiederhergestellt wird. War unsere Armee nicht eine Pracht? Wo haben Sie denn gedient, Mensch? Und wo haben Sie während des Krieges gestanden?«
Roland antwortete und erzählte, bald den General, bald Heinrich anblickend, der hingegeben lauschte. Unvermerkt vergingen die Stunden, die drei fingen an, sich vertraut zu fühlen wie alte Bekannte. Wiederkehrende Erinnerung der Vergangenheit schob vor die seltsame Gegenwart ein Gewölk, durch das zuweilen doch der mächtige Flammenblick drang, der Roland mitgerissen hatte. »Und gesetzt nun,« sagte er plötzlich beunruhigt, »Luzius billigte ihre Pläne, wie sollte sich das alles verwirklichen? Wir hätten wieder eine unendlich lange Front, und er kann nicht überall zugleich sein.« – »Sie werden sehen,« sagte der General, »daß er mehr kann, als wir ahnen. Vielleicht läßt sich auch etwas von ihm lernen. Man entdeckt fortwährend neue Strahlen, neue Kräfte; warum sollte er ein Monopol daraus machen, wenn er Gutes damit wirken kann? Wir müssen nur aufpassen, daß die gottverdammten Franzosen und Juden sich nicht an ihn herandrängen und ihm etwas ablauschen. Das ist der Grund, warum ich so vorsichtig mit Ihnen verfahren bin, wie es meiner Art sonst nicht entspricht; denn es wird mir schwer, zurückzuhalten, was mein Herz bewegt.« Er prägte Roland ein, auch jetzt noch äußerste Vorsicht zu üben, ihn, den General, nicht bei Tage zu besuchen und von seiner Bekanntschaft mit ihm und Heinrich nichts verlauten zu lassen.
»Glauben Sie, daß wir beobachtet werden?« fragte Roland.
»Ich weiß es«, sagte der General. »Man kennt meine Gesinnungen und weiß, daß ich meine Hand in allen Bestrebungen zur Vorbereitung des Krieges habe. Bis jetzt ist es ihnen nie gelungen, mir etwas nachzuweisen. Es wimmelt hier von Spionen, die uns mit innigem Vergnügen den Franzosen ausliefern würden.«
»Das ist schmählich«, sagte Roland.
»Schmählich?« wiederholte der General. »Teuflisch, ekelerregend. Was für Canaille ist unter uns! Glauben Sie mir, wenn Gott nicht verboten hätte, Hand an sich zu legen, und wenn mir nicht die Hoffnung auf den Tag der Rache geblieben wäre, ich hätte mich längst zu meinem Sohn gelegt, um neben ihm zu schlafen oder mit ihm drüben anzutreten.«
Für den Heimweg bot der General seinem Gast zum Schutz gegen die etwa drohenden Gefahren einen geladenen Revolver an. Roland dankte ihm mit einem verschmitzten Lächeln und zog den seinigen aus der Tasche. Der General lachte laut und lobte ihn. »Mißtrauen«, sagte er, »kleidet einen ehrlichen Kerl schlecht, aber gedankenlos in die Falle tappen soll er auch nicht. Sanft wie die Taube und klug wie die Schlange, das sei unser Wahlspruch.«
Als Roland durch die Anlagen nach Hause ging unter einem weiten, dunklen, wetterleuchtenden Sommernachtshimmel, war er wie im Traume. Was der General gesagt hatte, tönte noch nach in ihm, dazwischen blitzten vergessene Erinnerungen aus dem Kriege und Zukunftsgesichte. Er sah Deutschland siegreich, wiedergeboren, verjüngt, sich selbst zu Pferde, in Uniform, und plötzlich sah er ein weißes junges Gesicht mit Schelmenlächeln ihm zur Seite und empfand ein heftiges Glücksgefühl wie einen schmerzenden Stich. Er beschleunigte seine Schritte, als müßte er fliehen; blaß und atemlos kam er in der Herberge an und erschrak fast, als er Luzius noch wach am offenen Fenster sitzend fand. »Hast du auf mich gewartet?« fragte er. Luzius schüttelte den Kopf. »Ich war noch munter,« sagte er, »vielleicht auch allzu müde. Ich möchte mit euch für eine Weile an das Meer oder in die Berge und ruhen und schweigen.« – »Das ist ein guter Gedanke«, sagte Roland eifrig. »Ja, gehen wir, gehen wir bald. Diese Stadt nagt an einem, ein anderer als du wäre längst erschöpft.« Er hätte sich gern dem Freunde an die Brust geworfen und ihm alles erzählt, was er an diesem Abend erlebt hatte; aber er unterdrückte die Neigung, um nicht mit einem Male alles abgeschnitten zu sehen, was in ihm angeregt worden war. Obwohl er nicht wußte, wie Luzius sich zu den Plänen des Generals stellen würde, so überwog doch das Gefühl, daß er die Rolle nicht übernehmen würde, die ihm zugedacht war, und das schmerzte ihn. Ja, es schien ihm, als würde er den Augenblick nicht ertragen können, wo seine Ahnung als Tatsache festgestellt würde. Vielleicht, dachte er, war er zu müde, zu verwirrt von den neuen Eindrücken, um sich klar werden zu können, was er wünschte; und so verschob er alles auf den künftigen Tag.
An einem der folgenden Tage führte das Mädchen einen kleinen alten Mann zu Luzius, der nach dem Wunderarzt gefragt hatte. Als er eintretend den breitrandigen Hut abnahm, quoll das weiße Lockenhaar nach allen Seiten hervor; es war Ondorelli, der ehemalige Nunzius, der im schäbigen Sommerüberzieher und in zu weiten Gummischuhen freundlich über die Schwelle schurrte. Er komme aus Viterbo in Italien, sagte er, wohin der Ruf von Luzius' wunderbaren Kuren gedrungen sei, um sich seinen Rat zu holen. Er leide seit dreißig Jahren an Kopfschmerzen, von denen ihn kein Arzt habe befreien können, so viele er auch konsultiert habe. Man könnte meinen, in so langer Zeit habe er sich an die Schmerzen gewöhnt, aber das sei ihm nicht gelungen, wenn er auch gelernt hätte, sie zu ertragen. Man könnte vielleicht auch meinen, es komme ihm nicht soviel darauf an, wie die wenigen Jahre vergingen, die er noch zu leben hätte, denn er sei fünfundsiebzig Jahre alt; aber, wie merkwürdig das auch andern vorkommen möchte, er habe sich Lebenslust und Lebenshoffnung bewahrt, vielleicht gerade weil die ständige Begleitung der Schmerzen ihn am vollen Ausleben gehindert hätte. Als er von Luzius gehört hätte, habe er dem Drange nicht widerstehen können und habe die weite Reise angetreten. Freilich habe er sich auch gefreut, das herrliche Land wiederzusehen, wo er sich früher lange und gern aufgehalten hätte.
Luzius hörte der Erzählung aufmerksam zu und betrachtete den kleinen Mann noch eine Weile, nachdem er geendet hatte, mit Interesse. »Warum erzählen Sie mir alles dies,« fragte er dann, »da Sie doch niemals in Ihrem Leben Kopfschmerzen gehabt haben?« In Ondorellis Zügen malte sich lebhafte Überraschung; er legte die Hände auf Luzius' Schultern und brach in freudige Ausrufe und freundschaftliche Beteuerungen aus. »Was für ein Mann sind Sie,« rief er, »und wie glücklich bin ich, daß ich gewürdigt bin, Sie kennen zu lernen und zugleich zu erproben!« Luzius lachte. »Wenn ich ein Zauberer bin,« sagte er, »kann ich meinen Titel nicht auf diese Leistung gründen. Daß Sie nicht an dauernden Kopfschmerzen leiden, sehe ich Ihnen an; ich habe einen guten Blick für Menschen.« – »Ich verstehe,« sagte Ondorelli, »daß Wunder nicht wunderbar sind für den, der sie tut. O lassen Sie sich betrachten! So also sehen die Augen aus, die die Materie durchdringen und sich den Seelen verschmelzen!« Er beugte sich vor, um Luzius in die Augen zu sehen, fuhr aber zurück, als habe ihn ein elektrischer Strom getroffen. »Es ist gefährlich, in die Sonne zu sehen«, sagte er mit einem unsicheren Lächeln, sich erschreckt zurückziehend. »Sollte Sie nur der Wunsch, meine Augen in der Nähe zu sehen, hergeführt haben?« fragte Luzius. »Sagen Sie doch geradeheraus, was Sie wollen.« – »Ich habe in der Tat ein Anliegen,« sagte Ondorelli, »und es handelt sich wirklich um meinen armen Kopf. Ich werde Ihnen alles erklären. Müssen wir aber hier sprechen? Es ist heute schönes Wetter, eine Seltenheit in diesem Lande. Sollten wir den Glücksfall nicht ausnützen?« Luzius erklärte sich bereit, auszugehen, und sie fanden bald einen geeigneten Platz in der Nähe der Hauptstraße, wo um einen figurenreichen, marmornen Brunnen herum Akazien und Kastanien und darunter Bänke standen. Die vollen Wasserstrahlen, die in die Becken rauschten, funkelten farbig im Sonnenschein; die Straße glich einem Flußbett, in dem die Flut des Lichtes auf allen Seiten überschäumend dahinströmte. Ohne sich mit diesem Anblick abzugeben, fing Ondorelli sogleich an zu sprechen von Luther, für den er immer eine hohe Verehrung gehabt habe, von der freien Wissenschaft, von der Überwindung der Schwerkraft, von seinen Beziehungen zum Papst und dessen Charakter, und von seinen protestantischen Neigungen. Solle er etwa übertreten? Das wäre die Frage, die ihn peinigte, die er keinem Beichtvater seiner Kirche vorlegen könne. Luzius wäre der einzige, der für ihn entscheiden könne. »Würden Sie denn«, fragte Luzius, dessen Blicke inzwischen an den dick aufgeblähten weißen Wolken gehangen hatten, die wie Fahnen von der Zinne des Himmels wehten, »wesentlich anders leben und handeln als jetzt, wenn Sie Protestant wären?« Ondorelli sah ihn, ein wenig aus der Fassung gebracht, an. Darüber habe er noch nicht nachgedacht, sagte er; aber es würde sich doch wohl eine Veränderung daraus ergeben, die sich auf sein ganzes Leben erstreckte. »Wieso?« fragte Luzius. »Sie haben in Deutschland gelebt, mit Protestanten verkehrt und daraus soviel Anregung empfangen, wie Sie aufnehmen konnten. Mir scheint, die Glaubensspaltung ist mehr eine Gewohnheit als eine Gewissenssache. Die wenigsten wissen, worin sie eigentlich voneinander abweichen. Was Ihnen aber Katholisches seit Jahrhunderten im Blute liegt, das ändert der Sprung ins Protestantische nicht.« Ondorelli lauschte gespannt. »Halten Sie auch«, fragte er, »den Unterschied nicht für unüberwindlich? Unser Heiliger Vater, obwohl im Grunde Fanatiker, ist geneigt, der evangelischen Kirche entgegenzukommen. Daß Sie ähnlich denken, scheint ein Wunder. Ich sehe darin die unmittelbare Wirkung Gottes, einen bedeutsamen Fingerzeig. Gregor träumt von einer großen Organisation, in welcher alle christlichen Kirchen vertreten sein und gemeinsam handeln sollen. Was sagen Sie dazu? Zeugt es von Größe oder nicht, einen solchen Plan zu fassen?«
»Besonders ihn zu verwirklichen«, sagte Luzius. »Welchem Zweck sollte denn diese Organisation dienen? Christlichen Liebeswerken?«
Dem Italiener, der nach einer Antwort suchte, kam ein vermehrter Straßenlärm zustatten, der das Gespräch unterbrach und die Aufmerksamkeit auf einen sonderbaren Aufzug lenkte, der ihn verursachte. Auf einem von einem Pferde gezogenen, langsam fahrenden Karren stand ein Mann, um dessen Hals ein großes Plakat hing mit der weithin sichtbaren Aufschrift: Amach. Ein anderes, noch größeres Plakat, von mehreren Männern gehalten, zeigte einen begeisterten Jüngling, der soeben an einer in rötlichem Licht schwimmenden Küste landet und dort ein Banner mit dem Bilde des auferstehenden Christus aufpflanzt. Außerdem befanden sich noch ein paar Männer auf dem Wagen, welche Trompete bliesen, und sowohl die Kittel der Männer wie Pferd und Wagen waren mit Sternen aus Goldpapier und Blech verziert. Es war ersichtlich, daß es sich um eine Reklame handelte. »Es wird ein Kinostück sein,« meinte Ondorelli; »das ist eine Angelegenheit für Kinder.« Luzius winkte einem der jungen Burschen, die mit viel Aufwand von Geschrei dem Karren nachliefen. »Was bedeutet Amach?« fragte er. Der Junge wußte es nicht; aber ein Mann, der dabeistand, sagte: Amach heiße Aktiengesellschaft für Mars-Christianisierung, die Gesellschaft solle sehr reich sein, es werde empfohlen, sich Aktien anzuschaffen, solange sie noch niedrigen Kurs hätten. »Was sagt er?« fragte Ondorelli und ließ sich die Erklärung des Mannes wiederholen. »Ich habe gerade ein bescheidenes Sümmchen,« sagte er, »das ich sicher und vorteilhaft anlegen möchte. Was raten Sie mir? Mars-Christianisierung! Das ist außerordentlich. Man wird, sage ich Ihnen, die Schwerkraft überwinden und jenes Gestirn aufsuchen, und man wird eine Bevölkerung finden, die sich noch auf der untersten Stufe der Zivilisation befindet. Damit ist Europa und Ihnen Ihre Mission vorgezeichnet.« Er hatte unwillkürlich im Sprechen den Hut abgenommen und fuhr sich begeistert durch sein dichtes Haar; seine welken weißen Wangen hatten sich im Sprechen ein wenig gerötet. »Wenn man an das Beispiel der Christianisierung Amerikas denkt,« sagte Luzius, »so kann man sich der Bedenken nicht enthalten. Ich möchte den Marsleuten einen eigenen Erlöser gönnen, wenn sie einen brauchen.« – »Nein, nein, da bin ich anderer Meinung,« sagte Ondorelli eifrig, »die Erde muß ihre Vorherrschaft wahren. Ich glaube, daß die Erde immer der Mittelpunkt des Universums bleiben wird, so wie Europa der Mittelpunkt der Erde. Wir müssen diesen Stern zu unserm Vasallenstaat machen, soweit er bewohnt ist, und in den unbewohnten Gegenden Kolonien gründen.« Luzius sagte, er habe nichts dagegen, finde aber die Sache nicht eilig; Ondorelli könne immerhin erst die Frage beantworten, bei der sie unterbrochen worden wären. Ondorelli lachte und klopfte seinem Nachbar zärtlich auf die Schulter. »Sie sind ein Schalk,« sagte er, »und das gefällt mir an einem heiligen Manne. Sie fragten mich, welchem Zweck die vom Papste geplante Organisation dienen solle. Ich möchte den Zweck einen legislatorischen und einen pädagogischen nennen, ja einen pädagogischen vor allen Dingen. Unsere heiligen Glaubenslehren sollen durch die Organisation eine bessere Grundlage bekommen, gewissermaßen weithin sichtbar gemacht und geschützt werden. Sie bedürfen des Schutzes, das wird niemand leugnen. Auch am geistigen Himmel muß eine Sonne stehen, ein Maß von Licht und Schatten, wonach sich alle richten sollen und können.« Die weißen Haare des kleinen Mannes bäumten sich um sein feines Gesicht, aus dem die Augen schwarz hervorglühten. »Das Gewissen der Welt«, sagte Luzius sinnend. »Es gibt eins; aber es verkündet sich nicht immer, und nicht immer an dergleichen Stelle.« – »Wunderbarer Mann!« rief Ondorelli, »Sie fühlen es in sich. Sie werden sich der Bitte des Heiligen Vaters nicht entziehen, wenn er Sie zu seinem menschenfreundlichen Werke ruft!« – »Ich entziehe mich niemandem, der meiner wirklich bedarf«, sagte Luzius. Der Alte wurde ein wenig unsicher unter dem festen Blick, der dabei auf ihm ruhte; aber er schüttelte diese Regung ab und umarmte Luzius zum Abschied freundschaftlich. Nachdem sie sich schon getrennt hatten, wandte er sich noch einmal um und sagte: »Ich setze mich mit der Amach in Verbindung! Da ist Zukunft!«
Frau Direktor Möller war ein wenig nervös, weil sie ihren Bruder, den Geheimen Kommerzienrat Johannes Strowisch, erwartete, dessen Besuch ihr bedrückend war, obwohl sie ihn selbst gewünscht hatte. Sie klingelte zum zehnten Male nach Isolde, die jedesmal mit derselben Ruhe und kaum angedeuteter Mißbilligung vor ihre Mutter trat. Zwar hatte ihre Ruhe nicht die wohltätige Kraft, die sonst davon ausging; sie war das Ergebnis angestrengter Selbstüberwindung, was aber nur merkte, wer sie genau kannte und beobachtete. »Du hättest lieber den Onkel nicht einladen sollen,« sagte sie, »da er dich beunruhigt. Übrigens weißt du ja, daß er gar nicht ausspruchsvoll ist, und außerdem, daß er es sein dürfte, da er jede Bequemlichkeit hier findet.« – »Vielleicht findet er zu viel«, sagte Frau Möller seufzend. »Er muß nun einmal kritisieren. Er hat eine kleine Sägemühle im Kopf, die unaufhörlich arbeitet und etwas zersägt, was ihm gerade in den Weg kommt, wenn er es auch nicht immer äußert.« – »Mir ist die Hauptsache,« sagte Isolde, »daß er es nicht äußert. In seinem Kopfe kann es ja sägen.«
»Als er etwa sechs Jahre alt war,« erzählte Frau Möller, »beunruhigte er uns Geschwister einmal durch die Erklärung, er könne nicht an Gott glauben. Wir drangen in ihn, das sei durchaus notwendig, und warum er es denn nicht tun wolle; da sagte er: wenn es einen richtigen Gott gäbe, so hätte er nicht nach sechs Tagen Arbeit schon auszuruhen brauchen, woraus denn der lausige Sonntag entstanden wäre.« – »Sagte er wirklich der lausige Sonntag?« fragte Isolde. Frau Möller nickte. »Wir anderen pflegten uns wie die Narren auf den Sonntag zu freuen, er dagegen sagte, der Sonntag mache ihm übel und er möchte ihn ausspucken, weil man da nicht arbeiten dürfe.« Isolde fragte, was die Eltern dazu gesagt hätten. Die hätten es nicht erfahren dürfen, sagte Frau Möller, da sie sehr streng gewesen waren. Auch hätte Johannes wie die anderen Kinder jeden Sonntag in die Kirche gehen müssen, was ihn anfänglich unbeschreiblich beelendet hätte. Dann wäre er auf den Gedanken gekommen, sich während des Gottesdienstes im Kopfrechnen zu üben, und zwar so, daß er zugleich zuhörte, um zu Hause den Inhalt der Predigt wenigstens im allgemeinen angeben zu können. Das habe ihm mit der Zeit so viel Vergnügen gemacht, daß er Lust am Kirchgang bekommen hätte, und soviel ihr bekannt sei, unterlasse er ihn auch jetzt noch selten.
Isolde fand ihren Onkel, der nie unsicher, nie verlegen, selten verstimmt, geschweige denn traurig war, nicht unangenehm, wenn auch nicht interessant. Gesprächig war er nicht, auch über geschäftliche Dinge äußerte er sich nicht eingehend; gegen Damen war er liebenswürdig, aber nicht anders schattiert als gegen Herren. Man munkelte, daß er von den jungen Mädchen, denen er in die Schreibmaschine diktierte, bald diese, bald jene begünstige, ohne sie aber so zu bereichern, wie es seinem Vermögen entsprochen hätte. Eine gewisse Neigung hatte er für das Kino und forderte Isolde schon am ersten Abend auf, ihn in eines zu begleiten. Isolde schlug ihm verschiedene vor: da war ein Kriminalfall, ein Wild-West-Drama, etwas Belehrendes über die Gefahren der Trunksucht, ein Sportstück und eine Liebestragödie. »Gehen wir in das nächste,« sagte Strowisch; »es ist mir gleich, was ich sehe.« Isolde war überrascht und fragte, warum er so gern gehe, wenn das Stück ihn doch nicht interessiere. »Es ist mir angenehm,« sagte er, »wenn Bilder an mir vorübergleiten. Es gibt mir das Gefühl, auf Reisen zu sein.«
Als ihm am anderen Morgen nach dem Frühstück Frau Möller ihre Sorgen, Isolde betreffend, auseinandersetzte, erklärte er sich bereit, den jungen Mann, um den es sich handle, bei einer Filmgesellschaft unterzubringen, die er kürzlich übernommen hatte, weil sie vor dem Bankerott stand. »Glaubst du,« fragte Frau Möller zögernd, »daß das geeignet für einen wissenschaftlich gebildeten jungen Mann ist, und daß es eine passende Lebensstellung für Isolde wäre? Ich bin noch nie dergleichen Leuten in der Gesellschaft begegnet.« – »Unsinn,« sagte Strowisch, »das sind Vorurteile. Zum Schauspieler eignet sich natürlich nicht jeder; aber für die geschäftliche Leitung kommt er als Vertrauensperson in Frage, der technische Betrieb erfordert Leute, ebenso das Lesen der Manuskripte, die Regie, kurz, es gibt so viele Möglichkeiten, daß einer ein Dummkopf sein müßte, dem es da nicht glückte.« Übrigens habe er kürzlich ein Hotel in Interlaken gekauft, das vollkommen neu auf moderner Grundlage eingerichtet werden müsse; auch das sei eine dankbare Aufgabe. Frau Möller strich sich unruhig die Haare glatt. »Ich kann mir Isolde gar nicht als Hotelwirtin vorstellen«, sagte sie schüchtern. Der Kommerzienrat sah seine Schwester prüfend an, ob sie scherze. »Du redest wie ein Kind«, sagte er. »Es gibt natürlich in jedem Hotel einen Direktor und alles nötige Personal. Isoldes Mann wäre gleichsam der Besitzer, mein Vertreter, die höchste Autorität. Es kommt darauf an, Interlaken, das herabgekommen ist, wieder zu einem erstklassigen Kurort zu machen. Das ist ein ganz hübsches Problem, an dem er sich versuchen kann.« – »Ich habe keine Ahnung,« sagte Frau Möller, »wie er darüber denkt. Warum liegt denn dir daran, daß Interlaken ein besuchter Kurort wird?« – »Es ist ein Problem wie ein anderes«, sagte der Kommerzienrat achselzuckend. »Was liegt dir daran, daß Isolde den abgebauten Chemiker heiratet, wo sie doch jeden andern haben könnte, der ihr gefällt?« – »Es gefällt ihr gerade dieser,« klagte Frau Möller, »und zwar so ausschließlich und heftig, daß es mir besorgniserregend erscheint, wenn ich bedenke, wie gleichmäßig ruhig sie sonst war«; und sie erzählte die Umstände, unter denen sie Lindor kennen gelernt hatten.
»Hör einmal,« sagte der Kommerzienrat, »wie könnt ihr euch mit solchen Leuten einlassen? Das sind im besten Falle Landstreicher!« Der Besuch des Prinzen Yp unterbrach das Gespräch, das sich, da er auf dem laufenden war, bald am selben Punkte wieder anknüpfte. Der Prinz versuchte auseinanderzusetzen, daß Luzius kein Schwindler, sondern ein Medium sei, fand aber kein Verständnis. »Könnte ich nur«, sagte er, »ein so hervorragendes Medium, wie dieser Luzius ist, gewinnen, so würde ich Sie, werter Herr, zu einer Sitzung einladen und Sie überzeugen. Wer einmal von einer materialisierten Hand eine Ohrfeige empfangen hat, fühlt den Unterschied der magischen Materie von unserer irdischen so unwiderleglich, daß es weiter keines Beweises bedarf.« Strowisch blickte mit seinen runden braunen Augen neugierig auf den Prinzen. »Sonderbar!« sagte er. »Ist so etwas epidemisch? Ich meinerseits würde den Schwindler gern entlarven, um Sie zu kurieren. Wenn Sie eine Sitzung zustandebringen, lassen Sie es mich wissen, ich werde kommen, wenn es irgend möglich ist.« Der Prinz lächelte fein. »Das wäre nicht die erste Entlarvung«, sagte er. »Das ist, wie wenn ein handfester Mann mit dem Säbel auf eine Geistererscheinung losgeht. Er sticht ins Leere, und der Geist bleibt unverletzt auf seinem Platze.«
»Ja, lieber Freund,« sagte Strowisch, »wenn Sie an Geister glauben! Sind Sie denn ein Pietist? Hören Sie, das sind Menschen, die mir widerwärtig sind. Ich bin sonst tolerant, aber Pietisten können mich ärgerlich machen.«
»Ach, Onkel Johannes,« sagte Isolde, die sich inzwischen eingefunden hatte, »du machst dir falsche Vorstellungen. Der Prinz ist ein Mann der Wissenschaft, und die ganze Sache wird wissenschaftlich betrieben, so daß unsereiner gar nicht darüber mitreden kann.« – »Ich pfeife auf die Wissenschaft,« sagte Strowisch, »ich glaube an nichts als an meinen gesunden Menschenverstand.«
»Um so besser,« sagte der Prinz, »die Vorurteile der Wissenschaft sind schwerer zu besiegen als der gesunde Menschenverstand.«
Auf das Zureden des Prinzen erklärte sich Strowisch bereit, ihn zu begleiten, wenn er noch einen Versuch machen werde, Luzius für seine Absichten zu gewinnen. Frau Möller unterstützte ihn, weil sie um Isoldens willen wünschte, daß ihr Bruder in Beziehung zu dem Kreise träte, zu dem Lindor gehörte. Als die beiden Herren über den Siegesplatz gingen, in dessen Mitte eine Viktoria auf einer korinthischen Säule stand, sahen sie ein Gewimmel von Menschen auf den Stufen des Denkmals und entdeckten bald Luzius, den sie umringten. Er saß mitten im Sonnenschein und hatte den Arm mit zärtlicher Bewegung um einen hageren, hohlwangigen Jungen gelegt, der angstvoll um sich blickte. Den Nähertretenden erzählte eine Frau, an die sie sich fragend wandten, der Junge habe bei Gelegenheit eines kommunistischen Tumultes, der blutig unterdrückt worden sei, zufällig mitangesehen, wie Soldaten einen ergriffenen Aufständischen fortgeschleppt und an die Wand gestellt hätten, um ihn zu erschießen. Die Todesangst in dem fahlen Gesicht des wehrlosen Mannes habe einen solchen Eindruck auf den damals etwa zwölfjährigen Jungen gemacht, daß er närrisch geworden sei, wenigstens sich nicht weiterentwickelt habe, sondern kindisch geblieben sei. Außerdem zitterten ihm Arme und Hände, wenn er etwas ergreifen wolle, und es sei deshalb fast unmöglich, ihn zu beschäftigen. Das sei nun etwa fünfzehn Jahre her, er sei viel älter, als er scheine, und niemand habe ihm helfen können.
»Wenn das nur nicht ein Schwindel ist«, sagte der Kommerzienrat. »Zittern ist nicht so schwer, wie es aussieht, und eine gute Ernährungsquelle.« »Nein, nein,« sagte die Frau, »er schämt sich, daß er zittert, und möchte es gern verbergen. Er ist auch oft von Ärzten untersucht und in Anstalten herumgeschleppt worden. Jetzt ist er aus einer Anstalt für Schwachsinnige entsprungen, weil er von Herrn Luzius' Wunderkuren gehört hat.«
»Zum Ausreißen hat er Verstand genug«, sagte Strowisch.
»Verstand oder nicht,« sagte die Frau, »in der Anstalt lernten sie das Ausreißen, wie Kinder die Hand aus dem Feuer zurückziehen lernen. Ich habe da einmal eine Nichte besucht, die leider schwachsinnig auf die Welt gekommen war: gegraut hat es mir, und Gott gepriesen habe ich, als das arme Ding bald darauf starb. Da bringen sie die Kinder nicht geradezu ums Leben, sondern hübsch langsam, mit ein bißchen Hunger, ein bißchen Langeweile, ein bißchen Gebet, ein bißchen Angst, ein bißchen Prügel und finsteren Mienen. Nie wird gelacht, und die Wände hängen voll Kruzifixe, als wäre man bei lauter armen Sündern, und der Galgen winke schon.« – »Es wird eine pietistische Anstalt sein«, sagte Strowisch mit beginnender Sympathie für das Opfer. Der Prinz beobachtete indessen den Vorgang und äußerte sich bewundernd über die magische Kraft, die von Luzius ausgehe. »Sehen Sie,« sagte er, »wie sich die Physiognomie dieses vermutlich epileptischen Knaben zusehends glättet und erhellt; er lacht bereits, und der angstvolle Ausdruck ist ganz aus seinem Gesicht geschwunden. Ich habe leider, als ich das erstemal mit dem Manne unterhandelte, seine Eigenheiten außer acht gelassen. Er wird von dem leichtgläubigen Volke für einen Heiland und Sohn Gottes gehalten, und hält sich auch selbst dafür, was mit den inneren Stimmen, die er im Trancezustand vernimmt, zusammenhängt; und man muß, wenn man von diesen Individuen etwas erreichen will, ihre oft sonderbaren Vorstellungen gelten lassen.« Es gelang ihm, sich bis zu Luzius durchzudrängen; und obwohl dieser noch mit dem Kranken beschäftigt war, begrüßte er ihn und fragte ihn, ob er sich seiner erinnere. »Von Ihnen, Meister, für einen Mann der müßigen Neugierde gehalten zu werden,« begann er, »wäre mir schmerzlich. Ich bin ein Diener der Wissenschaft, und wenn ich Sie bitte, mir einen näheren Einblick in die Art Ihrer erstaunlichen Begabung zu gewähren, tue ich das nur, um die Grenzen der Wissenschaft zu erweitern.« – »Ich bin kein Diener der Wissenschaft«, sagte Luzius, »und habe kein Interesse für derartige Bestrebungen.« Der Prinz war einen Augenblick aus der Fassung gebracht, dann, sich sammelnd, sagte er: »Sollte ein Mann von solcher Bildung und von,« er suchte nach einem Worte, »von so hoher Abkunft wirklich keinen Sinn für den Wert der Wissenschaft haben?« – »Ich bin der Sohn eines Schmieds in Schlesien«, sagte Luzius. Der Kommerzienrat drückte belustigt den Arm des Prinzen, dieser aber gab sich nicht besiegt, sondern fuhr fort: »Ich verstehe; es gibt reale Vaterschaft und Vaterschaft im Geiste. Wir brauchen aber weder diesen Punkt noch die Wissenschaft zu berühren. Mir scheint es für das wahre Wohl des Volkes wichtig, daß sich jedermann von dem Vorhandensein überirdischer Kräfte überzeugen kann.«
»Ich glaube nicht an Geister«, fuhr der Kommerzienrat heraus. Luzius' düstere Miene erheiterte sich. »Und ich halte nicht viel von Geistern, die spiritistische Sitzungen aufsuchen«, sagte er lachend.
»Erlauben Sie,« entgegnete der Prinz merklich gereizt, »ich bin kein Spiritist, habe überhaupt keine vorgefaßte Meinung, was einem Manne der Wissenschaft ohnehin nicht ansteht. Ich versuche nur den okkultistischen Erscheinungen eine wissenschaftliche Basis zu geben.«
»Es tue jeder das, wozu es ihn treibt«, sagte Luzius, indem er sich erhob, um weiterzugehen. Der Kommerzienrat trat ihm in den Weg und fragte: »Sagen Sie mir nur noch das eine, lieber Herr: ist es wahr, was das Gerücht verbreitet, daß Sie durch Ihren bloßen Willen Maschinen zum Stillstand bringen können?«
Luzius' Stirn faltete sich zornig. »Es scheint nicht,« sagte er; »Sie gehen ja noch!« Nach einem Augenblick der Verblüffung entschloß sich der Kommerzienrat, die Bemerkung treffend zu finden. »Der Mensch ist auch eine Maschine,« sagte er zum Prinzen, »er hat sich nicht übel aus der Schlinge gezogen.« Alles in allem hatte ihm der Wundertäter einen vorteilhaften Eindruck gemacht.
Unter den Schwarzpappeln am Rande des schmalen Flusses, der die Anlagen durchlief, saß Luzius auf einer Bank, die am Tage von Arbeitern, jungen Dichtern, vereinsamten Frauen und Kindermädchen besetzt war. Jetzt hing die Blässe des Mondlichts über der entfärbten Welt, und ein Duft von gemähtem Gras wogte von der Wiese her wie eine unhörbare Brandung, die kommt und geht. Nach einer Weile streckte er sich auf der Bank aus, den Arm unter den Kopf schiebend, und sah in den Himmel, der still und tief in sich gesammelt war, als ob er den Blick des Einsamen erwidern wolle. In großen Zwischenräumen gingen Menschen vorüber, ohne daß Luzius seine Stellung veränderte; es war fast Mitternacht, als er sich aufrichtete, weil er Rolands Schritt erkannte. »Erschrickst du vor mir?« fragte Luzius lächelnd, als Roland, seiner gewahr werdend, zusammenfuhr. »Ich erschrecke,« sagte Roland, »obwohl ich dich erwartete und dich jeden Abend erwartete; das wird mir jetzt erst bewußt.« Luzius stand auf, schob einen Arm in den Rolands und zog ihn langsam mit sich. »Du kommst von heimlichen Übungen«, sagte Luzius. »Einmal mußt du dich doch darüber aussprechen.« Roland erklärte, sie seien insofern nicht heimlich, als sie in der Turnhalle unter dem Titel von Turnübungen für Jugendliche stattfänden. Die Absicht wäre allerdings, eine junge Mannschaft für künftige Kriege heranzubilden. Er habe die Stellung eines einübenden Offiziers auf Bitten des Generals übernommen. Ob Luzius etwas dagegen habe? »Wie sollte ich?« sagte Luzius; »aber ich glaube, daß du mir von deiner neuen Tätigkeit schon erzählt hättest, wenn sich nicht etwas anderes dahinter versteckte. Diese Ausbildung hat einen bestimmten Zweck: du beteiligst dich an Kriegsvorbereitungen.« Roland fuhr zusammen und sah sich um. Man müsse sehr vorsichtig sein, sagte er, man sei von kommunistischen, pazifistischen und französischen Spionen umgeben. »Auf den Tod muß man allerdings gefaßt sein,« entgegnete Luzius; »aber das wußtest du ja, daß du etwas Gefährliches unternimmst.« Roland richtete seine offenen grauen Augen ernst auf den Freund. »Daß ich für mich nicht fürchte, weißt du,« sagte er, »aber für die Sache. Noch ist man uns nicht auf der Spur, obwohl das Netz schon weit verbreitet ist. Alles ist gut eingeleitet, nur eins fehlt uns, freilich das Wesentliche: das bist du.« – »Ich?« fragte Luzius. »Ich? Soll ich euer Feldhauptmann sein? Nach den Anweisungen des Generalstabs im Auto an der Front auf und ab rollen und die Fahne der Begeisterung schwenken?«
»Du würdest nach deinen Eingebungen handeln,« sagte Roland, »natürlich im Einverständnis mit dem Generalstabe. Glaube mir, es sind anständig denkende Menschen, die ihr Vaterland lieben und dir vertrauen, die Großes von dir erwarten.« Er wollte weitersprechen, unterbrach sich aber und fuhr sich erregt durch sein dichtes, blondes Haar. »Mein Herz brennt, mit dir zu sprechen,« sagte er, »und doch schiebe ich den furchtbaren Augenblick, der entscheidend sein soll, von Tag zu Tag zurück.« – »Ist das vielleicht,« sagte Luzius, »weil du fühlst, es werde anders ausgehen, als du wünschst? Ach, Roland, Roland, warum ist dies zwischen uns getreten!« – »Kann denn etwas zwischen uns treten?« fragte Roland angstvoll. »Mich kann nichts von dir reißen. Oder kann es etwa das Vaterland? Ist es nicht auch deines?« Sie waren inzwischen zu dem tieferen Gebüsch der Anlagen gekommen, und Luzius kehrte zu der Bank zurück, wo er vorher gewartet hatte. In jenem Dunkel, meinte er, könnten sich etwa die Lauscher verbergen, die Roland fürchtete. Als sie nebeneinander auf der Bank saßen, erzählte Roland von seinen Gesprächen mit dem General, von dessen Kriegsplänen und den Hoffnungen, die er auf Luzius setzte. Wenn Luzius durch seinen Willen oder seine Natur die maschinellen Waffen des Feindes unschädlich mache, so wäre dieser ohnmächtig, durch einen starken Anprall zu überwältigen. Der Aberglaube vermöge immer noch viel; eine Kraft, die man spüre, ohne sie sich erklären zu können, habe etwas Entnervendes. Es komme nur auf das Wollen des Freundes an.
Luzius blickte, ohne zu antworten, geradeaus. Aufatmend, weil er nicht sofort nein sagte, fuhr Roland eifriger fort: »Du wirst fragen, wie wir uns das vorstellen? Du wirst einwenden, du könnest nicht überall zugleich sein. Gewiß, es ist nicht mehr so einfach wie zu Josuas Zeiten. Aber du kannst ja alles, was du willst! Ist deine Wunderkraft dir nicht geworden, damit du etwas Großes ausführst? Du bist ein Gottesurteil, ein Blitz, zur Erde geworfen, um in den unlösbaren und unleidlichen Verirrungen die überirdische Entscheidung zu fällen.« – »Und was wäre denn damit entschieden,« fragte Luzius, »wenn wir Frankreich besiegten?« – »Was damit entschieden wäre?« sagte Roland. »Ich bin kein weitblickender Staatsmann, kann dir keinen politischen Ausblick aufrollen. Ich spreche aus meinem Gefühl für mein Volk und mein Land. Ich habe erlebt, wie die Deutschen überall zurückgedrängt wurden, erlebe, wie man über uns hinfährt, als wären wir gewesen. Was in den Sternen über uns geschrieben ist, weiß ich nicht; solange ich lebe, kämpfe ich um das Dasein meines Volkes, damit es weiterlebe, weiterblühe. Und wenn der Drang hinzukommt, erlittene Schmach zu rächen, in Blut abzuwaschen, könntest du das verwerfen? Verständest du es nicht?« Luzius legte den Arm liebevoll um des Freundes Schulter. »Ich verstehe das«, sagte er. »Damals, als der Krieg zu Ende ging, hätte ich vielleicht tun können, was du wünschest. Vielleicht auch später noch, wenn der Anblick frechen Übermuts und schutzlosen Leidens mich entzündet hätte. Aber auch dann hätte ich euch nur in den Tod geführt. Es ist mir nicht aufgetragen, für euch zu siegen.«
»Ich bin bereit, auch zu sterben,« sagte Roland, »viele sind es. Aber was hülfe das meinem Volke? Ist es denn ein Verbrechen zu siegen?«
»Nein,« sagte Luzius, »aber der Sieg kann nicht von außen verliehen werden. Er muß in einem sein, und er ist nicht in euch. Frage dich doch, was die Folge des Sieges sein würde? Besserung der Finanzen – Aufblühen der Industrie – günstige Handelsverträge – Reicherwerden der Reichen, Schwächerwerden der Schwachen – dazu bin ich nicht gekommen.«
»Adelhart,« flehte Roland, »denke doch nicht an die Folgen, wenn du das Gefühl verstehst, das zum Handeln drängt. Ein Volk muß zuerst leben; ohne eine gewisse Macht, einen gewissen Reichtum kann es nicht bestehen. Du bist ja hernach auch da. Behalte dir vor, uns zu führen, erziehe uns, mache mit uns, was du willst, es hängt alles von deinem Wollen ab.«
Luzius schüttelte langsam den Kopf. »Menschen sind keine Bausteine«, sagte er. »Nur ein Volk, das siegen will, bringt einen Führer zum Siege hervor.« Roland stutzte. »Gibt es ein Volk, das nicht siegen will?« fragte er. »Seid erst einmal ein Volk,« rief er, »habt erst einmal einen Willen! Aber selbst dann, wenn hier ein Volk wäre, das siegen wollte, so kann sein Genius, der es mit dem Geisterreich verbindet, welches allein ewig ist, Untergang, Vergessenheit und Auflösung wollen. Und du selbst, wenn du nachdenkst, mußt dir sagen: ist nicht das Schönste am Siege das Siegen selbst? Das Hinwerfen der Seele in den Abgrund, der Todesrausch des bekränzten Opfers, das Aufflammen der Erfüllung, wenn die letzte Kraft auf dem rauchenden Altar ergossen ist? An das Einheimsen der Früchte denkst du nicht, an das Verteilen der Beute, an das Elend der Verwaisten, an die Mittagsruhe der Gesättigten.«
»Sagte ich dir nicht,« rief Roland bestürmend, »daß du uns an der Hand behalten, uns befehlen sollst? Du wirst nach dem Kriege Millionen Gehorsamer mehr finden als jetzt.«
»Nach dem Kriege«, sagte Luzius, »würdet ihr mich ermorden.«
Entsetzt und vorwurfsvoll stieß Roland den Freund zurück. »Haben wir solche Bitterkeit verdient?« sagte er. »Wenn dir nicht mehr anhängen, so ist es, weil sie dich nicht verstehen, weil du nicht klar deinen Willen aussprichst. Und bin ich dir nicht für viele? Erwidert kein Schlag deines Herzens die Liebe des meinigen? Kannst du, was ich erbitte, nicht für mich tun, es mir geben als ein Almosen deines Gefühls?« Er glitt von der Bank, eh Luzius es hindern konnte, und drückte den Kopf auf seine Knie.
Sie hatten beide die Schritte eines Näherkommenden überhört, der in diesem Augenblick zu ihnen trat; umblickend, erkannten sie Lindor. Er setzte sich neben Luzius und legte mit anmutiger Bewegung die Hand auf seinen Arm. »Seid mir nicht böse, wenn ich euch überraschte, vielleicht gar störe«, sagte er. »Ich schlafe nie ein, bevor ich weiß, daß du zu Hause bist. Da du so lange nicht kamest, beunruhigte ich mich und suchte dich. Hätte ich es nicht tun sollen?«
»Warum?« sagte Luzius. »Du hast uns ja gefunden, es ist gut, und wir gehen zusammen heim.« Sie standen auf und gingen schweigend in der Richtung nach der Herberge. »Ihr habt Geheimnisse vor mir«, sagte Lindor nach einer Weile im Tone bescheidenen Vorwurfs. »Und du?« entgegnete Luzius. »Hättest du nie Geheimnisse vor uns?« Er sagte es leichthin, mit gutmütig neckender Betonung. Lindor errötete. »Es gibt Dinge«, begann er und beendete den Satz nicht. »Ja, es gibt Dinge!« lachte Luzius und setzte ernster hinzu: »Das eine weißt du wohl, daß ich nichts um meinetwillen vor euch geheimhalte.« Ja, das wisse er, sagte Lindor langsam, ungetröstet.
Der Kommerzienrat, welcher nur einige Tage bei seiner Schwester hatte bleiben wollen, verlängerte seinen Aufenthalt aus einem Grunde, den er selbst vor einigen Tagen noch für unzulänglich erklärt haben würde, nämlich um den okkultistischen Sitzungen beizuwohnen, die der Prinz veranstaltete. Dieser hatte die Genugtuung, ein Medium aufzutreiben, das ihm von Bekannten empfohlen worden war und das er auf der Stelle kommen ließ. Es war ein zwanzigjähriger Mensch, der im Wachzustande blöde und schwachsinnig erschien, im somnambulen Schlaf aber nicht unwitzig war und zuweilen in Versen sprach, die ganz munter und drollig dahinrieselten. Den anfangs widerstrebenden Kommerzienrat beauftragte der Prinz damit, selbst die Kontrolle auszuüben, indem er mit der Hand die Hände des Mediums, mit dem Bein die Beine desselben festhielt und dadurch sich selbst und die anderen Zuschauer stets vom Dasein und Tun des Schlafenden überzeugen konnte. Obwohl die Ausgabe nicht leicht war, da Stunden vergingen, bis die Wirksamkeit des Mediums überhaupt spürbar wurde, so ermüdete der Kommerzienrat doch nicht, im Gegenteil, er wurde mehr und mehr vom Bewußtsein der Wichtigkeit seiner Leistung ergriffen und gab sich ihr so hin, daß er sich kaum erlaubte, von Zeit zu Zeit mit der freien Linken den Schweiß von seiner Stirne zu trocknen. Vollends als die geheimnisvollen Erscheinungen eintraten, der große eichene Tisch sich erhob und mit den Beinen aufklopfte, Ohrfeigen ausgeteilt wurden, Gegenstände umherflogen und sich nach Belieben da und dort niederließen, wurde sein Eifer zur Leidenschaft, und er hätte, ohne sich eine Pause zu gönnen, nächtelang okkultistisch gearbeitet. Seine Gedanken waren so sehr damit beschäftigt, daß er sogar die Geschäfte vernachlässigte oder wenigstens sich selbst zu ihrer Erledigung anhalten mußte. Der Prinz unterhielt das erwachte Interesse, indem er dem Neuling viel von seinen Erfahrungen und Entdeckungen erzählte, im Familienkreise wie in Gesellschaft dadurch eine bunte angeregte Stimmung herstellend. Insofern zwar enttäuschte Strowisch den Prinzen, als er für die wissenschaftliche Auffassung der Probleme kein Verständnis zeigte, sondern einen Wunderglauben entwickelte, der den Geschmack des Prinzen beleidigte.
Schon drei oder vier Sitzungen hatte man mit wechselndem Erfolge abgehalten, als eines Abends die seelischen Geleise im Innern des Mediums geputzt und geölt schienen und alle seine übernatürlichen Kräfte dem Kommerzienrat entgegenkamen, zu denen der Zugang bisher nur mühsam hatte gewonnen werden können. Es meldete sich rhythmisch beschwingt und zuweilen in Reime übergehend ein Bewohner des Mars, welcher, wie das Medium, im Trance war und in diesem Zustande, die Welt überschauend und durcheilend, bei der Erde haltmachte. Der weitgereiste Gast gab bereitwillig Auskunft über die Verhältnisse seines Planeten; sie wohnten, so erzählte er, in Grotten unter der Erde, welche von Gold gleißten, und auch die Geräte, deren sie sich bedienten, wären größtenteils von Gold. Es herrschte in den Grotten jahraus jahrein so viel natürliche Wärme, daß sie darin stets unbekleidet gingen, während sie draußen die Felle erlegter Tiere trügen. Diese Felle prangten in allen Farben, wären scharlachrot und grasgrün und wiesen prächtige Muster und Ornamente auf. Zum Teil wären die Tiere sehr groß und gefährlich, auch Vögel gäbe es, die mit ihrer Riesengestalt die Sonne verdunkelten, als ob es Nacht wäre. Mit diesen Geschöpfen lebten sie in dauerndem Kriege und bekämpften sie teils durch Steinwürfe, teils durch Beschwörungen und Zauberblicke, deren Kraft manche von ihnen so weit trieben, daß sie die Gegner durch bloßes Anstarren töten könnten. Die Tiere wären damit ebenfalls begabt, und es käme nicht selten vor, daß nach langen Bezauberungsschlachten die Menschen überwunden würden.
Nachdem diese Sitzung geschlossen war, geriet das Publikum in ungewöhnliche Erregung. Einige, an ihrer Spitze der Kommerzienrat, notierten sich emsig alle Angaben, die der mediale Marsmensch gemacht hatte, soweit sie sich eben noch erinnerten, und halfen sich gegenseitig aus, indem der eine dies, der andre das behalten hatte. »Hausen wir in dunklen Grotten, überglüht von goldnen Zotten,« sagte der Kommerzienrat; »das habe ich mir gemerkt, weil das Wort Zotten mich befremdete.« Medizinalrat Fink, welcher anwesend war, erklärte, daß Zotten Nervenstränge wären, welche zum Beispiel von der Wand des Darmes ausgehend, in den Darm hineinhingen. Das Wort wäre auffallend gewählt, und es hätte ihm sofort das Bild gewisser Tropfsteinhöhlen erweckt, wo die sogenannten Stalaktiten von der Decke herabhingen. »Eigentümlich ist es,« sagte der Prinz, »daß der junge Mensch Bilder aus einem Gebiet wählt, das ihm vermutlich unbekannt ist! allein nicht eigentümlicher, als daß er in Versen spricht, die er, obwohl sie nicht mustergültig sind, doch im wachen Zustande nicht machen könnte.«
»Was wissen wir denn von der Bildung dieser Marsmenschen«, sagte der Kommerzienrat. »Da geht alles offenbar ganz anders zu als bei uns. Und die Hauptsache ist, daß wir überhaupt etwas davon erfahren. Gibt es bei uns Grotten, wo der Tropfstein von Gold ist?« Der Prinz rückte unruhig auf seinem Stuhle hin und her. »Einstweilen haben wir es nur mit dem Medium und seiner Persönlichkeitsspaltung zu tun«, sagte er. »Führen wir nicht unbekannte Faktoren ein, solange es nicht durchaus nötig ist.« – »Ja, mein Lieber,« rief der Kommerzienrat, »woher soll denn der Junge das von den Tieren mit ihren bunten Schabracken und von den goldenen Höhlen und alles das wissen? So was kann sich doch kein Mensch ausdenken, geschweige denn ein so ungebildeter Junge!« Der Besprochene saß inzwischen in einem Nebenzimmer und verschlang ein gebratenes Schnitzel und eine Flasche Rotwein; sein Appetit war besonders nach gelungenen Sitzungen kaum zu stillen. Strowisch stand auf, trat an den Tisch und legte ihm zutraulich die Hand auf die Schulter. »Haben Sie etwa einmal über die Frage nachgedacht, ob der Planet Mars bewohnt ist?« fragte er. »Oder etwas darüber gelesen?« Der Junge stierte den Fragenden mit dem einfältigen Ausdruck an, der ihm eigentümlich war, und schüttelte den Kopf. »Wissen Sie, daß es Planeten gibt und daß einer unter ihnen Mars heißt?« fuhr der Kommerzienrat fort. Diesmal nickte der Junge mit dem Kopfe, ohne daß die Leere seines Gesichtsausdrucks sich verändert hätte. »Er hat keine Ahnung von dem, was er im Schlafzustande gesprochen hat,« belehrte der Prinz; »aber das beweist nicht, daß es eine andere Quelle als ihn selbst haben müsse.« – »Wie soll denn etwas aus ihm herauskommen, was nicht in ihm drin ist!« sagte der Kommerzienrat grollend. »Und warum soll es nicht unter den Marsbewohnern so gut Medien geben wie bei uns.« Während der Prinz verzweifelt einen Blick zum Himmel schickte, machten sich die anderen Anwesenden auf gewisse Widersprüche in den Aussagen des Mediums aufmerksam. Es wurde beschlossen, die Sitzung möglichst bald zu wiederholen, damit der angebliche Marsmensch weiterbefragt werden könne und verschiedene Probleme, die sich nach der ersten Überraschung aufdrängten, angeschnitten würden. Obwohl der Prinz darauf vorbereitete, daß der Erwartete sich vielleicht nicht wieder melden würde, ertönte nach etwa einstündigem Harren die von dem Knaben Robert deutlich verschiedene, etwas zirpende Stimme des Marsmenschen, der offenbar an dem Verkehr mit den Erdbewohnern Gefallen gefunden hatte. Es waren auf allen Seiten Fragen vorbereitet, die aber auf Anordnung des Prinzen mit Maß und auch nicht von einem jeden vorgebracht werden durften; denn das Medium hatte Zu- und Abneigungen und durfte weder durch Mißtrauen noch durch Neugierde gestört werden. Ausgesprochene Vorliebe hatte der junge Mensch für den Kommerzienrat, dessen Fragen er willig beantwortete, während er auf die von andern gestellten nicht selten in eigensinnigem Stillschweigen erstarrte. So gab er im Laufe der Nacht an, daß sie keine Einteilung des Jahres hätten, sondern Tag für Tag so vor sich hin lebten, daß sie weder das Alter noch den Tod, wohl aber die Liebe kennten und pflegten, auch Kinder hervorbrächten, aber nach Willkür, und zwar so, daß die Männer die Mädchen, die Frauen die Knaben erzeugten. Übervölkerung könne deswegen nicht entstehen, weil sich viele, die des Lebens auf dem Mars müde geworden, nach einem benachbarten Planeten versetzten. Sie nennten denselben Wowotti, und seine helle Küste wäre von der Gegend aus, wo er wohnte, zu erkennen. Sie gelangten dorthin nicht mit Fahrzeugen, wovon er nichts zu wissen schien, sondern springend; die Marsleute könnten nämlich außerordentlich gut springen, sowohl in die Höhe wie in die Weite. Dieser neuerdings erwähnte Umstand gab viel zu denken; man überlegte sich, daß die Marsbewohner möglicherweise mehr Ähnlichkeit mit Heuschrecken oder Flöhen, als mit Erdmenschen hätten, worauf auch die zirpende Stimme zu deuten schiene. Die Aufforderung an die Marsstimme, eine Beschreibung seines Volkes zu geben, blieb unberücksichtigt, obwohl Strowisch selbst mit besonderer Freundlichkeit gefragt hatte.
Während der nächsten Sitzung indessen ereignete es sich, daß eine Platte, die wie Schiefer aussah, schief durch das verdunkelte Zimmer schoß, mehrmals hin und her tanzte, wie wenn sie an einem Faden hinge, von dem aber durchaus nichts zu sehen war, und sich schließlich, scheinbar wählend und überlegend, auf den Knien des Kommerzienrats niederließ. Der astrale Freund, den man vorher vergeblich gerufen hatte, ließ sich nun wieder vernehmen und erzählte, er habe die Sternplatte aus seiner Heimat mitgebracht, um den wißbegierigen Irdischen einen Begriff von dem Aussehen seiner Landsleute zu geben. Der Kommerzienrat war nicht imstande, den Schluß der Sitzung abzuwarten, sondern eilte sofort in das Nebenzimmer und machte Licht, um den wunderbaren Gegenstand zu betrachten. In das Material, welches nun eher eine Art Speckstein als Schiefer zu sein schien, war das Bild eines absonderlichen Monstrums eingeritzt, das auf kleinem Rumpfe einen großen runden Kopf trug, von dem Strahlen oder Haare ausgingen. Getragen wurde der zwerghafte Körper von einem Paar langer, zusammenklappbarer Beine, auf denen offenbar die ungeheure Sprungkraft dieser Wesen beruhte. Der Probleme, zu denen das Bild Anlaß gab, waren so viele, daß darüber in der nächsten Zeit die Sitzungen in den Hintergrund traten. Man fand heraus, daß der Stein, welcher die Unterlage der Zeichnung bildete, zwar dem Speckstein gliche, aber keiner wäre, überhaupt auf Erden seinesgleichen nicht hätte; er war von Natur weiß, aber mittels eines unbekannten Verfahrens durch Kohle geschwärzt, worauf die Zeichnung mit Gold eingelassen schien. Soviel stand fest, daß auf dem Mars sowohl Kohle wie Gold vorhanden war, wenigstens nahmen das der Kommerzienrat und seine Anhänger an. Der Prinz dagegen warnte vor Leichtgläubigkeit, forderte eine noch eingehendere wissenschaftliche Untersuchung der Platte und setzte sich zu diesem Zweck mit einem Assyrologen in Verbindung, der sich für die Sache zu interessieren erbötig war. Die finanzielle Lage des Prinzen erlaubte ihm, den Professor, der über siebzig Jahre alt war und deshalb sein Amt an der Universität hatte niederlegen müssen, in großartiger Weise zu unterstützen, damit er sich ganz der Begutachtung des marsischen Steines widmen könne. Derselbe entdeckte bald eine bisher übersehene Kritzelei neben der Zeichnung, die er für Schrift hielt und die er mit Hilfe anderer schon bekannter und noch nicht entzifferter asiatischer Urschriften allmählich zu enträtseln nicht verzweifelte.
Direktor Möller war eines Tages auf der Straße dem Reklamekarren der Amach begegnet und erzählte davon zu Hause, indem er an seinen Schwager die Frage richtete, ob er von der Gesellschaft gehört habe. Strowisch verneinte und wunderte sich, da ihm jedes ernste Unternehmen bekannt sei. »Die Gesellschaft nimmt sich selbst vielleicht nicht sehr ernst«, sagte seine Schwester. »Dann würde sie nichts erreichen«, meinte der Kommerzienrat. »Wenn man etwas unternimmt, muß man sich ganz und gar dafür einsetzen. Wahrscheinlich haben sie nicht genug Kapital, und Kapital ist in diesem Falle das erste Erfordernis.« – »Nachdem, was du mir von den Marsleuten erzählt hast, lieber Onkel,« sagte Isolde, »scheint mir eine Christianisierung verfrüht zu sein. Muß nicht für unsere hohe Sittenlehre, wenn sie Wurzel schlagen soll, eine entsprechende Grundlage vorhanden sein? Ich bin gar nicht für das gewaltsame Einpflanzen von Religionen, vollends nicht in Wesen, die sich offenbar kaum von den Tieren unterscheiden.« – »Aber Isolde,« sagte Herr Möller, »das Christentum kann nie schaden.« – »Die Neger haben sie auch mit gutem Erfolg christianisiert,« fügte der Kommerzienrat hinzu; »je tiefer einer steht, desto mehr hat er es nötig. Christentum bedeutet Zivilisation.« Er lenkte das Gespräch dann auf etwas anderes, gerade weil ihn der Gegenstand mehr interessierte, als er einstweilen verraten wollte.
Am folgenden Tage suchte er die Adresse der Leitung der Amach im Telephonbuch auf und ging allein in die Stadt. Der Sitz der Gesellschaft war im vierten Stock eines Hauses der Altstadt, dessen dunkle und unbequeme Treppen, da es keinen Lift gab, der Kommerzienrat selbst hinaufsteigen mußte. Auf dem Flur des ersten Stockes sah er sich mißbilligend um, kletterte dann aber ohne Aufenthalt weiter, als wolle er sich nicht Zeit lassen, den einmal gefaßten Entschluß aufzugeben. An einer der Türen, die auf den Gang des vierten Stockes mündeten, entdeckte er ein Porzellanschild, auf dem stand: Eugen Nickelson, Direktor der Amach; er klopfte an und trat, durch ein sonores Herein aufgefordert, ins Zimmer. Herr Nickelson trug, in einem Korbsessel sitzend und mit dem Lesen von Zeitungen beschäftigt, einen hohen, leicht schief auf dem Kopfe sitzenden Zylinder, einen Spitzbart und einen Klemmer, durch den kleine dunkle Augen den Besucher anblickten und leidenschaftlich, wie einen längst Erwarteten, ergriffen. »Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches, Herr Kommerzienrat Strowisch?«, fragte er. »Freue mich sehr, freue mich außerordentlich! Gestatten Sie, daß ich weiterrauche? Nehmen Sie eine Zigarette? Schlechte Angewohnheit das, aber ich kann sie nicht ablegen. Man nehme mir alles, ich ertrage es, aber nimmt man mir die Zigarre, liege ich wie ein Fisch am Strande, der nach Luft schnappt.« Der Kommerzienrat äußerte sein Erstaunen, daß Herr Nickelson, den er zum ersten Male sähe, ihn kennte. »Schau, wie bescheiden berühmte Männer sind!« sagte Herr Nickelson lachend. »Ihr Bildnis ist zwar nicht wie das der Kaiser des Altertums auf jede Münze geprägt, aber fast täglich bringt es eine Illustrierte, das letztemal als Mitglied des Weltsyndikats für Petroleumbohrungen.« – »So so,« sagte der Kommerzienrat, »daran dachte ich nicht, nachdem ich seit vierzehn Tagen hier im Hause meiner Schwester zur Erholung ein zurückgezogenes Familiendasein führe. Wie ich eben durch die Stadt bummelte, bemerkte ich draußen an der Haustür Ihr Schild, das mir auffiel, und da ich sonst nichts zu tun habe, beschloß ich, meine Neugierde sofort zu befriedigen.« Herr Nickelson lachte laut mit einer Stimme, welche glatt und rund wie eine elfenbeinerne Billardkugel aus seiner Brust rollte. »Sie sind der erste nicht,« sagte er, »wenn auch der erste, dessen Neugierde mir willkommen ist. Ich gestehe auch gern, daß ich die Neugierde des Publikums brauche, mit ihr rechne. Das Neue, das Ungemeine stößt auf Widerstand bei den meisten Menschen, man muß es mit Syrup bestreichen, damit es eingeht. Ich mache Reklame, obwohl die Sache selbst es im Grunde nicht nötig hat und noch weniger ich es nötig habe. Sie werden mich hier schimpflich eingerichtet finden,« fuhr er fort, indem er sich in dem kahlen, getünchten Raume umsah, »auch werden wir nächstens in ein angemessenes Lokal übersiedeln; ich habe aber als richtig gefunden, erst kleine Schritte zu machen. Wir richten solche Bureaus in vielen größeren Städten Deutschlands ein; denn Sie müssen wissen, mein Unternehmen ist vaterländisch, durchaus nicht international. Ich weiß nicht, wie Sie darüber denken.« Der Kommerzienrat zögerte. »Das läßt sich nicht so einfach beantworten«, sagte er. »Ich bin selbstverständlich Patriot, aber ich will nicht mit dem Kopf durch die Wand rennen.« – »Wie gewisse Leute«, fiel Nickelson ein. »Einverstanden. Das unsere ist ein Unternehmen, das Deutschland ganz von selbst den Erfolg zukommen lassen wird, wenn es Mut und Weitblick hat. Sehen Sie, verehrter Herr Kommerzienrat, der geschichtliche Augenblick der Entdeckung Amerikas wiederholt sich. Ich stehe vor Ihnen wie Columbus vor der Königin Isabella, wenn Sie nämlich, wie ich glaube, den genialen Blick jener Frau haben. Der Raum zwischen Erde und Mars dehnt sich nicht drohender und unheimlicher aus, als damals der Atlantische Ozean zwischen Europa und dem unbekannten Erdteil. Nicht einen neuen Erdteil, eine neue Erde gilt es zu gewinnen, eine neue Menschheit, die auf unterster Kulturstufe steht und an Bedürfnissen grenzenlos ist. Ein Aufschwung steht uns bevor, wie einst für Spanien die Besitzergreifung Amerikas war, mit dem Unterschiede, daß wir, durch Erfahrung belehrt, alle die Fehler vermeiden können, durch die sich Spanien sein Glück selbst verdarb.«
Der Kommerzienrat erkundigte sich, welche Fehler das gewesen wären.
»Erstens«, sagte Nickelson, »das Verhalten zu den Eingeborenen, die sie knechteten und ausrotteten, anstatt sich ein Volk von willigen Abnehmern zu erziehen. Es ist uns nicht damit gedient, daß einzelne Abenteurer hinübergehen und dort mit Sklavenarbeit Pflanzungen und Betriebe anlegen, große Gewinne erzielen. Es liegt uns daran, daß die dortigen Völker langsam in den Gang unserer Zivilisation eingeführt werden, unter unserem Schutze an ihren Segnungen teilnehmen. Das zweite ist der Aberglaube an die Allkraft des Goldes. Nicht als ob Reichtum zu verwerfen wäre, aber er wirkt nur dann wohltätig auf ein Volk, wenn er seine Arbeitsmöglichkeit erhöht. Jetzt stehen wir auf der schönen Stufe, wo der Einfluß des Goldes dazu dienen wird, die Industrie zu beleben.«
Der Kommerzienrat griff langsam nach der zuerst abgelehnten Zigarette. »Bestehen denn«, erkundigte er sich, »begründete Ursachen, um das Vorhandensein von Gold auf dem Mars anzunehmen?«
»Wissen Sie das nicht?« fragte Nickelson erstaunt. »Sie kennen also die Literatur über den Mars nicht? Haben sich nie mit diesem Problem beschäftigt? Ich werde mir erlauben, Ihnen das Einschlägige zuzuschicken. Die Chemie ist durch Spektralanalyse zu den interessantesten Ergebnissen gekommen.«
Während der Kommerzienrat zuhörte, dachte er, wie wunderbar es doch sei, daß zu gleicher Zeit, wo die Amach sich aufgetan hätte, auch der mediumistische Marshupfer an ihn herangetreten wäre, um ihm diese Angelegenheit näherzubringen, und ein Gefühl von Bewunderung der Vorsehung überkam ihn. Er hätte gern von seinen diesbezüglichen Erlebnissen erzählt; aber indem er das flotte Gesicht unter dem Zylinder betrachtete, unterdrückte er diese Neigung als ungelegen.
»Wenn Sie uns Ihr Genie widmen,« schloß Herr Nickelson, »so wird dies natürlich unserer Sache ungeahnte Wendungen, einen unberechenbaren Aufschwung geben. Lassen Sie meine Idee durch Ihren Kopf gehen, die beiden werden sich gegenseitig befruchten. Es wäre eigen, wenn an der Spitze des Unternehmens der Name Strowisch sich mit dem Namen Gregor begegnete. Sie müssen wissen, daß Seine Heiligkeit Papst Gregor Anteil an der Amach nimmt. Er hat kürzlich einen Abgesandten zu mir geschickt, einen hohen Geistlichen, einen interessanten Mann, der sich ernstlich mit physikalischen und chemischen Problemen abgegeben hat. Gar nicht dumm, diese Schwarzen, glauben Sie mir. Die packen die Religion am rechten Zipfel an! Die Gescheiten sollen herrschen und die Tröpfe dienen, das ist der Kern ihrer Geheimlehre.«
»Zählen Sie die Marsbewohner unter die Tröpfe?« fragte der Kommerzienrat.
Nickelson lachte, daß man seine durch vieles Rauchen angegilbten Zähne sah. »Jedenfalls zähle ich den Papst«, sagte er, »zu den Herrschenden, möchte aber nicht, daß er bei uns zum Alleinherrscher würde, was er natürlich anstrebt. Wir wollen ihm einen Ehrenvorsitz lassen, aber in die Geschäfte darf er nicht hineinregieren.«
»Tragen wir ihn herum wie die heiligen Affen von Benares, die trotz allen Kniebeugens zeitlebens Affen bleiben müssen.« Die Herren trennten sich in gutem Einvernehmen; doch dachte der Kommerzienrat schon an eine Zeit, wo er Nickelson, der ihm im Grunde nicht zusagte, über Bord werfen und allein das Steuer der Amach führen würde.
Die Gründung eines Parkes zur Züchtung von Pelztieren auf der Spitze der Schneekoppe, die er kürzlich unternommen hatte, entriß den Kommerzienrat dem idyllischen Verweilen im Hause seiner Schwester, nicht ohne daß er das Versprechen gab, bald wiederzukommen. In der Sache, um derentwillen sie ihn gerufen hatte, war nichts erreicht worden. Lindor hatte sich geweigert, den Hotelbetrieb in Interlaken zu beaufsichtigen, hatte sich überhaupt so zurückhaltend benommen, daß der Sinn seines Betragens nicht mißzuverstehen war. »Was will der junge Mann eigentlich?« fragte er. »Ich kann ihn ja bei den Pelztieren verwerten. Wahrscheinlich muß ich nächstens Stationen in Nordamerika, in Rußland, Grönland und am Nordpol gründen zum Zweck des Fangs geeigneter Objekte. Wenn ihm das Vergnügen macht, kann er eine solche Expedition leiten, selbstverständlich unter Führung eines bewährten Mannes.« – »Die größte Schwierigkeit liegt anderswo,« sagte Frau Möller, »sei es, daß Lindor eine andere liebt, sei es, daß er überhaupt nicht heiraten will, um bei Luzius zu bleiben, den er schwärmerisch verehrt.« – »Wenn es so ist, laßt ihn laufen«, sagte der Kommerzienrat. »Einen Bettler kann Isolde allenfalls heiraten, einen Narren nicht.«
Die Höhe des Sommers war überschritten, als eine päpstliche Bulle veröffentlicht wurde, welche überall das größte Aufsehen erregte. Der Papst erklärte darin, daß er von dem Sterne Mars, der in nicht allzu ferner Zeit von der Erde aus befahren werden würde, hiermit Besitz nehme. Damit die jungfräuliche Welt im Himmelsraum ein Paradies bleibe, unbefleckt von den Lastern der entarteten Erde, wolle er mit segnender Hand das schützende Zelt des Christentums darüber ausspannen. Zum Zeichen dieser Gesinnung wolle er den Stern, der bisher den Namen des greulichen Kriegsgottes geführt habe, umtaufen und Pax nennen; denn er solle eine Stätte des Friedens werden. Gleichzeitig begründe er einen neuen Orden, welcher die Aufgabe habe, die Paxbewohner zum Christentum zu bekehren, und nenne diese Ordensbrüder Paxianer. Sie würden bis zur Überfahrt anderweitig entsprechend beschäftigt werden. Die Bulle wurde nach ihren Anfangsworten »Usque ad fines et ultra« genannt.
Herr Nickelson schrieb an Strowisch voll Entrüstung, daß der Papst in seiner prahlerischen Bulle den Namen der Amach nicht einmal genannt habe, welche ihn auf den Gedanken der Kolonisierung des Mars gebracht habe, und äußerte die Meinung, daß Gegenmaßregeln getroffen werden müßten. Er habe, wie Strowisch sich erinnern werde, anfänglich nichts gegen eine Teilnahme des Papstes einzuwenden gehabt, im Gegenteil sie begrüßt, aber als Deutscher und Patriot könne er es doch nicht leiden, daß ein Ausländer die Leitung dieser außerirdischen Beziehung an sich reiße. Der Papst sei nun einmal Italiener, und es liege auf der Hand, daß Italien mit seiner neugebackenen Industrie Deutschland vom wohlerworbenen Markte verdrängen wolle.
Da es gerade ein Sonntag war, als der Kommerzienrat in Breslau, wo er sich eben aufhielt, diesen Brief erhielt, ging er in die nächste Kirche, um die Lage zu überdenken. Man war beim Absingen des zweiten Gesanges, nämlich: O Herr vom Himmel sieh darein! als ihm der Einfall kam, ob sich nicht jener Luzius, von dem seine Schwester so häufig gesprochen und den er auch selbst flüchtig kennen gelernt hatte, als Gegenspieler des Papstes würde gebrauchen lassen. Der Mann hatte, obwohl er ihn als Landstreicher anzusehen geneigt gewesen war, keinen ungünstigen Eindruck auf ihn gemacht: er schien weder ein Pietist noch ein Dummkopf zu sein. Vielleicht, dachte Strowisch, verfügte er wirklich über außerordentliche Kräfte, wenn er auch nicht gerade der wiedergeborene Christus war, was ja aber auch möglich sein konnte. Strowisch hatte den Grundsatz, sich auf solche Fragen nicht einzulassen; in seinem Elternhause hatte man Christus nach dem Katechismus für einen Gott angesehen, wobei er sich nie etwas hatte denken können, andere hielten ihn für einen jüdischen Rabbi mit etwas Kenntnis griechischer Philosophie, ihm sollte das gleich sein. Wenn aber ein Christus auftrat, der Kranke heilte und nebenbei die sündige Menschheit erlöste, so war nichts dagegen zu erinnern, und man konnte das fast als eine Art von Beruf ansehen und mit einem solchen Menschen wohl verkehren. Luzius hatte ganz vernünftig gesprochen, Strowisch hatte in Gesellschaft manchen Dichter und Kapellmeister kennen gelernt, der ihm viel aufgeblasener und viel unpraktischer erschienen war. Warum sollte er einen solchen Mann nicht an die Spitze einer Gesellschaft bringen, die teilweise sogar religiösen Charakter hatte? Ebensogut, wie man abgesetzte Fürsten und Fürstinnen zu Protektoren von mancherlei Veranstaltungen machte, konnte er einen Mann wählen, der viel von sich reden machte und in gebildeten Kreisen für heilig galt. Immer mehr leuchtete ihm ein, daß es die Amach sehr fördern müsse, wenn der im Volk und bei den Damen beliebte Luzius dafür einträte; und er sagte sich, während er mit gesenktem Kopf, den Hut in der Hand, unter Glockengeläute die Kirche verließ, daß, es möge zu erklären sein, wie es wolle, der Besuch des Gottesdienstes anregend auf seinen Geist wirke. Sehr befriedigt ging er nach Hause und unterbreitete in einem längeren Brief Herrn Nickelson seine Gedanken, bat ihn aber, keinen Schritt in dieser Angelegenheit zu tun, bis er selbst käme, was bald der Fall sein würde. Von seiner Schwester erfuhr er, daß Luzius augenblicklich nicht in Düren sei. Er habe niemandem von seiner Abreise Mitteilung gemacht, sei aber plötzlich verschwunden, auch seine Jünger wüßten nicht wohin. Die wunderlichsten Gerüchte gingen darüber um: es gebe Leute, die glaubten oder sich so anstellten, als glaubten sie, daß er wie Elias auf einem Wagen gen Himmel entführt sei.
So unbekannt, wie angenommen wurde, war Adelharts Aufenthalt doch nicht. Lindor begleitete ihn an die Bahn, als er abreiste; es war vor Tage, und die Straßen, durch die sie gingen, lagen da wie ein Bild jenseit des Lebens. »Ich habe dich wieder einmal für mich,« sagte Lindor, seine zärtlichen Augen in die des Freundes senkend, »wenn auch nur für Minuten. Ach, die glückliche Zeit, als wir noch allein miteinander waren!« – »Eine jede Zeit hat ihr eigenes Glück und ihre eigenen Schmerzen«, sagte Luzius. »Ist es nicht auch jetzt schön? Die Gestaltung des Lebens ist so unbegreiflich reich, daß man zu jedem seiner zahlreichen Geschöpfe eine besondere Beziehung haben kann, die keine andere beeinträchtigt. Fühlst du mein Herz schwächer als sonst? Entziehen sich dir etwa die Gedanken oder Empfindungen, die du vorher als dein eigen fühltest?« Lindor schwieg und besann sich. »Du entziehst mir nichts,« sagte er nach einer Weile; »aber ich fühle nicht mehr so, was du mir gibst, weil du anderen dasselbe oder mehr gibst. Ich weiß, daß es meine Schuld ist; aber ich kann nicht anders.« – »Du Sonderbarer,« sagte Luzius, »gibst du denn mir mehr, als du geben kannst, und gibst du nicht auch andren, was sie von dir aufnehmen können?« Lindor schüttelte heftig den Kopf. »Dir, nur dir gebe ich mich ganz,« beteuerte er, »ja wenn ich es recht bedenke, habe ich nie einen Menschen außer dir geliebt. Ich kann nur dich lieben, weil du über allen andern stehst, weil du vollkommen bist.« Aus Luzius' goldnen Augen, die heute müde waren, fuhr ein dunkler Blick über Lindor. »Das ist keine Liebe, die nur das Vollkommene liebt«, sagte er. »Ich glaube nicht, daß es so ist; aber wehe dir, wenn es wahr wäre, daß du keinen Menschen außer mir liebtest oder lieben könntest. Ruft dich nicht rings die Kreatur mit tausend sehnenden Armen: liebe mich, denn ich bin arm und schwach!? Komm, sage mir, daß du töricht geschwatzt hast. Und endlich sage ich dir, daß ich gerade in diesen Tagen erfahren habe, wie wenig ich vollkommen bin. Mich schauderte vor den Menschen; es war keine Glut mehr in mir.« Lindor war noch blasser geworden, als er für gewöhnlich war, und schwieg. Sie waren inzwischen beim Bahnhof angekommen; Luzius warf einen Blick auf die Uhr und wendete sich dem Schalter zu, um die Karte zu lösen. Lindor legte die Hand auf seinen Arm und sagte leise: »Adelhart, nimm mich mit!« Luzius umarmte und küßte ihn. »Lieber,« sagte er, »verarge es mir nicht, wenn ich für ein paar Tage allein bleibe. Ich sagte dir, daß ich nicht vollkommen bin: ich muß mich ausruhen.« Nachdem sie sich getrennt hatten, ging Luzius dem sich entfernenden Freunde noch einmal nach und sagte: »Lindor, lasse dich nicht zu weit mit Vereinen und Parteien ein! Bewahre deine Freiheit!« In Lindors Zügen drückte sich verhaltener Widerstand aus. »Auch Roland hat mit Parteien zu tun«, entgegnete er. »Warum hältst du mir das vor?« sagte Luzius traurig. »Ich würde auch zu ihm immer sagen: wahre dein Gewissen.«
Im Wagen wurde Luzius bald der Mittelpunkt eines Streits. Ein ältlicher Mann nämlich, augenscheinlich ein Bauer, war im Begriff sich zu setzen, als er bemerkte, daß er dort neben zwei Jüdinnen sein würde, worauf er auffällig auf den Boden spuckte und einen Platz Luzius gegenüber wählte. Diejenigen, welche den Vorfall beobachtet hatten, gaben durch Kichern ihren Beifall zu erkennen. »Schäme dich!« sagte Luzius, »und ihr andern schämt euch, daß ihr ihm zulacht, anstatt ihn zur Ordnung zu rufen. Was haben dir jene armen Frauen getan? Leicht möglich, daß sie besser sind als du.« Der Bauer, der ein Mann von Humor war, sagte: »Bist du vielleicht ein Bolschewist? Du hast so etwas Russisches an dir. Dann müßte ich noch einmal ausspucken und den Platz wechseln.« Es folgte ein allgemeines Gelächter, in das auch die beiden jüdischen Frauen einstimmten. »Ich bin kein Bolschewist,« sagte Luzius, »du kannst meinetwegen sitzen bleiben. Überlegen muß ich mir aber, ob ich mit Ehren neben einem Bauern sitzen kann.«
»Oho,« sagte der Mann, »in besserer Gesellschaft kannst du gar nicht sein. Unser Handwerk ist von Gott selbst eingesetzt. Vater Adam ward ein Bauer, nachdem er aus dem Paradiese geworfen war. Die Geldgeschäfte dagegen sind vom Teufel erfunden, und wer die Geldmacher bekämpft, tut, was Gott lieb ist.« – »Und was treibt ihr anders als Geldgeschäfte?« entgegnete Luzius. »Warest du nicht eben zu dem Zweck in der Stadt?« Jetzt wurde der Bauer, der sich bis dahin als ziemlich umgänglich erwiesen hatte, grob und böse wie ein Hund, den man auf den Schwanz getreten hat. Ob die Städter sich einbildeten, daß sie draußen Tag und Nacht schuften sollten, damit jene umsonst Butter und Schmalz fräßen? Seinetwegen könnten sie verrecken in ihren Hurentempeln. Sie auf dem Lande wollten auch leben und zwar gut leben, denn es stehe geschrieben, daß man dem Ochsen, der dresche, das Maul nicht verbinden solle.
»Grobheit beweist nur,« sagte Luzius, »daß triftige Gründe fehlen. Sagt die Wahrheit, wohin gehen eure Eier, eure Milch und Butter? An den Meistbietenden, und wäre es der Franzose oder der Teufel selbst. Euren armen Nachbar seht ihr hungern und verhungern, und wenn ihr ihm mit einer Schüssel Kartoffeln das Leben retten könntet, gebt ihr sie doch lieber euren Schweinen, damit sie desto eher fett werden. Wenn das keine Geldgeschäfte sind, so ist es doch auch keine christliche Nächstenliebe.« Die Umsitzenden lachten, und auch der Bauer grunzte mit. »Ich muß für mich sorgen, denn ein anderer tut es nicht, Gott sei es geklagt«, sagte er. »Ihr habt es auch um niemand verdient«, erwiderte Luzius. »Versuche einmal gut zu handeln, und du wirst sehen, wieviel Gutes unscheinbare Hände und warme Herzen auch dir tun.« Allmählich hatten sich alle Insassen des Wagens um ihn gedrängt und hörten ihm aufmerksam zu, während er sprach und erzählte. Eine Frau sagte: »Es kann nicht anders sein, ihr müßt der sein, den sie den neuen Christus nennen!« Das störte ihn; bei der nächsten Haltestelle stieg er aus und suchte sich einen andern Wagen.
Am Nachmittage stieg er bei einem kleinen Gebirgsort der Eifel aus. Nachdem er seinen Ranzen in einem Gasthause abgelegt hatte, stieg er eilig eine Anhöhe hinauf, die mit Tannen und Buchen bewachsen war. Nach einer halben Stunde etwa hörte der Wald auf, und die Aussicht auf einen Bergrücken eröffnete sich, der unten mit niederem Gesträuch und Kraut bewachsen, oben aber kahl war. In etwas mehr als einer halben Stunde kam er hinauf: immer schneller ging er, er stürzte sich, als müsse sein Schreiten in Fliegen übergehen. Oben sauste ein starker Wind und bog die zerfetzten Zweige einer alten Fichte, die vereinzelt neben aufgeschichteten Granitblöcken stand; sie sahen aus wie das Grabmal eines Ruhmgekrönten der Vorzeit. Von hier schweifte der Blick weit durch die bläuliche Septemberluft über Hügel und sanftrauschende Wälder; man hörte nichts als hie und da den wilden Pfiff eines Raubvogels oder das Knarren der windbewegten Fichten. Luzius blieb stehen und breitete die Arme aus. Da bin ich, rief es in ihm, bei euch, meine Brüder! Gefangen war ich, gebunden, geknechtet unter den Menschen, ich Sturm! ich Flamme! Nehmt mich auf, den Sohn der alten Götter, laßt mich frei mit euch brausen. O meine Einsamkeit, wie singst du auf unsichtbarer Harfe, wie duftest du nach welken Rosen! Wiege du mein krankes Herze und füll es mit feierlichen Gedanken! Er warf sich neben den Granitblöcken auf die Knie, schlang den Arm um die Steine und preßte die Stirn dagegen; so blieb er lange.
Plötzlich hörte er ein Geräusch; er richtete sich auf und sah etwa zwanzig Schritte entfernt eine schlanke Gestalt stehen. Es fuhr ihm durch den Kopf, das könnte Lindor sein, der ihm gefolgt wäre; da erkannte er schon den Direktor der Fak, Herrn Leisegang, der im Begriff war eine photographische Aufnahme zu machen. Wie ein Tiger mit gelben sprühenden Augen sprang er auf den jungen Mann zu, warf den Apparat um und trat darauf. Einen Augenblick glaubte Leisegang, der Wütende würde sich auf ihn werfen und ihn erwürgen; aber er besann sich und sagte: »Es tut mir leid, wenn ich Ihren Apparat beschädigt habe; aber es ist Ihre Schuld. Warum ließen Sie mich nicht in Frieden?« Herr Leisegang verbeugte sich und sagte: »Ich bitte sehr um Entschuldigung, daß ich mir herausnahm, Ihnen zu folgen und einige Aufnahmen zu machen. Um diese wäre es schade, wenn sie zerstört wären, nicht um den Apparat; ich würde Ihnen gern auf Schritt und Tritt folgen, auch ohne einen solchen.« Freundlicher als vorher sagte Luzius: »Sie führen ihren Namen mit Recht. Sie müssen es geschickt angestellt haben, daß ich Sie nicht bemerkte.« Herr Leisegang lächelte. »Im Eisenbahnzuge«, erklärte er, »waren Sie immer von vielen Menschen umgeben und in Anspruch genommen, hier durch Natureindrücke. Sie sind offenbar ein Liebhaber der Natur; ich bin es auch.« Luzius konnte nicht umhin, einen wohlwollenden Blick auf die schmächtige Gestalt des unerschütterlichen Photographen zu werfen, der seinen Apparat untersuchte und feststellte, daß nur das Gestell zerbrochen war. »Ich freue mich,« sagte er, »es wäre wirklich schade um die außergewöhnlich schönen Aufnahmen gewesen.« Die Dämmerung fiel ein und wischte den letzten Goldglanz vom weißen Himmel. Die beiden gingen schweigend abwärts, begleitet von der leiser werdenden Stimme des Windes, die der Erde ein Lied von Schlaf und Vergessen zu singen schien.
Sie fanden das Dorf in ungewöhnlicher Bewegung. Ein Mann, der sich als französischer Bevollmächtigter ausgewiesen hatte, verlangte Einlaß in eine alte Kirche, welche zur Seite des Hauptplatzes lag, weil in derselben Waffen verborgen gehalten würden. In seiner Begleitung befand sich außer einem Franzosen der Mann, welcher ihnen das Waffenlager verraten hatte, ein schlechtgekleideter Mensch, der sich ängstlich dicht an die Fremden hielt. Der Pfarrer und der Bürgermeister erklärten, daß die Kirche uralt sei und seit einigen Jahren wegen Gefahr des Einsturzes nicht mehr benutzt werde. Sie würde abgetragen sein, wenn sie nicht als Kunstdenkmal wertvoll sei, man hoffe, allmählich das Geld zu einer Restauration aufzubringen. Eine Gesellschaft für niederrheinische Denkmalpflege habe sich kürzlich hineinführen lassen, seit dem Tage sei der Schlüssel verlegt. Waffen seien dort bestimmt nicht versteckt; denn die Herren hätten alle Winkel untersucht und würden sie gewiß gefunden haben. »Jene Herren«, sagte der Franzose in gebrochenem Deutsch, »haben die Waffen vielleicht auch für wertvolle Kunstdenkmäler gehalten. Ich will mit eigenen Augen urteilen und bitte, die Schlüssel sofort zu finden.« – »Ich will wohl suchen,« sagte der Pfarrer, ein verhutzeltes Männchen, »aber ich sage voraus, daß es nichts helfen wird.« – »So brecht die Tür auf!« rief der Franzose gereizt, »ich will ohnehin nicht mehr Zeit verlieren.« Dies war der Augenblick, wo Luzius und Leisegang auf dem Marktplatz eintrafen. Da Luzius sich erkundigte, was es gebe, wandte sich der Bürgermeister, ein großer magerer Mann mit klugen grauen Augen, an ihn, erklärte ihm die Lage und fragte ihn, ob es nicht ein Jammer wäre, die Türe zu zerstören. Man könne doch warten bis zum nächsten Tage, da könne man aus der nächsten Ortschaft einen Schlosser holen, hier sei keiner, der könne das Schloß herausnehmen oder mit seinen Instrumenten öffnen. Ohnehin sei ja an der ganzen Sache nichts, der Angeber, er kenne ihn wohl, sei ein böser, gehässiger Mensch, der ihnen Widerwärtigkeiten bereiten wolle.
Der Bürgermeister hatte seine Rede noch nicht beendet, als aus der Gruppe neugierig bewegter Menschen ein Schuß fiel und gleich darauf der Mensch, von dem der Bürgermeister sprach, getroffen umsank. Es entstand ein allgemeiner Tumult, die beiden Franzosen zogen Revolver aus der Tasche, der Bürgermeister stellte sich vor sie hin, sei es, um sie zu schützen, sei es, um sie an einer raschen Tat zu hindern. »Ich mache Sie verantwortlich, Bürgermeister!« schrie der Franzose. »Ich sehe, was für eine Gesinnung hier herrscht. Ich mißtraute dem Unglücklichen, der hier liegt, und ließ ihn deshalb nicht von meiner Seite, nun sehe ich, daß er recht hatte. Hinein in die Kirche will ich, bringt den Schlüssel oder öffnet mit der Axt! Und wenn der Mörder sich nicht stellt, soll das ganze Dorf für ihn bluten!« Mit einem Sprunge war Luzius vor der Kirchentür und deckte sie mit ausgebreiteten Armen. »Genug!« rief er. »Euch soll die Tür sich nicht öffnen, und euch soll der Mörder sich nicht stellen. Er bekenne seinem Gott und suche bei ihm Vergebung. Dieser Schuß soll gefallen sein, wie eine Lawine von den Bergen rollt und Menschen verschüttet. Mehr Blut aber soll nicht fließen, darum entfernt euch, damit ihr nicht Schuldlose zu Mördern macht. Euer Leben ist in unserer Hand; wer den Kopf in den Rachen des Löwen steckt, kann ihn verlieren.«
»Rachen des Löwen!« schrie der Franzose außer sich. »Meuchlerische Kerle seid ihr. Ich mache Sie verantwortlich, Bürgermeister! Es soll kein Stein auf dem andern bleiben, wenn uns ein Haar gekrümmt wird!« Der kleine Pfarrer lachte und sagte auf plattdeutsch: »Als unser Herr Christus starb, bebte die Erde. So ein Franzose kann doch dasselbe verlangen, wenn ihm ein Haar gekrümmt wird.« Daß er dies nicht verstand, reizte den Franzosen um so mehr. »Macht voran!« rief er, »in die Kirche will und muß ich, wäre es nur, damit ihr gehorchen lernt!« Luzius stellte sich von neuem vor die Kirchentür. »Törichte Prahler,« sagte er, »daß ihr noch lebt, dankt ihr unserer Großmut. Wer sucht euch hier, wenn ihr verschwindet? Der einzige Mund, der uns verraten könnte, ist stumm. Nicht aus Furcht bezähmen wir uns, sondern weil Gott sich die Rache vorbehalten hat. Eine allzu schnelle Hand hat vorhin in sein Recht eingegriffen, ich möchte nicht, daß das wieder geschähe. Wir lassen euch unverletzt gehn, wenn ihr jetzt geht.« Kaum hatte Luzius vollendet, als ein grelles Licht aufflammte. Die Franzosen, welche es für ein verabredetes Signal hielten, schrien laut auf und packten den Bürgermeister am Arm, der seinerseits zusammenfuhr. »Ich bitte um Verzeihung,« sagte Herr Leisegang mit ernster Miene und angenehmer Stimme, »es hat gar nichts zu bedeuten. Ich habe diese Szene für die Filmgesellschaft Fak photographiert, und glaube, daß die Aufnahme gut gelungen ist.« Die Franzosen sahen sich zweifelnd um. »Was geht hier vor?« sagte der eine, »wird hier ein Theater aufgeführt?« Diese Worte brachten Luzius auf einen kecken Gedanken. »In der Tat,« sagte er, »die Herren haben an einer Szene in einem Theaterstück mitgewirkt, und wir sind Ihnen zu Dank verpflichtet. Wir pflegen das so einzurichten, damit es natürlicher gerät. Das Stück heißt »Der Brudermord unterm Kreuz« und spielt zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Einer unserer Kollegen hat sich die Freiheit genommen, Sie, um diese Szene recht dramatisch zu gestalten, hierherzulocken; wir bitten um Entschuldigung.« Der Franzose faßte sich an den Kopf. »Und das hat der arme Mann mit dem Tode büßen müssen?« fragte er. »O nein,« sagte Luzius, »er ist wohlauf, nur daß er sich im Fallen etwas verletzt hat. Das kommt vor. In ein paar Tagen kann er wieder laufen.« Der Franzose blickte, noch nicht überzeugt, in die fest auf ihn gerichteten Feueraugen und entschloß sich dazu, den dargebotenen Ausweg zu benutzen, wie sich die Sache auch verhalten möge. »Ihr habt wunderliche Gewohnheiten,« sagte er, »aber Künstler läßt man gewähren. Wann geht ein Zug ab?« Der Bürgermeister gab Auskunft und bot seinen eigenen Wagen an, die Herren zum Bahnhof zu führen, der etwa eine Viertelstunde vor dem Ort lag. Es sei gerade noch Zeit, sagte Luzius, einen Imbiß zu nehmen und eine Flasche Wein zu trinken, die Fremden möchten sich als Gäste der Truppe betrachten und die Einladung annehmen zum Zeichen, daß sie versöhnt schieden. Während der Wagen angeschirrt wurde, saßen die Franzosen mit Luzius, Leisegang und dem Pfarrer im Gasthause, welches der Kirche gegenüberlag, und nahmen ein Abendessen ein, wie es gerade vorhanden war. Über den Geschichten merkwürdiger Aufführungen, die Luzius auftischte und in die Herr Leisegang wie eine zweite Stimme verständnisvoll einstimmte, erheiterten sich die beiden Fremden bald, und da die Wirkung des rasch getrunkenen Weines dazukam, schien es ihnen, als hätten sie wirklich eine Rolle in einem grotesken Abenteuer mitgespielt, und sie verabschiedeten sich händeschüttelnd. Es war unterdessen Nacht geworden, die Sterne schwammen groß und weich in der Tiefe des Himmels. Als das Rollen des abfahrenden Wagens verklungen war, wendete sich Luzius an den Pfarrer, der neben ihm stehend seine Pfeife stopfte, und sagte: »Gib nun den Schlüssel heraus, Pfarrer, damit wir die Waffen holen und im Walde vergraben. Denn es wäre möglich, daß diese Leute, wenn sie morgen mit klarem Kopf aufwachen, sich besinnen und wiederkommen, diesmal mit sicherem Geleit.« Der Pfarrer nahm die Pfeife aus dem Munde und starrte Luzius aus seinen kleinen Augen an. »Ihr seid der seltsamste Vogel, den ich je habe singen hören«, sagte er. »Ich habe keinen Schlüssel und weiß von keinen Waffen. Wer in des Teufels Namen sollte Waffen in meiner Kirche versteckt haben?« Luzius stutzte und dachte nach. »So öffnen wir die Kirche mit Gewalt«, sagte er. »In der Schmiede werde ich Werkzeuge finden, mit denen ich das Schloß sprengen kann.« Bald war der Platz voll von Menschen, die sich in die Häuser zurückgezogen hatten, aber nicht zu Bett gegangen waren. Es ergab sich, daß in der Krypta zwischen alten Särgen, Brettern und Gerümpel wirklich eine nicht unerhebliche Menge von Waffen verborgen war. »Einer hat gewußt, wie das zusammenhängt,« sagte Luzius, während er gebückt das Licht aus einer großen Laterne über die Flinten und Messer huschen ließ, »den habt ihr stumm gemacht. Er wußte, daß die Waffen hier waren, auch wer sie dahin geschafft hat.« – »Der«, sagte der Pfarrer, »war ein Erzschelm und gebrannter Taugenichts, er hatte Geld von den Kindern des Teufels, den Bolschewisten in Rußland. Gearbeitet hat er nie wie andere ehrliche Leute; und wenn er Waffen versteckt hat, so sollten sie nicht dienen, das liebe Vaterland zu beschützen.« Der Bürgermeister, der in seinem Wäglein von der Bahn zurückkam, bestätigte die Aussage des Pfarrers. Der Verstorbene habe Genossen im Dorf und in der Umgegend gehabt, die Waffen könnten nur von ihnen zu ihren bösen Zwecken verborgen gewesen sein. Warum es jener selbst den Franzosen angegeben habe? In einer so schmutzigen Seele könne man nicht lesen, vielleicht hätte er wieder Geld gebraucht, vielleicht hätte er ihm, dem Bürgermeister, und dem ganzen Dorfe einen Possen spielen wollen. »Wenn es so ist,« sagte Luzius, »wollen wir die Waffen nicht vergraben, sondern zerstören.« Sofort entstand geschäftige Tätigkeit, ein großes Feuer wurde entzündet, die Waffen wurden aus der Krypta heraufgetragen und in die hochauflodernden Flammen geworfen. »Wäret ihr einig,« sagte Luzius, »so hättet ihr die guten Waffen behalten können, damit sie in der Not von tapferen Männern und Frauen gebraucht werden können. Gott hat den Tieren Waffen gegeben, auch die Menschen sollen sie führen können, um Schaden von sich abzuwehren. Solange ihr euch gegenseitig nach dem Leben trachtet, seid ihr der Waffen nicht wert. Schuld habt ihr alle. Lehrte der Hohn und Übermut der Feinde euch nicht, euere Brüder zu ertragen, wer soll's euch lehren? Nicht am Haß des Feindes, am eigenen Haß werdet ihr untergehen.« In dieser Weise sprach er, bis die Flammen erloschen waren, während Leisegang unbeachtet photographierte und der Pfarrer mit leise krächzender Stimme alte Kirchenlieder absang. Dann trugen junge Burschen die unbrauchbaren Überreste der Waffen in den Wald und vergruben sie dort. Der Pfarrer hatte noch Lust auf ein Glas Wein, aber Luzius dankte schweigend mit der Hand und ging schlafen; es war Mitternacht vorüber.
Strowisch betrat mit Herrn von Marquirolle das Opernhaus, wo der Troubadour gegeben wurde. »Das ist ein Freundschaftsopfer, das ich Ihnen bringe,« sagte er, während sie in der Garderobe ablegten, »ich gehe nie in eine Oper, ausgenommen etwa Tristan und Isolde, daran habe ich mich gewöhnt. Musik bekommt mir nicht, sie macht mich seekrank im Kopfe.« Der Franzose sah sich unruhig um und sagte: »Sprechen wir doch lieber Deutsch! Ich möchte Ihnen zeigen, wie gut ich Ihre schwierige Sprache beherrsche.« – »Auch gut,« sagte der Kommerzienrat, »ich habe nichts gegen meine Muttersprache. Um was handelt es sich eigentlich?« – »Um ein Geschäft, das ich mit Ihnen abschließen möchte«, antwortete Marquirolle. »Was für ein glücklicher Zufall, daß Sie hier sind, und daß ich Ihnen auf der Straße begegnete. Sie ersparen mir eine weite Reise.« – »Weite Reise!« gab Strowisch zurück und knipste geringschätzig mit den Fingern. »Die Erde ist eine mittlere Großstadt mit lebhaftem Vorortverkehr.« Die Musik ertönte, der Vorhang rollte auf. Dämonische Akkorde und ungestüme Rhythmen verkündeten ein abenteuerlich tragisches Schicksal. Eine stolze Leonorenfigur im weißen Atlaskleide sang mit edler Stimme die Geschichte ihrer geheimnisvollen Liebe, die zu ergänzen sich von fern das zärtliche Lied des unsichtbaren Manrico erhob. Es klang, wie wenn aus dem Kelche der blauen Nacht ein überirdischer Duft den dunklen Garten überströmte. Immer stiller war es im Zuhörerraum geworden, man hörte das leise Knistern eines Theaterzettels in unwillkürlich bewegten Händen. Der Franzose, der mit dem Kommerzienrat in einer zweiten Reihe des ersten Ranges saß, wendete sich mehrmals nervös nach rückwärts. »Wer sitzt hinter uns?« fragte er leise den Kommerzienrat, als der Tenor geendet hatte. »Kenne sie nicht,« sagte Strowisch, einen Blick hinter sich werfend, »offenbar kleine Leute.« In der Pause gingen sie in dem teppichbelegten Gange auf und ab, der Franzose mit schnellen Schritten, als wolle er verhindern, daß der Kommerzienrat stehen bleibe und Bekannte anspreche. »Haben Sie hier viel Freunde?« fragte er. »Übrigens ist es gleichgültig. Aber was mich betrifft, so möchte ich lieber keine Bekanntschaften machen. Man weiß nicht, ob es den Leuten erwünscht ist. Was glauben Sie?« – »Ach warum nicht?« antwortete Strowisch. »Das hat ja keine Konsequenzen, so eine Bekanntschaft in der Theaterpause. Wollen Sie mir nun nicht sagen, um was für ein Geschäft es sich handelt? Hier wäre eine gute Gelegenheit, darüber zu sprechen.« Das Zeichen zum Beginn des folgenden Aktes wurde gegeben. Die Sänger wären nicht übel, flüsterte Marquirolle dem Kommerzienrat zu, die Primadonna wäre sogar schön, das Stück freilich abgeschmackt. Während der flackernde Zigeunerchor vorüberrauschte und die rächerische Leidenschaft der verhängnisvollen Zigeunerin den jungen Liebenden einzuhüllen und an ihren vernichtenden Flammen zu gleicher Wut zu entzünden suchte, schrieb der Franzose mit Bleistift einige Worte in das Notizbuch des Kommerzienrats, das dieser ihm hingereicht hatte. Strowisch nahm ihm das Büchlein aus der Hand und las. Die Sache war die, daß Herr von Marquirolle einen großen Posten Maschinengewehre der neuesten Art bei Strowisch bestellen wollte, falls er sie billiger bekäme als anderswo. Strowisch durchschaute, daß es jenem auf die Beschaffenheit der Ware ankäme, von welcher er annahm, sie wäre die bestmögliche, und daß er deshalb hohe Bedingungen stellen könne. Nachdem er einige Zahlenreihen aufgestellt hatte, durchstrich er sie wieder und schrieb die Frage auf: Warum bestellt die Regierung nicht unmittelbar bei mir? Der Franzose zuckte die Achseln und antwortete: »Das ist ihre Sache. Sie zieht es vor, bei einer einheimischen Firma zu bestellen, und diese bedient sie so gut sie kann.« Natürlich, dachte der Kommerzienrat; wozu stellte ich auch die Frage? Die Musik verwirrt mich. Was geht es mich an, wieviel er bei der Sache verdient, wenn ich nur genug verdiene. Er zog noch ein Büchlein aus der Tasche und vertiefte sich in Zahlenreihen und Notizen, ohne dem überschwenglichen Entzücken der Leonore Beachtung zu schenken, das wie Nachtigallenschlagen über die entsagungsvollen Chöre der Nonnen hinweg die verdunkelte Bühne durchflutete. »Stahl ist in den letzten Monaten plötzlich in die Höhe gegangen«, sagte der Kommerzienrat in der Pause. »Das wird sich bald ändern,« entgegnete der Franzose, »da man in Japan, wie Sie wissen werden, ein neues Verfahren entdeckt hat.« – »Lassen wir Japan beiseite!« sagte der Kommerzienrat. »Das neue englische Verfahren ist gut, verteuert aber die Ware. Bei uns wird jetzt etwas ausprobiert, was aber Monate dauern wird.« »Warten kann ich nicht«, sagte der Franzose. »Übrigens weiß ich aus guter Quelle, unter welchen Bedingungen Sie täglich nach China geliefert haben.« Der Kommerzienrat war im Begriff zu entgegnen, als der Vorhang aufging und die Zuhörer zurechtrückten, mit Spannung die Stretta des gefeierten Tenors erwartend. »Da fängt, weiß Gott, der Kladderadatsch schon wieder an«, sagte er ärgerlich. »Nicht doch!« flüsterte Marquirolle; »die Sängerin ist unvergleichlich. Wer bezahlt sie?« – »Was weiß ich?« erwiderte der Kommerzienrat ebenso leise. »Übrigens ist sie verheiratet.« Dieser Umstand regte den Franzosen an. »Hören Sie,« sagte er in der nächsten Pause, »wenn sie verheiratet ist, könnte man sie vielleicht haben. Der Ansatz ihres Busens ist göttlich. Ist ihr Mann vom Theater?« – »Mein Lieber,« sagte Strowisch, »ich würde an Ihrer Stelle vorsichtig sein, das ist eine zu exponierte Stellung.« Schaudernd schlugen die Töne des Miserere an die bloßen Saiten des Herzens. »Warum drehen Sie sich immer um?« fragte Strowisch seinen Nachbar. »Was gibt es?« Dieser fuhr zusammen und trocknete sich mit dem Taschentuch die Stirn. »Es ist verwünscht heiß hier«, sagte er. Man gab durch leises Zischen zu verstehen, daß das Geflüster störe, worauf die Schuldigen schwiegen. »Wollen wir nicht gehen«, schlug Marquirolle vor, als der Vorhang gefallen war. »Ihnen gefällt ja die Musik ohnehin nicht.« – »Nein,« sagte Strowisch, »nun will ich auch bis zum Schluß dableiben. Nehmen Sie in Ruhe Abschied von Ihrer Schönen mit dem klassischen Busen.«
Beim Verlassen des Theaters nahm Marquirolle den Arm des Kommerzienrats, der den Schritt über den Platz in der Richtung auf ein elegantes Restaurant lenkte. »Antworten Sie mir aufrichtig,« sagte er, »glauben Sie, daß mein Leben hier in Gefahr ist?« – »Ihr Leben in Gefahr?« wiederholte Strowisch erstaunt, indem er stehen blieb. »Gott bewahre. Wie kommen Sie darauf?« – »Es wäre nicht unmöglich, denke ich, daß wir Franzosen hier verhaßt wären«, erklärte Marquirolle. »Natürlich seid ihr das,« sagte Strowisch; »aber deswegen setzt niemand sein Leben aufs Spiel, es müßte denn ein Verrückter sein, und die laufen meistens nicht frei herum.« Die Herren waren inzwischen weitergegangen, traten in das Restaurant ein, setzten sich und bestellten. Auf einer Geschäftsreise in Frankreich, erzählte Marquirolle während des Essens, habe ein Herr ihm kürzlich folgendes erzählt: Einer seiner Freunde sei nach Remscheid gefahren, um gewisse landwirtschaftliche Maschinen einzukaufen, die dort in besonderer Güte verfertigt würden. Er habe zwei- oder dreimal an die Familie geschrieben, dann nicht mehr und sei auch nicht wiedergekommen. Man habe gewartet und gewartet, dann sei einer der Angehörigen nach Remscheid gefahren, um ihn zu suchen oder eine Spur von ihm zu finden, was aber nicht gelungen sei. In dem Gasthaus, das er als seine Adresse angegeben habe, habe man behauptet, nie seinen Namen gehört zu haben; die Polizei habe behauptet, er sei nie angemeldet worden, die Firma, mit der er in geschäftlichen Beziehungen gestanden, ihn nie persönlich gesehen zu haben. Der Unglückliche sei verschwunden und seiner Familie sei nicht das Grab, nicht der Leichnam, nicht eine Locke geblieben, um darüber zu weinen. »Unwahrscheinlich«, sagte der Kommerzienrat. »Jedenfalls wird niemand umgebracht, den man mit Strowisch im Theater oder auf der Straße gesehen hat.« Das Gesicht des Franzosen erheiterte sich, und er lachte. »Das leuchtet mir ein,« sagte er, »ich kann nicht verschwinden, nachdem das Auge des Allmächtigen auf mir geruht hat.« Auch Strowisch lächelte. »Ich glaube,« riet er, »Sie täten besser, Französisch zu sprechen. Woher Sie kommen, merkt doch ein jeder, denn Sie sprechen nicht ganz so gut Deutsch, wie Sie sich einbilden, und das Französische übt nun einmal auf viele einen besonderen Reiz aus. Man ist gewöhnt, sich dadurch imponieren zu lassen.« – »Man weiß in Ihrem Lande das Schöne zu schätzen«, sagte Marquirolle. »Aber auch ich bin kein Kostverächter, und nach dem, was Sie mir gesagt haben, werde ich das nächste Mal, wenn meine Dame singt, wieder in das Theater gehen. Ich werde mich ihr vorstellen lassen und mit einem Handkuß anfangen, vielleicht komme ich weiter.« Er war sehr aufgeräumt und ließ es sich schmecken. »Ich habe Sie gewarnt«, sagte Strowisch. »Eifersucht macht vor einem Franzosen nicht halt. Und warum? Es gibt überall so viel schöne Weiber, für Zahlungsfähige sowohl wie für arme Teufel.« Marquirolle sah nachdenklich lächelnd in sein Glas. »Unser Geschäft wird sich doch realisieren«, sagte er. »Es wäre zu wünschen, daß die beiden edelsten Nationen Europas die alten freundschaftlichen Beziehungen wieder aufnähmen.«
Als Luzius in die Herberge zurückkehrte, fand er nur Simonetti und diesen sehr niedergeschlagen. Roland und Lindor, sagte er, wären fast immer abwesend, sie schienen sich zu meiden. Was ihn selbst betreffe, sei so etwas vorgefallen, wovon er nicht wisse, ob er es als Glück oder Unglück bezeichnen solle, in gewisser Hinsicht sei es jedenfalls ein Unglück, und er habe nicht den Mut, es zu erzählen. Die Geschichte war folgende: Simonettis Frau und Kinder hatten durch eine waghalsige Spekulation das große Vermögen, das er ihnen überlassen hatte, verloren. Seine Tochter, welche jung verheiratet war und inzwischen ein Kind bekommen hatte, war mit diesem gekommen, um seinen Beistand zu erflehen. »Denke dir,« sagte Simonetti, »das hübsche Mädchen, das so elegant und hochmütig war und sich meiner schämte, wenn meine Krawatte nicht richtig zum Anzuge assortiert war, hat weinend meine Hände geküßt; und wenn ich es zugelassen hätte, wäre sie mir zu Füßen gefallen.« – »Du hättest es zulassen sollen«, sagte Luzius. Simonetti wischte sich eine Träne aus dem Auge. »Sie ist mager geworden«, sagte er, »und sieht aus wie ein Kind.« Ob denn ihr Mann nicht arbeiten und verdienen könne, erkundigte sich Luzius. »Der ist ein Maler,« sagte Simonetti, »denn meine Tochter hat aus Liebe geheiratet, anders hätte sie es nicht getan. In zweihundert Jahren bringen seine Bilder vielleicht etwas ein, jetzt kosten sie viel Geld.« Wie er, Simonetti, denn aber helfen wolle, fragte Luzius. Ob er ohne Mittel wieder in das Geschäftsleben hineinkommen könne? Ob er eine Stelle als Buchhalter oder dergleichen suchen wolle? Es werde schon gehen, sagte Simonetti errötend, er könne sich doch eher helfen als Frauen und Künstler. Seine alten Geschäftsfreunde würden schon irgendeinen Weg für ihn finden. Luzius müsse seine Tochter und das Kind kennen lernen. Das Kind habe Augen wie schwarze Kirschen, und wenn es lache, möchte man sich den Finger abschneiden, um ihm zu Willen zu sein. »Ich kann mir denken,« sagte Luzius freundlich, »daß es nicht lange dauerte, bis dein Herz geschmolzen war.« – »Meine Tochter bittet und sieht, daß ich sofort mit ihr heimreise«, hub Simonetti nach einer Pause schüchtern an. »So geh,« sagte Luzius, »da du doch entschlossen bist.« – »Und du bist mir nicht böse?« fragte Simonetti. »Es tut mir leid, dich zu verlieren,« sagte Luzius; »aber ich begreife, daß du deiner Familie helfen willst, da sie sich selbst nicht helfen kann. Sorge nur dafür, daß deine Enkel besser erzogen werden, als du deine Kinder erzogen hast.« Simonetti warf sich in die Brust und sagte eifrig: »Daran zweifle nicht. Ich bin durch dich ein anderer Mensch geworden; jedes Wort, was du gesprochen hast, bleibt mir ins Gedächtnis gebrannt. Und wenn ich sie alle versorgt habe, komme ich wieder zu dir, vorausgesetzt, daß du mich noch haben willst.«
Als Simonetti gegangen war, setzte sich Luzius auf die steinerne Bank im Wirtsgarten, der verlassen in der herbstlichen Mittagssonne summte. Durch die gelben Blätter der Bäume und Gesträuche funkelten Früchte und schlanke Georginen von der zartesten Rosenfarbe bis zum schwärzlichen Burgunderrot. Nach einer Weile kam das Mädchen, begrüßte den wohlbekannten Gast und bemerkte, daß er wohl aussähe, sein Ausflug scheine ihm gut bekommen zu sein. Seine Hand war gebräunt, und in seinen Augen war ein Flimmern, wie wenn sie trunken wären von der bunten Pracht des Oktober oder von dem Überfluß seines eigenen Herzens. Er aß und trank von Wein und Brot, das das Mädchen ihm brachte, und betrachtete dabei die Bäume, die von Schnee bedeckt gewesen waren, als er gekommen war, und die sich nun der mühelos gereiften Frucht erfreuten. Er sah Pflaumen und Birnen, die an den Zweigen verschrumpft oder verfault waren; es schien, als ob die Natur diesen Reichtum zur Lust für sich selbst ausgebreitet hätte. Die Wirtsleute, alt und ohne Kinder, hatten wohl keine Zeit, sich darum zu bekümmern; auch rechneten sie nicht, das war, was Luzius an ihnen gefallen hatte. An einem Strauch hing eine weiße Rose, nicht blühend und auch nicht welk, wie aus Seide gefaltet; ein paar Schmetterlinge hängten sich einen Augenblick daran und flatterten weiter. Eine halbe Stunde mochte Luzius so dagesessen haben, als rasche Schritte sich näherten: es war Roland. Luzius stand auf, und sie umarmten sich. »Wie blaß du aussiehst«, sagte Luzius teilnehmend. »Die Unruhe verzehrte mich,« sagte Roland; »täglich erwartete ich dich oder eine Nachricht von dir mit andern Entschlüssen.« Luzius schob ihm den Teller mit Brot und dem Wein hin, aber Roland dankte und drängte zu einer Antwort. »So höre,« sagte Luzius, »meine Meinung über den Krieg ist immer dieselbe. Löscht einmal die Rache aus. Gefällt es euch, wenn die Polen sich rächen? Und wer hätte mehr Ursache als sie? Nein, es muß von Grund aus anders werden. Ich will versuchen, einen neuen Gottesfrieden zu begründen, in den einzelne Personen, Gesellschaften, Fluren und Äcker, Dörfer und Städte eintreten können. Die Allmacht der Staaten muß durchbrochen werden. Ich werde nach Frankreich gehen und in den Häusern, auf den Straßen und Plätzen zu allen Menschen davon sprechen; denn in Frankreich müßte der Anfang gemacht werden.« Roland lachte bitter. »Man wird dich mit Steinen werfen oder dich auslachen.« – »Mit Steinen werfen vielleicht, auslachen nicht«, erwiderte Luzius. Roland sah ihn an, sein Kopf hatte etwas Gebieterisches und Wildes. Lacht man auch einen Löwen aus, dachte er, wenn er seine furchtbare Stimme erhebt? »Du hast recht,« sagte er, indem er liebevoll des Freundes Hand ergriff, »aber man soll dich nicht steinigen. Die Angst um dich würde mich aufreiben. Mit dir gehen könnte ich nicht: ich folge dir in die Hölle, nach Frankreich nicht. Du würdest aber nicht einmal lebend hinkommen, fürchte ich.« Er sah sich erschreckt um: es schien ihm, als ob der Sand geknirscht habe. »Stellt man mir nach dem Leben?« fragte Luzius. »Es weiß doch niemand, daß ich nach Frankreich gehen will.« – »Sie werden es erfahren,« sagte Roland, »und sie haben sich zu weit mit dir eingelassen; du weißt zu viel.« – »Glaubt ihr, ich würde euch verraten?« fragte Luzius. »Nicht ich,« sagte Roland, »nicht der General! Aber in der Partei sind viele und es sind solche darunter, die dir von Anfang an mißtraut haben. Dich in jedem Augenblick zu schützen, steht nicht in unserer Macht. Glaube mir, wenn man nicht an der Aussicht festgehalten hätte, du würdest dich eines anderen besinnen, wärest du nicht mehr am Leben.« – »Sei unbesorgt,« sagte Luzius, »ich werde auf der Hut sein.« Jetzt wurden langsam schleifende Schritte hörbar, und die dicke Wirtin, die am Stock ging, erschien und setzte sich zu ihren Gästen. »Ihr habt uns Glück gebracht,« sagte sie freundlich, »seht, welch ein Herbstsegen auf unserm Garten ruht.« Luzius stimmte ein, neben der reichen Ernte auch die Wirte preisend. »Solche Wirte lobe ich mir,« sagte er, »die Vögel und Bienen zu Gaste laden. Es schwirrt und summt und zwitschert hier wie in einem Urwald, nur daß die Affen fehlen.« – »Anstatt dessen«, sagte die alte Frau, »werdet ihr bald andere Gäste sehen, die ebenso munter von Ast zu Ast klettern wie die Affen im Urwald.« Sie und ihr Mann, erzählte sie, hätten seit Jahren die Gewohnheit, an einem Tage im Herbst die armen Kinder in ihren Garten zu laden, damit sie sich satt an Früchten äßen und auch mit nach Hause nähmen, soviel sie tragen könnten. Was übrigbliebe, koche sie ein, und das sei meistens noch genug, um manchen Topf zu füllen. In diesem Jahre hätten sie es zu lange anstehen lassen, sie müßten sich nun eilen, wenn die kleinen Gesellen noch etwas vorfinden sollten. Luzius zeigte sich entzückt von dieser Einrichtung. Das wäre etwas für Simonetti, meinte er, der müsse dabei sein, und auch er selbst werde seine Abreise aufschieben, um dies Erntefest mitzufeiern. Ohnehin gehe es ihm zu Herzen, dies Haus und diese Menschen zu verlassen, die ihm lieb geworden wären.
In einer Bar, wo hauptsächlich Personen vom Theater verkehrten, lernte Marquirolle eines Abends Lindor kennen. Er sah mit Unwillen, daß ein schlanker, vornehm aussehender junger Mann mit der von ihm angebeteten Sängerin tanzte und von ihr ausgezeichnet wurde, während sie sonst zurückhaltend gegen ihre Verehrer war, und er beschloß, der Gefahr entgegenzugehen und sich dem jungen Manne vorzustellen. »Sie Glücklicher,« sagte er, nachdem die Bekanntschaft gemacht war, »Sie erfreuen sich der Gunst einer so schönen und edlen Künstlerin.« Lindor wehrte mit der Hand ab. »Freundschaft, nichts weiter!« sagte er. »Mein Herz hat nur noch physiologische Funktionen zu erfüllen, übrigens mache ich keinen Gebrauch mehr davon.« Marquirolle lachte ungläubig. »Lassen wir das Herz beiseite,« sagte er; »aber was täten wir ohne schöne Frauen? wie verbrächten wir unsere Tage, unsere Nächte?« – »Was mich betrifft, so schlafe ich ausgezeichnet«, sagte Lindor. »Fast könnte ich Sie beneiden,« sagte der Franzose, »und doch möchte ich andererseits diese wundervolle Unruhe nicht missen. Fängt ihr Blut nicht an zu kochen, wenn Sie diesen göttlichen Busen sehen?« Lindor lächelte. »Merkwürdig,« sagte er, »daß wir Männer uns für diese komischen Schwellungen begeistern, die nichts weiter als Milchbehälter für Säuglinge sind. Macht das Euter einer Kuh Ihr Herz höher schlagen? Nun freilich, Sie sind kein Ochse; aber im Grunde ist es doch dasselbe.« Marquirolle wußte nicht recht, wie er diese Bemerkungen auffassen sollte, doch schien ihm der junge Mann ziemlich aufrichtig zu sein. »Ja, sehen Sie,« sagte er, »wir Franzosen sind unverbesserliche Enthusiasten. Wir glühen für alles Schöne, für alles Heilige, und daß die Mütter etwas Heiliges sind, das werden Sie doch nicht bestreiten.«
Die Aussage der Sängerin, mit der Marquirolle nunmehr ein Gespräch anknüpfte, bestätigte seine Gleichgültigkeit gegen ihre Reize. »Dieser Mensch«, so sagte sie auf des Franzosen vorsichtige Fragen hin, »hat kein Herz für das Weib. Er kann nicht lieben, darum ist der Verkehr mit ihm so angenehm. Es läßt sich ein vernünftiges Wort mit ihm reden, man hört doch auch gern einmal etwas anderes als Liebesbeteuerungen und Schmeicheleien.« – »So hat er vielleicht ein Herz für den Mann?« fragte Marquirolle. »Nein, o nein, auch das nicht«, entgegnete die Sängerin entschieden. »Es schlägt für die Menschheit. Wissen Sie nicht, daß er der Lieblingsjünger unseres neuen Christus ist?« Sie erzählte Marquirolle, der nichts von diesen Vorgängen wußte, was sie selbst davon gehört und gesehen hatte. »Das ist höchst interessant!« rief Marquirolle aus, »dann ist Herr Lindor Pazifist?« Darauf konnte die Sängerin keine Auskunft geben; sie wisse nur, sagte sie, daß er die Menschheit liebe, und das möge man ja Pazifismus nennen. »Sie verstehen vielleicht unter Pazifismus,« sagte sie schelmisch, »daß man die Franzosen liebt?« – »Die Franzosen und die Frauen,« sagte Marquirolle, indem er ihr die Hand küßte, »denn das sind ja doch die eigentlichen Menschen.«
Sein suchender Blick entdeckte Lindor allein an einem Seitentisch vor einem Glase Likör; eine elegante junge Dame, die ihn augenscheinlich zum Tanzen aufgefordert und die er abgewiesen hatte, zog sich schmollend zurück, als Marquirolle sich näherte. »Kennen Sie«, sagte er, »das heilige Buch der Bücher, die Bibel? Kennen Sie die Geschichte von Saul, der auszog, die Eselin zu suchen und die Königskrone fand? Sehen Sie, so ist es mir gegangen. Sie sind jener Lindor, von dem ich so unendlich viel gehört habe und von dem ich noch viel mehr hören möchte, den ich so sehr wünschte kennen zu lernen!« Lindor sagte, daß er sich gleichfalls gefreut habe, Marquirolle kennen zu lernen, weil er die Franzosen als die kultivierteste aller Nationen stets hochgeschätzt habe. »Daß Sie aber«, fügte er hinzu, »die Frau mit dem göttlichen Busen zur Eselin machen, scheint mir undankbar.« Beide lachten herzlich. »Habe ich nicht ein wenig recht, wenn ich ihren Gatten betrachte?« sagte Marquirolle. »Sprechen wir aber nun von ernsteren Dingen. Ich reise, unter uns gesagt, im Auftrage unserer Regierung mit einer sehr wichtigen, sehr schwierigen und heikligen Mission. Nun ich Sie getroffen habe, hoffe ich, daß ich sie zu glücklichem Ende werde führen können, wenn Sie mich nämlich nicht im Stiche lassen.« Lindor versicherte seine Bereitwilligkeit, der französischen Regierung jeden möglichen Dienst zu leisten. »Wir sind großmütig, wir sind versöhnlich,« sagte Marquirolle, »die Welt weiß das. Wir sind geneigt zu vergeben und zu vergessen, einen Freundschaftsbund mit einem Volke anzuknüpfen, das sich schwer vergangen hat, dem wir aber doch die Hand zu neuer Erhebung reichen als einem Gliede der europäischen Völkerfamilie. Zu diesem Zweck möchten wir uns mit jenem Häuflein edler Deutscher in nähere Verbindung setzen, die stets Anhänger des großen französischen Volkes waren, die das barbarische Abschlachten im Kriege verabscheuen, die aufrichtige Bekenner des Christentums und eines allgemeinen ewigen Friedens sind. Da man weiß, daß diese oft nicht mit Glücksgütern gesegnet sind, denn sie sind von den kriegstreiberischen Machthabern stets zurückgesetzt und unterdrückt worden, und da es schwache Menschen gibt, die durch Not vom rechten Wege abgelenkt werden, hat mir unsere Regierung eine große Summe anvertraut, damit ich sie unter die Anhänger der guten Sache verteile. Wie aber soll ich es anfangen, die Pazifisten kennen zu lernen? Ich möchte nicht den Argwohn erwecken, als wollte ich mich in Deutschlands innere Angelegenheiten mischen, als wollte ich Zwietracht säen, etwa gar bestechen. Sie wissen ja, wie auch die bestgemeinten Schritte durch Nationalisten mißbraucht werden. Gott sei Dank, daß ich Sie gefunden habe! Ich werde getrost alles in Ihre Hände legen.« Lindor machte eine abwehrende Handbewegung. »Alles was Sie wollen,« sagte er, »nur mit Geld möchte ich nichts zu tun haben. Geld ist das einzige auf der Welt, was ich hasse.«
»Man mag es hassen,« sagte der Franzose, »aber man braucht es doch.« »Eben deshalb hasse ich es,« sagte Lindor, »vielmehr ist es mir widerlich. Soviel ich brauche, werde ich immer haben, übrigens lasse ich mich nicht damit ein. Sprechen wir von etwas anderem.« Marquirolle sah erstaunt in Lindors sammetbraune Augen. »Wie Sie wollen«, sagte er. »Vielleicht könnte ich mich mit meinem Anliegen an jenen Herrn Luzius wenden, der der neue Christus genannt wird und dessen Anhänger Sie sind?« Lindors Gesicht verdüsterte sich, sein Gesicht verzog sich schmerzlich bitter. »In dieser Umgebung«, sagte er, »von der Tragödie meines Lebens zu sprechen, ist mir unmöglich.« So könnten sie ja ein anderes Lokal aufsuchen, wo nicht getanzt würde, schlug der Franzose vor. Ihm sei alles recht; wenn Lindor sein Gast in dem Gasthof sein wolle, wo er wohne, werde ihn das besonders freuen. Lindor besann sich und schüttelte den Kopf. Im Grunde, sagte er, stimme alles zusammen, die schmelzende Musik, die halbnackten Weiber, der Alkohol und sein zerrissenes Herz, so grell und grotesk sei das Leben, und so wolle er es auskosten bis auf den letzten Tropfen. Dann erzählte er von seiner Bekanntschaft mit Luzius, von ihrer gegenseitigen Freundschaft, wie sich Roland an sie gedrängt, wie Luzius unter seinen Einfluß geraten und schließlich sogar in Verbindung mit den Kriegsdeutschen getreten sei. Jetzt sei er das Werkzeug einer Gruppe von Rasenden geworden, die neue Kriege entfachen und die sich seiner übermenschlichen Kräfte bedienen wollten, um ein unchristliches Ziel zu verfolgen.
Ob er denn wirklich im Besitz übermenschlicher Kräfte sei? fragte Marquirolle neugierig. Lindor sagte, wie sie zu benennen wären, darüber wolle er nicht streiten, sicherlich wären sie an Menschen der neueren Zeit noch nicht beobachtet worden. Die Kriegspartei hoffe jedenfalls, daß er durch seine Gegenwart die Kriegsmaschinen außer Tätigkeit setze, feindliche Luftgeschwader aufhalte oder zum Sturz bringe, und dergleichen mehr.
»Und glauben Sie denn auch, daß er solcher Dinge fähig ist?« fragte Marquirolle.
»Was er will, das kann er«, sagte Lindor.
»Das ist erstaunlich, höchst erstaunlich«, sagte der Franzose. »Diesen Menschen muß ich kennen lernen.« Lindor legte rasch die Hand auf seinen Arm. »Geben Sie das auf!« sagte er. »Luzius läßt sich nicht von Neugierigen betrachten. Ich wenigstens werde den Vermittler nicht machen. Bilden Sie sich auch nicht ein, daß Sie Einfluß auf ihn gewinnen könnten; ihn nur zu begreifen, ist sehr schwierig.«
Er müsse aber doch leicht zu begreifen sein, sagte Marquirolle, wenn er so schnell aus einem Pazifisten zum Werkzeug der Kriegspartei geworden sei. »Wahrscheinlich ist er niemals Pazifist gewesen,« sagte Lindor, »und ich habe mich in ihm getauscht. Es ist nicht leicht in seine Seele einzudringen. Er hat keine Grundsätze.«
»Ein gefährlicher Mensch scheint er auf alle Fälle zu sein,« meinte Marquirolle, »und meine Pflicht ist es, ihn im Auge zu behalten, damit er meinem Vaterlande keinen Schaden tut.«
Das Gespräch setzte sich fort, zuweilen durch einige mit Damen gewechselte Scherzworte unterbrochen; Lindor unterhielt während der ganzen Zeit mittels verstohlen flammender Blicke prickelnde Beziehungen zu den am nächsten Tisch sitzenden Damen. Endlich sagte der Franzose, er sei müde; die vielen interessanten Tatsachen und Ansichten, die er vernommen habe, hätten ihn angegriffen. Bevor sie sich trennten, möge Lindor ihm noch eine Persönlichkeit aus pazifistischen Kreisen empfehlen, der er das Geld anvertrauen könne mit der Überzeugung, daß es im Sinne seiner Regierung verwendet würde. Lindor bedeckte überlegend das Gesicht mit der Hand und sagte dann: »In diesem Punkte will ich Ihnen entgegenkommen. Ich habe Sie jetzt besser kennen gelernt und möchte Ihnen meine Freundschaft beweisen: ich bin bereit, das Geld zu übernehmen und für angemessene Verwendung Sorge zu tragen.« Marquirolle umarmte Lindor und dankte feurig. »Sie werden sehen,« sagte er, »Ihr Zutrauen, unsere Freundschaft – denn Sie erlauben mir ja so zu sprechen – wird gute Früchte tragen. Kein Krieg mehr! Das ist unser heiliges Motto! Verbrüderung der Völker! Glauben Sie mir, wenn sich die französische Kultur ausbreitet, kehrt das paradiesische Zeitalter wieder!«
Auch im Garten der Frau Direktor Möller fand ein Erntefest statt, das sie in Erinnerung an ihre auf dem Lande verlebte Jugend so nannte, obwohl es nur durch die herbstliche Jahreszeit damit Ähnlichkeit hatte. Es war ein festlich glühender Tag; die Bäume, mit Gold gekrönt und in blaue Luft verschleiert, leuchteten wie gnadenspendende Gesandte der göttlichen Natur. Frau Möller begrüßte Luzius, der mit Lindor gekommen war. »Wo ist Herr Simonetti?« fragte sie. »Er war mir sehr sympathisch.« Luzius sagte, er wäre gern gekommen und lasse sich ehrerbietig entschuldigen; aber die Sehnsucht nach seiner Familie wäre übermächtig geworden, er habe sich nicht länger halten lassen. »Sein Familiengefühl«, sagte Frau Möller, »macht ihn mir noch schätzbarer. Es kommen ja Unstimmigkeiten vor, aber schließlich findet sich doch immer wieder zusammen, was zusammengehört.« Lindor, der dabeistand, warf lächelnd ein: »Gehört denn die Familie immer zusammen?« – »Ja, ja,« sagte Frau Möller, »das ist es eben; sie erweist sich auf die Dauer stärker als Wahlverwandtschaft, Zug des Herzens und alle derartigen Kombinationen.« – »Ach Mama,« sagte Isolde, »das Rohere ist eben das Stärkere.« Lindor ließ seine dunklen Augen geheimnisvoll forschend auf ihrem schwungvollen Gesicht ruhen. »Wenn nun aber einmal Liebe und Familie dasselbe wäre?!« sagte er. Sie errötete und zürnte mit sich, daß sie so ohne Grund errötete. Warum? War es das Wort Liebe von seinen Lippen, das sie erzittern machte, selbst wo es ohne jede Beziehung auf sie zufällig hingeworfen war? »Unsere Wirtsleute«, fuhr Lindor fort, »sind ein altes Paar, von dessen unzertrennlicher Verbundenheit niemand sagen könnte, ob sie auf Gewohnheit oder Sympathie oder Berechnung gegründet ist, aber unzertrennlich einig sind sie ganz ohne Sentimentalität oder Zwang, und das hat mir einen starken Eindruck gemacht. Vielleicht ist das nur in einfachen Verhältnissen möglich.« Er erzählte, während er an Isoldens Seite einen Kiesweg zwischen Johannisbeerbüschen entlang ging, von dem verwilderten Gärtchen hinter der Herberge, wo sie wohnten, und von den Kindern, die am Tage vorher die Obstbäume hatten plündern dürfen. Isolde legte es sich so zurecht, als sei er die Hauptperson dabei gewesen, und sie sah ihn liebevoll an, während sich ein Lächeln über ihr ernstes Gesicht ausbreitete. »Haben Sie Kinder gern?« fragte sie. Auch er lächelte nun. »Ach Kinder!« sagte er, »das sind meine Augäpfel. Da ist alles noch so rein, so weich, so kühl wie Schneeflocken, die zwischen Himmel und Erde schweben. Später berühren sie den Boden, und schmutzige Füße schreiten über sie hin.«
Gerade in diesem Augenblick sahen sie Hero in den Garten treten. Sie trug ein schlichtes, weißes Kleid und als einzigen Schmuck eine dunkelrote Rose an der Brust; ihr liebliches Gesicht war blaß und traurig. »Da ist Hero«, sagte Lindor. »Die Arme weiß gewiß nicht, wie schlecht ihr eine sorgenvolle Miene steht. Sie sollte immer lachen. Die tragische Maske gibt ihr etwas Bleiernes.« Isoldens Herz klopfte heftig, und ein Gefühl von Schwindel ergriff sie; sie fühlte das Niedrige in Lindors Benehmen, und doch flutete das Glücksgefühl darüber hin, daß er Hero nicht mehr zu lieben schien. Da Hero ganz nah herangekommen war, winkte er ihr kameradschaftlich mit der Hand, schob aber zugleich seinen Arm in den Isoldes und zog sie in einen Seitenweg, der in entgegengesetzter Richtung verlief. »Sie mag zuerst Ihre Frau Mutter begrüßen,« sagte er zu Isolde, »anstatt daß sie uns mit ihrem vorwurfsvollen Gesicht die Stimmung verdirbt.« Noch niemals war Lindor so vertraulich mit ihr umgegangen: sie wollte nichts anderes wissen und fühlen als die Wonne, nach der sie so lange geschmachtet hatte. »Hat sie nicht Ursache zum Vorwurf?« fragte sie zaghaft. »Warum?« sagte Lindor leichthin. »Wenn mir gestern ein reifer Apfel gut geschmeckt hat, muß ich deswegen heute fasten?« Die Entrüstung, die diese Worte in ihr erregten, steigerten ihre Leidenschaft, anstatt sie zu dämpfen; sie fühlte das und litt darunter und konnte es doch nicht ändern. »Das ist keine edle Bemerkung«, sagte sie schwer atmend; kaum hatte sie vermocht, diese Worte hervorzubringen. Lindor drückte ihren Arm fester an sich. »Ach Isolde,« sagte er, »lassen wir das Mädchen. Sie ärgerte mich, weil sie unser schönes, trauliches Gespräch störte. Wir sprachen von Kindern, und ich liebe Kinder über alles. Glauben Sie nicht, daß sie mir nicht leid täte; sie nahm ein spielendes Gefühl für Ernst, obwohl ich ihr keinen Anlaß dazu gegeben habe. Ja, ich hatte sie lieb; aber hätte ich, wenn ich sie ansah, an Weib und Kinder denken können? Wir Männer lieben es, uns manchmal zu berauschen; deswegen sind wir aber keine Trunkenbolde und können auch nüchtern ewige Liebe schwören.« Isoldens Hand zitterte auf seinem Arm; ihr war zumute, als könne sie das Bewußtsein verlieren. Es ging ihr durch den Kopf, wie oft sie die süße Mütterlichkeit in Heros Wesen dankbar empfunden hatte. Wie manches Mal hatte sie in früherer Zeit ihren Kopf an Heros Brust gelehnt und sich dort geborgen gefühlt! Wie holdselig war sie im Kreise von Kindern! Sollte er, als er in sie verliebt war, sie nie so gesehen, sollte er sie so wenig gekannt haben? Warum sprach er jetzt so von ihr? Sie begriff nichts davon, nur das eine war klar, daß er nicht so von Hero hätte sprechen können, wenn er sie noch geliebt hätte. Er liebte sie nicht mehr, weil er eine andere liebte, und diese andere war sie, Isolde! Und sollte sie etwa, nachdem sie so viel, so unsäglich gelitten hatte, rechten, abwägen, die Rechtschaffene und Stolze spielen? Nein, sie wollte einmal, einmal sich diesem Strome hingeben, von dem sie nicht wußte, ob er sie zur Seligkeit oder ins Verderben fortriß. Warum auch fragen, wohin es führte: Seligkeit war, mitzurauschen, mitzuströmen, sich selbst in diesen Wogen zu vergessen und, zugleich erfüllt, ins Grenzenlose gesteigert zu fühlen.
Strowisch begrüßte nur flüchtig einige Gäste, und als er Luzius gefunden hatte, lud er ihn ein, ihm ins Haus zu folgen, wo sie ungestört sprechen könnten. Er führte ihn in ein Herrenzimmer, dessen schwere Vorhänge den Garten und das Licht fast ausschlossen. »Hier ist es besser«, sagte Strowisch, indem er sich in einen Ledersessel fallen ließ. »Die Natur ist meiner Ansicht nach etwas für Damen, die nicht zu sorgen und zu arbeiten brauchen. Auf mich macht die Natur keinen Eindruck, kaum daß ich weiß, ob Sommer oder Winter ist. Nun gut; ich wollte mit Ihnen sprechen. Ist es wahr, daß Sie die Absicht haben zu verreisen?« Allerdings, sagte Luzius, habe er des Kommerzienrats Schwester, der Frau Möller, zu Gefallen seine Abreise noch um einen Tag hinausgeschoben. »Geschäfte?« fragte Strowisch, ohne eine Antwort abzuwarten. »Ich habe auch ein wichtiges Geschäft mit Ihnen zu besprechen. Wissen Sie, was die Amach ist?« Luzius besann sich auf die merkwürdigen Plakate, die er eines Tages im Sommer gesehen hatte, und auf verschiedenes, was er seitdem über diese Gesellschaft gehört hatte. Ja, sagte er, er wisse Bescheid, und er wundere sich, daß Strowisch für solchen Hokuspokus Interesse habe. »Hokuspokus!« rief Strowisch aus. »Mein Lieber, da sind Sie sehr falsch unterrichtet. Hokuspokus! Dieser Hokuspokus ist nicht weit davon entfernt, eine Allmacht zu werden: es stecken Millionen in diesem Hokuspokus! Wenn Sie sich entschließen, die religiöse Abteilung zu übernehmen, so befinden Sie sich nicht in schlechter Gesellschaft. Es fehlt uns noch eine tüchtige Kraft, vielmehr ein großer Name.« – »Wie denken Sie sich die religiöse Abteilung der Amach?« fragte Luzius. Strowisch zündete sich eine Zigarette an und holte aus. »Sehen Sie, mein Lieber,« sagte er, »Sie brauchen uns eigentlich nur Ihren Namen zu leihen und zuweilen an einer Sitzung teilzunehmen. Vielleicht können Sie uns auch einige Anregungen geben; aber in der Hauptsache haben wir schon gute Entwürfe, die nur in Gang gebracht zu werden brauchen. Wir werden uns einer Bibelgesellschaft angliedern, die für die Herstellung billiger Bibeln und Katechismen sorgt, eine Druckerei haben wir ohnehin schon.« – »Für welche Sprache haben Sie sich entschieden?« fragte Luzius. »Wissen Sie, ob und wie die Marsbewohner sprechen?« – »Französisch, deutsch und englisch«, sagte Strowisch. »Die Leute haben natürlich keine Literatur, sie müssen alles von uns beziehen. Die Sprache ist die Grundlage der Kultur, selbstverständlich müssen sie unsere irdischen Sprachen lernen.« – »Vielleicht bellen sie auch nur«, meinte Luzius. Strowisch lachte kurz auf. »Meinetwegen«, sagte er. »Ich habe auch nichts dagegen, daß ihre Sprache später einmal wissenschaftlich untersucht wird; man klettert ja sogar auf die Bäume und studiert die Sprache der Affen. Dessenungeachtet ist meine Ansicht, daß unsere christliche Kultur die beste und feinste ist und durch den ganzen Weltraum verbreitet werden muß. Sie werden doch nicht anderer Meinung sein?« Dabei wandte der Kommerzienrat seine runden Augen mit starrem Blick auf Luzius. »Ganz anderer Meinung«, antwortete dieser. »Wollen Sie die meinige hören?« Strowisch begann ein wenig aufgeregt zu werden. »Ich bin nicht unduldsam,« sagte er, »auch Türken und Heiden und sogar Atheisten können brauchbare Menschen sein; aber unsere christliche Kultur schätze ich allerdings sehr hoch und halte mich verpflichtet, meine bescheidenen Kräfte ihrer Verbreitung zu widmen. Ich weiß nicht, warum Sie, den man den neuen Christus nennt, anders denken?« – »Ich glaube nicht,« sagte Luzius, »daß man mich noch so nennen würde, wenn ich Aufsichtsrat in der Amach wäre. Ist Ihnen eigentlich etwas von der Lehre und den Taten Christi bekannt?« Der Kommerzienrat drehte sich mitsamt seinem Sessel herum und lachte laut. »Mich, mich fragen Sie das?« rief er. »Wissen Sie, daß ich aus einem Pfarrhaus stamme? Mein Vater und dessen Väter waren Pfarrer und haben gewiß ebensogut in der Bibel Bescheid gewußt wie Ihre Ahnen, die Herren Schmiede! Mich fragt der Mann, ob ich Christus kenne! Mir, mein Lieber, können Sie nicht mit theologischen Spitzfindigkeiten imponieren, ich kenne sie alle und nur zu gut. Tue recht und scheue niemand, das ist meine Lehre. Bilden Sie sich etwas darauf ein, daß Sie ein paar Bettler gesund gemacht haben, denen im Grabe viel wohler wäre? Von mir haben Tausende und Tausende ihr Brot, es kann dahin kommen, daß ganz Deutschland sein Brot von mir hat, aber verhungert, wenn ich meine Betriebe schließe. Wir wollen dann sehn, ob Sie es ernähren können.«
»Dazu bedarf es meiner nicht,« sagte Luzius, »sondern eines entschlossenen Führers mit der roten Fahne in der Hand.«
»Ach so, ein Kommunist sind Sie!« sagte der Kommerzienrat. »Das hätte ich mir denken können.« Luzius stand auf. »Das führt zu nichts,« sagte er, »als daß Sie sich nutzlos ereifern. Wir haben uns schon zu lange von der Gesellschaft abgesondert, ich wenigstens möchte mich noch der Sonne erfreuen, eh sie untergeht.« Damit sei er einverstanden, sagte der Kommerzienrat, er habe noch einige Briefe zu erledigen und komme dann auch.
Die Sonne war schon untergegangen, als Luzius heraustrat, und der Garten lag einsam im matten Grau der Abendkühle; nur Hero saß in die Ecke einer kleinen dunkelroten Laube gedrückt, von der lautlos die Blätter sich lösten und langsam herunterglitten. »Wer hat Ihnen etwas getan?« fragte Luzius. »Ich habe noch niemals Tränen in Ihren Augen gesehen.«
»Ich möchte auch nicht, daß ein anderer sie sähe«, sagte Hero. »Ich darf mich nicht beklagen, denn es ist alles meine Schuld. War ich Ihnen dankbar, der mir das Leben gerettet hatte? Ich dachte nur an ihn, von dem ich bald fühlte, daß er nur sich selbst liebt. Warum hing sich mein Herz an einen solchen? Mein Urteil ist klar, aber mein Herz war schwach und holte sich verdiente Wunden.« – »Es wird heilen«, sagte Luzius. »Wer gesundes Blut hat, dessen Wunden schließen sich schnell. Ihr Herz ist zu rein, Ihr Sinn zu hoch, als daß Sie lange an unglücklicher Liebe kranken könnten.«
Hero verschluckte ihre Tränen und lächelte. »Lange nicht; aber Augenblicke können sehr bitter und sehr schwer sein.«
Aus dem Hause drangen Geigentöne in unruhvoll verführerischen Rhythmen. Hero horchte auf, ihre feuchten grauen Augen erglühten. »Wir tanzten einmal nach dieser Melodie,« sagte sie, »und er sagte, er würde nie mit einer andern nach ihr tanzen. Ob ich hineingehe?« Luzius wehrte ab und sagte: »Komm, armes Kind, räumen wir das Schlachtfeld: heute sind wir die Besiegten.«
Der Heilige Vater war sehr schlechter Laune; er war es schon deshalb, weil er mit Ondorelli sprach, und war es doppelt, weil dieser ihm auseinandersetzte, daß nicht viel Aussicht sei, die Inquisition in Deutschland einzuführen. »Oh, wie seltsam geht es auf Erden zu,« sagte der kleine Mann, indem er träumerisch seine weißen Locken schüttelte; »denn es sind gerade die Unsrigen, welche die größte Schwierigkeit machen. Auf protestantischer Seite habe ich mehr Bereitwilligkeit gefunden.«
»Sollte das nicht daher kommen,« sagte der Papst mit Schärfe, »daß Sie sich von jeher auf einen besonders guten Fuß mit diesen Leuten gestellt haben?« Ondorelli machte mit beiden Händen eine abwehrende Bewegung. »Niemals, niemals!« sagte er. »Es ist wahr, ich versuchte menschlich mit allen umzugehn, aber ich habe es nie an der vertrauteren Brüderlichkeit gegen die Mitglieder unserer heiligen Kirche fehlen lassen. Was konnte ich aber tun? Sie verstanden mich nicht, sie blieben gleichgültig oder unwillig, die Protestanten dagegen erfaßten den großen Gedanken Eurer Heiligkeit sofort. Ein sehr angesehener Geistlicher sagte mir wörtlich: ›Alle Zeichen weisen darauf hin, daß wir vor einer Wiedergeburt der Religion stehen. Glauben Sie nicht, Hochwürden, daß wir einen Aufschwung frommer Gesinnung deshalb verwerfen, weil er von Rom kommt, jenem Mittelpunkte, von dem schon so viel Großes ausgegangen ist!‹« Da Ondorelli diesen Satz auf deutsch angeführt hatte, welches der Papst nicht verstand, ärgerte sich dieser und sagte gereizt: »Was für ein Kauderwelsch ist das. Man sollte meinen, wir wären in einer Judenschule anstatt im Vatikan.« Ondorelli stellte sich erschrocken. »Ach, ich gedankenloser alter Esel!« rief er aus. »Ich bitte tausendmal um Verzeihung. Es ist nicht jedem, wie Eurer Heiligkeit, gegeben, mit den Jahren ständig zuzunehmen an Weisheit und Erhabenheit.« Der Papst, welcher Anspielungen auf sein Alter durchaus nicht vertragen konnte, hätte dem kleinen Manne gern eine Ohrfeige verabreicht. »Ich sehe vermöge meiner Weisheit und Erhabenheit soviel ein,« sagte er, »daß die Menschen eine zu nachsichtige Behandlung nicht vertragen. Die lutherischen Schafe möchten wieder in den alten Stall, weil sie sehen, daß außerhalb kein Heil ist; die Kinder vom Hause dagegen, die man gehegt und gepflegt hat, sticht der Hafer.«
»Es weiden sich noch viele in Deutschland«, sagte Ondorelli, »an dem alten Gedanken einer unabhängigen bischöflichen Kirche.«
»Das muß anders werden«, sagte der Papst, indem er humpelnd auf und ab ging. »Unabhängigkeit! Von wem haben sie ihre Weihe, ihre Macht, ihr Ansehen anders als von mir? Ich muß eine andere Disziplin einführen; Disziplin ist alles. Unerhört, daß ich dort auf Widerstand stoßen muß, wo ich beflissenste, eifervollste Unterstützung zu erwarten berechtigt bin. Und Ihr neuer Christus? Was ist mit dem? Existiert er wirklich, und haben Sie mit ihm gesprochen?«
Ondorelli zögerte. »Ich habe Herrn Luzius kennen gelernt«, sagte er. »Man kann nicht sagen, daß er antipathisch ist.«
»Ihnen natürlich nicht«, sagte der Papst wegwerfend. »Sie haben stets eine Vorliebe für alle Entgleisten und Abseitigen gehabt. Übrigens frage ich nicht nach Liebenswürdigkeit, nur nach Gehorsam; blinden Gehorsam will ich, hernach mögen sie sich anderer Tugenden rühmen.«
Der ehemalige Nunzius richtete seine dunklen Augen fragend auf den Papst. »Von dem Sohne Gottes könnten Eure Heiligkeit das doch vielleicht nicht verlangen?« sagte er demütig. Der Papst besann sich. »Wenn er erwiesenermaßen Christus ist,« sagte er, »werden wir irgendein Abkommen treffen. Ob er es aber ist, das hängt von mir ab, das heißt, von der gesetzmäßigen Untersuchung. Wenn er sich dem Prozeß unterwirft, können wir ihn sogleich einleiten, und ich werde dafür sorgen, daß er zu seinen Gunsten entschieden wird.«
»Er unterwirft sich ihm durchaus nicht«, sagte Ondorelli. »Ich wiederhole es ungern: er hat, als ich ihm gelegentlich eine Andeutung davon machte, darüber gelacht. ›Sie mögen in Rom Heilige für ihre Kirche machen, ausgestopfte Puppen, die man herumträgt, aber die lebendigen Söhne Gottes werden anders gesiegelt! Ob ich von Gott gesandt bin, darüber entscheiden ich und mein Volk!‹ Das waren so etwa die Reden, die er führte.« – »Und einen solchen Bolschewisten und Aufschneider nennen Sie sympathisch!« rief der Papst in hellem Zorne. »Freche, aufrührerische Reden sind das. Ja, da möchte mancher ein Heiliger sein, wenn er selbst darüber zu entscheiden hätte. Aufrührer und Halsabschneider sind solche Leute, nichts weiter. Man kennt solche Reden, die der Luther, der Erzketzer und Erzbolschewist, eingeführt hat und die seither von jedem Wicht nachgesprochen werden. Ein Teufelsknecht ist er, die Sorte ist leicht zu erkennen an der Auflehnung gegen die Disziplin und am Schwefelgestank. Ich habe die Nase voll davon!«
Er riß von dem Feigenbaum, der sich hinten um die Bank krümmte, auf der er jetzt wieder saß, eine schwarzblaue, halbverfaulte Frucht, brach sie auf, warf sie weg und trocknete sich die nassen Finger an seinem Gewande ab. Es erhob sich eben ein leichter Abendwind und wehte ein wenig Wasserstaub vom Springbrunnen gegen die beiden Männer; die Agaven, die im Kreise um das Wasserbecken herumstanden, waren starr wie Eisen. »Holen Sie mir«, sagte der Papst, »ein paar Blätter von jener Melisse. Der Geruch belebt mich.« Ondorelli stand mit einem feinen Lächeln auf den Lippen auf, pflückte von dem pelzigen grauen Kraut, das die nächste Rabatte einfaßte, ein paar Stengel, steckte einen davon in seinen Gürtel und überreichte dem Papst den andern. »Ich kenne eine Dame,« sagte Ondorelli, »die ebenfalls eine Vorliebe für diese Pflanze hat und die entzückt sein wird, wenn sie hört, mit wem sie diesen Geschmack teilt.« Die Schwäche des Alten war dem Papst bekannt, und obwohl er sich darüber ärgerte, konnte er doch nicht umhin, es komisch zu finden, daß die Damenbekanntschaft wieder aufrückte. »Gehen Sie, wenn Sie eine Verabredung haben,« sagte er, »man soll Damen nie warten lassen.« – »Meine Zeit gehört allein Eurer Heiligkeit«, versicherte Ondorelli eifrig; »ich könnte noch mancherlei erzählen, was Sie interessieren dürfte.«
Der Papst zerrieb die Blätter, die Ondorelli ihm gegeben hatte, und sog wohlgefällig den Duft ein. »Ein andermal,« sagte er, »ich weiß für den Augenblick genug. Haben Sie mit jenem Bolschewisten auch über die Inquisition gesprochen?«
»Ich berührte den Gegenstand«, sagte Ondorelli, »als einen Zukunftstraum. Er bemerkte dazu: »Wenn die Scheiterhaufen wieder entzündet würden, möchte ich lieber unter den Verbrannten sein als unter den Henkern!'«
Der Papst lachte grimmig. »Geschmackssache«, sagte er. »Was mich betrifft, ich bin Italiener und liebe den Schatten.«
Ondorelli hatte sich eben entfernt, als der Kardinal Sant' Elmo sich dem Lieblingssitz des Papstes näherte und, einer Aufforderung desselben folgend, sich auf die Bank neben ihn setzte. Er habe, erzählte der Kardinal, einen Brief von einem der bedeutendsten Finanzmänner Deutschlands erhalten, dessen Name leider für eine italienische Zunge unaussprechlich sei. Der Mann frage an, ob Seine Heiligkeit ihm eine Audienz gewähren würde. Um was es sich handle, sei in dem Briefe nicht gesagt; ihm komme es so vor, als ob der Schreiber ein Protestant sei. »Wenn er nun aber ein Jude wäre?« sagte der Papst. Zwar habe er im Grunde nichts gegen die Juden, fügte er hinzu. Er würde sie gern allesamt wieder in ihr Ghetto einsperren, aber gegen eine angemessene Abgabe würde er dafür sorgen, daß sie ungekränkt dort lebten. Es sei klar, daß man heutzutage ohne Geld nichts ausrichten könne. Christus habe fünftausend Mann mit drei Broten gespeist, jetzt könne man das nicht mehr und brauche das entsprechende Geld. Es sei in der Ordnung, daß es Leute gebe, die es zusammenbrächten; eine vernünftige Regierung müßte sie, wie gesagt, in einem Ghetto halten und an ihren Einkünften teilnehmen. »So hat man es ja früher auch gemacht,« sagte Sant' Elmo, »und zuweilen hat ein besonders starker Aderlaß gewaltsam nachgeholfen.« – »Das war Unrecht«, sagte der Papst. »Der Pöbel darf nichts davon bekommen, das Recht muß einer Regierung zustehen, die es besonnen handhabt.« Wenn Gregor das Zepter der Welt in Händen hätte, sagte Sant' Elmo, würde er es gewiß zum Heil aller Völker führen. Der Briefschreiber sei aber, soviel er wisse, kein Jude. »Wer weiß, zu welchem Zwecke der deutsche Krösus mich aufsucht«, sagte Gregor. »Jeder Tropfen, der fällt, kann der sein, der die Mühle zum Gehen bringt.« Er dürfe also schreiben, fragte Sant' Elmo, daß Seine Heiligkeit bereit sei, den Mann in einer besonderen Audienz zu empfangen? Der Papst nickte und erhob sich. »Gehen wir hinein und spielen wir eine Partie Schach«, sagte er. »Ich habe genug von der vatikanischen Natur.« Den Arm des Kardinals, den dieser ihm bot, wies er zurück und ging an seinem Stock, ein wenig hinkend aber schnellen Schrittes, dem Palaste zu.
Kurz vor Bozen wachte Strowisch, der im Schlafwagen erster Klasse nach Rom fuhr, auf. Er sah nach der Uhr und beschloß, noch ein Stündchen liegen zu bleiben und den französischen Roman zu beenden, den er am Abend vorher angefangen hatte. Außer Zeitungen und Zeitschriften las er nur französische Romane; interessierten sie ihn auch nicht sonderlich, so glaubte er sich doch der Bildung wegen mit Literatur beschäftigen zu müssen, und dies war, was ihn am wenigsten langweilte. Er gab daraufhin in Gesellschaft nachdrückliche Urteile ab, etwa in folgender Weise: Ich begreife nicht, wieso viele neuerdings über den vielbändigen russischen Romanen brüten mögen. Was hat Literatur mit Philosophie und Religion zu tun? Die Literatur hat Begebenheiten aus der Gesellschaft zu erzählen, und zwar nicht aus der Gesellschaft von Bauern oder Phöniziern oder Zulukaffern, sondern aus der gebildeten Gesellschaft, zu der wir gehören und die wir verstehen. Sie hat dies in einer gemeinverständlichen Art und Weise zu tun, nicht so verschroben und aufgeblasen, wie es die deutschen Schriftsteller tun. Mir geht nichts über die französische Literatur, wo alles Hand und Fuß hat; sie räumt vielleicht den Frauen einen zu großen Raum ein, aber sie sind ja auch die eigentlichen Abnehmer. Romane und auch Theaterstücke sollen wie Rechenexempel sein, die aufgehen; wenn ein ungelöster Rest bleibt, ist es eine Schülerarbeit, mit der man uns nicht behelligen soll.
Um neun Uhr betrat Strowisch den Speisewagen, bestellte den Kaffee und vertiefte sich in eine italienische Zeitung, die er eben gekauft hatte. Er verstand etwas Italienisch, wenn er auch auf diese Sprache im ganzen nie viel Wert gelegt hatte, da er Italien für ein rückständiges Land hielt. Seit einigen Jahren indessen hatte der neue Papst seine Aufmerksamkeit erregt, und er verfolgte alle seine Unternehmungen mit Anteil. Wie sein Blick auf die ungestüm rauschende Etsch und auf die braunen Türme und Mauern fiel, die hoch darüber aus schroffen Felsen gewachsen schienen, kam ihm eine unbestimmte Erinnerung an die deutschen Kaiser des Mittelalters, ihre Fahrten nach Rom, ihre Kämpfe mit den italienischen Städten und dem Papst, wovon er einst in der Schule gehört hatte. War er im Grunde nicht eine Art Barbarossa, wie er jetzt nach Rom fuhr, um eine nähere Verbindung mit Gregor dem Vierzehnten herzustellen? Obgleich er keine Sympathie für das Mittelalter hatte, das er sich erfüllt von abgeschmacktem Aberglauben und groben Missetaten vorstellte, befriedigte ihn dieser Vergleich sehr, der ihm von ungefähr eingefallen war. Es wäre vielleicht angezeigt, dachte er, sich in Mittelitalien anzukaufen. Er könnte dort Wein ziehen, den er rationell behandeln lassen würde, so daß er sich zum Export eigne und dadurch das Kapital sich verzinse. Auch sonst lohnte es vielleicht, hier festen Fuß zu fassen. In Rußland besaß er große Ländereien; hier würde alles in kleineren Verhältnissen gemacht werden müssen, dafür war das Risiko geringer. Es war die Zeit der Weinernte; von den Rebengirlanden hingen blaue und gelbe Trauben schwer herunter. Im Vorüberfahren sah er ein dürftig bekleidetes Kind am Wegrande sitzen, das eine Traube, groß wie sein eigenes braunes Köpfchen, vor sich hatte, mit ungeschickten Fingern in die Beeren griff, sie in den Mund steckte und dabei in seinem rosigen Gesicht verschmierte. Er wunderte sich, daß er nicht eher daran gedacht hatte, in großartigem Maßstabe Selbstversorger zu werden. Nicht nur Weine würde er nach Deutschland einführen, sondern auch Obst, Öl, Reis und Teigwaren. Der Zoll wäre vielleicht nicht ganz zu umgehen, aber eine bedeutende Ermäßigung würde man ihm sicher gewähren, da er nicht für den Handel, sondern nur für seinen Konzern importierte. Und Seide? Wie kam es nur, daß er nicht früher daran gedacht, die Seide, die er in seinen Fabriken verarbeitete, von ihrem Ursprung an selbst herzustellen? Sollte es sich lohnen, würde er allerdings große Strecken geeigneten Landes erwerben müssen. Die Hauptsache war zunächst, sich gut mit dem Papst zu stellen, der eine so große Rolle spielte und nach der Ansicht vieler wohlunterrichteter Leute die gesamte Macht an sich reißen würde, vorausgesetzt, daß er lange genug lebe. Er war allerdings in den Siebzigern, und man mußte mit der Möglichkeit seines Todes rechnen. Strowisch verfiel in tiefes Nachdenken. Die leise rüttelnde Bewegung des Zuges, das Vorüberfliegen der Landschaftsbilder, das Bewußtsein, nicht gestört werden zu können, übten eine anregende Wirkung auf ihn aus, fast wie der sonntägliche Kirchgang. Auch jetzt kamen ihm Einfälle, die ihn selbst in Erstaunen setzten. Sollte man nicht aus dem Papsttum und der Kirche eine Aktiengesellschaft machen können? Auch geistige Dinge ließen sich als reale Werte betrachten, und man konnte ganz gut den Vatikan als eine Fabrik von Heilsgütern: Absolutionen, Segen, Ablaß und dergleichen ansehen, was viele Menschen zu besitzen erstrebten. Immerhin würde es nichts schaden, wenn die Fabrikation materieller Güter nebenherginge; man hatte ja früher vielfach in den Klöstern Biere gebraut und Liköre hergestellt. Er nahm sich vor, in den Gärten des Vatikans aufzupassen, ob sich da nicht etwas Verwertbares fände; es könnten ja auch Wohlgerüche oder Arzneimittel sein, ein Betäubungsmittel wie das Kokain, welches der Heiligkeit seines Ursprungs wegen nicht verboten werden könnte und sich allgemeinen Zuspruchs erfreuen würde. Die Rosenkränze schwebten ihm vor, denen man immer neue Formen aus neuem Material geben könnte, die Pinienäpfel, die, soviel er wußte, noch gar nicht ausgereift waren und die ein angenehmes Aroma verbreiteten, wenn man sie in den Kamin warf, wie er oft in den Häusern reicher italienischer Familien festgestellt hatte. Das Probieren und Experimentieren würde natürlich Geld kosten; aber darauf kam es nicht an, denn es würde vielfach wieder eingebracht werden. Wenn der Papst als Inbegriff der Kirche in seinen Konzern einträte, so würde er, Strowisch, falls Gregor einmal das Zeitliche segnete, seinen Nachfolger ernennen können, ja, er würde eigentlich selbst sein natürlicher Nachfolger; denn er hatte jetzt schon die meisten Aktien an sich gebracht und als Inhaber sämtlicher Aktienpakete mußte ihm das Recht zufallen. Strowisch schloß lächelnd die Augen, weil ihn diese seltsame Kombination belustigte, und öffnete sie erst nach einer Weile wieder, während der Zug sich einen mit Ölbäumen bewachsenen Hügel hinaufarbeitete. Die verschlungenen Baumgestalten glichen geisterhaften Fabelwesen, die ein Zauberspruch im Augenblick verzückten Tanzes festgebannt hatte; durch das silberne Fleisch hindurch sah man das dunkle Skelett in phantastisch erstarrter Gebärde. In der Ferne auf einem besonnten Hügel unter tiefgraublauem Himmel lagen niedrige weiße Landhäuser, zu denen Zypressen in regelmäßigen Abständen hinaufführten. Hier ist alles in festen Händen, dachte Strowisch, so daß keine großen Erwerbungen zu machen sind. Südlich von Rom, wo Sumpfland ist, wird es eher möglich sein; die Kosten der Trockenlegung würde zum Teil der Staat tragen, oder ich könnte passend zubereitete Teile als olympische Spielplätze an Automobilisten, Boxer und andere Sportgesellschaften vermieten.
Er ließ sich das Essen in sein Abteil bringen, um in dem neuen Gedankengange nicht gestört zu werden. Ein paar Gläser Chianti, die er wider Gewohnheit schnell hintereinander trank, machten ihn müde, so daß er sich, nachdem abgeräumt war, ausstreckte und nach dem neuesten Heft einer okkultistischen Zeitschrift griff, das er mitgenommen hatte. Seit er durch den Prinzen Yp für diese Wissenschaft gewonnen war, beschäftigte er sich gern damit und las die neuesten Publikationen, die man ihm zuschickte. Augenblicklich geriet er in einen Bericht über Dematerialisationen; eine Dame war beobachtet worden, die nach Belieben bald diesen, bald jenen Körperteil verschwinden lassen konnte, und von der letzthin zum Entsetzen der Beisitzer etwa drei Minuten lang nur noch die Beine dagewesen waren. Der Berichterstatter bemerkte dazu, daß die Sage von der Tarnkappe, die den, der sie trug, unsichtbar machte, vermutlich durch diese rätselhafte Kraft entstanden wäre. Es kamen dann einige Geisterphotographien, Frauen, die ihre trostlosen Witwer besuchten; und dies brachte Strowisch auf den Gedanken, daß er sich die Photographie eines Marsbewohners verschaffen möchte. Während draußen das frühe Abendrot den sanftgebogenen Nacken der Berge überhauchte, schrieb er einen Brief an den Prinzen mit der Bitte, sich ernstlich darum zu bemühen, weil viel davon abhänge. Er fügte hinzu, daß er den Prinzen im Hinblick aus seine Nichte Isolde schon als Familienmitglied betrachte; der Prinz solle sich durch Isoldens kindische Neigung zu Lindor nicht abschrecken lassen; Frauen hätten, wenn sie heirateten, immer vorher eine unglückliche Liebe gehabt. Allzu verliebte Frauen würden überhaupt leicht lästig; er sei ja ledig und habe auf diesem Gebiete keine eigenen Erfahrungen, habe aber an anderen die Beobachtung gemacht, daß das Unglück der meisten Männer sich mehr von zu viel als von zu wenig Liebe der Ehefrauen herschreibe.
Auf die ernstliche Vermahnung des Zeremonienmeisters hin zog Strowisch zur Audienz einen Frack an, was er nie zu tun pflegte. Abgesehen von der Eitelkeit – denn er war eher dicklich und kurzbeinig und fand, er stehe ihm nicht gut – liebte er große Einfachheit im Anzuge. Der Gegensatz zwischen seinen ungeheuren Mitteln und seinem unscheinbaren Auftreten gefiel ihm. Zur Beobachtung anderer Förmlichkeiten verstand er sich nicht, er machte eine Verbeugung und begann gleich zu sprechen; die Unterhaltung wurde in französischer Sprache geführt. »Darf ich bemerken,« sagte er, »daß ich Eurer Heiligkeit durch Anlegen des Fracks meine Ergebenheit bezeugen will. Ich habe ihn so lange nicht getragen, daß er mir zu eng geworden ist und ich mir vorkomme wie ein Postbeamter aus einer Vorstadthochzeit.« – »Vielleicht langt es doch einmal zu einem neuen«, sagte lächelnd der Papst. »Die Moden wechseln«, sagte Strowisch. »Es wird mir stets ein Vergnügen sein, den Geschmack Eurer Heiligkeit zu berücksichtigen; übrigens ist mein Grundsatz, daß man mit der Zeit fortschreiten muß. Hätte ich vor tausend Jahren gelebt, so würde ich wahrscheinlich in Purpurrock und Hermelinmantel reisen, auf einem Maulesel reiten und Betten, Zelte und silbernes Tafelzeug hinter mir herschleppen. Das haben wir jetzt bequemer und sparen viel Zeit dabei. Als Kind spielt man, und als Mann arbeitet man, wir sind jetzt Männer. Wenn Eure Heiligkeit im Tragsessel und großer Gala daherkommen, für wen tun Sie das? Für das Volk. Gut, ich sage nichts dagegen. In Italien ist das Volk noch kindlich. Bei uns macht es mehr Eindruck, daß man sein eigenes Flugzeug besitzt.« Der Papst hörte diese Rede anfangs mit Unwillen. Was für ein Bär, dieser Deutsche! dachte er. Ein Kutscher von der Straße würde sich in Rom besser zu benehmen wissen. Oder sollte es berechnete Unverschämtheit sein, um mich fühlen zu lassen, wie reich und mächtig er ist? Und was soll die Anspielung auf die Reisen der Barbarenkaiser bedeuten? Indessen war doch im Benehmen und in den Äußerungen des Mannes etwas, das ihm mehr und mehr gefiel. Vielleicht war er naiv, dachte er, wie die Deutschen im allgemeinen sind, und gestattete sich die Aufrichtigkeit der unabhängigen Menschen. Er wollte mit ihm verhandeln wie Macht mit Macht; im Grunde hatte er recht, wenn er sich hoch einschätzte. »Warum benutzten Sie das Flugzeug nicht,« fragte er, »wenn Sie doch der Meinung sind, daß man mit der Zeit gehen soll?«
»Bis jetzt«, sagte Strowisch, »ist noch mehr Risiko beim Luftverkehr als auf der Erde, und ich setze mein Leben nicht ohne Ursache aufs Spiel. Ich bin nicht waghalsig; ich gehe immer Schritt vor Schritt, wenn es auch manchmal scheint, als machte ich Sprünge. Später, wenn das Fliegen sicherer geworden ist, werde ich mitmachen, um nicht von anderen übervorteilt zu werden; denn von der Schnelligkeit hängt alles ab.« »Wenn man Geld verdienen will«, sagte der Papst mit Würde. Strowisch zuckte die Achseln. »Im Gelde steckt die Macht,« sagte er, »nicht im Korn und nicht im Eisen. Sind je die Bauern Herren gewesen? Oder Soldaten, oder Arbeiter? Bettler können auch in den Himmel kommen, das weiß ich wohl. Ich liebe große Verhältnisse auf Erden.« – »Das verstehe ich«, sagte Gregor. »Alles zur rechten Zeit und am rechten Orte. Die Erde ist der Schauplatz unseres Dramas; da müssen wir vor allen Singen unseren Mann stellen.« – »Eure Heiligkeit tun das,« sagte Strowisch, »und das ist es, was mich bewog, Ihnen meine Huldigung darzubringen.« Er ging dann dazu über, von der Amach zu sprechen. Den Begründer derselben, einen Herrn Nickelson, habe er kürzlich hinausgeworfen; derselbe sei ein verworrener Kopf, habe zwar hie und da gute Ideen, sei aber nicht imstande, sie folgerichtig auszubauen. Er schilderte die Einrichtungen, die er getroffen habe; das Netz sei gewissermaßen fertig, sowie der Schmetterling auskröche – das heißt, sowie der Mars erreicht würde –, könne es über ihn geworfen werden.
Ob man diesem Ziele, der Erreichung des Mars, näher gekommen sei, erkundigte sich der Papst. Es werde fieberhaft gearbeitet, sagte Strowisch. Das Vertrauen des Publikums zeige sich in der erstaunlichen Beliebtheit der Amach-Aktien. Wenn der Heilige Vater damit einverstanden wäre, möchte er wohl die von ihm begründete Inquisition mit der Amach verbinden. Wolle man den Mars erfolgreich kolonisieren und christianisieren, müsse man sowieso ein Inquisitionsgericht dort einführen; da gebe es natürlich eine primitive Urreligion, Götter mit Kamels- oder Affenköpfen, wie man das aus Ägypten kenne, und je dümmer ein Aberglaube sei, desto verstockter pflegten die Wilden daran zu hängen. Im Abendlande müsse die Inquisition hauptsächlich dazu dienen, den Bolschewismus zu unterdrücken und Ordnung zu schaffen. An die alten Geschichten glaube ja niemand mehr; aber das Volk müsse sie glauben zum Zeichen der Unterordnung unter eine überlegene Führung. »Eure Heiligkeit wird mir verzeihen,« schloß er, »wenn ich wie ein deutscher Bär oder Barbar rede; ich pflege geradewegs auf mein Ziel loszugehen, um Zeit zu ersparen.« – Gregor hatte mit einem napoleonischen Augenrollen gedroht; aber die Anziehungskraft des angebotenen Bündnisses glättete seine Züge wieder. »Die Kirche ist ewig,« sagte er, »aber sie ist es nur, weil sie sich stets dem Charakter der Zeit anpaßt, ähnlich einer Stadt, in der sich die Baustile aller Zeiten und Völker zu einer harmonischen Gesamtheit vereinigen. Nur indem sie das jeweilige Interesse, die jeweilige Ausdrucksweise erfaßt, kann sie Weltkirche bleiben.« – »Kann sie wieder Weltkirche werden«, verbesserte Strowisch. »Eurer Heiligkeit Vorgänger haben diesen großzügigen Standpunkt vernachlässigt. Sie waren kleine italienische Winkel-Äbte geworden. Für einen Geist wie den Ihrigen ist Italien viel zu eng, Europa zu eng, die Erde zu eng. Das Universum, das Universum ist unser Revier; dazu hat uns die moderne Geldwirtschaft den Zugang eröffnet.«
Der Papst sagte, er verkenne die Macht des Geldes nicht; aber seiner Meinung nach könne man eine waffengeübte Armee doch auch nicht entbehren. »Und hat man die ohne Geld?« lachte Strowisch. »Übrigens wird sich das bald überlebt haben, man wird nur noch mit Chemikalien und allerlei neuentdeckten und neu zu entdeckenden Kräften arbeiten.« Einstweilen allerdings, meinte er, könne man der alten Waffen noch nicht entraten, und Gregor habe wohl daran getan, sich eine ergebene junge Mannschaft heranzuziehen. Er möchte sogar raten, daß man sich mit den Internationalen Monster-Motor-Wettspielen, die gerade in Rom tagten, in Verbindung setze. Man könne die zunehmende Wichtigkeit des Sportwesens nicht außer acht lassen. Industrie, Kirche und Sport, diese drei Mächte beherrschten die Zukunft. Er frage sich, ob er nicht den schwarzen Boxer-König Jim oder Sam unter irgendeinem Titel in seinen Konzern aufnehmen solle. Wenn der noch nicht Christ sei, könne er ja bekehrt werden, das würde einen ausgezeichneten Eindruck machen.
In bestem Einvernehmen trennten sich die beiden Häupter. Indessen beschloß der Papst bei sich, dereinst Strowisch hinauszuwerfen, wie Strowisch jenen Nickelson hinausgeworfen habe. Rom und Rom allein solle Mittelpunkt der Welt werden, wie es Mittelpunkt der Erde gewesen sei.
Hero trug ihr leichtes lockiges Haar nach der Mode in die Schläfen fallend, übrigens aber zurückgestrichen und in einen Knoten gewunden. Eines Morgens erschien Burgi ebenso gekämmt in der Fabrik, so gut es ihr glattes schwarzes Haar gestattete; ihre Augen waren schon von weitem erwartungsvoll auf Hero gerichtet. Diese nickte billigend und sagte: »Sehr hübsch. Du gefällst mir viel besser so, obschon man auf das Äußere nicht sehen soll.« – »Ich glaube,« sagte Burgi, »es würde noch vorteilhafter sein, wenn ich auch einen ebensolchen Kamm trüge wie du und einen ebensolchen weißen Kragen. Wäre es dir unangenehm, wenn ich das täte?« – »Es macht mich stolz, wenn ich nachgeahmt werde,« sagte Hero, »und ich kann mir nichts Besseres wünschen, als daß alle so nett werden wie ich.« – »Ich weiß wohl, daß ich deshalb noch nicht so bin wie du,« sagte Burgi, »aber es ist doch ein Anfang.« – »Sehr richtig,« sagte Hero, »an irgendeinem Ende muß man anfangen, und mit Kamm und Kragen geht es am leichtesten. Ob es aber nachher nicht zu fatalen Verwechselungen führt?« Über Burgis Gesicht fiel ein Schatten. »Du spottest,« sagte sie vorwurfsvoll. Hero umarmte sie und sagte: »Ich denke nicht daran. Dergleichen kommt vor. Du wirst schon oft im Kino gesehen haben, daß der Detektiv, welcher allerdings sehr klug ist, den Ermordeten so genau nachahmt, daß der Mörder ihn selbst vor sich zu sehen glaubt und vor Schrecken wahnsinnig wird.« – »Und dann?« fragte Burgi gespannt. »Und dann sperrt man ihn in ein Irrenhaus anstatt in ein Zuchthaus«, erklärte Hero. »Sind es wahre Geschichten, die man da sieht?« fragte Burgi. »Gott bewahre!« lachte Hero. »Wenn das alles passierte, wäre es sehr ungemütlich auf Erden. Jedes reiche Mädchen wäre von Giftmischern und Entführern umlauert, in jedem Auto säße ein todesmutiger, vornehmer Verbrecher, in jedem einsam gelegenen Hause verbärge sich eine Falschmünzerbande.« Burgi sagte, sie habe noch nie ein Kino gesehen, weil sie in der Beichte danach gefragt worden wäre und es deshalb für Sünde gehalten hätte, hineinzugehen. Dabei solle sie nur bleiben, sagte Hero, sie selbst sei so vernünftig, daß es ihr nicht schade, aber im Grunde tauge es nicht. Seit diesem Gespräch wünschte sich Burgi sehnlichst, das Kino kennen zu lernen, und drängte Hero, mit ihr hinzugehen, bis diese nachgab. »Man soll nichts verdrängen,« sagte sie, »also gehen wir.« Tagelang wurden die in den Vorhallen der Kinopaläste ausgestellten Photographien betrachtet und endlich eine Tragödie: »Das Wort des Stummen« ausgewählt. Sie begann mit einem Vorspiel, in welchem dargestellt wurde, wie ein reicher junger Graf ein schönes Mädchen verführt und verläßt. Infolge des Schreckens, der sie erfaßt, als sie plötzlich durch einen Zufall erfährt, daß ihr Geliebter bereits verheiratet ist, kommt sie zu früh mit einem Knaben nieder, der sich als ein Wunder an Schönheit und Talent entwickelt, aber stumm ist. Die Mutter erzieht ihn im glühenden Hasse gegen den Grafen, ohne ihm die nahe Beziehung, in der er zu ihm steht, zu verraten. Nach ihrer Angabe habe der Graf seinen Vater ins Unglück gestürzt. Sterbend nimmt sie Tristan, so hat sie ihren Sohn genannt, den Schwur ab, den Grafen zu töten. Um diese Aufgabe zu erfüllen, verdingt er sich als Diener in das Haus seines Vaters, des Grafen. Wider Willen fühlt er sich zu dem Manne hingezogen, zu dessen Mörder die heißgeliebte Mutter ihn bestimmt hat. Der Graf ist noch immer ein schöner und kraftvoller Mann, der sein Leben mit Geschmack genießt. Er hat eine Geliebte, jagt und reitet, verschwendet; aber er ist nicht böse, im Gegenteil warmherzig, sogar großmütig. Auch er hat eine Vorliebe für Tristan, hält ihn nicht wie einen Diener, sondern wie einen jungen Freund, lehrt ihn selbst reiten, läßt ihn die Geige spielen und erfreut sich an seiner hervorragenden Begabung. Da er die Neigung seiner Tochter, denn eine solche fehlt nicht, zu Tristan bemerkt, läßt er durchblicken, daß er gegen ihre Verbindung mit dem angehenden Virtuosen nichts einwenden würde. Tristans Herz ist zu sehr von schmerzlichen Kämpfen zerrissen, als sich der Liebe hinzugeben. Ein Sturz vom Pferde wirft den Grafen aufs Krankenlager und gibt Tristan Gelegenheit zur Vollziehung dessen, was er für seine Pflicht hält. Der Kranke will sich nur von dem pflegen lassen, der sein Sohn und sein Mörder ist. Die Tat gelingt, ohne daß der geringste Verdacht auf den allgemein beliebten Tristan fällt, der am Tode des Grafen kein Interesse hat, im Gegenteil seine Heimat dadurch verliert. Im Testament des Grafen ist der Mutter Tristans, die unter angenommenem Namen gestorben ist, eine bedeutende Summe ausgesetzt. Dem Detektiv, der sowohl mit der Entdeckung des Mörders wie mit der Entdeckung der unbekannten Frau beauftragt ist, gelingt es ausfindig zu machen, daß es sich um Tristans Mutter handelt, und auch, in welcher Beziehung sie zum Grafen gestanden hat; dies erregt seinen Argwohn gegen Tristan, auf den auch sonst verschiedene Anzeichen als auf den Täter deuteten, die man aber vorher als nichts beweisend abgelehnt hatte. Als der Detektiv dem Unglücklichen eröffnet, daß er der natürliche Sohn des Grafen ist, löst ihm das Entsetzen die Stimme, und er ruft: »Vater!« Dann gibt er sich auf dem Grabe des Ermordeten den Tod.
Burgi verstand von dieser Handlung nichts, obwohl Hero ihr unermüdlich mit Erklärungen zur Seite stand. Bevor sie herausgebracht hatte, wer die neu auftretende Person war, verschwand sie schon wieder und machte einer anderen Platz, von der Burgi ebensowenig wußte, wie sie hieß, noch was sie wollte. Trotzdem war sie entzückt und hätte gern die Wiederholung des Stückes gesehen, wenn sich Hero darauf eingelassen hätte. Zunächst aber kam noch eine Abteilung, welche »Das Neueste aus aller Welt« hieß und welche mitanzusehen Hero sich bereit erklärte. »Es erspart uns die Zeitung«, sagte, sie. Es gab olympische Spiele in Schweden, den Untergang eines amerikanischen Dampfers im Stillen Ozean, die Zertrampelung einer indischen Tänzerin durch Elefanten, die Doppelhochzeit eines Paares zusammengewachsener Zwillinge und den Kampf eines Tauchers mit einem Polypen. »Was für ein Zusammenhang ist dazwischen?« fragte Burgi atemlos. »Wessen Geliebte war die indische Tänzerin?« – »Es ist keine Geliebte,« sagte Hero, »und es hat gar keinen Zusammenhang!« Eben war die Pest in China abgelaufen, als Burgi einen lauten Schrei ausstieß: man sah ein brennendes Haus, zusammenlaufende Menschen, herbeirollende Feuerspritzen, und dann mitten in einem Fenster, aus dem die Flammen schlugen, Luzius, einen ohnmächtigen Mann im Arme. Die Aufschrift hieß: Der neue Prophet rettet Krüppel beim Brande des Invalidenheimes in Xanten. Auch Hero schrie auf, der Retter schien verloren; aber zusehends zogen sich die Flammen in sich selbst zusammen und wichen vor ihm zurück wie eingeschüchterte Raubtiere. Damit war die Vorstellung zu Ende, und Burgi ließ sich von Hero ins Freie ziehen. Sie war sehr aufgeregt, und ihre Augen standen voll Tränen. »Er, der allen hilft, ist von allen seinen Freunden verlassen. Wo mag er sein? Vielleicht ist er in Not. Ich würde alles tun, um ihm zu helfen.« »Ich glaube, er bedarf unser nicht«, sagte Hero. »O, daß er doch unser bedürfte,« rief Burgi, »wie gern würde ich mein Leben für ihn lassen!«
An der französischen Grenze war Luzius zurückgewiesen und gleich darauf von deutschen Polizisten festgenommen und in ein Gefängnis gebracht worden, welches sich in einer alten Burg unweit Aachen befand. Verurteilte und Untersuchungsgefangene waren im gleichen Gebäude untergebracht, und es wurde auch kein großer Unterschied zwischen ihnen gemacht. Herr Leisegang, der in Luzius' Begleitung war, erklärte, sich nicht von ihm trennen zu wollen; der Direktor des Gefängnisses, Major Brotherz, wollte ihn nicht behalten, da er seinetwegen keinen Auftrag habe; da jedoch Leisegang in der Lage war, für seine Verköstigung zu bezahlen, gestattete er ihm den Aufenthalt, bis weitere Befehle kämen. Major Brotherz war kein bösartiger Mensch, aber durch unglückliche Familienverhältnisse verdüstert. Er hatte von Anfang an mit seiner Frau in gereizter Ehe gelebt, da sie gar nicht zusammen paßten: er war pedantisch, trocken und wortkarg, sie liebte das Außergewöhnliche und hätte gern auf weithin sichtbarer Lebensbühne eine eklatante Rolle gespielt. Die Geburt eines Kindes, die erst nach zehnjähriger Ehe erfolgte, besserte das Verhältnis; aber als sich allmählich zeigte, daß der Junge schwachsinnig zu sein schien, entstand vollends ein Zerwürfnis, indem die Frau ihren Mann für das Unglück verantwortlich machte, weil er ein Trinker sei. Tatsächlich hatte er erst seit kurzem aus Verzweiflung dann und wann zuviel getrunken; da er aber sehr moralisch war, fühlte er sich deswegen schuldig und wagte seiner Frau nicht zu widersprechen. Es gelang Luzius in kurzer Zeit, das kranke Bübchen in eine bessere Verfassung zu bringen; sein Blick wurde lebhafter, sein Gesichtsausdruck verständiger, und während seine Zunge im Laufe der letztverflossenen Monate immer schwerer und stammelnder geworden war, fing es an, einige Worte verständlich und sinngemäß zu sprechen. Die Dankbarkeit der Eltern war grenzenlos, mischte sich aber beim Direktor Brotherz mit den peinlichsten Gefühlen, da er seine Pflicht, Luzius für einen gefährlichen Verbrecher zu halten und als solchen zu behandeln, mit seiner persönlichen Erfahrung nicht in Einklang bringen konnte. Frau Brotherz hätte am liebsten kniefällig mit Luzius verkehrt und unterließ derartige Bezeugungen nur, weil sie sah, daß sie ihn ärgerten; aber sie setzte es durch, daß er frei im ganzen Hause umhergehen und nach Belieben mit den Gefangenen verkehren durfte. Großes Glück, besonders bei Frau Brotherz machte Leisegangs Vorschlag, durch seinen Teilhaber in der Fak einen Film herstellen zu lassen, der Einblick in ein Mustergefängnis gebe. Man würde die Gefangenen bei der Arbeit zeigen, beim Gebet in der Kirche, beim täglichen Spaziergang im Hofe, man würde die anziehendsten Typen vorführen und natürlich auch den Direktor mit seiner Familie. Die Begeisterung der Frau belebte Leisegangs beruflichen Eifer; man könne ja auch, meinte er, um das Interesse des Publikums desto mehr anzuregen, einen kleinen Roman einflechten: Bekehrung eines Verbrechers oder Entdeckung eines unterirdischen Ganges und dort verborgenen Schatzes bei Gelegenheit eines Fluchtversuchs, oder Erzählung einer mittelalterlichen Begebenheit durch einen Geist, der einem Gefangenen erscheint. Zum mindesten müsse der Ausbruch eines Brandes dargestellt werden, damit man Gelegenheit hätte, die Maßnahmen zum Löschen und zum Retten der Gefangenen vorzuführen.
Unter den Gefangenen lernte Luzius einen alten Mann kennen, der durch seine eigenartige Greisenschönheit auffiel. Er hatte schneeweißes Haar, das in schönem Fall sein durchfurchtes Gesicht einrahmte, aus dem die dunklen Augen mit einem Ausdruck lächelnder Wehmut blickten, die das Herz bewegte. Der freundliche Ernst, die Feierlichkeit, mit der er sprach, standen in einem oft komischen Widerspruch mit dem, was er sagte; denn er lebte seit Jahren in einer für andere undurchdringlichen Traumwelt dahin. Er wurde allgemein der Hühnerdepp genannt, weil er zuweilen von einem Hühnerhof faselte, nach dem er Heimweh hatte und der das Ziel seiner Wünsche zu sein schien. Er war als junger Mensch wegen eines Hanges zum Vagabundieren in Arbeitshäusern eingesperrt gewesen, hatte, endlich entlassen, nirgends Beschäftigung gefunden, und nachdem er sich von einem ehemaligen Soldaten einen Revolver hatte verschaffen können, hatte er auf den ersten besten Vorübergehenden geschossen, der zufällig ein General war und der Wunde erlag. Unter allgemeiner Entrüstung wurde er zum Tode verurteilt, aber zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt, weil viele Zeugnisse über seine Gutartigkeit und sein Wohlverhalten vorlagen. Während der dreijährigen Einzelhaft, die er als Verschärfung der Strafe durchzumachen hatte, geriet sein Geist, der nie sehr klar gewesen war, völlig in Verwirrung, ohne daß er eigentlich geisteskrank gewesen wäre. Er erfreute sich in der Burg allgemeiner Beliebtheit und genoß weitgehende Freiheit und Rücksicht. Da er, wenn er lange hintereinander arbeiten mußte, in tiefe Traurigkeit verfiel und zu weinen anfing, befreite man ihn von dem üblichen Zwange und ließ ihn sogar zuweilen das Bübchen des Direktors im Hofe hüten. Vor einigen Wochen war er plötzlich von einer Lähmung der Beine befallen worden und lag seitdem allein und bekümmert in seiner Zelle. Der Direktor fand es nicht für nötig, den Arzt zuzuziehen, da er es für eine Alterserscheinung hielt, war es aber zufrieden, daß Luzius ihn auf seine Art behandelte und kurierte. Als der Alte begriff, daß er wieder gehen konnte, breitete sich ein seliger Glanz über sein altes Gesicht aus. »Es ist sehr weit bis zum Hühnerhof,« sagte er zu Luzius, »mit den kranken Beinen hätte ich ihn nicht erreichen können.« Er schickte sich zum Aufbruch an und kehrte traurig den Kopf schüttelnd zurück, als er die Tür verschlossen fand. Luzius' Ansinnen an den Direktor, er möchte den Alten entlassen und irgendwo auf dem Lande einmieten, damit er noch ein paar Jahre der Freiheit erlebe, wies Herr Brotherz entschieden zurück. Eine Eingabe an die Behörde wolle er wohl machen, eigenmächtiges und ungesetzliches Handeln dürfe man nicht von ihm verlangen. »Bin ich nicht auch ein Gefangener?« sagte er mürrisch. »Der Unterschied zwischen mir und den andern ist der, daß sie Strafgefangene sind und ich Berufsgefangener bin.« Der Direktor empfand außer der Dankbarkeit natürliche Zuneigung für Luzius; trotzdem wünschte er sehnlich, der rätselhafte Mensch möchte endlich abgeholt und vor sein zuständiges Gericht gestellt werden, damit er, Brotherz, der drückenden Verantwortung enthoben würde. Fliehen würde Luzius nicht, insofern verließ er sich auf ihn, sonst aber fühlte er sich keinen Augenblick vor peinlichen Überraschungen sicher. Luzius hatte ihm Gutes getan, ihn wie ein Überirdischer beschenkt; aber ging es mit rechten Dingen zu? Konnte er nicht trotzdem ein Verbrecher, ein Bolschewist sein? Und wenn er einer war, machte ihn dann die Anziehungskraft, die er ausübte, nicht desto gefährlicher? Und waren nicht Augenblicke gewesen, wo gelbe Blicke wie Messer aus seinen furchtbaren Augen zuckten? In schlaflosen Nächten versuchte er vergeblich diese Probleme zu lösen, über die er mit seiner Frau nicht sprechen konnte, weil der stets Überspannten der Kopf vollständig verdreht war.
Eine willkommene Ablenkung verursachte die Ankunft der Fak, die Leisegang hatte kommen lassen. Sein Teilhaber, Herr Vornewitz, der jetzt allein das Unternehmen leitete, war ein ansehnlicher Mann, der ernst und kurz angebunden auftrat, wie einer, der zu wichtige Dinge auf den Schultern hat, um sich mit dem Kleinkram der andern abzugeben. Ohne sich für Leisegangs persönliches Ergehen, seine Schicksale und Absichten zu interessieren, durchwanderte er die Burg, soweit es ihm gestattet war, entwarf Pläne und probte mit Angestellten, Dienern und Gefangenen vom Morgen bis zum Abend und in die Nacht hinein. Frau Brotherz fühlte sich zum ersten Male vor eine ihr angemessene Aufgabe gestellt und überstimmte alle Bedenken ihres Mannes mit scharfer Begeisterung. Als der sonntägliche Kirchgang der Gefangenen aufgenommen wurde, wozu die außer Gebrauch befindliche alte Burgkapelle hergerichtet war, fiel der gewiegte Blick des Herrn Vornewitz auf den Hühnerdepp, der mit stiller Majestät das gottesdienstliche Schauspiel an sich vorübergleiten ließ. »Dieser Mann«, sagte er, »ist ein Paradepferd. Wenn ich ihn hätte, könnte ich mich mehr auf Mysterien und Legenden legen, unsere Zeit hat einen Zug zum Religiösen. Es ist schade, daß er hier versauert.« Diese Äußerung brachte Luzius auf eine Möglichkeit, wie er seinem Schützling die Freiheit verschaffen und. ihn zugleich versorgen könnte, und er suchte sofort alle Beteiligten dafür zu gewinnen. Das Abenteuer ließ sich um so besser ausführen, als Direktor Brotherz zu einem Kongreß der vereinigten Gefängnisleiter Westdeutschlands reisen mußte und bei seiner Rückkehr vor die vollendete Tatsache gestellt werden konnte. Es war Ende Februar und bitter kalt, als Vornewitz mit seiner Gesellschaft die Burg verließ. Der Alte wurde von Frau Brotherz aus der Garderobe ihres Mannes notdürftig ausgestattet; zum Beschluß hängte sie ihm einen alten, mit Pelz gefütterten, von Motten zerfressenen Radmantel um, den sie nur als Fußwärmer zuweilen noch gebraucht hatte. Luzius begleitete den alten Mann bis an die Pforte, vor welcher zwei Automobile warteten; einschneidender Wind blies ihnen entgegen. »Gute Luft! gute Luft!« sagte der Hühnerdepp; »hier können die Gelben mich nicht erreichen.« Die Furcht vor den Gelben war eine kürzlich entstandene, nicht weiter zu erklärende Vorstellung. Als er begriff, daß Luzius nicht mitging, klammerte er sich ängstlich an ihn; aber auf dessen Zureden und einen ermunternden Zuruf des Herrn Vornewitz hin ließ er sich willig in den Wagen verpacken. »Nun werden Sie auch bald fortgehen,« sagte Frau Brotherz zu Luzius, »und wir bleiben unbeweglich in unserm häßlichen Einerlei. Es kommt mir so vor, als hätten Sie durch ein Zauberwort unser trauriges Haus an die Sonne steigen lassen, und wenn Sie uns verließen, würde es wieder in die Erde versinken.«
Der Papst entschloß sich, wiewohl ungern, dazu, den Kardinal Donara, der des Deutschen mächtig war, nach Innsbruck zu schicken, damit er an seiner Stelle das Inquisitionsgericht eröffne. Man hatte sich für Innsbruck entschieden, obwohl dem Papst München oder Köln lieber gewesen wären, die sich gleichfalls mit Eifer angeboten hatten. Österreich sei nicht mehr das alte, Wien sei voll Juden und Innsbruck voll eigensinniger Bauern; übrigens werde er sich überall Gehorsam zu verschaffen wissen, es liege ihm mehr an bewußter Unterwerfung unter seine Person als an stierem Aberglauben. Indessen gaben die Kardinäle zu bedenken, daß Innsbruck der italienischen Grenze nah sei, und daß man vorsichtig sein müsse, da man noch nicht wisse, wie die neue Waffe schneide. »Sie wird schon schneiden,« sagte Gregor ungeduldig, »wenn ich sie führe.« Indessen wolle er nachgeben aus Nachgiebigkeit und inzwischen das Deutsche erlernen, soweit es notwendig sei. Auf die Dauer werde er aber das babylonische Wirrsal nicht leiden, die lateinische Sprache genüge für alle; auch einige ihrer Dialekte, wie das Italienische und Französische, etwa noch das Spanische möchten hingehen. Wegen seiner Vertrautheit mit der deutschen Sprache hatte sich Ondorelli mit der Hoffnung geschmeichelt, Stellvertreter des Papstes zu werden; dieser jedoch sagte, Ondorelli sei ein unklarer Kopf mit unübersehbaren Einfällen, für höhere Politik ganz unempfänglich, ein armseliges Männchen ohne Autorität, und schließlich könne er ihn nicht leiden. Zwar wäre ihm Donara noch viel antipathischer; aber der habe wenigstens Verstand, sagte er, und wisse zu imponieren. »Dieser Bestie Donara«, sagte er zu Sant' Elmo, »muß ich eine so große Aufgabe anvertrauen, weil er Deutsch spricht. Ja, er ist selbst schon ein deutscher Kartoffelfresser geworden, pedantisch und hartköpfig. Es ist aber mein Wille, daß die Sitzungen auch lateinisch zu Protokoll genommen werden. Wer ist der beste Lateiner?« Es verstehe jeder mehr oder weniger Latein, sagte De Trouchi, aber der beste Sprecher, den er kenne, sei Ondorelli. »Der Teufel hole ihn und euch alle!« rief der Papst ärgerlich. »Keiner kann etwas! Keiner versteht mich! Wenn ich der einzige große Mann in Italien bin, werden wir freilich nicht die Welt erobern!« De Trouchi verneigte sich. »Mit Eurer Heiligkeit verglichen sind wir alle arme Schächer«, sagte er. »Aber wenn wir ein paar Zeitungen kaufen, glaube ich, daß wir bald so viel große Männer haben werden, als Eure Heiligkeit brauchen kann.« – »Immer kaufen«, brummte der Papst. »Wenn ich genug Geld ausgeben will, kaufe ich ohne Umweg geradezu, was ich haben will.« – »Ich fürchte, ganz ohne Geld werden wir nicht weiterkommen«, sagte Sant' Elmo. In Frankreich, sagte De Trouchi, wünschten sie dringend die Heiligsprechung Ludwigs des Sechzehnten und seines unglücklichen Sohnes. Dagegen lasse sich eigentlich nichts einwenden. Aber sie möchten gleichzeitig, um die Ehre der Republik zu wahren, daß auch Robespierre heiliggesprochen würde, und begründeten das damit, daß er tugendhaft gewesen sei und den Kultus der Vernunft eingeführt habe; Vernunft sei aber, wie man längst wisse, identisch mit Gott. Jedenfalls, habe eine französische Zeitung hämisch bemerkt, sei er ein ebenso guter Christ gewesen wie Brutus. »Die Toren!« fuhr der Papst auf, »aber nicht ein ebenso guter Römer!« »Ach Gott, natürlich sind sie Toren,« sagte De Trouchi, »aber wenn wir ihren Wunsch erfüllten, würden sie es sich etwas kosten lassen.« – »Es wäre mir allerdings lieb, wenn ich nicht zu sehr von dem deutschen Geldjuden abhängig würde«, sagte der Papst. Strowisch sei kein Jude, sagte Sant' Elmo, sondern eines protestantischen Pfarrers Sohn. »Nun also, der protestantische Geldjude«, sagte der Papst.
Donara reiste mit vielen großen Koffern ab in der Meinung, daß das Gericht mehrere Jahre in Innsbruck sitzen würde, und daß es nicht vorteilhaft sei, im fremden Lande einzukaufen. Er war von niederer Herkunft und bescheiden in seinen Lebensgewohnheiten, aber auf würdige Repräsentation seines Standes hielt er viel. In dem ersten Stockwerk eines herrschaftlichen Hauses, das er gemietet hatte, richtete er einen ansehnlichen Empfangsraum ein; aber sein Schlafzimmer war schäbig, und wenn er keinen Besuch hatte, hielt er sich meist in der Küche auf, wo beständig für irgendeine Mahlzeit gekocht wurde. Die Gerichtssitzungen sollten im Chor einer nicht mehr benützten Kirche abgehalten werden; da aber das Chorgestühl sehr unbequem und die Kirche nicht heizbar war, ließ man von der Aufmachung etwas nach und begnügte sich mit einem Saal in einem Bankhause, den der Besitzer des Hauses, der Bankier Goldiger, umsonst zur Verfügung stellte. »Mit umsonst«, sagte Ondorelli, der in dieser Angelegenheit Vermittler war, »ist gemeint: ohne Bezahlung in Geld; dagegen wünscht sich Herr Goldiger eine Audienz bei Ihrer Eminenz und von Seiner Heiligkeit dem Papst irgendeinen womöglich althistorischen Titel, wie etwa Kämmerer oder Schweizer. Da Seine Heiligkeit bekanntlich hebräophil ist, dachte ich seine Einwilligung in Aussicht stellen zu dürfen.« Der Kardinal war es nicht; aber der Saal erwies sich als so passend, daß er um der guten Sache willen in alles willigte. Herr Goldiger war ein umgänglicher Mann, der als junger Mann an der Bank von Neapel angestellt gewesen war und mit dem bescheidenen Gehalt von fünfhundert Lire sich doch, wie er sagte, in der schönen Natur sehr wohl gefühlt habe.
»Fremdenindustrie«, sagte der Kardinal streng. »Früher pflegte man um der heiligen Kirche willen nach Italien zu pilgern.«
»Ach ja, die Industrie!« seufzte Herr Goldiger. »Sie legt sich wie ein Meltau auf alles Gute und Schöne. Sie hat sich während des Krieges und nach dem Kriege am Elend der Welt gemästet.«
Der Kardinal fragte, ob Goldiger den Kommerzienrat Strowisch kenne, und was er von ihm halte. Dieser Name übte einen zu großen Zauber aus, als daß Goldiger seine Bewunderung ganz hätte unterdrücken können, obwohl er herausfühlte, daß Donara ihm nicht günstig war. »Der Mann ist ein Genie,« sagte er, »das kann niemand bestreiten. Groß, groß, wie er sich aufgeschwungen hat einem Adler gleich! Aber er wird auch fallen, Eminenz, er wird sich nicht halten, er muß von seiner Höhe herunter!«
»Ist das gewiß?« fragte der Kardinal interessiert. »Wie sollte das zusammenhängen?« – »Das fühle ich,« sagte Goldiger, »wie eine Schwalbe den Zeitpunkt ihres Abzugs nach Afrika fühlt. Vielleicht hat Strowisch zu viel Genie. Die Gründung der Amach war eine hochgeniale Unternehmung, aber ich fürchte, sie wird ihn zu Falle bringen. Ich fürchte es, weil ich Ehrfurcht vor dem Genie habe. Übrigens bin ich nie in geschäftlicher Verbindung mit ihm gewesen.«
Der Kardinal war von dieser Auskunft befriedigt; und da ihm Goldiger den Eindruck eines tüchtigen Geschäftsmannes machte, vertraute er ihm für die Zeit seiner Anwesenheit in Innsbruck die Verwaltung seines Vermögens an. Er möchte, sagte er, sein Vermögen vermehren, aber weder durch gewagte, noch viel weniger durch unsolide Spekulationen, da er ein Mann der Kirche sei; worauf Goldiger beteuerte, daß die Geschäfte, die er mache, auch einem Heiligen zur Ehre gereichen würden. Infolgedessen dürfe sich der Kardinal keine goldenen Berge versprechen, wohl aber die mäßigen Anschwellungen, die das Kapital nach dem Laufe der Natur erfahre.
Die erste Besprechung der Inquisitionsrichter hatte den Zweck, daß man sich kennen lernte und einigermaßen über die Grundsätze einigte, nach denen die Geschäfte geführt werden sollten. Im Einvernehmen mit Seiner Heiligkeit, sagte Donara, schlage er vor, daß man von jedem Angeklagten zunächst Unterwerfung unter das nunmehr eröffnete Glaubensgericht verlange. Werde diese geleistet, so solle das als ein Grund zur Milde gelten. Man werde ferner das Bekenntnis zur römisch-katholischen Kirche oder zur evangelischen Kirche fordern; erklärte Atheisten, Freidenker, Freimaurer, Gotteslästerer müßten grundsätzlich mit dem Feuertode bestraft werden.
Der Erzbischof von Mainz hatte sich während dieser Rede in seinen Sessel zurückgelehnt und mit einer von der Armlehne herabhängenden Quaste gespielt. »Verschonen uns Eure Eminenz mit Scheiterhaufen«, sagte er kühl. »Brennen Sie in Italien soviel Sie wollen, wir Deutsche sind feuerscheu; es mag mit dem Klima zusammenhängen.«
Durch diese Äußerung ermutigt, bat der Konsistorialrat Lieselmeyer um das Wort. »Mich persönlich würde die Feuerstrafe sehr befriedigen. Sie hat einen historischen Zauber, und ich habe vor dem historischen Herkommen großen Respekt. Auch glaube ich, daß ohne ein ganz energisches Eingreifen die religiöse Gesinnung, die wir verbreitet zu sehen wünschen, nicht wiederaufleben wird. Allein wir werden Geduld haben müssen. Beginnen wir leise mit Köpfen oder Hängen; haben wir festen Fuß gefaßt, können wir stufenweise fortschreiten.«
»Jeder armselige Dieb wird gehängt,« sagte Donara, »man muß einen Unterschied machen. Es handelt sich um heilige Güter und um ruchlose Verbrechen, dementsprechend müssen auch die Strafen über das Gewöhnliche hinausgehen.« – »So ängstlich brauchen wir übrigens nicht zu sein«, sagte De Trouchi. »Ich habe mir verschiedene deutsche Zeitungen vorlegen und übersetzen lassen; das Ergebnis ist sehr ermunternd. Lesen Sie doch bitte den Herren einiges vor, lieber Ondorelli!« Der kleine Mann setzte eine Brille auf, nahm aus dem vor De Trouchi auf dem Tisch liegenden Haufen Zeitungen einige heraus und begann zu lesen. »Ganz Deutschland«, hieß es da, »begrüßt die hochwürdigen Herren, die sich heute in Innsbruck zusammenfinden, mit tiefer Rührung und hochgespannten Erwartungen. Man glaubt einen Punkt erreicht zu haben, von dem die Wiedergeburt des tiefgesunkenen Abendlandes ausgehen wird. Sind wir uns nicht alle darüber einig, daß nur die Religion, diese tief aus dem Gemüt stammende, unerklärliche Kraft, uns dem Pfuhl entreißen kann, der täglich mehr über uns zusammenschlägt? Wie aber, so fragen wir uns, soll sich die aus dem Himmel stammende Seelenspeise in ein Geschlecht verbreiten, das nur noch an der Brust der Wissenschaft und feiler Genüsse zu saugen gewöhnt ist? Die hohe Versammlung wird endlich Ernst machen und eine Flamme des Glaubens entzünden, an der sich Millionen und Millionen Herzen, die sich selbst schon für Aschenhaufen hielten, neu entbrennen werden.«
In einer anderen Zeitung waren die bekanntesten Beisitzer des Gerichtes beschrieben. »Der Vorsitzende, Stellvertretender Seiner Heiligkeit des Papstes, ist eine hohe gebietende Erscheinung, die uns die Strenge des Römers und die Unschuld des Christen zugleich vor Augen führt. Bedürfnislos, tugendhaft, arbeitsam, ganz den Pflichten seines schweren Amtes hingegeben, gilt er als ein Vorbild im fleckenlosen Wandel. Er bürgt uns dafür, daß der Krebs der Irreligiosität, an dem das Jahrhundert hinsiecht, unnachsichtlich ausgerottet werden wird. Eine ganz andere, in ihrer Art ebenso anziehende Erscheinung ist der geistvolle Kardinal De Trouchi. Täuschen wir uns aber nicht: seine liebenswürdig weltmännischen Eigenschaften haben ihn noch nie gehindert, der Kirche zu dienen und die heiligen Pflichten gewissenhaft auszuüben, die sie auferlegt. Stolz und freudig begrüßen wir neben ihm unseren prächtigen Mainzer Erzbischof. Wenn aus seinen Augen sanfte Frömmigkeit scheint, so strahlt doch hohe Intelligenz von seiner Stirn und lächelt Geselligkeit um seine Lippen. Ohne jemals die edlen Formen höheren Umgangs zu verletzen, die er wie kein anderer beherrscht, wird er stets die Würde seines Standes wie seines Landes mutig vertreten. Nennen wir nun noch unseren trefflichen, tiefgründig gelehrten Lieselmeyer, so begreifen wir mit diesem Namen den wertvollen Kern des Protestantismus. Seine Anwesenheit bürgt uns dafür, daß die Inquisition den Glauben stützen wird, ohne die Freiheit der Wissenschaft, die dem modernen Menschen mit Recht am Herzen liegt, zu knebeln.«
Der Vorsitzende unterbrach hier die Lektüre der Zeitungen, um zum Ausgangspunkte zurückzukehren. »Sie haben gehört, meine Herren,« sagte er, »daß wir die öffentliche Meinung für uns haben. Ich weiß nicht, ob einer unter Ihnen ist, für den das eine Beruhigung bedeutet. Mich berührt es nicht, da die Forderungen der heiligen Kirche meine einzige Richtschnur bilden.«
Mit gedämpfter Stimme meldete sich der Generalsuperintendent Ölfleck zum Wort. Er trug glattgescheiteltes Haar und einen das ganze Gesicht wie einen Kranz umschließenden Bart und pflegte beim Sprechen die Augen zu schließen. »Ich glaube,« sagte er, »wir schließen uns alle unserem hochwürdigen Vorsitzenden an. Geben wir der öffentlichen Meinung die Ehre, die ihr gebührt, vergessen wir aber nicht, daß wir berufen sind, sie mit dem wahren Gehalt zu erfüllen, welcher der kirchliche Glaube in Christo Jesu ist. Auch ich bin der Ansicht, daß für das Verbrechen der Gotteslästerung der Feuertod die einzig angemessene Strafe ist, erkenne aber nichtsdestoweniger an, daß der Geist der Zeit – der Geist der Zeit, meine Herren, nicht die öffentliche Meinung! – eine gewisse Berücksichtigung verdient. Ich möchte deshalb einen leidlichen Mittelweg vorschlagen, derart, daß wir den Verurteilten auf dem im jeweiligen Lande üblichen Wege zum Tode befördern und dann, im abgestorbenen Zustande, verbrennen. Wir schließen uns damit der hochgelobten Überlieferung an, indem auch unsere Väter unter Umständen das Urteil derart formulierten.«
Pater Jucundus, ein Jesuit, war der erste, der diesem Votum zustimmte. »Sehr geistreich!« rief er, die Hände reibend, aus. »Möchte es uns stets gelingen, einen Punkt zu finden, wo die widerstreitenden Ansichten sich friedlich und fruchtbar vermählen.«
Die schwierige Frage, was als Gotteslästerung zu gelten haben sollte, wurde auf eine folgende Sitzung verschoben, weil man einsah, daß dazu Vorarbeiten nötig wären. Schließlich einigte man sich dahin, daß man auf eine allgemeine Begriffsbestimmung verzichten wolle, um in jedem neuen Falle neue Paragraphen festzusetzen.
Es war März, und an sonnigen Stellen bohrten sich mit grüner Spitze frühe Schneeglöckchen unter der braunen Blätterdecke hervor, als Luzius zum ersten Male den versammelten Vätern vorgeführt wurde. Als man seine Identität feststellen wollte, sagte er: »Ich heiße Adelhart Luzius und bin ein Deutscher. Sie haben sich widerrechtlich meiner bemächtigt und mich hierher gebracht, wofür die Regierung meines Landes Sie, wie ich hoffe, zur Verantwortung ziehen wird. Fragen, die Sie an mich stellen sollten, werde ich nicht beantworten, weil Sie kein Recht dazu haben, vielmehr darf ich Sie fragen, wie Sie Ihr gewalttätiges Verfahren rechtfertigen wollen.« Donara wurde gelb im Gesicht vor Ärger. »Sie stehen«, sagte er, »vor dem Inquisitionsgericht, das Seine Heiligkeit Papst Gregor der Vierzehnte im Verein mit dem hohen Klerus und der Geistlichkeit der evangelischen Länder aus besonderer Erleuchtung zum Heile der Welt neu gegründet und bestellt hat. Ich rate Ihnen zu Ihrem eigenen Besten, sich der heiligen Inquisition zu unterwerfen, die gegen reuige Sünder Milde walten lassen, störrische aber vernichten wird.« Luzius betrachtete mit Interesse die Versammelten einen nach dem andern, ohne die Anrede des Vorsitzenden zu beachten. »Angeklagter, wollen Sie sich dem Gericht unterwerfen oder nicht?« schnaubte Donara. Luzius wandte sich zu ihm herum und sagte mit Herablassung: »Nein, ich sagte es Ihnen schon.« Es erhob sich ein Flüstern unter den Richtern, worauf Luzius von den bewaffneten Wärtern, die neben ihm standen, wieder in das Gefängnis zurückgeführt wurde. Alle waren der Meinung, daß es nicht im Interesse des Gerichts liege, schlechtweg ein Todesurteil auszusprechen und den Prozeß damit zu beendigen; man wolle deshalb dem widerspenstigen Subjekt einen Anwalt bestellen, der an seiner Stelle zu antworten haben würde. Einen geeigneten zu finden, war allerdings schwierig; denn man wollte die verführten Schwärmer ausschalten, die im Grunde selbst auf die Anklagebank gehörten und die sich zunächst zu der Aufgabe drängten. Den besten Eindruck machte ein bäurisch aussehender Mann namens Holderle, welcher zwar der kommunistischen Partei angehörte, aber katholisch war. Die Väter hatten den Eindruck, als sei er stumpfsinnig und nüchtern und fasse die Aufgabe als ein beliebiges Geschäft auf; er konnte als handlicher Pfahl figurieren, an dem der Prozeß weitergeleitet würde, ohne daß er mit zeitraubenden Sprüchen dazwischenführe.
»Hören Sie, hier sind Sie aber schlecht untergebracht«, sagte Holderle, als er Luzius das erstemal in seiner Zelle besuchte. »Es ist hundekalt und nicht einmal Platz, sich warm zu laufen.«
»Ja,« sagte Luzius, »das Gefängniswesen liegt im argen. Ich bin froh, daß ich es gründlich kennen lerne. Das muß ganz, ganz anders werden.«
Holderle grunzte. »Es müssen vor allen Dingen andere Leute herein«, meinte er.
»Eine solche Welt gibt es nicht,« sagte Luzius lachend, »wo nur die Schlechten im Gefängnis sitzen; denn die sind schlau.«
»Gut bemerkt«, sagte Holderle. »Aber es gibt auch Schlaue, die nicht schlecht sind, und zu denen zähle ich. Ich denke, wir kriegen Sie los, wenn Sie zu meiner Partei übergehen wollen. Ich bin Kommunist.«
Luzius sagte, er schließe sich keiner Partei an.
»Hören Sie,« sagte Holderle, »wenn Sie folgerichtig sind, müssen Sie Kommunist sein. Ich habe eigens deshalb in der Bibel gelesen und mich davon überzeugt.« Er zog ein Neues Testament aus der Tasche und blätterte darin. »Gar nicht so übel, das Buch, begreiflich, daß unsere Pfaffen, die Schweinehunde, es verbieten. Sie haben Gütergemeinschaft gehabt, nach der Apostelgeschichte; ob das wissenschaftlich echte Geschichte ist, steht freilich dahin.«
»Ihre Gütergemeinschaft war freiwillig«, sagte Luzius. »Aber Sie, was würden Sie tun, wenn Sie die Macht hätten? Sie würden alle aufhängen und niederschießen, die sich nicht fügen wollten.«
»Ist es meine Schuld, wenn die Kerle nicht freiwillig guttun wollen«, sagte Holderle. »Aber wozu um des Kaisers Bart streiten? Wir sind himmelweit von der Macht entfernt, und Sie stehen zehn Schritt vom Galgen. Sie gefallen uns, wir betrachten Sie als einen der Unsern. Wenn Sie uns folgen, können Sie noch Reichspräsident werden.«
»Vor allen Dingen müßte ich ganz anders werden, als ich bin«, erwiderte Luzius.
»In manchen Stücken«, bestätigte Holderle. »Wenn Sie so fortfahren, sind die Pfaffen imstande, Ihnen den Hals umzudrehen.«
»Wenn es Gott zuläßt«, sagte Luzius.
»Hören Sie,« rief Holderle ärgerlich, indem er aufsprang und einen vergeblichen Versuch machte, in dem engen Raume auf und ab zu gehen, »diese Possen müssen Sie sich abgewöhnen. An dieser Aufmachung nimmt meine Partei Anstoß, sonst hätten wir uns längst mit Ihnen in Verbindung gesetzt. Lassen Sie doch den Schmarren von Gott und Vorsehung und Wundern. Das macht im ersten Augenblick Eindruck auf das Volk, aber hernach greift es sich an den Kopf und ärgert sich, daß es sich hat fangen lassen. Die Bildung ist in alle Kreise gedrungen, und es paßt uns gar nicht, daß Sie die Leute wieder verblöden wollen.«
»So halten Sie mich für einen Betrüger?« fragte Luzius.
»Das nicht«, erwiderte der Anwalt. »Sie haben recht, wenn Sie sich durch einige Spiegelfechterei in Ansehn setzen. Aber wenn Sie zu unserer Partei halten, haben Sie das gar nicht nötig. Wunder gibt es nicht und hat es nie gegeben. So weit ist die Menschheit endlich gekommen, daß sie das begriffen hat. Wollen Sie mit den Schweinehunden gemeinsame Sache machen und den mittelalterlichen Abschaum wieder aufwärmen?«
»Gehen Sie!« sagte Luzius und wies nach der Tür. »Nur nicht gleich so knapp«, begütigte Holderle. »Übrigens kann ich nicht gehen, bevor der Wärter mit dem Schlüsselbunde kommt und mich abholt. Sie haben mir eine halbe Stunde bewilligt.«
»Gehen Sie!« wiederholte Luzius, »ich sage Ihnen: öffnen Sie!« Er schüttelte sein braunes Flammenhaar so heftig gegen den Anwalt, daß dieser unwillkürlich einen Schritt zurückwich und die Hand auf den Türgriff legte. Die Tür gab dem Druck nach und öffnete sich lautlos. Holderle drehte sich langsam um, indem er die Klinke losließ, worauf die Tür zufiel und verschlossen war wie zuvor. Schweigend setzte sich der Anwalt auf die Pritsche und starrte Luzius ins Gesicht, der lächelte. »Mensch,« sagte Holderle, »Sie können das und bleiben in diesem Pfuhl? Oder war es nur eine Augenverblendung,« setzte er nach einer Weile hinzu, »wie es in Indien an der Tagesordnung sein soll?«
»Nicht doch«, sagte Luzius. »Ich wollte Ihnen zeigen, daß Gott Wunder tun kann.«
»Gott! Wunder!« rief Holderle ärgerlich. »Sie haben es getan, nicht Gott, und ein Wunder war es auch nicht, sondern entweder ein Taschenspielerkunststück oder etwas Spiritistisches. Man sollte diese Dinge gründlich untersuchen, damit nicht eine neue Mythologie daraus entsteht. Wenn Sie aber wirklich verschlossene Türen öffnen können, so weiß ich nicht, warum Sie in diesem Pfuhl bleiben, wo es kaum einer Kröte wohl wird. Irgendwo hapert es bei Ihnen.«
Luzius schüttelte traurig den Kopf. »Sie verstehen mich wohl nicht«, sagte er. »Ich bin kein Zauberkünstler vom Jahrmarkt. Wenn mein Volk meinen Tod will, so mag es mich töten.«
»Haben Sie nicht selbst gesagt,« warf Holderle ein, »daß die Esel die Übermacht haben? Warum sich von Eseln totschlagen lassen? Nehmen Sie Vernunft an, Freundchen. Ich muß Sie jetzt verlassen, denn ich höre schon unseren Cerberus mit seinen so höchst überflüssigen Schlüsseln klimpern; aber ich werde wiederkommen. Wenn Sie mich in die Schule nehmen, kann ich vielleicht bald auf einer Katze durch die verschlossene Fensterluke fliegen.«
Trotz alles Zuredens blieb Luzius bei seiner Weigerung, der kommunistischen Partei beizutreten. Holderle ärgerte sich darüber, gab aber die Hoffnung auf späteres Gelingen seines Planes nicht auf. Er sammelte, so gut es ohne Luzius' Hülfe ging, alle Tatsachen, die zur Verteidigung seines Klienten dienen konnten, wobei ihn namentlich Herr Leisegang unterstützte. Ihm war es diesmal nicht geglückt, sich ins Gefängnis einzudrängen, aber er hielt sich in der Nähe auf, immer hoffend, ein Zufall oder Bestechung werde ihm ermöglichen, mit Luzius zu verkehren. »Rücken Sie heraus, Herr Leisegang,« fragte der Anwalt, »hat Ihr Meister nie Weibergeschichten gehabt? Es liefen ihm so viele nach; sollte das immer platonisch geblieben sein?« – »Sie sind«, entgegnete sanft berichtigend Herr Leisegang, »in das Wesen meines Freundes nicht eingedrungen. Von Weibern ist da gar nicht die Rede, wie überhaupt von nichts, was hinterrücks oder unter der Hand zu geschehen pflegt. Es tut mir leid, daß Sie die Verteidigung dieses Mannes übernommen haben, ohne seine Größe erkannt zu haben.«
»Ein Anwalt verteidigt desto besser, je klarer er sieht«, sagte Holderle. »Ich will eher einen Vatermörder durchbringen, von dem ich weiß, was er auf dem Kerbholz hat, als einen Taschendieb, der den Unschuldigen spielt.«
»Luzius ist weder ein Vatermörder noch ein Taschendieb,« sagte Leisegang, »sondern ein Heiliger.«
»Hat er kein heimliches Konto auf irgendeiner Bank?« forschte Holderle ungerührt weiter. »Es muß ihm doch ein leichtes gewesen sein, Geld zu verdienen.«
»Er lebte in freiwilliger Armut«, sagte Leisegang geduldig. »Warum möchten Sie ihn für Ihre Partei gewinnen, wenn Sie ihn für einen Kapitalschieber halten?«
»Ich zweifle an allem,« sagte Holderle, »nur nicht daran, daß die Pfaffen Schweinehunde sind. Um sie zu ärgern, gebe ich mir so viel Mühe mit Ihrem unzeitgemäßen Heiligen – ich glaube, er steht nicht einmal in erotischen Beziehungen zu seinen Jüngern!«
Über die Piazza San Marco hauchte die Frühlingssonne einen breiten blassen Lichtstreifen. Eben hatten die Kellner der verschiedenen Kaffeeschenken Stühle und Tische hinausgestellt, nachdem es wochenlang zu kühl gewesen war, um draußen zu sitzen. Wenig Menschen waren da, ein paar Venezianerinnen wippten leise zwitschernd, in schwarze Schale gehüllt, auf und ab, die dunklen Köpfe dicht zueinander geneigt. Auch die Tauben suchten die Sonne auf, und hie und da spannte eine einen Flügel aus, um ihn in der goldrieselnden Luft zu baden. Aus der dunklen Kirche funkelte es schwach; wer an der offenen Tür vorüberging, konnte das harmonische Dröhnen der Orgel vernehmen. Einige Herren, meistens Einheimische, saßen zeitunglesend vor einer Tasse Kaffee, unter ihnen befand sich Herr Freundlich, Besitzer der größten deutschen Zeitungen, auf den ein eleganter Herr einredete. Er trug einen etwas schief sitzenden Zylinder und ließ seinen Klemmer an der Schnur um den Zeigefinger der rechten Hand schwingen. »Wenn wir die gesamten Zeitungen in eine Hand bringen,« sagte er, »können wir uns Herren der Welt nennen. Es ist nicht einzusehen, warum wir uns bekämpfen, da wir vereinigt die Welt beherrschen könnten.« Herr Freundlich war noch nicht ganz überzeugt. »Und wie sollte man«, wandte er ein, »soviel Interessen vereinigen? Und wessen sollte die eine Hand sein, die alle Fäden hält?« Herr Nickelson, denn er war es, erklärte sich: »Es ist nicht so zu verstehen, als ob ein einziger alle Zeitungen der Welt besitzen sollte. Man müßte einen Trust, einen Obersten Rat bilden, in dem alle je nach ihrer Bedeutung eine oder mehrere Stimmen hätten. Wir könnten es dahin bringen, daß wir gewisse Dinge durch Schweigen aus der Welt schafften, anderen, die gar nicht existierten, durch das Zauberwort der Presse Dasein verschafften. Wer könnte uns widersprechen? Wer uns berichtigen? Wenn wir die Nachricht brächten, daß Australien infolge eines Erdbebens untergegangen oder von Polypen in die Tiefe gezogen wäre, und daß seine letzten Bewohner sich auf dem nächsten Festlande ein Grab erbettelten, wer würde wagen zu zweifeln? Erhüben sie ihre Stimme noch so laut, um ihr Dasein zu beweisen, sie würde kein Ohr erreichen. »Das ist interessant«, sagte Freundlich gedankenvoll. »Wenn wir täglich wiederholten,« fuhr Nickelson mit zunehmender Begeisterung fort, »der Papst habe sich überzeugt, daß es keinen Gott gebe, und habe deshalb die Kirche in ein Stellenvermittelungsbureau oder einen Tierschutzverein umgewandelt, würde er von der öffentlichen Meinung gezwungen werden, so zu handeln. Begreifen Sie, wo ich hinauswill?« Herr Freundlich nickte, gab aber zu erwägen, ob die verschiedenen Nationalitäten nicht das Einverständnis stören würden. »Es wird allerdings manchmal Reibungen geben,« meinte Nickelson, »aber sie werden im Schoße des Obersten Rates Erledigung finden. Das gemeinsame Interesse unseres Trust überwiegt ja jedes andere. Natürlich dürfen wir nicht Leute zulassen, die Parteipolitik treiben.«
Sie waren bei diesem Punkte des Gesprächs angekommen, als ein neuer Ankömmling, Kommerzienrat Strowisch, sich mit sehr verdrießlichem Gesicht und kurzen schnellen Schritten ihrem Tisch näherte. Herr Freundlich erhob sich und reichte ihm zur Begrüßung die Hand entgegen. »Das ist eine freudige Überraschung!« rief er. »Machen Sie Unermüdlicher auch einmal Ferien?« – »Bewahre,« brummte Strowisch, »dazu habe ich keine Zeit. Ich bin sogar in meinem Flugzeug gekommen, um die Sache schneller abzumachen. Ich habe Dringendes mit Ihnen zu besprechen.« Auch Nickelson war aufgestanden und zurückgetreten. Jetzt lüftete er seinen Zylinder und sagte gemessen: »Wir haben uns unfreundlich getrennt, Herr Strowisch, ich glaube sogar sagen zu dürfen, daß Sie mir unrecht getan haben. Allein ich trage nichts nach, lassen wir Gras über das Vergangene wachsen und versöhnt der Zukunft entgegengehen.« Der Kommerzienrat murmelte etwas, was Nickelson als Entschuldigung oder Bestätigung auffaßte. »Wenn Sie ein paar Minuten Zeit haben,« fuhr er munterer fort, »möchte ich Sie auf eine sehr aussichtsreiche Angelegenheit aufmerksam machen. Haben Sie von der Trockatl gehört? Es bedeutet die Trockenlegung des Atlantis. Sie sind doch mit dem schrecklichen Untergang und der kürzlich geglückten Wiederentdeckung des Erdteils Atlantis vertraut? Nicht? Ich werde Ihnen alles Einschlägige zuschicken. Wenn Sie bedenken, wie dringend wir der Kolonien bedürfen, werden Sie die Wichtigkeit der Wiedergewinnung dieses Erdteils ermessen. Wie fruchtbar, mindestens wie salzhaltig muß das Land sein, das Jahrtausende hindurch unter Meerwasser gestanden hat! Das Wort Trockatl ist ganz im Sinne jener alten amerikanischen Ursprache gebaut, die aller Wahrscheinlichkeit nach eben von jener versunkenen Atlantis, unser aller Urheimat, herstammt. Erinnert es nicht an Popokatepetl? Es ist Zufall, aber ich sehe den Finger der Vorsehung darin.« Strowisch fühlte sich wider Willen angezogen und versprach, sich damit zu beschäftigen, wenn er seine Unterredung mit Herrn Freundlich beendet haben würde. Daraufhin war Nickelson zartfühlend genug, sich zu verabschieden; man sah ihn, leise trällernd und die Schnur mit dem Klemmer schlenkernd, über den Platz schieben. »Immer vergnügt,« sagte Herr Freundlich, ihm nachblickend; »Sie dagegen, verehrter Herr, scheinen übler Laune zu sein, was man gar nicht an Ihnen gewöhnt ist.« Strowisch bestellte bei dem harrenden Kellner Kaffee und sagte dann: »Das Fliegen bekommt mir nicht. Außerdem habe ich eine ernstliche Ursache zur Unzufriedenheit, die Ihnen wohl bekannt sein wird.« Herr Freundlich beteuerte, daß er nicht ahne, worauf Strowisch anspiele, und nicht glauben könne, daß er Anstoß zu irgendeinem Ärger seines hochverehrten Freundes gegeben habe. Statt der Antwort zog Strowisch ein Bündel Zeitungen aus der Tasche, faltete sie auseinander und klopfte mit der Hand auf einen Artikel, der überschrieben war: Neues über die Marsbewohner. »Was steht darin?« fragte Freundlich. »Ich habe es nicht gelesen. Sie werden nicht erwarten, daß ich alle Artikel kenne, die in meinen Zeitungen stehen.« – »Artikel von solcher Wichtigkeit sollten Ihnen doch nicht fremd sein«, sagte Strowisch. »Jedenfalls wird es Sie interessieren, etwas daraus zu hören; mit dem ganzen Gewäsch will ich Sie nicht langweilen: ›Es dürfte also als bewiesen gelten, daß die den Mars bewohnenden Nationen nicht primitive Völker sind, wie man bisher annahm, sondern solche, die den Gipfel der Kultur bereits erklommen haben, einer Kultur, die die unsrige aller Wahrscheinlichkeit nach weit hinter sich läßt. Ihre Maschinen, die nicht nur die menschliche Hand, sondern auch den menschlichen Geist ersetzen, haben ihnen die Herstellung aller erdenklichen Waren in staunenswerter Qualität und Billigkeit ermöglicht. Wenn wir uns in unserer irdischen Aufgeblasenheit eingebildet haben, die Lehrer einer noch kindlichen Welt zu werden, so könnte sich leicht ereignen, daß das Umgekehrte eintritt und daß, wenn die Verbindung zwischen Mars und Erde hergestellt ist, ein technisch hochausgebildetes Volk uns als willkommenes Absatzgebiet behandelt und uns mit billigen und zugleich unübertrefflichen Fabrikaten überflutet.‹ Nun? Was sagen Sie dazu?«
»Sehr fatal, in der Tat«, sagte Freundlich. »Es muß irgendein plötzlicher Wechsel im Personal vorgekommen sein. Wie ist denn die Giftbombe unterzeichnet?« Er beugte sich über die Zeitung und las: Klaus Schlemihl. Ich will mich doch telephonisch erkundigen, wer hinter dem Pseudonym steckt.« Der Kommerzienrat drückte seinen Geschäftsfreund, der im Begriff war aufzustehen, auf den Stuhl zurück. »Lassen Sie das,« sagte er, »ich weiß ohnehin, daß es jener Nickelson ist, der vorhin an Ihrem Tisch gesessen hat. Er wollte sich rächen, weil ich ihn aus der Amach hinauswerfen mußte.« Herr Freundlich schwur, daß er den Mann an diesem Tage zum ersten Male gesehen habe. »Ich hoffe, daß das Zeug Ihnen nicht geschadet hat«, setzte er hinzu.
»Und ob es mir geschadet hat!« brauste Strowisch auf. »Zehn bis zwölf Millionen habe ich dabei verloren, es hat eine katastrophale Baisse gegeben. Das bringt mich nicht um; aber es ist ein Unfug, es hätte nicht vorkommen sollen und darf nicht weitergehen!«
»Sie müssen es nicht so schwer nehmen,« sagte Freundlich beruhigend, »sondern nachdenken, wie dem Bubenstück am besten begegnet werden kann. Schade, daß ich aus Gesundheitsrücksichten hier bin und mich auf Anordnung des Arztes der Geschäfte ganz enthalten soll, sonst hätte ich auch über den heillosen Sturz Bescheid gewußt.«
»Was tun Sie denn den ganzen Tag?« fragte Strowisch übellaunig.
»Was ich tue?« sagte Freundlich. »Eben nichts. Dies ist ja die Stadt der Träume, die zu stillem Genuß der Schönheit und Kunst einlädt.«
»Es ist gar keine Stadt,« sagte Strowisch; »es ist eine Schaukel, die einen seekrank macht.« Sie wurden durch eine magere und steife ältliche Dame unterbrochen, die sich in strengem Ton erkundigte, welcher von den beiden Herren Herr Freundlich sei; man habe sie im Hotel Donicli, wo sie ihn habe aufsuchen wollen, hierher gewiesen. »Entschuldigen Sie, wenn ich Sie störe,« sagte sie mit stark amerikanischer Aussprache, »ich möchte Ihnen etwas erzählen, das Sie sehr interessieren wird. Ich habe die weite Reise gemacht, um Sie zu sprechen, und lege begreiflicherweise Wert darauf, daß Sie mich anhören.« Herr Freundlich beteuerte erschrocken, daß er ganz Ohr und stolz sei, für die Dame ein Reiseziel gewesen zu sein. Er stellte dann Strowisch als einen der berühmtesten Deutschen vor, dessen Namen sie gewiß schon gehört habe und dessen gefällige Anwesenheit sie ohne Zweifel freuen werde. »Ich kenne die deutsche Literatur seit Goethe nicht,« sagte sie, »wegen meiner Vorliebe für das Klassische; aber ich habe trotzdem große Achtung vor Herrn Strowisch. Meine Mitteilung wird auch ihn interessieren; denn sie muß die ganze Welt interessieren. Ich habe eine Entdeckung von weittragender Bedeutung gemacht, infolge welcher künftig jeder, der das Verfahren kennt, sich mit seinem Astralleib von seinem Körper trennen und an einen beliebigen Punkt der Erde, vielmehr des Weltalls, versetzen kann.« Die beiden Herren betrachteten die Dame überrascht, deren Haare, Haut und Augen ganz greis und fadenscheinig waren, die sich aber so hielt und so sprach wie ein kommandierender General. »Ich habe von meiner Entdeckung noch niemanden unterrichtet,« fuhr sie fort, da die beiden schwiegen; »Sie sind die Ersten, die von dieser außerordentlichen Sache erfahren.« Was ihm diese Ehre verschaffe, fragte Herr Freundlich.
»Das will ich Ihnen erklären«, sagte die Dame. »Meine Entdeckung wird eine Umwälzung im Verkehr hervorrufen. Die Automobile, Flugzeuge, Eisenbahnen, Dampfschiffe werden verschwinden. Denn wer würde so töricht sein, sich kostspieliger und lebensgefährlicher Verkehrsmittel zu bedienen, wenn er sich kostenfrei, ohne Zeitverlust und Unannehmlichkeiten dahin versetzen kann, wo er gerade sein will? Geben Sie das zu? Sie können sich die Erbitterung und Rachsucht der betroffenen Industrien vorstellen. Darum möchte ich, daß Sie, Herr Freundlich, durch die deutsche Presse das Publikum auf meine Methode vorbereiten und es alle die Vorteile fühlen lassen, die ihm daraus erwachsen werden.«
»Aber warum wenden Sie sich nicht«, erkundigte sich Freundlich, »an amerikanische Zeitungen, die Ihnen dieselben Dienste leisten könnten?«
Inzwischen hatte sich die Amerikanerin, steif wie ein gutgewickelter Regenschirm dasitzend, Tee mit Kuchen, Brot, Butter und Marmelade bestellt und sagte, während sie eine Scheibe Brot mit Butter bestrich: »In Amerika, wo mein Name bekannt ist, würde ich durch die benachteiligten Industrien den größten Gefahren ausgesetzt sein. Im Auslande kennt man mich nicht und weiß nicht, wo ich mich aufhalte. Auch sind die Deutschen ein Volk der Poesie und Wissenschaft und werden sich für meine Methode sachlich interessieren.« Strowisch, der über diesen sonderbaren Zwischenfall seinen Verdruß vergessen hatte, mischte sich jetzt ein, indem er sagte: »Es ist mir bekannt, daß es solche Phänomene gibt; doch habe ich immer gelesen, es gehöre dazu eine besondere Verfassung, die nur bei wenigen Menschen vorliege.« Nicht ohne Schärfe entgegnete die Amerikanerin: »Meine Entdeckung besteht eben darin, daß ich ein Verfahren gefunden habe, mittels dessen sich jeder in den Zustand versetzen kann, in dem es leicht ist, sich astral zu verdoppeln.«
»Ich begreife nur das eine nicht,« fuhr er fort, »warum Sie unter diesen Umständen sich die Mühe nehmen, von Amerika nach Europa zu reisen, da Sie sich doch unmittelbar hierher hätten versetzen können.«
»Das habe ich getan«, sagte die Dame. »Sie sprechen nicht mit mir selbst, sondern mit meinem Astralleib.«
Freundlich wich erschrocken zurück, auch Strowisch war peinlich berührt. »Aber Sie essen und trinken doch, soviel ich sehe«, stammelte Freundlich. »Wer hat Ihnen gesagt, daß ein Astralleib nicht essen kann?« erwiderte sie und sah ihn mit einem starren Blick an, den er wie eine Kralle in seinen Augen zu spüren glaubte. »Ich bin ganz unbewandert in diesen Dingen,« sagte er, »aber ich war immer der Meinung, daß zwischen Körpern und Geistern ein merklicher Unterschied sei.« – »Sie haben sich geirrt«, sagte die Amerikanerin streng. Freundlich sah nach der Uhr. »Ich habe um sechs Uhr ein Telephongespräch im Hotel und muß mich deshalb verabschieden,« rief er; »wenn es Ihnen recht ist, setzen wir das Gespräch abends fort.« Sie nickte, ohne ihn anzusehen, mit dem Kopfe und fuhr fort zu essen, während Strowisch den Kellner abfertigte. »Ich begleite Sie,« sagte er dann, »denn ich reise noch heute abend.« – »Wie schade!« klagte Freundlich. »Diese Begegnung hat meine Nerven angegriffen. Haben Sie bemerkt, was für Augen die Person hatte? Es war nichts in den Höhlen bis auf zwei schwarze Punkte, die darin standen wie kleine schwirrende Stechfliegen. Mir ist der Angstschweiß unter ihrem Blick ausgebrochen.« Wahrscheinlich habe er sich nie mit Okkultismus beschäftigt, sagte Strowisch, darum sei er so nervös; das sei im Grunde alles ganz natürlich, man gewöhne sich ebenso daran wie an Elektrizität und drahtlose Telegraphie. Spät am Abend strich Herr Freundlich vorsichtig durch die Laubengänge am Markusplatz, entdeckte aber keine Spur von der Amerikanerin, und auch an den folgenden Tagen war sie nirgends zu finden, was ihn in der Meinung bestärkte, es sei wirklich ein Astralleib gewesen, der, um das Übernachten zu sparen, sich noch am selben Abend mit dem in Amerika zurückgelassenen Körper wieder vereinigt habe.
Kardinal Donara stellte den Satz auf, daß die Gotteslästerung das ärgste Verbrechen sei, das Menschen begehen könnten; er erklärte ferner, daß Luzius dieses Verbrechens schuldig sei, weil er sich Christus gleichgestellt habe. Auf die These ging Dr. Holderle nicht ein, bestritt aber die Luzius betreffende Behauptung. Man habe ihn wohl den wiederkehrenden oder den neuen Christus genannt, er selbst habe sich immer als Adelhart Luzius, Sohn eines Schmieds in Schlesien, ausgegeben; und wenn er auf Befragen etwa einmal gesagt habe, er sei Gottes Sohn, so habe er dazu das Recht so gut wie jeder andere Christ, da ja nach Ansicht der Gläubigen alle Menschen Gottes Kinder wären. Man müsse bedenken, daß es sich hier nicht um eine Vaterschaft im gewöhnlichen Sinne handle, sonst könne Gott schwerlich aller Menschen Vater sein, sondern um etwas Symbolisches, was nicht mit Sicherheit festzustellen sei. Das Volk, welches Luzius den neuen Christus genannt habe, könne man doch nicht bestrafen.
»Was muß ich hören?!« rief Donara entrüstet. »Nicht mit Sicherheit festzustellen sei es, ob einer ein Kind Gottes sei oder nicht? Die Kirche stellt alles fest und auch dieses, sie, die nicht irren kann. Und wir könnten das Volk für sein freventliches Vorgreifen nicht bestrafen? Sollte Ihnen unbekannt sein, daß man ganze Völker in den Bann tun, ganze Völker ausrotten kann, wenn wir von der Pest der Ketzerei angesteckt sind? Hier aber haben wir es zunächst mit dem Verbrecher zu tun, der das leicht zu tauschende Volk durch Wort und Tat zur Gotteslästerung verführte.«
Holderle bestritt, daß Luzius das getan habe, außer durch die Tat; aber man könne unmöglich an sich gute Taten Sünde nennen, weil das Volk den, der sie getan, für göttlich halte.
»Es hängt nicht vom Urteil des unwissenden Volkes ab,« sagte Donara, »ob eine Tat gut oder böse zu nennen ist. Sie ist gut, wenn sie im Namen Gottes, böse, wenn sie im Namen des Teufels getan ist.«
»So dumm wird nicht leicht einer sein,« lachte Holderle, »öffentlich etwas im Namen des Teufels zu tun.«
»Aber die Kirche wird erleuchtet genug sein,« sagte der Kardinal, »auch ohne das Geständnis des Schuldigen das Teuflische vom Göttlichen zu unterscheiden.«
Um diesen Punkt drehten die Verhandlungen sich lange ohne Ergebnis, denn man konnte Luzius keine Tat nachweisen, die einen anderen Zweck gehabt hätte, als zu heilen oder zu helfen, zu versöhnen oder Unrecht zu verhüten, keine, die schädliche Folgen gehabt hätte. Als die Richter unter sich waren, sagte Donara, man habe unrecht gehabt, nicht seinem Rat zu folgen und gleich anfangs Luzius zu verurteilen, weil er sich dem Gericht nicht unterwerfen wollte. Das hohepriesterliche Gericht zu Jerusalem habe seinerzeit, als Christus sich Sohn Gottes genannt habe, dafür gehalten, es brauche kein weiteres Zeugnis, um ihn zu verdammen. In der Person des Angeklagten habe sich das Gericht damals vergriffen, aber das Verfahren sei weise und richtig gewesen. Das spitzfindige juristische Tüfteln schicke sich für weltliche Gerichte, geistliche bezögen ihre Erleuchtung aus anderen Quellen. Von den anderen Herren war die Mehrzahl der Ansicht, man tue doch besser, aus dem Leben des Angeklagten noch einiges herauszuziehen, was auch in den Augen der Laien verbrecherisch wäre; auch sei man übereingekommen, daß es vorteilhaft sei, wenn der erste Prozeß lange währe und Gelegenheit gebe, möglichst viel Mitschuldige zu erfassen. Die Verlegenheit des Gerichts wurde unerwartet durch das Erscheinen eines neuen Zeugen behoben: es war Lindor, der sich als solcher meldete und mitteilte, Luzius habe an dem und dem Tage auf einem Jahrmarkt in Düren einen französischen Flieger durch Besprechen abstürzen lassen. Auf die Frage, ob der Zeuge seine Beschuldigung in öffentlicher Sitzung und in Anwesenheit des Angeklagten wiederholen wolle, antwortete er: ja, er sei dazu bereit.
Es war ein föhniger Frühlingstag, als die nächste Sitzung abgehalten wurde.
Einige Tage hatte die Sonne heiß geschienen, und auch an diesem Morgen war sie strahlend aufgegangen, aber bald von schweren Wolken verhängt. In dem großen Saale war es trotz der hohen Fenster dunkel; man sah draußen die Pappeln des gegenüberliegenden Gartens sich im Winde biegen und die schneebedeckten Spitzen der hohen Berge weißen Glanz werfen. Luzius sah blaß und eingefallen aus, und unter seinen Augen lagen Schatten; das Lächeln, mit dem er eintretend seinen Anwalt begrüßte, hatte nicht die alte herzliche Kraft. Es war ersichtlich, daß die Stimmung der Väter sich seit dem letzten Male gehoben hatte. Der Vorsitzende richtete die Frage an den Angeklagten, ob er zugebe, an einem gewissen Tage in Düren ein Luftzeug durch Zauberei zum Absturz gebracht zu haben? Da Luzius nicht antwortete, wandte er sich an den Anwalt, der sagte, es sei ihm nichts davon bekannt, er werde der Sache nachforschen. Das sei nicht nötig, entgegnete Donara, er habe es bereits getan, und ein Zeuge sei eingetroffen. Die Tür tat sich auf, und Lindor trat ein, ging mit leichten Schritten durch den Saal bis zu dem langen Tisch, an dem die Väter saßen und grüßte den Vorsitzenden mit einer respektvollen Verbeugung. Seine schlanke Gestalt, sein hübsches Gesicht, sein anmutiges Benehmen machte den besten Eindruck. Nachdem er den Zeugeneid geleistet hatte, erzählte er, er habe sich dem Angeklagten im Beginn seines Auftretens angeschlossen, weil er einen Friedebringer und Versöhner in ihm gesehen habe. Sie wären mit noch einigen anderen zu Fuß nach Düren gekommen, wo in einer Vorstadt gerade ein Jahrmarkt stattgefunden hätte. Die allgemeine Lustbarkeit habe die zahlreich versammelte Menschenmenge so in Anspruch genommen, daß das Geräusch eines sich nähernden Fliegers unbemerkt geblieben sei, der Angeklagte und Luzius dagegen hätten ihn gesehen, und Luzius habe gesagt, es sei ein Franzose, er wolle ihn zu Falle bringen. Er habe dann gebetet, wie er meistens getan habe, wenn er etwas Außergewöhnliches habe vollbringen wollen, und bald darauf sei der Flieger abgestürzt.
Man habe, da gerade ein Gewitter ausgebrochen sei, angenommen, daß das Wetter die Katastrophe verursacht habe. Er halte für möglich, daß auch das Gewitter von Luzius zusammengezaubert sei, denn es sei ein kalter Tag im Frühling gewesen, kurz vorher sogar Schnee gefallen. Woher sie gewußt hätten, daß der Flieger ein Franzose sei? fragte der Erzbischof von Mainz. Lindor antwortete, sie wären von einem Manne, der mit den Verhältnissen Dürens vertraut und mit den Franzosen gut bekannt gewesen sei, darauf aufmerksam gemacht worden. Ob das Motiv der Tat Haß gegen die Franzosen im allgemeinen gewesen sei, fragte der Erzbischof weiter, und vielleicht die Meinung, es könne aus dem Unglücksfall ein neuer verderblicher Krieg hervorgehen? Das wisse er nicht, antwortete Lindor; er habe dem Angeklagten dringend von der Tat abgeraten, die ihm einen so peinlichen Eindruck gemacht habe, daß er sie als den ersten Anlaß zu seiner Trennung von ihm bezeichnen könne. »Erkennen Sie den hier anwesenden Angeklagten«, fragte der Kardinal, »als den Mann wieder, den Sie damals begleiteten und auf den sich Ihre Erzählung bezieht?« Lindor drehte sich langsam zur Seite und warf einen Blick auf Luzius, dessen bleiches Gesicht ihm zugekehrt war. »Er ist es«, sagte er und wendete sich wieder dem Tische zu. Nach einem kurzen Stillschweigen erhob der Konsistorialrat Lieselmeyer seine Stimme. »Sie gebrauchten vorhin den Ausdruck,« sagte er, »der Angeklagte habe gebetet. Was für Gebete waren das? Rief er etwa den Namen Gottes an?« – »Manchmal tat er das,« sagte Lindor, »manchmal kniete er nieder, bedeckte die Augen mit der Hand und bewegte die Lippen. Manchmal tat er auch das nicht und schien nur schweigend in sich versunken zu sein.« – »Er sprach offenbar die Beschwörungsformeln,« sagte der Kardinal, »deren die Zauberer sich zu bedienen pflegen.« Er gab dann ein Zeichen, daß der Zeuge sich entfernen könne, und erklärte die Sitzung für geschlossen. Es war inzwischen nachtdunkel geworden, der Regen strömte und schlug zuweilen, vom Winde gepeitscht, gegen die Scheiben. »Wir können nicht zu Fuß über die Straße gehen,« sagte der Erzbischof, »es müssen Automobile geholt werden, wenn es in diesem Bergnest welche gibt.« Während die Herren wartend zusammenstanden, sagte Lieselmeyer: »Die Augen dieses sogenannten Luzius gefallen mir nicht. Wahrscheinlich steckt in ihnen die teuflische Kraft, die er zu besitzen scheint. Ich sorge mich, ob er nicht auch uns etwas Böses antun könnte, wie er den Flieger heruntergeholt hat.« »Was mich betrifft,« sagte Donara, »so fürchte ich mich nicht. Ich mache das Zeichen des Kreuzes und fühle mich damit sicherer als in einer Rüstung.« – »Obwohl ich gleicherweise«, entgegnete der Konsistorialrat, »ein Gebet aus demütigem Herzen als Schutz empfehle, so wäre es mir doch lieber, jenen unchristlichen Blicken nicht ausgesetzt zu sein.« Der Erzbischof sagte, er sei derselben Ansicht, um so mehr, als die Anwesenheit des Angeklagten wegen seines starrsinnigen Schweigens ohnehin überflüssig sei.
Ein Zwischenfall veranlaßte, daß man von dem Beschluß, den Angeklagten künftig in seiner Zelle zu lassen, wieder abging. Es erschien nämlich eines Tages der nunmehrige Direktor der Fak, Herr Vornewitz, in Innsbruck und ersuchte die Herren vom Gericht um die Erlaubnis, einige Aufnahmen zu machen. Er erklärte die Grundsätze und die Bedeutung der Fak und bat namentlich, wenn Luzius zum Feuertode verurteilt werden sollte, mit seinen Apparaten dabei sein zu dürfen, denn es sei im Interesse der Kultur wünschenswert, ja eigentlich notwendig, daß ganz Deutschland, ganz Europa – so weit erstreckten sich seine Beziehungen – ein so grandioses Schauspiel mit ansehn könne. Da ihm bedeutet wurde, daß es noch nicht an dem sei, sprach er den Wunsch aus, eine Sitzung zu photographieren, damit die Welt die hochwürdigen Väter in ihrer Tätigkeit und den Raum, wo sie sie ausübten, kennen lerne. Abgesehen davon, daß das gebieterische Wesen des Direktors keinen Widerspruch zuließ, hatte die Aussicht, sich in einem so wichtigen Augenblick dargestellt und verewigt zu sehen, für die Herren etwas sehr Verlockendes; auch glaubten sie, daß eine solche Vorführung das Ansehen des neuen Gerichts förderlich verbreiten werde.
Als der dazu bestimmte Tag gekommen war und die Richter sich im Saale eingefunden hatten, ließ sich Herr Vornewitz den Herren, die er noch nicht persönlich kennen gelernt hatte, vorstellen und übernahm dann die Leitung. »Ich bitte die Herren,« sagte er, »Ihre Plätze einzunehmen und sich ganz so zu benehmen, wie Sie gewohnt sind. Lassen Sie sich durch meine Anwesenheit und den Gedanken an die Aufnahme nicht beirren, sonst können wir keinen Erfolg erzielen.« Während sie sich setzten, ging er im Saale herum und studierte, wie es schien, die Beleuchtung, indem er die Fenstervorhänge bald so, bald so zurechtzog. Dann warf er einen Blick auf den Gerichtstisch und rief durch den Saal: »Reden Sie, reden Sie, meine Herren! Schlagen Sie sich den Gedanken an das übliche Photographieren aus dem Sinn, hier haben wir es mit etwas ganz anderem zu tun. Reden Sie, bewegen Sie sich, je lebhafter, je ausdrucksvoller, desto besser.« Er stellte sich an verschiedene Punkte des Saales und beobachtete die Versammelten: an dem zweifelnden Wiegen seines Kopfes, an den mißbilligend zusammengezogenen Brauen war zu erkennen, daß das Ergebnis nicht günstig war. Der Erzbischof war ein ansehnlicher, hübscher Mann, der Kardinal ein südländischer Typus, aber roh, ohne Würde, der kleine Ondorelli hatte einen charakteristischen, in seiner Art anziehenden Kopf; aber etwas wahrhaft Erbauliches war nicht darunter, Ehrfurcht einzuflößen war die ganze Gesellschaft nicht geeignet. Unbefriedigt schüttelte er den Kopf und rieb sich die Stirn; dann ging er ans Fenster, öffnete es und rief einem seiner Untergebenen, die vor der Tür warteten, etwas zu. »Meine Herren,« sagte er, sich wieder den Richtern zuwendend, »mir fehlt hier noch etwas, eine Gestalt nämlich, die dem Publikum die ganze Heiligkeit des Unternehmens symbolisch augenfällig macht. Ich bin dafür verantwortlich, daß die Aufnahme nicht nur gefällt, sondern auch erschüttert. Deshalb möchte ich einen alten Mann einfügen, der an dieser Stelle von ergreifender Wirkung sein wird. Er ist schon öfter als Apostel oder Evangelist mit Erfolg aufgetreten.« Unter den letzten Worten öffnete er die Tür und ließ den Hühnerdepp ein, der auf der Schwelle zögerte, als er die Versammlung erblickte. »Nur näher, nur näher, lieber Mann,« winkte der Direktor freundlich, »Sie können sich hier sehr nützlich machen, und ich weiß ja, daß Sie das gern tun.« Der Alte, welcher trotz der sommerlichen Jahreszeit den mottenzernagten Radmantel der Frau Brotherz trug, humpelte diensteifrig herbei, worauf der Direktor ihn versuchsweise an verschiedene Stellen des Tisches führte, um sodann zurückzutreten und das Bild auf sich wirken zu lassen. Er entschied sich dafür, ihn zwischen den Vorsitzenden und seinen Nebenmann, den Kardinal De Trouchi, zu stellen, und empfahl ihm, recht treuherzig dazustehen, wie er es gewohnt sei; er könne auch nach Belieben einmal den Platz wechseln und sich mit dem einen oder anderen Herren freundlich besprechen. Hierauf überblickte Vornewitz noch einmal die ganze Veranstaltung, zog seine Uhr und sagte: »Meine Herren, es ist gleich zehn, der Angeklagte wird jetzt hereingeführt werden, und die Aufnahme beginnt. Mein Apparat wird in jener Ecke des Saales arbeiten. Ich empfehle Ihnen nochmals, nicht starr dorthin zu blicken, sondern sich frei und fröhlich zu verhalten, immerhin von der Wichtigkeit des Augenblicks durchdrungen zu bleiben.« Eben hatte sich der Direktor in die angedeutete Ecke begeben, wo zwei Gehilfen mit dem Apparat standen, als Luzius hereingeführt wurde. Er war sehr blaß, und seine Augen erschienen goldhell über den tiefen Schatten, die darunter lagen; aber sie sprühten nicht wie in den Tagen der Freiheit. Auch seine Haltung war nicht so aufrecht wie sonst und sein Gang weniger elastisch; er setzte sich auf seinen Platz und stützte sofort teilnahmslos den Kopf in die Hand. Der Direktor musterte ihn und überlegte sich, ob er die Aufnahme unterbrechen solle, um ihn von der Bedeutung des Augenblicks zu unterrichten und zu schicklichem Mitspielen zu ermuntern, unterließ es aber.
Nach einer Weile, während welcher ein Zeuge vernommen wurde, welcher aussagte, daß man in Passau den Angeklagten in Verdacht gehabt habe, Anstifter einer Feuersbrunst zu sein, hob Luzius zufällig den Kopf, und sein Blick fiel auf ein breites Fenster ihm gegenüber, durch welches man über die Stadt hinaus ins Freie sah. Er sah den braunen Glockenturm einer Kirche, ein paar flache Dächer, zwischen denen Pappeln, sanft vom Winde geglättet, aufragten, dahinter bewaldete Vorberge und wieder dahinter das violette Felsengebirge, dessen Gipfel im ewigen Schnee glänzten. Es schien ihm, als müßten das die heiligen Berge sein, wo in alabasternen Schalen unversiegliches Götterblut quillt, das himmlisch leuchtend und blitzend nach allen Seiten in den unendlichen Raum strömt, um alles Erschaffene zu verjüngen. Es sickerte herab an dem bröckelnden Gemäuer der alten Kirche, es rieselte über die Pappeln, es stürzte mit einem Rosenschauer über das Gitter des Parks, der ein festliches Landhaus umgab. Unbeweglich starrte Luzius nach diesem Bilde, seine Augen verschlangen die ambrosische Speise, die ihm so lange entzogen war. Ein wenig vorwärts geneigt glich er einem Löwen, der die Stäbe seines Käfigs mit den Tatzen zerbrochen hat und sich hinauszustürzen bereit ist. Unterdessen erzählte der Zeuge seine Geschichte, die damit endete, daß der Stiefsohn des Hausbesitzers als Anstifter des Brandes verurteilt sei. »Danach wäre«,sagte der Kardinal, die Brauen runzelnd, »der Verdacht, welchen man gegen den Angeklagten Luzius gehegt hatte, als hinfällig erwiesen?« Der Zeuge schob seinen Oberkörper nach rechts und links und sagte, der Stiefsohn sei wohl verurteilt, aber der Verdacht gegen Luzius habe trotzdem nicht ganz aufgehört. Ob etwa, fragte der Vorsitzende, die Möglichkeit bestehe, daß der Stiefsohn unschuldig verurteilt worden sei? Das nicht, sagte der Zeuge, das wolle er nicht behaupten. Ungeduldig schob der Anwalt die Bemerkung ein, es sei längst nachgewiesen, daß Luzius lange vor Ausbruch des Brandes die Stadt verlassen habe, und es habe keinen Sinn, die alte Geschichte aufzuwärmen. Der Kardinal wendete sich an den Zeugen: Er habe gehört, was der Anwalt gesagt habe, ob er etwas hinzuzufügen habe? Ob er erklären könne, warum der Verdacht so hartnäckig an dem Angeklagten hängen geblieben sei?
Zu erklären sei da weiter nichts, erwiderte der Zeuge, und wenn einer den Feuerzauber besitze, könne er ihn auch aus der Ferne ausüben. Es beweise also gar nichts, daß der Angeklagte zu der besagten Zeit nicht in Passau gewesen sei, im Gegenteil.
»Auf diese Art kommen wir nicht weiter«, sagte der Kardinal verstimmt. »Es wird wohl Gründe haben, warum sich der Verdacht gerade auf Luzius lenkte. Lassen Sie uns endlich diese Gründe hören!«
Inzwischen war es dem Hühnerdepp langweilig geworden, und er fing an, nach irgendeiner Unterhaltung suchend, im Saale umherzublicken. Von dem Zeugen, den er zuerst mit Aufmerksamkeit betrachtete, wanderte sein Blick zu dem Anwalt und weiter, bis er auf Luzius fiel, dessen flammende Augen am Fenster hingen. Er stutzte und staunte, ein vergessenes Wohlgefühl ging in seinem Herzen auf, Erinnerung zuckte aus dem Dunkel der Vergangenheit, wie wenn es Nacht wird und ein Fenster nach dem anderen im Dorfe aufglüht. Plötzlich hob er beide zitternde Hände, und indem er laut ausrief: »Mein Luzius!« eilte er auf den Wiedergefundenen zu und warf sich an seinen Hals. Der Zeuge, welcher soeben die Aussage zu machen begonnen hatte, daß man die Brandstiftung aus der Ferne doch niemand anderem als Luzius hätte zutrauen können, drehte sich um und blieb mit offenem Munde in Verwunderung erstarrend; die Richter standen auf und sahen ratlos dem außerordentlichen Schauspiel zu. Auch den Kardinal bannte das Überraschende des Vorgangs eine Minute lang, dann aber brach sein Zorn los, sich zuerst gegen Herrn Vornewitz wendend, der gelassen weiterkurbelte. »Aufhören! aufhören!« schrie er, mit beiden Armen gegen die Ecke winkend, wo jener stand; und dem an der Tür aufgepflanzten Polizisten befahl er, Luzius unverweilt in seine Zelle zurückzubringen und den alten Mann gleichfalls einzusperren. Der Direktor der Fak warf sich dazwischen. »Ich protestiere dagegen,« rief er, »daß man meinen Angestellten verhaftet, einen redlichen, stillen Greis, für den ich eintrete! Ist es ein Verbrechen, daß er in dem Angeklagten einen Bekannten wiederfand? Es gibt mehr Leute, die den Angeklagten gut gekannt haben. Begeben Sie sich doch, meine Herren, auf Ihre Sitze und fahren wir fort; dieser Vorfall hat die Monotonie des Gegenstandes sehr vorteilhaft aufgelockert.« Allein in Donara hatte sich ein Groll gegen den Direktor angesammelt, der sich nicht mehr zurückdrängen ließ. Die Sitzung werde für heute abgebrochen, entschied er, und die bereits aufgenommenen Rollen müßten zerstört, dürften nicht an die Öffentlichkeit gebracht werden. »Ich bedaure,« sagte Vornewitz mit höflicher Festigkeit, »Eurer Eminenz in diesem Punkte nicht dienen zu können. Die bereits fertigen Aufnahmen gehören mir, beziehungsweise meiner Gesellschaft, und wir werden sie uns mit noch so viel Geld nicht abkaufen lassen.« Vergeblich machten die anderen Herren Vermittelungsvorschläge, man ging im Zorn auseinander, und von neuen Versuchen war einstweilen nicht die Rede.
Als Lindor das Haus seiner Braut betrat, empfing ihn Frau Möller ohne eine Äußerung der Freude. »Wären Sie eine Stunde später gekommen,« sagte sie, »so würden Sie Isolde nicht mehr angetroffen haben; sie ist im Begriff nach Innsbruck zu fahren.« Sie ging selbst Isolde zu benachrichtigen, die gleich darauf im Reisekleid ins Zimmer trat. Lindor ging mit einem zärtlichen Ausruf auf sie zu und wollte sie umarmen, aber sie wehrte ihn ab. »Wie konntest du das tun?!« sagte sie, »wie konntest du! Ich fasse es nicht! Einen Mann beschuldigen, seinen Henkern ausliefern, der einmal dein Freund war, mehr als das, dessen Jünger du wärest, der dir nie etwas, der überhaupt keinem Menschen etwas zuleide getan hat. Das ist infam!« Mit ihren leidenschaftlich anklagenden Augen, ihren bebenden Lippen gefiel Isolde ihrem Verlobten viel mehr als sonst. »Wie schön du bist!« sagte er, indem er versuchte sie an sich zu ziehen; »laß mich dich küssen!« Sie stieß ihn heftig zurück. »Nicht in diesem Augenblick«, sagte sie. »Ich war im Begriff nach Innsbruck zu reisen, weil ich die Zeitungsberichte gelesen hatte und versuchen wollte, dich zur Besinnung zu bringen; aber selbst wenn sich das Geschehene hätte wieder gutmachen lassen, wie soll ich vergessen, daß du so handeln konntest?« Seine sammetdunklen Augen senkten sich schmeichelnd in ihre, und er faßte ihre Hand mit dem festen, unwiderstehlichen Griff, den sie so sehr an ihm geliebt hatte. »Du wirst verzeihen und vergessen«, sagte er lächelnd. Mühsam wendete sie das Gesicht ab. »Laß mich! Geh, geh,« sagte sie; »es ist besser, wir sprechen heute nicht mehr darüber.« Lindor ließ plötzlich ihre Hand fallen und ging. Als die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte, stand Isolde einige Augenblicke regungslos und horchte; aber er kam nicht zurück, sondern eine Minute später, während welcher sie den Reisemantel abgelegt hatte, fiel die Haustür ins Schloß. Aufschluchzend warf sich Isolde in einen Sessel; als sie die zarte Hand ihrer Mutter fühlte, die über ihr Haar streichelte, schüttelte sie sich, sprang auf und lief in das Zimmer, wo die Reisetasche auf einem Gestell bereitlag. Lange saß sie mit quälenden Gefühlen ringend. Bestand denn irgendeine Möglichkeit, das, was Lindor getan hatte, gelinder zu beurteilen? Noch hatte sie seine Verteidigung nicht gehört; aber warum hatte er sich nicht verteidigt? Bedeutete der Umstand, daß er kein erklärendes Wort gesagt hatte, etwas Gutes oder das Gegenteil? War seine Liebe zu ihr so leidenschaftlich, daß er zunächst nichts anderes hören und sehen wollte als sie? Gab es vielleicht doch einen verständlichen Grund seines Handelns, und zürnte er ihr, daß sie das nicht als selbstverständlich voraussetzte? Ein Schauder der Wonne überlief sie bei dem Gedanken, daß er vergebens nach ihren Lippen gedürstet hatte, daß er jetzt vielleicht in Sehnsucht nach ihr sich wand und zugleich ihr zürnte. Sie vorempfand den überschwenglichen Augenblick, wo er ihr vergab, sie ihm verzieh. Aber war es wirklich so, wie sie sich jetzt einzubilden suchte? Sie ging die ganze Zeit vom ersten Augenblick ihrer Bekanntschaft an durch bis zum jetzigen und wurde immer unsicherer. Warum, dachte sie, hatte sie sich von ihrer Entrüstung hinreißen lassen, anstatt ruhig mit Lindor zu besprechen, was geschehen war und was weiter geschehen konnte? War es nicht eine alberne Komödie, daß sie sich unerbittlich stellte, wo sie wußte, sie würde ihm doch schließlich verzeihen? Sie vergegenwärtigte sich seinen schmelzenden Blick, seinen herrischen Griff und erglühte. Eine Nacht zu verbringen, ohne sich mit ihm ausgesprochen zu haben, schien ihr unmöglich; sie ging an das Telephon und fragte nach ihm in dem Hotel, das er, seit er mit ihr verlobt war, bewohnte. Man gab ihr die Auskunft, er sei noch nicht zurück, worauf sie den Portier beauftragte, ihn zu bitten, daß er sie anrufe, wenn er wieder da sei. Es war sechs Uhr abends; sie fühlte sich beruhigt und ging in das Wohnzimmer ihrer Mutter.
Als es halb acht schlug, ohne daß er sich gemeldet hatte, nahm ihre Unruhe wieder zu. Sie hätte gern einen Spaziergang gemacht, aber dann würde sie seinen Anruf verpassen, und außerdem kam die Zeit des Abendessens; es hätte ihre Eltern gekränkt, wenn sie gerade jetzt fortgegangen wäre. Sollte sie noch einmal im Hotel nach ihm fragen? Sollte sie hinschicken? Selbst hingehen? Das alles verwarf sie wieder; jeden Augenblick mußte er ja anrufen, und dann löste sich alles. Sie zuckte zusammen und sprang unwillkürlich auf, als es läutete. »Bleibe doch,« sagte Frau Möller, »der Diener wird uns schon berichten, wer am Telephon ist.« Prinz Yp lasse fragen, meldete der Diener, ob es den Herrschaften angenehm sei, wenn er zum Abendessen komme? Sie würden sich freuen, ihn zu sehen, ließ Frau Möller erwidern. Isolde wollte ihre Mutter bitten, den Besuch unter irgendeinem Vorwande abzulehnen; aber es fiel ihr ein, daß des Prinzen Gegenwart den Abend vielleicht erträglicher machen würde. Man würde nicht von Lindor, von Luzius und der Inquisition sprechen, was sonst gar nicht zu umgehen gewesen wäre. Hierin zwar täuschte sie sich; denn der Prinz begann mit der Erklärung, er habe gehört, daß das gnädige Fräulein nach Innsbruck reisen werde, und habe sich ihr anschließen wollen, wenn sie es gestatte. Er könne durchaus die Torheit, welche die versammelten Väter begingen, nicht länger mit ansehen, ohne wenigstens den Versuch zu einer verständigen Inangriffnahme einer so wichtigen Angelegenheit zu machen. »Haben Sie die neuesten Berichte gelesen?« fragte er, indem er eine Zeitung aus der Tasche zog. Isolde wurde dunkelrot, denn sie fürchtete, er werde die Zeugenaussage Lindors zur Sprache bringen; das war jedoch nicht der Fall. »Ich bin Protestant,« sagte Prinz Yp, »aber in meiner Familie gibt es auch Katholiken, und zwar in hohen Stellungen. Wie dem auch sei, ich begrüße die Einrichtung des Vereinigten Kirchengerichtshofs, obwohl der Name unglücklich gewählt ist, mit Genugtuung. Kann doch das Volk ohne Religion durchaus nicht in Ordnung gehalten werden, und es ist doch leider nötig geworden, der Religion durch gewaltsamen Eingriff eine unerschütterliche Basis zu geben. Nun nimmt aber die Sache mehr und mehr eine Wendung, die sich zur Wissenschaft in grellen Widerspruch setzt. Hören Sie, meine Verehrten: Zur Verantwortung vor den Vereinigten Kirchengerichtshof sollen alle diejenigen gezogen werden, welche sich der Geisterbeschwörung, des Wettermachens, der Doppelgängerei, unmittelbaren Einwirkung auf Menschen und Dinge, des Hervorrufens widernatürlicher Erscheinungen, kurz der Zauberei verdächtig gemacht haben. Auch das Heilen von Krankheiten durch Handauflegen, Besprechen, Gebet, durch irgendeine von der gebräuchlichen Arzneikunde abweichende Art und Weise darf nur mit ausdrücklicher Erlaubnis einer kirchlichen Behörde ausgeübt werden! Dies letztere mag hingehen; aber der erste Satz scheint geradezu gegen den Okkultismus gerichtet zu sein. Begreifen denn die hochwürdigen Väter nicht, daß es Zauberei nicht gibt und niemals gegeben hat, und daß die okkultistische Wissenschaft sich eben bemüht, die seelischen Vorgänge, welche zur Annahme vermeintlicher Zauberei führten, zu enthüllen und so den Begriff der Zauberei überhaupt aufzulösen?«
»Vielleicht«, meinte Frau Möller, »könnten die okkultistischen Versuche gleichfalls in Übereinstimmung mit der Geistlichkeit ausgeführt werden?« Die Mundwinkel des Prinzen senkten sich zu einem sarkastischen Lächeln. »Damit hat es eine eigene Bewandtnis«, sagte er. »Die Theologie in Ehren, wo sie hingehört; zu wissenschaftlichem Betriebe fehlt ihren Vertretern das, was jene eigentlich charakterisiert: die Sachlichkeit.«
Isolde gab sich Mühe, dem Gespräch zu folgen, das sie unter anderen Umständen interessiert hätte; aber es war ihr so, als vernähme sie es durch ein verworrenes Sausen hindurch in der Ferne. Sie konnte sich nicht enthalten, fortdauernd auf das Telephonzeichen zu horchen; anstatt dessen läutete plötzlich die Hausglocke. Kein Zweifel, das war er! Es war ja selbstverständlich, daß er käme, sich nicht auf ein blechernes Telephongespräch beschränkte! Ihr selbst unbewußt lächelte sie und machte Miene aufzustehn. »Was tust du, Isolde,« sagte Frau Möller erstaunt, »sie werden draußen schon öffnen. Das Eis aus der Konditorei wird gebracht, das ich bestellt habe.« Eine Sekunde lang war es Isolde, als verlöre sie das Bewußtsein. »Das ist gut,« sagte sie, sich mit Anstrengung zusammenraffend, »denn es ist schwül heute abend; ich wollte gerade ein Fenster öffnen.« Frau Möller sagte, sie habe es im Gegenteil kühl gefunden und deshalb im Kamin in der Halle Feuer anzünden lassen.
Als man nach beendetem Abendessen in die Halle trat, schlug die große Standuhr mit sonorem Klange zehn. Er würde nun nicht mehr kommen und auch nicht mehr anrufen, dachte Isolde und empfand eine große Erleichterung, daß sie nicht mehr zu warten brauchte, und daß der Tag bald vorüber sein würde. Der Prinz blieb nie länger als bis elf Uhr. »Ist Herr Lindor noch nicht zurück?« fragte er, während er sich am Rauchtisch eine Zigarre anzündete. »Er ist heute wiedergekommen«, antwortete Frau Möller. »Ich habe mich noch nicht entschließen können, mit ihm zu sprechen nach dem, was er getan hat. Wie denken Sie darüber?« – »Meine liebe gnädige Frau,« sagte Prinz Yp, »es muß ein jeder nach seiner Überzeugung handeln. Ich respektiere jede Überzeugung, auch wenn ich sie nicht verstehe.« Isolde brachte kein Wort heraus, sie hatte ein Gefühl, als ziehe sich ihre Kehle krampfhaft zusammen. »Wie schwer ist es doch überhaupt,« fuhr der Prinz fort, »daß die Menschen sich untereinander verstehen. In einem und demselben Volke welche Gegensätze der Meinungen! Und nun gar in verschiedenen Völkern. Die Flamme im Kamin erinnert mich daran, daß die Vauki – so nennt man abkürzungsweise den Vereinigten Kirchengerichtshof – für Zauberei und ähnliche Verbrechen die Feuerstrafe wieder einführen möchte. Das ist ein Beispiel, wie verschieden Menschen und Nationen empfinden. Für die italienische Volksseele liegt darin vielleicht nichts Absonderliches, mich dagegen würde es sehr befremden, wenn ich zur Strafe für die okkultistischen Sitzungen, die ich veranstaltet habe, auf den Scheiterhaufen geführt würde und verbrennen müßte. Sie werden damit in Deutschland nicht durchdringen.« – »Wie schön ist das Feuer«, sagte Isolde, träumerisch in den Kamin starrend. »Es zuckt und sprüht in unbändiger Lebendigkeit; es ist wie unsere Seele, so alldurchdringend, so herrlich und so böse.« Sie war dem Prinzen für die taktvolle Art dankbar, wie er das Gespräch an der störenden Klippe vorübergeführt hatte. Als er aufbrach, tat es ihr fast leid. Sie wartete, bis ihre Eltern und die Dienstleute zu Bett gegangen waren, und schlich sich dann wieder in die Halle hinunter an den Kamin, wo noch ein paar Scheite glommen. Obwohl es halb zwölf Uhr war, konnte sie sich nicht entschließen, schlafen zu gehen, weil sie für möglich hielt, daß doch noch irgendein Zeichen von Lindor komme. Todmüde und dennoch aufgeregt saß sie bei der erlöschenden Glut, manchmal vor Kälte zusammenschauernd. Als es eins schlug, entschloß sie sich, in ihr Schlafzimmer zu gehen; ein einziger Funke glühte sie noch an aus der Asche wie ein Auge voll Haß.
Am anderen Morgen erwachte sie spät und erschrak, weil sie sofort dachte, daß Lindor gewiß schon angerufen hätte oder dagewesen wäre; aber sie war nicht mehr so gespannt und ungeduldig wie am Tage vorher, weil sie zu müde war. Was war eigentlich vorgefallen? fragte sie sich. Es würde sich nun bald alles aufs einfachste klären. Um elf Uhr kam Lindor; Isolde empfing ihn im Wohnzimmer, Frau Möller war ausgegangen. Ihr Herz schlug unerträglich, während er mit einem liebenswürdig wehmütigen Lächeln an sie herantrat und ihre Hand an die Lippen führte. Es war kein Anflug von Zärtlichkeit in seinem Blick und seiner Gebärde, nur die anmutige Höflichkeit, die er gegen jedermann hatte. »Verzeih mir,« sagte er, »daß ich gestern nicht mehr angerufen habe. Als ich aus dem Theater nach Hause kam, schien es mir zu spät zu sein. In der Zwischenzeit habe ich mir allerlei überlegt, was ich ausführlich mit dir besprechen möchte. Es ist mir klar geworden, daß der arme Lindor ein unglücklicher, beklagenswerter Mensch ist, mit dem die schöne, stolze, edle Isolde Möller ihren Namen und ihr Schicksal nicht verbinden darf.« – »Liebst du mich nicht mehr?« fragte Isolde tonlos. »Das wäre nicht der richtige Ausdruck,« sagte Lindor, »denn eigentlich habe ich dich nie geliebt, nie so, wie du geliebt zu werden verdientest.«
»Und doch hast du es mir hundertmal geschworen«, sagte Isolde.
»Ich belog nicht dich,« entgegnete Lindor, »sondern mich selbst; aber ich wußte es nicht. Siehe, ich habe dich nicht geliebt, weil ich nicht lieben kann, nie mehr lieben werde. Ich redete mir ein, dich zu lieben, weil ich deine schöne Neigung zu mir, teure Freundin, sah. Einmal in meinem Leben habe ich geliebt, ein Mädchen, ein einziges, unvergleichliches; seit ich sie verloren habe, ist mein Herz tot. Ich muß mich damit abfinden.« – »Und wer war das Mädchen?« fragte Isolde, die Augen krampfhaft auf sein Gesicht wendend. »Hero war es«, sagte Lindor. »Sie habe ich geliebt wie ein Jüngling, der zum ersten Male liebt, wie ein Kind, wie ein Mann; sie war mein Himmel und meine Hölle.« Isoldes Überraschung war so groß, daß sie einen Augenblick darüber ihren Schmerz vergaß. »Aber du wärest mit ihr verlobt!« sagte sie. »Sie liebte dich; du wärest es, der sie verließ.« – »Weil ich wußte,« sagte Lindor, »daß ich ihr auf die Dauer nicht genügen würde. Sie wäre mir vielleicht treu geblieben, aber nur aus Mitleid. Sie stand zu hoch über mir. Ich bin ihr still aus dem Wege gegangen, damit sie das Glück fände, das ihr gebührt.« Halb bewußtlos glitt Isoldes Blick über das schmale blasse Gesicht, die leichte Gestalt, die einen so magischen Reiz auf sie ausgeübt hatte. Sie empfand dieselbe Anziehungskraft mit einem zerreißenden Schmerzgefühl und doch zugleich einen leisen Widerwillen. »Ich begreife nicht, was du sagst; aber wenn es so ist, müssen wir uns trennen«, sagte sie. Lindor führte wieder ihre Hand an seine Lippen und sagte: »Ich danke dir, daß du mir die schwere Stunde erleichtert hast. Du wirst mich vergessen und glücklich sein; ich werde, nachdem ich eine Weile in einem Glanze mich gesonnt habe, der mir nicht zukam, in die Einsamkeit untertauchen, die mein Schicksal ist.« Er kam Isolde in diesem Augenblick wie ein Schauspieler vor, der seine Rolle aufsagt. »Geh, ich bitte dich«, sagte sie. Ehe er die Tür erreicht hatte, lief sie ihm nach, umschlang ihn mit beiden Armen und bedeckte sein Gesicht mit leidenschaftlichen Küssen; aber plötzlich fühlte sie, daß ihr nichts, nichts in ihm entgegenkam. Er lächelte müde. Es ist wahr, dachte sie, er liebt mich nicht, und wahrscheinlich hat er mich nie geliebt; wie ekelhaft ist das alles. Trotzdem wartete sie noch den ganzen Tag und den nächsten, daß er wiederkäme oder ihr schriebe; aber er ließ nichts hören, und sie erfuhr, daß er sein Zimmer im Hotel aufgegeben habe und verreist sei.
Es war Sonntagvormittag, als Strowisch, von Venedig kommend, in Innsbruck ausstieg. Er tat es, um sich mit dem Inquisitionsgericht bekannt zu machen, das er als zu seinem Konzern gehörig betrachtete, zugleich aber auch, weil er den Kirchenbesuch, an den er nun einmal gewöhnt war, nicht aussetzen wollte. Zwar war es ihm unlieb, in eine katholische Kirche zu gehen, weil er auf die protestantischen Funktionen eingestellt war und das Gefühl hatte, das sei das Richtige, ohne irgendwelche Überzeugungen damit zu verbinden. Wenn er auf seinen Reisen zufällig in eine katholische Kirche gegangen war, hatten ihn die dort ablaufenden Zeremonien nicht in die angenehme Geistesverfassung versetzt, die der protestantische Gottesdienst in ihm auslöste. Indessen sollte es heute anders kommen. Der Tag war drückend heiß, am blendenden Himmel bauschten sich Wolken wie Kuppeln aus durchsichtigem Marmor. Der Schatten der Häuser war kurz, da es Mittag war, und man suchte vergebens Kühle. Die wenigen Menschen, die unterwegs waren, wischten sich den Schweiß von der Stirne. Strowisch schwitzte nicht, aber er hatte die widerwärtige Empfindung, als könne ihm der Atem abgeschnitten werden. Er beschleunigte seinen Schritt, um in der Hofkirche, die die nächste war, unterzukommen; da war es kühl und so dunkel, daß er im ersten Augenblick nichts unterschied. So ist es vielleicht, wenn die Seele, noch versunken in Todesschmerz und den Abschied von der geliebten Erde, nach langer Irrfahrt und Pein in das selige Jenseits eingeht, wo balsamisches Vergessen alles Wehs und süßes Aufleuchten aller Liebe sie umfängt. In das weihrauchdurchwogte Dunkel glühten von den Altären her rötlich zitternde Lichter, die Orgel summte. Allmählich tauchten aus den sich langsam verschiebenden Menschen die schwarzen Reihen der ehernen Könige und Königinnen auf, die die maßlose Phantasie eines Kaisers als Trauergeleit zu seinem Grabe hatte aufrichten lassen, wie Zypressen den Wanderer zu einem Tempel oder Totenacker führen. Starr stehen sie seit Jahrhunderten, und dennoch glaubt man den stampfenden Schritt zu hören, mit dem sie langsam das gigantische Denkmal umkreisen. Strowisch suchte sich, den Hut in der Hand, einen Platz und atmete angenehm überrascht auf. Hier konnte er hübsch eine halbe Stunde verbringen, und dann würde es gerade die rechte Zeit sein, dem Kardinal Donara einen Besuch zu machen. Er konnte ihn zum Mittagessen einladen, was er vermutlich, schon aus Geiz, annehmen würde, und konnte auch den Erzbischof von Mainz und den Kardinal De Trouchi zuziehen; die protestantischen Herren wollte er lieber einmal allein haben. Ob diese Herren die Zeitungen so genau lasen, um zu wissen, daß die Aktien der Amach noch weiter gefallen waren? Er setzte voraus, daß sie mehr oder weniger spekulierten; aber er nahm an, daß sie Vertrauensmänner hätten, die die Geschäfte für sie besorgten, und daß sie sich selbst nicht in die Einzelheiten des Börsenganges vertieften. Es wäre ihm ärgerlich gewesen, wenn sie von der Schlappe, die er erlitten hatte, Bescheid gewußt hätten. Wie er sich den Zeitungsartikel zurückrief, den Nickelson in bösartiger Absicht geschrieben hatte, wunderte er sich, daß so viele Menschen sich davon hatten betören lassen. Es war doch ausgeschlossen, daß es irgendwo Wesen gäbe, die sich an Intelligenz, an Reichtum technischer Mittel und Erfindungsgabe mit den Europäern sollten messen können. Wie konnte man überhaupt bei der unermeßlichen Ausdehnung des Planeten Mars sich anmaßen, alle seine Bewohner über den gleichen Kamm zu scheren! Da gab es sicherlich wie auf der Erde mehrere Erdteile, die von andersartigen, auf ganz verschiedener Entwicklungsstufe befindlichen Völkern bewohnt waren. Waren doch in dem dichtbevölkerten, durchforschten Europa kürzlich noch Petroleumquellen entdeckt worden, was für Überraschungen mußte der neue Planet bringen, was für Schätze, auch in dem Falle, daß er unbewohnt wäre, sein Schoß verbergen. Ein wunderlicher Einfall durchfuhr Strowisch, als er dieser Überlegung nachhing, ein ausgezeichneter, ja ein rettender. Gerade in diesem Augenblick hörte das Orgelspiel auf: noch ein Beben durchlief den Raum, dann vernahm man auf einmal Räuspern und Husten und allerhand alltägliche Geräusche. Strowisch hob unwillig den Kopf; es war ihm zumute, als wäre er in einer strammen Arbeit gestört worden. Da rollte die Orgel donnernd heran, und zugleich erhob sich trompetenhell und makellos rein ein Chor von Knabenstimmen und stürmte himmelan. Getragen wurde er von einer tiefen Stimme, die vermutlich die des priesterlichen Lehrers der Knaben war; sie durchdrang die junge Glaubenszuversicht mit einem erhabenen Ton schwermutvoller Allwissenheit. Eine Petroleumquelle, dachte Strowisch, ja eine solche Entdeckung würde die erwünschte Hausse in die Wege leiten. Die Gelehrten hatten ja auf irgendwelchen Sternen Feuererscheinungen beobachtet, es lag kein Grund vor, daß das nicht auch auf dem Mars geschähe. In Gedanken las er schon den Bericht, wie man durch neuerdings hergestellte, besonders starke Fernrohre auf der Oberfläche des Mars bewegliche, feurige Flecken gesehen hätte, die, wenn man die Entfernung in Betracht zöge, nichts anderes sein könnten als hochauflodernde Flammen. Erst habe man gemeint, daß es sich um vulkanische Ausbrüche handle, doch sei das nicht möglich, da solche stoßweise erfolgten und von kurzer Dauer wären, und man sei dann darauf gekommen, daß es in Brand geratene Petroleumquellen wären. Es kämen auch noch andere entzündliche Stoffe in Betracht, das Ergebnis der Spektralanalyse stehe noch aus. Fast meinte Strowisch, daß er selbst die Ausarbeitung eines derartigen Artikels übernehmen könnte; aber besser würde es doch sein, eine Autorität zuzuziehen, einen Chemiker etwa, der die Sache mehr vertiefen würde. Wenn dann die Hausse da wäre, wollte er aber doch die sämtlichen Aktienpakete der Amach auf den Markt werfen und verkaufen. Wie sein Blick zufällig durch die Kirche glitt, an deren Dämmerlicht seine Augen sich inzwischen gewöhnt hatten, sah er zu seiner Überraschung Lindor einige Bänke vor sich sitzen. Das war ja, dachte Strowisch, der Verlobte seiner Nichte, der, soviel ihm bekannt war, Chemie studiert hatte und der, schon der verwandtschaftlichen Beziehung wegen, bereit sein würde, auf seine Idee einzugehen. Lindor war zwar keine Autorität, aber dafür mußte Freundlich sorgen, sowie auch für schnelle und weite Verbreitung des Berichtes.
Lindor war, nachdem er sich von Isolde getrennt hatte, zuerst in stumpfe Melancholie verfallen. Nun sollte man also wieder etwas Neues anfangen. Ja, wenn es wirklich etwas Neues gäbe! Aber die Liebeleien standen ihm bis an den Hals; er fühlte sich außerstande, sofort wieder eine einzuleiten. Ebenso widerlich war ihm der Gedanke an Arbeit. Nein, ehe er sich einem Beruf auslieferte, würde er sich lieber aufhängen. Überhaupt, das Dasein schien ihm so lästig, daß es der Mühe wert war, den peinlichen Augenblick des Sterbens durchzumachen, um es nur loszuwerden. Er vertiefte sich in die Betrachtung verschiedener Todesarten und schlief endlich darüber ein; es war Nachmittag. Mit einem stechenden Schmerz im Kopf wachte er auf; es kam ihm erstickend heiß in seinem Zimmer vor. Er öffnete das Fenster und sah angeekelt auf die Straße: dieser Ort war ihm durch und durch verleidet, er würde ihn schleunigst verlassen, wenn er nur wüßte wohin. Da fiel ihm Innsbruck ein und die versammelten Väter, die sich so beflissen gegen ihn gezeigt hatten. Wie, wenn man katholisch würde? So gut wie aufhängen war das schließlich. Vielleicht konnte er in einen Orden eintreten. Er dachte es sich reizvoll, intim mit schönen Frauen zu verkehren, die sich in ihn verlieben und von vornherein wissen würden, daß sie ihn nie besitzen könnten. Indessen könnte man sich das noch überlegen. Der Einfall versetzte ihn in gute Laune; er beglich seine Rechnung und reiste noch am selben Abend ab. Bevor Strowisch in der Kirche seiner ansichtig geworden war, hatte er ihn schon entdeckt, und seine erste Regung war ein leichtes Erschrecken gewesen. Die Befürchtung lag nahe, daß Strowisch gekommen sei, um ihn zu bitten, er solle seine Nichte nicht verlassen, sie sei verzweifelt, wolle sich ein Leid antun und was dergleichen mehr war; solchen unnützen Auseinandersetzungen ging er lieber aus dem Wege. Allein er sagte sich, daß, wenn es sich wirklich so verhielte, Strowisch ihn doch ausfindig machen würde, und daß es also keinen Sinn hätte, der Begegnung auszuweichen. Als sie im Menschenstrome zusammen ins Freie traten, stellte sich Lindor so, als bemerke er Strowisch erst in diesem Augenblick, und ging unbefangen grüßend auf ihn zu. »Innsbruck ist mit einem Schlage der Mittelpunkt der Welt geworden,« sagte er; »Sie hätte ich am allerwenigsten hier zu treffen erwartet, Herr Kommerzienrat.« »Das hängt mit meinen Beziehungen zum Papst zusammen«, sagte Strowisch. »Ich freue mich, Sie zu sehen, Herr Lindor. Wissen Sie, daß ich vor einigen Minuten noch lebhaft an Sie gedacht und Sie hergewünscht habe?« – »Da könnte man abergläubisch werden«, entgegnete Lindor. »Daß ich hier bin, ist eine Folge von Umständen, die ich mir selbst noch nicht recht erklären kann.« Strowisch schob seinen Arm vertraulich in den des jungen Mannes; den Besuch bei Donara konnte er auch nach dem Mittagessen machen, jetzt wollte er seinen eben skizzierten Plan mit Hilfe Lindors, den ihm der Zufall so gefällig hergeführt hatte, fertig ausarbeiten. Als Lindor merkte, daß von Familienangelegenheiten nicht die Rede war, wurde er sehr vergnügt und ging bereitwillig auf alle Wünsche des Kommerzienrats ein. Er möchte, sagte dieser, daß der Bericht einen streng wissenschaftlichen Charakter habe, daß alle Behauptungen möglichst unanfechtbar belegt würden. Ob Lindor sich das getraue? Ob er die dazu nötigen Kenntnisse besitze?
»Ja, das kann ich versprechen,« antwortete Lindor, »in dem Augenblick, wo ich Kenntnisse nötig habe, stellen sie sich ein. Sie laufen herbei, wie die Zellen in einem verwundeten Organismus zur Regeneration zusammenschießen. Mir schwebt schon etwas vor, was sicher Ihren Beifall haben wird.«
Das gemeinsame Mittagessen dehnte sich länger aus, als des Kommerzienrats Gewohnheiten entsprach. Die Bitte Lindors, sich ihm anschließen zu dürfen, wenn er Donara besuche, nahm er freundlich auf. Von Isolde war gar nicht die Rede gewesen.
Papst Gregor hatte eben fünf andächtigen Personen Audienzen erteilt und läutete nun, nachdem der Letzte, ein schwedischer Baron, sich entfernt hatte, seinem Diener Taddeo, indem er gleichzeitig dem Zeremonienmeister sagte, daß er niemanden mehr empfangen wolle. Es wären noch fünf Besucher vorgemerkt, sagte dieser. »Warum haben Sie sie vorgemerkt?« sagte der Papst gereizt. »Ich bin nicht mehr in Stimmung.« – »Eure Heiligkeit waren selbst damit einverstanden,« entschuldigte sich der Zeremonienmeister; »es kommt zunächst die Gräfin Sörgely aus Budapest mit ihrer Tochter und ein Eingeborener aus Hawai, der zur heiligen Kirche übergetreten ist.« – »Sie sollen zum Teufel gehn,« sagte der Papst, »ich kann nicht mehr.« Taddeo, welcher inzwischen eingetreten war, sagte mitleidig: »Eure Heiligkeit ist weiß wie ein Stück Papier; man wird Sie noch zugrunde richten.« Ungeduldig dem Zeremonienmeister mit der Hand winkend, sagte Gregor: »Ich will und kann niemanden mehr sehen; einen passenden Grund zu finden, ist Ihre Sache; dafür sind Sie im Amt.« Der Zeremonienmeister zog sich mit unheilvoller Miene zurück. Taddeo tippte sich an die Stirn und sagte: »Etwas eng hier, der Arme. Als ob es ein Unglück wäre, wenn die Leutchen zweimal statt einmal in den Vatikan kommen. Nun schlage ich vor, daß Eure Heiligkeit sich ein Stündchen in Ihrem Schlafzimmer aufs Bett legen. Da ist es kühl wie nirgends sonst, weil ich den ganzen Tag die Laden geschlossen halte. Da ist Eure Heiligkeit auch vor allen Störungen sicher; ich gehe gleich voran, um das Bett herzurichten.« Gregor folgte seinem Diener, setzte sich bequem in die Kissen, die Taddeo ihm in einer bestimmten Art und Weise aufgetürmt hatte, und nahm dann einen starken Kaffee, den der Getreue ihm brachte. »Sage mir einmal, Taddeo, wie alt bist du eigentlich?« fragte der Papst während des Trinkens. Taddeo erwiderte, daß er sechsundsechzig Jahr alt sei. »Merkst du denn das Alter?« erkundigte sich der Papst. »Ich gestehe, daß die schönsten Weiber mir gar keinen Eindruck mehr machen. Die belgische Sängerin, die heute da war, hat zwei Könige zu Liebhabern gehabt; und da die Könige jetzt rar sind, will sie, so hörte ich, ledig bleiben, um nicht unter ihre eigene Vergangenheit herabzusinken. Sie soll eine auffallende Schönheit sein, und angesehn hat sie mich, als ob ich ein Stück Speck in der Pfanne wäre, das sie schmelzen müßte; aber ich hatte Mühe, das Gähnen zu unterdrücken.« – »Es ist auch verdammt heiß heute,« sagte Taddeo, »das macht schläfrig. Was mich betrifft: daß meine Alte mich nicht mehr gruseln macht, ist begreiflich. Ich bin aber auch ein armer alter Mann, Eure Heiligkeit dagegen haben Augen wie Raketen und Wangen wie Äpfelchen; die belgische Sängerin hat gewiß nicht gegähnt.« – »Hergerichtet hatte sie sich wie eine Magdalena zwischen zwei Schäferstunden«, sagte der Papst lachend. Dann trug er Taddeo auf, den Kardinal De Trouchi, wenn er käme, nicht etwa abzuweisen, sondern sofort zu ihm zu führen.
De Trouchi setzte sich auf einen Plüschsessel, den Taddeo ihm an das Bett des Papstes schob. »Nun, Taddeo,« sagte dieser, »kannst du uns beiden ein Eis bringen, und dann sorge dafür, daß wir allein bleiben.«
»Gut, daß Sie kommen, mein Lieber,« wendete sich Gregor an De Trouchi, »ich habe Ihnen mancherlei zu erzählen, was Sie überraschen wird. Zuerst aber wollen Sie mir berichten, wie die Dinge in Innsbruck stehen. Hatte ich nicht vorausgesagt, daß Donara alles verderben würde?«
»Wie recht hatten Eure Heiligkeit«, sagte De Trouchi. »Das Gefühl, eine große Macht in der Hand zu haben, verdrehte ihm vollends den Kopf. Er ist ein kleinstädtischer, altmodischer Hexenrichter, aber kein Staatsmann. Wenn er mit seinem Gesetz über die Zauberei durchdringt, werden wir allerdings bald genug zu tun bekommen, müssen uns aber auch gegenseitig verbrennen.«
In seiner Jugend, während eines Aufenthalts in Ungarn, hatte dem Papst eine Zigeunerin prophezeit, er werde einst die edelste Krone der Christenheit tragen; dieser Umstand hatte ihn in einer abergläubischen Veranlagung bestärkt, und er ließ sich zuweilen von einer weitläufigen Verwandten aus den Karten oder aus dem Kaffeesatz wahrsagen. »Natürlich ist Zauberei Sünde,« sagte er; »aber man muß unterscheiden. Gott hat manchen Menschen die Kraft verliehen, einen Blick in die Zukunft zu werfen, und es wäre töricht, eine solche Gabe des Höchsten unterdrücken zu wollen.«
»Das Gerücht geht,« sagte De Trouchi, »daß Strowisch sich mit geheimen Wissenschaften abgibt, und daß viele seiner glücklichen Spekulationen aus dieser Quelle stammen.«
»Nicht möglich!« rief aufhorchend der Papst. »Ich hätte das von einem so nüchternen Geschäftsmann nicht erwartet. Das muß er mir gelegentlich verraten. Wie gesagt, wir wollen uns vor Sünde hüten, aber nicht engherzig sein. Donaras unüberlegtes Aufwärmen des gotischen Mittelalters ist mir verhaßt. Sein Verhalten ist um so törichter, als man jenen Luzius bei ganz anderen Punkten fassen kann. Er ist erwiesener Bolschewist, und als solcher wünsche ich ihn verurteilt zu sehen. Mir zum Tort hat Donara dies ganz beiseite gelassen.«
»Da urteilen Eure Heiligkeit vielleicht zu streng«, sagte De Trouchi. »Ich halte ihn für einen rechtlichen Mann auf seine Art. Wie manche Leute blind für die liebliche Abstufung der Farben sind, so ist er es für die wohltuende Mannigfaltigkeit der Erde; für ihn gibt es nur Kirche und wieder Kirche und im Hintergrunde die Hölle.«
»So mag er«, sagte der Papst, »zu den Südseeinseln gehn und sich von den Kannibalen verzehren lassen. Mir muß er aus dem Wege; ich muß große Schritte machen, um die neue Zeit heranzuführen.«
»Eure Heiligkeit spannen meine Neugier aufs höchste«, sagte De Trouchi. »Eurer Heiligkeit Antlitz strahlen wie das Cäsars, als er den Rubikon überschritt.«
»Die Regierung hat nachgegeben«, triumphierte der Papst. »Graf Viola war gestern bei mir, um mir unter der Hand, aber gut beglaubigt, die Mitteilung zu machen, daß die Regierungstruppen mich unterstützen würden, falls ich drüben wegen der Inquisition ernstliche Angriffe erfahren sollte. Übermorgen fahre ich nach Innsbruck.«
De Trouchi fiel erschrocken in seinen Sessel zurück. »Heilige Katharine, beschütze uns«, rief er aus.
»Feigling!« sagte der Papst, belustigt über die Angst seines Freundes. »Was fürchten Sie denn, wenn ganz Italien in Waffen hinter uns steht? Begreifen Sie nicht, was das heißt: die Legionen brechen auf! Wenn ich will, marschieren sie mit bis an den Pol.«
»Mein Gott, mein Gott!« seufzte De Trouchi. »Es geht doch nicht an, daß der Heilige Vater als Generalissimus vor den Soldaten einherzieht.«
»Vor den römischen Legionen!« sagte der Papst. »Auch handelt es sich nicht um einen gemeinen Krieg, sondern um einen Kreuzzug gegen die Bolschewisten, die Feinde des Christentums und Roms. Wer sich mir widersetzt, gehört zu ihnen; wer der guten Sache ergeben ist, wird sich mir anschließen.«
»Ich bin zu klein für einen Heros wie Eure Heiligkeit«, wehklagte De Trouchi. »Ich kann nicht mit. Mir schwindelt, wenn ich mir ausdenke, wie das werden wird. Sollen wir denn nach Rußland? Vielleicht nach Sibirien? Und unser Risotto, unsere Mortadella, unsere Schachpartie?«
»Mein guter Freund,« sagte der Papst, »glauben Sie, daß wir allein Feinschmecker sind? Ich gebe zu, daß unsere Küche besser ist als jede andere; aber abgesehen davon, daß wir unseren eigenen Koch mitnehmen können, bin ich überzeugt, daß es überall Leckerbissen gibt, man muß sich nur daran gewöhnen. In Österreich gibt es Mehlspeisen, in England Roastbeef und Plumpudding, in Rußland Kohlsuppe und Fische, in Indien Reis und Bananen. Das ist alles gar nicht so übel. Sogar in Deutschland sollen sie aus Kartoffeln allerhand schmackhafte Gerichte bereiten können. Was das Schachspiel betrifft, so unterhalten wir uns überall damit. Glauben Sie, daß im Kriege Tag und Nacht Blut fließt?«
»Man hört Haarsträubendes vom letzten Kriege«, sagte De Trouchi.
»Die Leute übertreiben,« sagte der Papst achselzuckend; »übrigens kommen wir in das eigentliche Gemetzel gar nicht hinein, und schließlich sind wir noch nicht so weit. Bis jetzt haben sich alle Zeitungen zustimmend, viele sogar bewundernd ausgesprochen; und solange wir den deutschen Geldkönig auf unserer Seite haben, können wir auf diesen öffentlichen Beifall zählen.« Er legte die Hand auf die Klingel und befahl Taddeo, das Schlafzimmer in Ordnung zu bringen. »Taddeo,« sagte er, »wenn wir in den Krieg ziehen, würdest du uns begleiten?«
»Warum nicht?« lachte Taddeo. »Ein Messer im Gürtel, ein anderes im Stiefel und dann los. Diesmal geht es wohl gegen die Franzosen?«
»Nein,« sagte Gregor, »diesmal, wenn es losgehen sollte, geht es gegen die Bolschewisten.«
»Um so besser,« meinte Taddeo, »mit den ungläubigen Hunden braucht man nicht so viel Umstände zu machen.«
»Haben Sie gehört,« sagte der Papst zu De Trouchi, während er an seinem Arm in das Studierzimmer hinkte, wo der Schachtisch stand, »so denkt ein Mann von sechsundsechzig Jahren! Ein Volk, das von so wahrhaft römischer Gesinnung beseelt ist, verdient die Welt zu beherrschen.«
Als Hero aus den Zeitungen erfuhr, daß Luzius vor das neue Kirchengericht gezogen, eingekerkert war und wahrscheinlich zum Tode verurteilt werden würde, beschloß sie, alles daran zu setzen, um ihn zu retten. Das würden doch gewiß andere tun, sagte ihre Mutter. Sie habe das auch gemeint, erwiderte Hero; aber es scheine sich niemand zu rühren. Nachdem sie noch einige Tage gewartet hatte, sagte sie, es lasse ihr keine Ruhe, sie müsse nun etwas unternehmen. »Laß uns zusammen Roland aufsuchen«, schlug sie ihrer Mutter vor, »und uns mit ihm besprechen. Er ist erfahrener als wir in allem, was das öffentliche Leben angeht.« Am folgenden Abend versammelten sich in dem einfach behaglichen Wohnzimmer der beiden Damen Roland, Burgi und ihr Mann, der Werkmeister. Hero setzte ihre Gedanken auseinander: »Es gibt so viele Menschen, denen Luzius geholfen hat, und es gibt auch viele, die von dem neuen Inquisitionsgericht nichts wissen wollen; mit ihnen allen, wenn man sie nur zusammenbrächte, könnte man gewiß etwas ausrichten. Wie aber ist das anzustellen?« Sie wandte sich an Roland mit der Frage, ob er Rat wisse. »Sie haben Luzius geliebt,« sagte sie zu ihm, »und ich kann mir nicht anders denken, als daß Sie ihn noch lieben. Sie werden also alles tun und opfern wollen, um ihn zu retten.«
»Warum glauben Sie, daß ich ihn noch liebe?« fragte Roland, indem er Hero mit seinen blauen Augen fest ansah. »Weil ich glaube, daß Sie treu sind«, sagte sie ein wenig errötend. Roland erwiderte darauf nichts, aber er erwog, was man tun könne. Große, angesehene Zeitungen, sagte er, ständen dafür nicht zur Verfügung, sie hielten sich in dieser Angelegenheit noch zurück, brächten merkwürdig wenig darüber. Ebenso ständen die Behörden einstweilen eher auf seiten der Inquisition und würden Vorträge gegen sie zu halten, überhaupt öffentliches Agitieren nicht gestatten. Schwierig und umständlich sei es also; es bleibe nichts übrig, als in den Orten, wo Luzius hauptsächlich sich aufgehalten habe, unter der Hand Leute zu gewinnen. Vorzüglich komme die Gegend in Betracht, wo er zuerst aufgetreten sei, von den ehemaligen Götzenanbetern werde er wie ein Gott verehrt, und sie warteten wohl nur auf einen, der sie organisiere. Er stelle sich gern zur Verfügung, obwohl er den Soldatenrock werde ausziehen müssen; denn merkwürdigerweise stehe die Reichswehr zum größeren Teil auf seiten der Inquisition.
»Auch Mama und ich werden unsere Stellung verlieren«, sagte Hero. »Das ist allerdings kein so schwerer Verlust wie der Ihrige.«
»Ach, das kommt ja gar nicht in Betracht,« sagte Burgi, deren Augen kampflustig funkelten; »verlieren wir doch vielleicht alle unser Leben dabei!«
»Nicht doch«, wehrte Hero mit einem Blick auf ihre Mutter. »Ich will in einem halben Jahre dein Kind über die Taufe halten.« Sie erklärte, daß es sich um keinen Kampf mit Messern und Fäusten handle, daß man zunächst Adressen aufsetzen, Unterschriften sammeln und dann diese Adressen überreichen müsse. Man müßte den Beweis erbringen, daß das Volk von der Inquisition nichts wissen und daß es Luzius frei in seiner Mitte haben wolle. Einfacher wäre es freilich, wenn sich die Reichsarmee in Bewegung setzte; aber dazu sei nach dem, was Roland mitgeteilt habe, keine Aussicht. Nein, bestätigte dieser, man halte dort Luzius für einen Pazifisten und Anarchisten.
Frau Heim ging hin und her, schenkte Tee ein und reichte Brötchen; in ihren Augen lag eine tiefe Traurigkeit; aber sie lächelte. »Du darfst mitreisen und Unterschriften sammeln und Leute anwerben,« sagte Hero zu ihr, »aber nach Innsbruck lasse ich dich nicht mit. Du lähmst mich, weil ich um dich Angst habe und weiß, daß du um mich Angst hast. Was für Helden könnten wir sein, wenn sich eins um das andere ängstigt?« Burgi ergriff Frau Heims Hand und versprach ihr, nicht von Heros Seite zu weichen, wenn es gefährlich werden sollte. »Ich schütze sie mit meinem Leibe,« sagte sie, »wie wenn sie meine Mutter wäre.« Hero lachte, aber indem sie Burgi umarmte, erklärte sie ihr, daß sie um des Kindes willen, das sie erwarte, zu Hause bleiben müsse. Doch dürfe sie das große Opfer bringen, ihren Mann mitziehen zu lassen. Burgi warf sich mit Kopf und Armen über den Tisch und schluchzte leidenschaftlich; vergeblich suchten ihr Mann und Frau Heim sie zu trösten. »Die Vorsehung will nun einmal, daß wir das lernen, wozu wir am wenigsten geschickt sind. Du mußt still und tatenlos zu Hause bleiben, ich muß Generalissimus sein und befehlen.« – »Mich dünkt, du bist nicht ganz so ungeschickt dazu«, sagte Frau Heim listig lachend. Auch über Rolands ernstes Gesicht glitt ein Lächeln. »Wenigstens ich werde gern gehorchen«, sagte er. »Sie sollen mit mir zufrieden sein.«
Das Unternehmen erwies sich als nicht so schwierig, wie man gefürchtet hatte. Frau Direktor Möller gab das erste notwendige Geld und sagte dazu: »Wenn ihr mehr braucht, schicke ich mehr, nennt nur meinen Namen nicht. Frauen sind schwach, sie können nichts dafür, daß sie es sind. Es gibt wohl vereinzelte Heldinnen, aber ich gehöre nicht zu ihnen. Gott ist nachsichtig, er nimmt vielleicht mit meinem Gelde vorlieb.« Die Unterschriften unter den Adressen, die aufgesetzt waren, schwollen bald unabsehbar an; aber auch Männer und Frauen, die nach Innsbruck gehen wollten, um persönlich einen Druck auf die Versammlung auszuüben, fanden sich in großer Anzahl. Es waren Studenten und Studentinnen, Arbeiter, Handwerker, Stellenlose und Vagabunden, aber auch Künstler, Techniker, Theologen und sogar einige Professoren. Der angesehenste unter ihnen war ein Jurist, der über altdeutsches Recht las und alles Unglück Deutschlands daraus ableitete, daß das einheimische Recht durch das römische verdrängt worden war. Es war ein großer starker Mann mit blondem Haar und fröhlich blitzenden blauen Augen, der Sommer und Winter in benagelten Stiefeln und mit einem Bergstock umherging, immer bereit, einen neuen Gipfel zu erobern. »Sollen wir geringer sein als unsere Väter,« sagte er, »die zur Blütezeit der Papstherrschaft die Inquisition nicht nach Deutschland hereingelassen haben? Wir errichten Grenzschutz gegen die Cholera, und dieser Pest sollten wir Tür und Tor öffnen?
Mögen sie in Italien mit dem Papst auskommen, wie sie können! Mögen sie ihm einen Kürbis auf den Kopf setzen und ihn auf den Schultern herumtragen, wenn es ihnen gefällt – wir wollen auf gut deutsch leben und sterben!« Auf der Fahrt von München nach Innsbruck ging es in der Wagenabteilung, wo Hero, Roland und der Werkmeister saßen, laut und lustig zu. Hero schrieb Karten an ihre Mutter und Burgi, auf die ein Maler Skizzen von der Landschaft zeichnete, an der sie vorüberflogen. Man las die neuesten Zeitungen und erfuhr, daß Kardinal Donara unversehens den Prozeß für beendigt erklärt hätte und daß, trotz aller Proteste des Anwalts des Angeklagten, die Richter sich zur Fällung des Urteils zurückgezogen hätten. Erschreckt über diese Wendung erging man sich in Vermutungen, was sie veranlaßt haben könne. Der Werkmeister, der ein guter Katholik war und die Päpste in Bausch und Bogen für fromme, wohlwollende Greise hielt, meinte, vielleicht habe der Heilige Vater Befehl gegeben, daß ein Ende gemacht und Luzius freigesprochen werde. Vielleicht sei er bisher falsch unterrichtet gewesen und habe erst jetzt erfahren, was für einen heiligen Menschen er im Kerker halte. »Da machen Sie sich vergebliche Hoffnungen«, sagte der Professor. »Ob Luzius ein Massenmörder oder ein Edelanarchist oder ein fleischgewordener Gott ist, das ist Gregor dem Vierzehnten ganz gleichgültig. Er will festen Fuß jenseits der Berge fassen, und wenn er ihn einmal hingesetzt hat, zieht er ihn nicht mehr zurück. Das System ist zu alt, um sich noch zu ändern.« Unter diesen Umständen, sagte jemand, sei das Urteil vielleicht schon gesprochen, vielleicht sogar schon vollzogen? Vielleicht habe man Luzius heimlich umgebracht? Er glaube im Gegenteil, sagte der Professor, man werde aus der Hinrichtung, falls diese beschlossen sei, ein großes Schaugepränge machen, um das Volk dadurch zu gewinnen. Man gewinne das Volk bekanntlich durch Brot und Spiele, und zu den Spielen gehörten auch öffentliche Hinrichtungen, prächtige Scheiterhaufen, Rädern und Vierteilen. Roland machte den Professor auf einen Widerspruch in seinen Reden aufmerksam: wenn er das Volk so gering einschätze, könne er unmöglich wünschen, die Rechtsprechung nach altgermanischem Brauch in die Hände des Volkes zu legen; worauf der Professor entgegnete, das sei eben ein versklavtes Volk, das man mit Brot und Spielen regiere, allmählich werde sich das deutsche wieder zu einem freien entwickeln, wenn man es frei handeln lasse. Ein junger Wandervogel mit gelocktem Blondhaar saß unterdessen über seine Gitarre gebeugt und setzte einen Vers in Musik, den er irgendwo aufgestöbert hatte und der lautete: Drauf und dran, drauf und dran, auf die heil'gen Bäuche! Denn wir ha'n, denn wir ha'n genug von der christlich-apostolischen Seuche. »Es muß so klingen,« sagte er, »daß, wer das Lied einmal hört, es behält, wer es zweimal hört, mitsingt, und zum drittenmal alle hinterdrein stürmen.« Zuweilen griff er ein paar Akkorde und summte vor sich hin. »Gleich werden wir in Innsbruck sein«, schrieb Hero an ihre Mutter. »Mir klopft das Herz: so viele unbändige Menschen und ich kleiner Generalissimus!«
Die überstürzte Beendigung des Prozesses, welche die zu Luzius' Befreiung Verbundenen sich nicht erklären konnten, war darum von Donara in Szene gesetzt, weil er den Befehl des Papstes erhalten hatte, sich ungesäumt nach Polen zu begeben, um dort einem neu zu gründenden Tribunal vorzustehen. Donara sah ein, daß er nicht umhin könne zu gehorchen; aber dem Heiligen Vater zum Trotz wollte er sich doch als der Stärkere erweisen und seinen Willen vorher durchsetzen. Unter heftigen Protestationen Dr. Holderles und vorsichtigen des kleinen Ondorelli wurde Luzius zum Tode durch Erhängen verurteilt, und zwar sollte das Urteil noch am selben Tage vollzogen werden. Es wären noch einige wichtige Zeugen nicht vernommen worden, sagte Dr. Holderle, die vielleicht dem Prozeß ein ganz anderes Aussehen geben würden. Das sei keine Gerechtigkeit, was hier verübt würde, das sei Anarchie, gerade das, was die Despoten ihren Gegnern vorzuwerfen pflegten. »Die Willkür der Kirche ist höchste Gerechtigkeit«, sagte Donara majestätisch. »Ich wasche meine Hände in Unschuld«, seufzte Ondorelli. »Ich will nicht schuld sein am Tode dieses Gerechten. Wir vergreifen uns, meine Herren, wir vergreifen uns nicht nur an einem unschuldigen Menschen, sondern an der Wissenschaft!«
»Die ist jedenfalls nicht unschuldig«, sagte der Kardinal, indem er einen vernichtenden Blick auf Ondorelli warf. Eben war er, in bösester Laune, in seiner Wohnung angelangt und riß allerlei Papiere aus seinem Schreibtisch, um sie zum Einpacken herzurichten, als er ein dumpfes, eintönig dröhnendes Geräusch von der Straße her vernahm, welches immer mehr anschwoll. Anfänglich hörte er, wie man das Sausen des Windes oder das Klatschen des Regens hört, ohne sich dessen bewußt zu werden, dann fiel es ihm auf und machte ihn neugierig, was es bedeuten könnte, und plötzlich faßte ihn ein Erschrecken. Er witterte etwas Feindseliges, etwas Gewalttätiges. Ein Diener kam, ohne anzuklopfen, in sein Zimmer gelaufen und meldete stammelnd, es nahe sich ein langer Zug Menschen und bewege sich gerade auf das Haus zu. Ob der Kardinal sich verstecken wolle? sie hätten gewiß nichts Gutes im Sinne. Jetzt ertönte ein Lied, von vielen Stimmen gesungen. Die Worte konnte Donara nicht verstehen, aber die seltsam altertümliche, verwegene und beinah grausame Melodie erfüllte ihn mit unbestimmtem Grauen. Es war der Vers, den der blonde Wandervogel in Anlehnung an ein mittelalterliches Volkslied komponiert hatte.
Unter die Männer und Frauen, die, angeführt von Roland und Hero, aus dem ganzen Reich zusammengeströmt waren, hatte sich in Innsbruck ein Haufen gemischt, den Holderle aufgeboten hatte, darunter allerhand Gesindel, Bewaffnete und Unbewaffnete. Diesen war Luzius unbekannt und gleichgültig; sie gehörten zur kommunistischen oder anarchistischen Partei und waren es zufrieden, sich an einem gegen die Geistlichkeit gerichteten Aufruhr zu beteiligen, um so mehr, als Holderle verbreitete, Luzius solle als Kommunist hingerichtet werden und hätte das Zeug, ein einflußreiches Parteihaupt zu werden. Hero wußte nicht, ob sie sich über den unerwarteten Zuwachs freuen oder ihn beklagen sollte. Hatte sie vorher schon das beunruhigende Gefühl gehabt, daß sie nicht imstande sein werde, die vielen Menschen zu beherrschen, die sich ihr angeschlossen hatten, so sah sie jetzt vollends ein, daß ihr die Zügel entglitten. Wer waren alle diese Menschen? Was wollten sie? Doch warf sie sich ihre Zaghaftigkeit vor; man konnte den Krallen der Inquisition nicht durch Streicheln ihr Opfer entreißen. Sie richtete sich gerade auf und sprach sich Mut zu; bald würde Luzius in ihrer Mitte sein, und der würde allen und auch ihr sofort den rechten Geist einhauchen. Rolands Nähe war ihr beruhigend; er war umsichtig, rasch und energisch und hatte bisher Ordnung halten können; aber sie glaubte, sich etwas von ihm zurückhalten zu müssen, um keine Hoffnung in seinem Herzen zu erwecken.
Der Verabredung gemäß betraten Roland und Hero zuerst das Zimmer des Kardinals, der noch unschlüssig, ob er sich verstecken solle oder nicht, vor seinem Schreibtisch stand; aber die Nächsten drängten ihnen nach, die übrigen erfüllten das Treppenhaus. »Herr Kardinal,« sagte Roland, »ich fordere Sie auf, in mir einen Sprecher des deutschen Volkes zu sehen. Das deutsche Volk will die Inquisition in seinem Lande so wenig, wie es sie vor Jahrhunderten wollte, und ersucht Sie, freiwillig den Boden zu verlassen, auf dem Sie nur ein Usurpator sein können. Ich überreiche Ihnen eine Adresse, in der das, was ich Ihnen eben andeutete, ausführlich gesagt ist, versehen mit zahlreichen Unterschriften, die Ihnen bezeugen sollen, was für Menschen hinter mir stehen.« Feige war der Kardinal nicht; die Furcht, die er empfunden hatte, wich jetzt völlig der Wut und Entrüstung. »Hinaus! hinaus!« schrie er. »Wie könnt ihr es wagen, hier einzudringen? Wer seid ihr? Elende Barbaren, unzüchtige Weiber!« Er riß Roland die Bogen mit den Unterschriften aus der Hand, zerriß sie und trat mit den Füßen darauf herum. Erzürntes Murren antwortete. »Wir fordern Sie ferner auf,« fuhr Roland mit lauter erhobener Stimme fort, »sich mit uns in das Gefängnis zu begeben, wo Luzius eingeschlossen ist, und seine Freilassung augenblicklich zu veranlassen.« »Hinaus! hinaus! sage ich!« schrie Donara aufgeregt. »Soll ich mit Dirnen verhandeln? Felippe! Carlo!« rief er seinen Dienern, »hinaus mit dieser Bande!« Allein, diese hätten sich nicht getraut, dem Ruf zu folgen, selbst wenn sie ihn gehört hätten. Die draußen Wartenden gaben laute Zeichen des Unmuts, auch Roland fing an sich zu erhitzen. »Herr Kardinal,« sagte er, »wenn Sie sich nicht schnell entschließen, freiwillig mit uns zu gehen, werden Sie es gezwungen tun müssen.«
»Niemals, niemals freiwillig«, rief Donara. »Zwingt mich, wenn ihr könnt.« Trotz seiner heftigen Gegenwehr wurde er von den Nächststehenden gepackt, aus dem Zimmer geschoben und die Treppe hinuntergeschleift. Beim Anblick der wogenden und brüllenden Menschenmenge draußen überlief ihn zum zweiten Male ein noch heftigeres Erschrecken. Es ging um sein Leben, er war in Todesgefahr. Seine Wut- und Rachsucht verdoppelte sich; diesen Hunden war er ausgeliefert! Nun zeigte sich, wie sehr er im Rechte war, wenn er sie mit Feuer und Schwert vertilgen wollte. Trotzdem gab er unwillkürlich nach, um die Übermacht nicht zu reizen. Der Zug war inzwischen beträchtlich angeschwollen. Es fand in Innsbruck zufällig gerade ein Motor-Wettrennen statt, und viele von den Radfahrern fanden ein Vergnügen daran, mitzumachen. Laut rasselnd, puffend und heulend wälzte sich die Menge dem Gefängnis zu. Dort lief alles ratlos durcheinander, aber die drohenden Zurufe: »Besinnt ihr euch noch lange, so fließt das Blut des Kardinals!« verscheuchten jeden Zweifel, was zu tun sei.
Plötzlich verstummte das Getöse; man hörte nur den Wind, der um die Ecke der Mauer pfiff. Aus der langsam sich öffnenden Tür des Gefängnisses trat Luzius, sehr blaß und unsicheren Schrittes, verändert durch einen Bart, der ihm gewachsen war. Er blieb einen Augenblick stehen, atmete tief und sah gegen den Himmel, der wie eine Kuppel aus blauem Kristall unendlich hoch, gewichtlos, magnetisch ziehend über ihm schwebte. Die Erde verschwand ihm, und er glaubte zu fliegen; dann fiel sein Blick auf die Menschen, von denen viele auf die Knie gefallen waren, und auf Roland und Hero, die zögernd auf ihn zukamen. Mit einem lauten Schrei stürzte er ihnen entgegen, zog sie beide in seine Arme und küßte sie wieder und wieder. »Ihr seid gekommen! Ihr seid da!« rief er. »O, dieser Augenblick!« Indem er sich den übrigen zuwandte, entdeckte er bekannte Gesichter und begrüßte viele mit Namen. »Auch du! auch du! Ihr habt mich nicht vergessen! Was wiegen alle meine Leiden gegen die Seligkeit dieses Augenblicks!« Simonetti, erklärte ihm Roland, habe viel Geld hergegeben, persönlich habe er sich aus Rücksicht auf die Familie nicht angeschlossen. Er lasse Luzius bitten, ihm zu verzeihen, daß er ihn damals belogen und einen Teil seines Vermögens zurückbehalten habe, das ihn später instand gesetzt habe, seiner Familie aufzuhelfen und jetzt auch zu seiner, Luzius' Rettung beizutragen.
Inzwischen hatte der Kardinal die von ihm abgelenkte Aufmerksamkeit benützen wollen, um zu entweichen; allein er war sofort wieder ergriffen worden, und diejenigen, denen es weniger auf Luzius ankam als auf den Kampf gegen die Inquisition oder die Lust am Aufruhr, erhoben ihre Stimmen und verlangten seinen Tod; hie und da wurde ein Messer geschwungen. Sowie Luzius, der von der Anwesenheit des Kardinals noch nichts gewußt, begriffen hatte, was vorging, drängte er sich zu dem Bedrohten durch, indem er laut rief: »Tötet nicht! Tötet nicht! Er ist mein!« Auch Roland und Hero bemühten sich, denen, die sie vernehmen konnten, begütigend zuzureden. Plötzlich bemerkte Luzius seinen Anwalt, den Dr. Holderle, wie er gerade einen Revolver hob und auf den Kardinal anlegte. Es gelang ihm, sich gewaltsam durchzudrängen und mit einer schnellen Bewegung dem Manne die Waffe aus der Hand zu schlagen. »Dummkopf!« rief dieser erbost. »Ich tat es um Ihret-, nicht um seinetwillen«, sagte Luzius freundlich. Seine Wangen hatten sich gerötet, seine Augen, die matt und blind ausgesehen hatten, flammten wieder und warfen goldgelbe Blitze. »Wenn ihr mich lieb habt,« rief er in die Menge, »und ihr liebt mich ja, sonst wäret ihr nicht gekommen, vergießt nicht das Blut dieses verblendeten Menschen. Schenkt mir sein Leben für all das Leben, das ich euch geschenkt habe! Ihr seid ja nicht gekommen, um zu töten, sondern um zu befreien, um euer Volk vor Bösem zu bewahren. Ihr habt euren Gegner durch eure Kraft eingeschüchtert, beschämt ihn nun durch eure Menschlichkeit!«
Nicht alle waren mit dieser Wendung der Dinge einverstanden; aber diejenigen, die den Kardinal festgehalten hatten, ließen ihn unter dem Eindruck des Augenblicks los, und es bildete sich eine Gasse, durch die er entlaufen konnte. Kaum war indessen dies geschehen, als Luzius von rückwärts an beiden Armen gepackt und gefesselt wurde, während gleichzeitig knatternde Schüsse fielen und lautes Schreien aus der Menge tönte. Als die Nachricht von der Überrumpelung des Kardinals sich verbreitet hatte, waren die der Inquisition zur Verfügung stehenden Soldaten mit Maschinengewehren abgeschickt worden mit dem Befehl, den Kardinal zu befreien, die Aufrührer nicht zu schonen, die Ordnung mit allen Mitteln wiederherzustellen. Während Luzius eilig ins Gefängnis zurückgebracht wurde, begann die erschreckte Menge sich zu zerstreuen; die meisten unter ihnen hatten keine Waffen, weil es auf einen Kampf ursprünglich gar nicht abgesehen war, und den Soldaten gegenüber fühlten sich alle im Nachteil. Roland und Hero waren unter den ersten, die getroffen worden waren; beide waren sofort tot.
Der Papst entschloß sich dazu, den Prozeß, der Luzius als Hetzer und Zauberer betrachtete, aufzuheben, ihn dagegen kurzer Hand als Bolschewisten zu verurteilen, wozu genug Material vorliege. Bei der Sichtung der Akten fielen zwei Briefe eines Professors namens Schneckenfraß auf, der im ersten, aus Göttingen datierten, meldete, daß er einem hohen Gerichtshof Wichtiges auf den Prozeß Bezügliches mitzuteilen habe, im zweiten, der aus Innsbruck war, dringend bat, vernommen zu werden, da er nur kurze Zeit hierorts zu verweilen gedenke. Die protestantischen Herren wußten, daß Professor Schneckenfraß den Ruf außerordentlicher Gelehrsamkeit genieße, daß er die größte Zuhörerschaft in Göttingen habe, ja daß Studenten aus aller Herren Länder um seinetwillen herbeieilten; es wurde also angenommen, daß er in der Tat Wichtiges beizubringen habe, was man sich nicht dürfe entgehen lassen. Äußerlich war der Professor, der pünktlich zur angesetzten Stunde an einem regnerischen Oktobertage erschien, nicht anziehend, aber merkwürdig: auf einer kurzen, etwas aufgeworfenen Nase trug er eine Brille, hinter der kleine scharfe Augen hervorzwinkerten, sein Mund arbeitete beim Sprechen, als wäre er eine Mühle, welche die Worte mahlen müßte, und er hatte eine seltsame Art, den Kopf zu wenden wie ein Papagei, der seine eigenen Sätze behorcht und sich über sie ebenso wundert wie erfreut. Als man ihn vereidigen wollte, sagte er mit überlegenem Lächeln, daß sich das erübrige, weil er nicht als Zeuge auftrete und auch sonst; er wolle nur die Herren auf etwas aufmerksam machen, was ihnen entgangen wäre. »Meine Herren,« sagte er, »Sie sind Männer der Praxis, ich bin ein Mann der Wissenschaft. Sie achten vielleicht die Wissenschaft nicht besonders hoch; aber Sie tun unrecht daran. Die Wissenschaft ist die Grundlage des Lebens. Denn was ist das Leben, wenn es nicht vernünftig gelebt wird? Die Wissenschaft lehrt uns, vernünftig zu leben.« Hier fiel Ondorelli lebhaft gestikulierend ein, indem er sagte, daß das gut und wahr gesprochen sei. Die Wissenschaft sei etwas Heiliges, und die wahre Religion müsse sich mit der Wissenschaft verbrüdern, das habe er immer gesagt. Gregor der Vierzehnte war überzeugt, daß Ondorelli nur spräche, um zu beweisen, daß er Deutsch verstände, und ärgerte sich. Nachdem die Worte des Professors verdolmetscht waren, forderte er diesen auf, keine Zeit mit unnützen Reden zu verlieren, sondern auf die Sache zu kommen. »Ich bin bei der Sache«, sagte der Professor vergnügt. »Ja, wenn die Religion sich mit der Wissenschaft verbrüdern könnte, dann wäre der Religion geholfen. Aber kann sie das, meine Herren? Ich frage: kann sie das? Sie kann es nicht ohne Opfer, und diese müssen durch uns gebracht werden.«
»Ich fordere Sie nochmals auf, zur Sache zu kommen«, sagte der Papst in gereiztem Tone. »Es handelt sich hier um den Angeklagten Luzius, der unter der Maske des wiedergeborenen Christus das Volk gegen die bestehenden Einrichtungen aufgewiegelt hat.« Der Professor erhob nachsichtig lächelnd in belehrender Weise den Zeigefinger. »Dieser Mann«, sagte er, »kann der Torheit seiner Behauptung leicht überführt werden. Der sogenannte Christus kann nicht wiedergeboren werden, da er überhaupt niemals existiert hat! Niemals existiert, meine Herren! Das ist von der Wissenschaft nun unwiderleglich nachgewiesen. Es mag damit manch ein schöner Traum zerstört sein, meine Herren, das kann die Vertreter der Wissenschaft nicht anfechten. Die Wahrheit über alles! Oder ist einer unter Ihnen, der sein Dasein auf Lüge und Aberwitz aufbauen möchte?«
Ondorelli fuhr sich wild durch die weißen Locken und stammelte: »Die Wissenschaft über alles! Wir sind ganz Ihrer Meinung! Aber es müßten doch erst Beweise erbracht werden?«
»Was sagte er?« rief der Papst dazwischen. »Hat er wirklich gesagt, Christus habe nie gelebt? Und das sollen wir uns bieten lassen?«
»Mein werter Herr,« sagte der Professor gegen Ondorelli gewendet, »die Beweise sind so zahlreich, daß ich in Verlegenheit komme, mit welchem ich anfangen soll. Haben Sie das grundlegende Werk von Professor Plunderwell in Oxford nicht gelesen? Und die lichtvolle Arbeit von Professor Klyggemus in Leyden? Auch der höchst scharfsinnige Professor Courtépée in Paris bestreitet das Dasein des vermeintlichen Christus mit anfechtbaren Gründen, während er die Möglichkeit offen läßt, es könne ein Mann namens Jonas gelebt haben, der wegen Steuerhinterziehung gehängt wurde. Wohlgemerkt, meine Herren, nicht gekreuzigt, sondern gehängt! Mit der Kreuzigung ist es schon deswegen nichts, weil die Römer, welche einzig und allein als Richter hier in Betracht kommen, die Strafe der Kreuzigung damals nicht in der Gepflogenheit hatten.«
»Erlauben Sie!« entgegnete der Konsistorialrat Lieselmeyer aufspringend, »wie wollen Sie denn mit der Stelle im Flavius Josephus fertig werden, welche deutlich auf einen Heiland der Juden, der Jesus hieß, anspielt?«
Professor Schneckenfraß hob im Übermaß des Vergnügens abwechselnd beide Zeigefinger hoch und rief aus: »Ja meine Herren, dergleichen Stellen werden Sie manche finden, und es ist ja auch gar nicht zu verwundern, daß der und jener auf den Betrug hereinfiel, nachdem er einmal veranstaltet war. Ganz abgesehen davon, daß solche Stellen auch abdichtlich von ebendenselben eingeschaltet sein können, welche die sogenannte Bibel oder Heilige Schrift verfertigt haben.« – »Das geht zu weit! Das geht zu weit!« stöhnte Lieselmeyer; »wir dürfen solche Lästerungen nicht anhören.«
»Die Wahrheit nicht hören?« rief Professor Schneckenfraß. »Das kann nicht ihr Ernst sein, meine Herren! Die Wahrheit muß man freudig begrüßen, wenn sie auch weh tut. Läßt sich einer der Wollust wegen Zähne ziehen? Nein, er seufzt vielleicht unter der Zange, aber zugleich wird er dem Arzt danken, der das faule Zeug entfernt. Machen wir endlich Ernst und werfen wir die alten Irrtümer entschlossen von uns. Verfasser der sogenannten Heiligen Schrift ist wahrscheinlicherweise niemand anders als der heilige Augustinus. Ich will Ihnen, meine Herren, die Gründe, die zu dieser Annahme führen, ersparen; glauben Sie mir, daß, alle Erwägungen zusammengenommen, das Ergebnis das einleuchtendste ist. Augustinus wollte damit einen Schlag gegen Rom führen, was ihm auch teilweise gelang; aber die Schlauheit der Päpste wendete das Blatt so, daß Rom eine neue Größe auf der als Dichtwerk nicht wertlosen Erfindung aufbaute.«
»Unverschämter! Schweigen Sie! Bringt ihn zum Schweigen!« rief der Papst dazwischen, welcher, da er sich das Gesagte übersetzen lassen mußte, immer erst einige Minuten später begriff, was der Professor behauptet hatte.
»Beachten Sie meine Folgerungen!« fuhr dieser schreiend fort. »Die Judenverfolgungen, die sich wie ein blutiger Faden durch die Weltgeschichte ziehen, sind auf falschen Voraussetzungen aufgebaut! Ebenso das Papsttum. Da Christus gar nicht gelebt hat, kann er auch keine Jünger gehabt haben. Weder Johannes hat gelebt noch Petrus. Ist das zu beklagen? Er wäre, wenn er gelebt hätte, ein sehr ungebildeter Faselhans gewesen. Um so besser für ihn, daß er gar nicht gelebt hat. Aber ziehen wir nun die Folgerungen daraus! Petrus hat gar nicht gelebt, und das Papsttum gründet sich aus die Nachfolge Petri! Beachten Sie das, meine Herren!«
Der Konsistorialrat konnte eine gewisse Anteilnahme an den Behauptungen des Professors nicht unterdrücken. »Es ist augenscheinlich,« sagte er, »daß, wenn Christus nicht existiert hat, auch Petrus dahinfällt. Aber sollte wirklich gar nichts, gar nichts daran sein?«
»Gar nichts, ich versichere Sie«, schrie Schneckenfraß vor Eifer hin und her tanzend. »Vor der Erfindung der Buchdruckerkunst ist überhaupt fast gar nichts gewesen. Ich meine nicht, daß Europa unbewohnt gewesen sei; aber es ging zu, wie es gewöhnlich zu gehen pflegt, man weiß nichts davon und braucht es nicht zu wissen. Columbus! Glauben Sie, Columbus habe gelebt? Eine Erfindung der Spanier, um ihrem Anspruch auf Amerika mehr Nachdruck zu geben. Andere behaupten, er sei eine Erfindung der Amerikaner, welche ihren Einzug in die Weltgeschichte herausputzen wollten.«
Der Papst hatte mehrmals vergebens versucht, den Professor zum Schweigen zu bringen, und war, da ihm das nicht gelang, überwältigt von Erstaunen und Entrüstung in seinen Sessel zurückgesunken. Jetzt raffte er sich wieder auf und rief die Diener herbei: »Sperrt ihn ein! Es muß untersucht werden, ob er ein Wahnsinniger oder ein Demagoge ist!«
»Weder das eine noch das andere, Freund!« rief der Professor, während er sich, ohne daß seine vergnügte Miene sich verdüstert hätte, der Männer zu erwehren suchte, die auf ihn zusprangen und ihn packen wollten. » O sancta simplicitas! Ist es denn so schwer, die Wahrheit zu hören? Machen wir doch Ernst, meine Herren! Bedenken Sie, wie sinnlos die Entwicklung der Kirche sich darstellt, wenn man bedenkt, daß weder Christus noch Petrus gelebt haben! Wo keine Grundlage vorhanden ist, kann da ein Gebäude bestehen? frage ich!«
»Es scheint mir doch,« sagte der kleine Ondorelli halblaut zu seinen Nachbarn, »man sollte ihn zunächst die Beweise vorlegen lassen.«
»Aus Nichts kann Nichts werden!« schrie der Professor von der Tür her, bis wohin die Männer inzwischen mit ihm vorgedrungen waren. »Wenn wir Ernst machen wollen mit der Wissenschaft, müssen wir uns von den alten Irrtümern befreien. Unsere Chronologie ist vor allem reformbedürftig! Nehmen wir Ägypten als Ausgangspunkt –«
»Sie, Sie sind kein Wahnsinniger, sondern ein Ketzer, ein vorlauter Affe!« wendete sich der Papst, außer sich vor Zorn, gegen Ondorelli.
»Ich, ein Ketzer?« jammerte Ondorelli, vor Schreck in sich zusammenkriechend. »Ich habe nur eine unbegrenzte Hochachtung vor der Wissenschaft, das ist alles, und ich meine –«
»Sie sollen nichts meinen, als was ich meine,« schrie der Papst ihn an, »und Sie sollen vor nichts Hochachtung haben als vor mir!«
Lieselmeyer, welcher von diesem in italienischer Sprache geführten Wortwechsel nichts verstanden hatte, sagte in besänftigendem Tone: »Ich mache mich anheischig, werte Kollegen, den Stand der Wissenschaft in bezug auf diese Probleme festzustellen. Man wird sie, da sie nun einmal angeregt sind, nicht ganz außer acht lassen können. Es handelt sich natürlich darum, sie in geeigneter Weise zu widerlegen; auch scheint mir, dies wäre ein Fall, wo man das Als-Ob eintreten lassen könnte.«
»Was?« donnerte der Papst. »Hier tritt nichts ein als Einsperren oder Verbrennen. Da sehen Sie die Folgen Ihrer Grundsätze! Dahin mußte es kommen, das haben meine Vorgänger zur Zeit Ihres Erzketzers Luther vorausgesehen. Nun sitzen Sie im Dreck, und ich soll Sie herausziehen!«
So endete diese Sitzung in Tumult, gegenseitiger Beschimpfung und Verfeindung.
Ich bin kein Diplomat,« sagte der Papst, während er an seinem Stock im Zimmer auf und ab hinkte, »diese kleinlichen Schwierigkeiten erschöpfen mich. Die Natur hat mich zu einem Krieger bestimmt. Stellen Sie mir ein Volk in Waffen gegenüber, und ich werde mich gehörig damit abzufinden wissen; mit den albernen Kobolden der Intrige und des Zufalls weiß ich nichts anzufangen.«
Strowisch war selbst nicht guter Laune. Zwar hatte der von Lindor geistvoll abgefaßte Artikel über die Petroleumquellen auf dem Mars so gewirkt, daß sich die Aktien der Amach bereits etwas erholt hatten; nun aber tauchte in französischen Zeitungen die Behauptung auf, Herr Cordalon, ein bekannter Professor der Astronomie, habe bereits vor mehreren Jahren das Vorhandensein von Petroleum auf dem Mars festgestellt, und es habe sich infolgedessen sogar schon eine Gesellschaft namens Loupema gebildet, welche sich die Ausbeutung der Quellen zum Ziel gesetzt habe. Strowisch glaubte weder an die Existenz des Professors Cordalon, noch an die der Gesellschaft Loupema; aber die Aussicht auf den Wettbewerb der anderen Nationen fing an, ihm beunruhigend nahezutreten, und er grübelte darüber, wie er ihn ausschalten könne. Dazu kamen noch geringere geschäftliche Widerwärtigkeiten, die ihn wurmten, wenn sie ihm auch nicht ernstlich zusetzten. Er hatte den Klagen Gregors zerstreut zugehört und erkundigte sich, was denn vorgefallen sei.
»Sie wissen noch nichts?« fragte der Papst stehen bleibend. »Lieber Freund, so gehen Sie in den Kinematographenpalast, der sich vor einem halben Jahre aufgetan hat und durch seine Pracht die alten Monumente in Schatten stellt. Übrigens verstehe ich von Kunst nichts und habe mich bisher, Gott sei mir Sünder gnädig, in den kinematographischen Vorstellungen gut unterhalten. Dort können Sie den revolutionären Vorfall, der sich hier abgespielt hat, bevor ich kam, ablaufen sehen von dem Augenblick an, wo sich die Bestien vor dem Gefängnis versammelten und die Auslieferung des Angeklagten verlangten. Sie können sehen, wie er erscheint, sich seinen Kumpanen in die Arme wirft, wie der Unhold, der Anwalt, den Donara umbringen will, und wie Luzius den Kardinal befreit und wie dieser davonläuft. Davonläuft wie ein Hase, mein Lieber!«
»Da muß ich in der Tat gleich hingehen und es mir ansehen«, sagte Strowisch neugierig; »das interessiert mich.«
»Sehen Sie! Sehen Sie!« rief der Papst ärgerlich. »So denkt jeder. Das will jeder sehen. Morgen oder übermorgen weiß es nicht nur ganz Deutschland, sondern ganz Europa. Verflucht, all die modernen Verbindungsmittel! Wir können ihn nicht aufhängen, wenn alle Welt ihn als den Erretter des vermaledeiten Kardinals bewundert. O raffinierter Schurke! Hätte er sich nicht eingemischt, hätte er ihn umbringen lassen! wie gut, wie glänzend ständen jetzt unsere Angelegenheiten. Wir könnten den Kardinal nachträglich aufhängen und Luzius und seinen Anwalt als Schächer ihm zur Seite!«
Strowisch zuckte die Achseln. »Und deshalb wollen Sie den Luzius nicht aufhängen?« sagte er. »Ich täte es.«
Der Papst warf einen Blick neidischer Bewunderung auf seinen Besucher. »Sie täten es,« sagte er, »und ich, Gregor der Vierzehnte, wage es nicht. Sie sind eben nicht der Heilige Vater. Sie ahnen nicht, wie unsere Vorgänger uns eingemauert haben in ihre Sätze von christlicher Milde und väterlicher Liebe. Es mag auch sein, daß ich, wie schon gesagt, mehr Kriegsmann als Priester bin: ich habe ritterliche Gefühle. Sie als Geschäftsmann mögen dem weniger unterworfen sein. Der Anfang war über alles Erwarten glänzend, die Bevölkerung hat mich empfangen nicht nur wie einen Vater, sondern wie einen Fürsten. Auch über das Verhalten der Beisitzer konnte ich mich im Anfang nicht beklagen, sie stimmten mir in allem zu, obwohl sie mich natürlich nicht verstanden. Das Material, das wir beieinander hatten, genügte, um den Angeklagten des Bolschewismus zu überführen: er sollte das Haupt einer europäischen bolschewistischen Revolution werden. Von seiten des weltlichen Staats wurde nirgends Einspruch dagegen erhoben, daß ich den Fall vor mein Gericht zog; alles war in gutem Gange.«
Ein Diener ließ nach erfolgter Anmeldung den kleinen Ondorelli eintreten. »Nun, was haben Sie ausgerichtet?« redete der Papst ihn an. »Sprechen Sie!«
»Leider, leider«, antwortete der kleine Mann, »war mein Bemühen erfolglos. Herr Vornewitz weigerte sich entschieden, die fragliche Aufnahme aus seinem Programm zu streichen. ›Ich verlange das nicht umsonst.‹ sagte ich, ›Sie sollen reichlich für Ihren Verlust entschädigt werden?‹ Da warf sich der Mann in die Brust und sagte, er arbeite nicht, um Geld zu verdienen, sondern um Kunst und Wissenschaft zu fördern und das Leben der Gegenwart in seinen bedeutenden Erscheinungen festzuhalten. Ich dachte, er wolle durch solche Tiraden ein höheres Angebot erzielen und bot mehr und mehr; ich versichere Eurer Heiligkeit, daß ich Zahlen ins Treffen führte, die mich selbst in Schrecken versetzten; aber er blieb unzugänglich. Eben diese Aufnahme, sagte er, gehöre zu den vorzüglichsten, die ihm je gelungen wären, er habe sie bereits an alle Länder Europas, an Amerika, Afrika und nach China verkauft, es habe also keinen Sinn, sie in Innsbruck zu streichen, wenn die ganze Welt sich an ihr erbaue.«
Der Papst ärgerte sich bereits mehr über Ondorelli als über die kinematographische Aufnahme, den Kardinal und alles übrige. »Der Mann hat ganz recht,« sagte er, »ich weiß nicht, was mich darauf gebracht hat, sein Kaleidoskop unterdrücken zu wollen. Mögen sich doch große und kleine Kinder daran vergnügen. Wir gehen unseren Weg unbeirrt weiter.« Er dankte dem kleinen Manne kurz für seine vergeblichen Bemühungen und verabschiedete ihn, um mit Strowisch allein weiterzuberaten.
»Lieber Kommerzienrat,« sagte er, »große Unternehmungen werden dadurch erschwert, daß die meisten Menschen klein sind. Sehen Sie, die Herren, die ich zu Inquisitionsrichtern ernannt habe, zittern vor Angst, sie könnten etwa doch einen Heiligen an den Galgen bringen. Ich habe das bemerkt; sie spielen die Unerschütterlichen, aber ihnen ist übel im Leibe. Mit mir ist es etwas anderes: mein Gefühl empört sich dagegen, einen Mann zu töten, der sich uns gegenüber großmütig erwiesen hat. Und hatte er nicht, unter uns gesagt, recht, als er den Kardinal einen bedauernswerten Toren nannte? Mir wäre das liebste, er entkäme aus dem Gefängnis.«
»Verstehe, verstehe«, sagte Strowisch. »Aber wenn er sich nun doch zu einem Bolschewistenhäuptling aufwirft?«
»Um so besser«, fiel der Papst ein. »Dann hätten wir einen erklärten Gegner, den wir bald abfangen und ohne Skrupel erledigen könnten. Aber, im Vertrauen, ich glaube es nicht. Der Mann ist ein Sonderling, geht seine eigenen Wege. Schade, daß er so eigensinnig ist, wir hätten ihn gut brauchen können.«
»Wenn ich Eure Heiligkeit recht verstehe,« sagte Strowisch nachdenklich, »so wäre es Ihnen nicht ungelegen, wenn ich ihm die Tür oder das Fenster öffnete?«
»Ganz recht,« sagte der Papst, »und zwar sollte er zunächst nicht zu betreffen sein. Das Gerücht geht, daß er leicht aus dem Kerker entfliehen könnte, wenn er wollte. Wer weiß, was er im Schilde führt; er ist, der Teufel hole mich, ein Sonderling. Vielleicht will er uns zum Schluß noch einen Streich spielen; man sagt ja, das Feuer brenne ihn nicht, und der Strick, der ihn hängen sollte, würde zerreißen.«
Strowisch versprach darüber nachzudenken und die Sache einzuleiten. »Es kommt mir eben ein Einfall,« sagte er, »der sich vielleicht zu einem Plane gestaltet. Man muß diesem Menschen, glaube ich, ein Tätigkeitsfeld eröffnen. Ich hoffe, ich werde Eure Heiligkeit befriedigen können.«
»Noch eins empfehle ich Ihnen,« sagte Gregor, »nämlich den Mann nicht merken zu lassen, daß ich mit seiner Flucht einverstanden bin. Das Urteil soll veröffentlicht und an einer Strohpuppe vollstreckt werden. Das ist ein alter Brauch, der uns in unserer Lage zugute kommt. Einen solchen Ersatzmann können wir verbrennen und kommen auf diese Art sogar zu einem Scheiterhaufen.«
Strowisch versicherte, daran denken zu wollen, und verabschiedete sich mit einer kurzen Verbeugung. Dieser, dachte Gregor, verdiene zuallererst den Galgen oder das Feuer; aber es ist noch nicht aller Tage Abend.
Es war Mittag, als die Tür von Luzius' Zelle sich langsam öffnete und hinter dem vorsichtig sich hineinschiebenden Strowisch wieder zufiel. »Sie sehen,« sagte er, »ich kann auch durch verschlossene Türen dringen.«
»Der Unterschied ist der,« entgegnete Luzius, »daß der Zauber, über den Sie verfügen, nicht mit dem Tode bestraft wird.«
Strowisch nickte und schmunzelte. »Es ist ungemütlich hier«, sagte er, indem er sich prüfend umsah. »Es ist besseren die Hände Gottes als in die Hände der Menschen zu fallen«, sagte Luzius. »Nun,« meinte Strowisch, »Sie werden gleich sehen, daß es auch bessere Menschen gibt. Ich komme zu Ihnen, um Böses mit Gutem zu vergelten. Sie haben sich ablehnend gegen mich benommen; ja, leugnen Sie es nicht, Sie sind einer von den Volksfreunden, die sich einbilden, alles Übel komme von den reichen Leuten her, und die nicht daran denken, daß alle so reich sein könnten wie ich, wenn sie ebenso fleißig wären und ebenso entsagungsvoll lebten.« Luzius lächelte und hob die Hand ein wenig, als wollte er sagen: lassen wir die Worte laufen, es nimmt sie doch niemand ernst; und Strowisch, sehr befriedigt, daß keine Entgegnung erfolgte, fuhr fort: »Sehen Sie, obwohl Sie mir unrecht tun, bin ich Ihnen nicht böse. Ich bin überzeugt, daß Sie es gut meinen, und finde, daß man Sie für Ihre Irrtümer zu hart büßen läßt. Deshalb will ich Sie retten.«
»Lassen Sie hören«, sagte Luzius. »Sie werden es nicht umsonst tun.«
»Wie ungerecht Sie wieder sind!« rief Strowisch aus. »Warum überlasse ich Sie nicht Ihrem Schicksal? Was können Sie, ein zum Galgen verurteilter Verbrecher, für Strowisch tun? Ihr Hochmut ist lächerlich. Ich mußte für Sie einen Platz außerhalb Deutschlands, am besten außerhalb Europas ausfindig machen, wo Sie unbehelligt existieren können, und ich habe es getan.«
»Wollen Sie mich nach dem Mars schicken?« fragte Luzius.
»Das wäre natürlich das beste,« antwortete Strowisch; »aber wir sind noch nicht so weit. Mir sind als ein passender Ort die Südseeinseln eingefallen, wo verschiedene Negerstämme noch im finstersten Heidentum leben. Ich habe der Heidenmission, die unter diesen Kannibalen wirken will, ein Schiff zur Verfügung gestellt, und schon aus Dankbarkeit werden die Leute einwilligen, daß Sie sich ihnen anschließen. Bei dieser Gelegenheit könnten Sie mir allerdings einen Gefallen tun.«
Luzius erkundigte sich, was das wäre.
»Es ist kürzlich ein Umschwung in der Mode eingetreten,« erklärte Strowisch, »der ärgerliche Folgen für gewisse Industrien hat: die Frauen tragen keine Strümpfe mehr.« Luzius fragte erstaunt, womit sie denn ihre Beine bekleideten, oder ob sie barbeinig gingen. »Sie bemalen sich«, sagte Strowisch. »Die unbemittelten einfarbig, die feinen Damen mit Mustern; es gibt da mannigfache Abstufungen, und großartige, von den ersten Künstlern erfundene Muster. Der Chemie und Farbenindustrie wird das einen großen Aufschwung geben; aber die Strumpffabriken, deren ich mehrere besitze, siechen dahin, man kann sie heute schon als Kadaver betrachten. Da ich die vielen Tausend Strümpfe, die fertig daliegen, irgendwie ausnützen sollte, bin ich auf den Gedanken gekommen, sie Ihnen anzuvertrauen, damit Sie sie an die Schwarzen verkaufen.« Luzius richtete sich erstaunt auf und setzte sich auf den Rand seiner Pritsche, wobei das Klirren seiner Kette hörbar wurde. »Gehen denn die Wilden nicht nackt?« fragte er. »Werden ihnen Strümpfe nicht überflüssig und unbequem vorkommen?«
»Ganz und gar nackt geht kein Volk,« sagte Strowisch; »Sie können sich die Strümpfe ja irgendwo anders hinbinden, wenn sie sie nicht an die Beine ziehen wollen. Sie müßten womöglich in irgendeinen Zusammenhang mit der Religion gebracht werden, damit es den Leuten eher eingeht. Es läßt sich doch leicht irgend etwas kombinieren; bei den Muselmännern gibt es Gebetsteppiche, warum sollte es nicht Gebetsstrümpfe geben? Man kann sie auch Gebetsbinden, Andachtswürmer, Büßerschläuche, Sündenstricke nennen – mein Gott, ich denke, Sie haben auch Phantasie! Wenn Sie wollen, wird Ihnen schon etwas Gescheites einfallen.« Er hatte mit zunehmender Ungeduld gesprochen und warf einen unwilligen Blick auf Luzius.
Dieser lachte. »Das ist spaßig,« sagte er, »ich habe lange nichts so Spaßiges gehört.« Der Kommerzienrat fuhr in seiner Auseinandersetzung fort. »Sie werden zuerst etwa fünftausend Strümpfe umsonst verteilen, dadurch kommen die Leute allmählich in Geschmack. Im Grunde ist es ja schade um die feine Ware; aber was ist zu machen? Sind die Kannibalen erst einmal im Zuge, so muß gewinnbringender Tauschverkehr eintreten. Es gibt sehr brauchbare Landesprodukte, zum Beispiel schöne, wertvolle Vogelfedern. Die Wilden sind vermutlich gute Jäger, sonst muß man sie abrichten. Ich würde übrigens Ihnen selbst zur Jagd raten. Sie sind ein starker, kräftiger Mann, wenigstens waren Sie es, und körperliche Bewegung wird Ihnen nach dem langen Sitzen gut tun. Was meinen Sie? Warum lachen Sie?«
»Ich dachte,« sagte Luzius, »was aus der Bekleidungsindustrie wird, wenn einmal die Damen sich ganz und gar anmalen?«
»Sie muß sich eben umstellen,« sagte Strowisch, »und Sie, mein Herr, täten gut, das gleichfalls zu lernen.«
Luzius schüttelte den Kopf. »Mag sein,« sagte er; »aber die Missionsstrümpfe haben keinen Reiz für mich. Ich danke Ihnen, daß Sie sich für mich bemüht haben; es ist alles wunderhübsch ausgedacht, aber nichts für mich.«
Strowisch stellte sich böse vor Luzius hin. »Komisch für einen, der morgen gehängt werden soll, so wählerisch zu sein«, sagte er. »Sie sollten für jeden Luftzug durchs Schlüsselloch dankbar sein, und ich biete Ihnen die volle Freiheit. Sie sind verdreht, mein Freund, verschroben sind Sie. Es tut mir leid, daß ich keinen Spiegel bei mir habe, um Ihnen zu zeigen, wie Sie aussehen. Sehr heruntergekommen sind Sie, Sie machen es nicht mehr lange.«
»Länger als bis morgen brauche ich es ja auch nicht zu machen«, sagte Luzius lachend. Strowisch zuckte ärgerlich die Achseln. »Dummheiten!« sagte er. »Warum sperren Sie sich? Sie hängen am Leben mehr als ich. Was habe ich auch davon? Arbeit und wieder Arbeit. Sie, Sie belustigen sich damit, Sie leben darauflos ohne Pflicht und System. Meinetwegen! Aber spielen Sie sich nicht als Asketen auf.«
»Nein,« sagte Luzius, indem er den Kopf in die Hand stützte, »das tue ich nicht. Ich liebe das Leben, aber ich liebe auch den Tod, weil er ein höheres Leben sein muß. Ich fürchte die Qual des Sterbens; aber die Kraft hindurchzugehen wird mir kommen, wenn es sein muß.«
Eine Weile fuhr Strowisch schweigend in der engen Zelle umher. Wenn Luzius sich etwa einbilde, sagte er dann, sein Tod werde ihn zum Märtyrer machen, so irre er sich. Heutzutage dauerten die Sensationen nicht mehr so lange wie in den Jahrhunderten der Kindlichkeit und Barbarei; er werde nach einem halben Jahre vollkommen vergessen sein. Der Okkultismus mache große Fortschritte, bald werde man alles genau erklären können, was er getan habe, und Hunderte würden es nachmachen, mit Verbesserungen vielleicht. Man würde auch bald dahin kommen, Affen und andere Tiere, wenn auch nicht zu Menschen zu machen, so doch zu brauchbaren, billigen Dienern abzurichten, dadurch werde die soziale Frage gelöst werden. Er, Luzius, habe einen Weg eingeschlagen, auf dem längst Gras gewachsen sei und der abseits von den Forderungen der Gegenwart liege, auf Nachruhm könne er nicht rechnen. Er sei ja aber noch nicht alt, könne sich noch entwickeln. Er, Strowisch, habe ihm eine aussichtsreiche Zukunft eröffnet, es blieben ihm noch ein paar Stunden Zeit, zu überlegen, ob er die dargebotene Freundeshand ergreifen wolle.
Er werde darüber nachdenken, sagte Luzius.
Der Kommerzienrat erklärte nun umständlich, was er zur Ermöglichung der Flucht vorgesehen habe. Seine Zelle werde die ganze Nacht unverschlossen bleiben, es würden keine Wächter in den Gängen und am Ausgangstor sein, das gleichfalls offen bleiben werde. An der nächsten Ecke werde ein Auto stehen, das ihn, wenn er sich durch den Namen Strowisch ausweise, vor die Stadt bringen werde, wo sein Flugzeug liege. Der Führer des Autos sei zugleich der des Flugzeugs, ein Mann, aus den er sich bedingungslos verlassen könne; die Luft sei für ihn eine gepflasterte Straße, und er selbst sei ein Fels mit Goldadern im Innern. Er wisse Bescheid, werde ihn in ein paar Stunden nach Hamburg führen und vor dem Missionshause absetzen, wo man von allem unterrichtet sei. In den nächsten Tagen gehe das Schiff ab.
»Und die Strümpfe sind auch an Bord?« fragte Luzius.
»Zum Teil«, sagte Strowisch. »Ein anderes Schiff wird folgen, dessen ganzer Frachtraum mir zur Verfügung steht.«
Luzius legte sich wieder auf die Pritsche, offenbar zu schwach, um lange aufrecht zu sitzen; seine Kette klirrte. »Ich werde Sorge tragen, daß Ihnen die Kette abgenommen wird«, sagte Strowisch. »Auch ein Glas Wein soll Ihnen gebracht werden. Seien Sie vernünftig, ich rechne auf Sie.«
Luzius reichte dem Kommerzienrat die Hand und dankte ihm. »Der Gedanke,« sagte er, »daß ich in ein paar Stunden Luft, Nacht und Sterne einatmen könnte, durchglüht mich stärker als Wein. Ich werde über Ihren Vorschlag nachdenken. Leben Sie wohl!«
Seit drei Tagen wartete Strowisch auf die Rückkehr seines Piloten. Ein Unfall konnte dem Unanfechtbaren nicht begegnet sein; was war es also, das ihn aufhielt? Zwar hätte Strowisch abreisen können, da er sich für seine Person des Apparats nicht bediente; aber er wollte durchaus erst wissen, wie die Sache abgelaufen wäre, und seinem schätzbarsten Diener verschiedene Aufträge geben. Die Zeit wurde ihm nicht lang: abgesehen davon, daß die Gesellschaft der Motorradfahrer, zu deren Vorstandsmitgliedern er gehörte, ihn drängte, bei ihren Veranstaltungen gegenwärtig zu sein, wurde er auch von der Gesellschaft zur Erhaltung des Tierlebens in Europa überlaufen, von der zwei Abteilungen eben in Innsbruck tagten. Im Vestibül des Gasthauses, wo er abgestiegen war, empfing er zwei Herren, von denen der eine dem Vorstand der Gesellschaft zur Erhaltung der Pferde, der andere dem der Gesellschaft zur Erhaltung der Schmetterlinge angehörte. Hauptmann von Überfels, ein strammer, feierlicher Mann, sprach belehrend über den Ausfall an Schönheit im Städtebilde durch das Verschwinden des Pferdes. »Das Pferd ist das edelste unter den Säugetieren«, sagte er. »Wenn die Maschine es allmählich verdrängt und an den Rand des Aussterbens gebracht hat, muß der Freund der Natur und Kunst versuchen, es wieder in den Verkehr einzuführen. Unsere Mitglieder verpflichten sich deshalb, sich anstatt der Autos und anderer Beförderungsmittel der Pferde zu bedienen. Man wird dafür sorgen, daß an den Bahnhöfen und verschiedenen Plätzen der größeren Städte stets eine genügende Anzahl von Reitpferden vorhanden sein wird.« Er könne nicht reiten, sagte Strowisch abwehrend. »Wir haben Sorge getragen,« sagte der Hauptmann, »daß in allen größeren Städten billiger Reitunterricht erteilt wird.« – »Was nun das betrifft,« erwiderte Strowisch, »so könnte ich auch teuren bezahlen; aber Zeit habe ich nicht zu solchen Geckereien.« – »Wir betrachten«, sagte der Hauptmann mit hohler Stimme, »die Erhaltung der Pferde nicht als Geckerei, sondern als eine sehr ernste, vaterländische Angelegenheit.«
Das treffe auch in bezug auf die Schmetterlinge zu, sagte der andere Herr. Dieser glich auf den ersten Blick einem dicken, vergnügten Gastwirt, mit seiner geblümten Weste, über der sich eine goldene Uhrkette spannte; allein wenn man näher zusah, entdeckte man einen verdrießlichen Ausdruck um den hängenden Mund, während die kleinen Augen sich undeutbar hinter der Brille verbargen. Er bat um die Erlaubnis, dem Kommerzienrat einen Überblick über die bisherige Tätigkeit der Gesellschaft zu geben: sie hätten an den Wiesen Plakate angebracht mit Aufschriften wie: Schonet die Schmetterlinge! oder: Fanget nur Kohlweißlinge!, weswegen sie zwar von der Gesellschaft zur Bekämpfung des Unfugs der Plakate angegriffen würden, aber in dem bereits anhängigen Prozesse würden sie ohne Zweifel den Sieg davontragen. »Finden Sie nicht,« sagte er, indem er seine Brille gegen Strowisch wendete, »daß eine Wiese ohne Schmetterlinge wie eine Blume ohne Duft, wie ein Mädchen ohne Herz ist?« – »Ich weiß nur,« entgegnete der Kommerzienrat, »daß der Aufenthalt in der Natur deshalb so unleidlich ist, weil es überall kriecht und fliegt, beißt und sticht. Da könnten auch Mücken und Bremsen und Kellerasseln kommen und geschützt sein wollen. Lassen Sie mich gehen! Das Tierleben gehört in die Zoologischen Gürten, da steht es jedem Liebhaber offen.«
Das heikle Gespräch wurde durch ein hochgewachsenes Paar unterbrochen, welches das Gasthaus betrat und beim Anblick des Kommerzienrats einen Ausruf der Freude ertönen ließ; es war Prinz Yp, welcher Isolde am Arme führte. »Lieber Onkel,« sagte Isolde, die blühend und zufrieden aussah, »wir sind hierhergeflogen, um dir selbst unsere Verlobung mitzuteilen und dich im Namen der Eltern zu unserer Hochzeit einzuladen.«
Nach beendeter Begrüßung machte Strowisch die beiden Herren, welche aufgestanden waren, bekannt, und es zeigte sich, daß Prinz Yp Mitglied der Gesellschaft zur Erhaltung der Pferde war und den Hauptmann von Überfels kannte. »Meinetwegen«, sagte Strowisch. »Auf dem Lande und im Zirkus sind Pferde ja auch am Platze; in der Stadt haben sie etwas Veraltetes.« – »Was die Schmetterlinge betrifft,« fügte der Prinz, höflich gegen den andern Herrn gewendet, hinzu, »so war mir von einer Gefahr des Aussterbens noch nichts bekannt.« – »Darf ich Ihnen Belege vorweisen?« fragte der Dicke, indem er mehrere Hefte aus der Tasche zog. »Ein ernstes Wort über den allmählichen Rückgang von Argynnis Euphrosyne – Statistik über das Vorkommen von Zygaena Filipendulae in Schwaben und Bayern seit 1900 – über vergebliche Versuche der Verpflanzung von Saturnia carpini in die höhergelegenen Regionen Sachsens.« – »Sehr interessant«, sagte Prinz Yp dankend. »Ich werde mich gründlich damit beschäftigen.« – »Ich nicht«, sagte Strowisch. Indem er den Prinzen und seine Nichte ansah, fiel ihm ein, daß da irgend etwas nicht stimmen könne. War Isolde nicht mit Lindor verlobt gewesen? Nun, er hatte immer gewußt, daß es so kommen werde, und freute sich seines Scharfblicks. »Deine Eltern laden mich zur Hochzeit ein,« sagte er; »aber sie werden nichts dagegen haben, daß ich den Festveranstalter in ihrem Hause mache. Du weißt, was für ein arbeitsames und entbehrungsreiches Leben ich führe; aber bei gewissen Gelegenheiten liebe ich einen mäßigen Aufwand. Natürlich überlasse ich die Ausführung deiner Mutter, die das besser versteht als ich.« Isolde dankte erfreut; dann wurde das Mittagessen im Gasthause eingenommen.
Die drei waren beim Dessert, als ein Kellner meldete, es sei ein Flugzeugführer da, welcher den Apparat des Herrn Kommerzienrats zurückgebracht habe und denselben zu sprechen wünsche. Strowischs Gesicht leuchtete aus, indem er befahl, den Mann sogleich zu ihm zu führen. »Nun werden wir gleich hören,« sagte er, »warum er so lange ausgeblieben ist.« Jedoch erstarb das Wort der Begrüßung auf seinem Munde, als er einen fremden, wenn auch nicht unsympathischen jungen Mann sich seinem Tische nähern sah. »Wo ist Leonhard?« fragte er. »Wie kommen Sie hierher und zu meinem Flugzeug?« Der junge Mann berichtete, er sei bei der großen Firma Röderstein in Hannover angestellt und habe mit einem neuen Apparat einen Probeflug unternommen. Wegen eines Defektes seiner Maschine habe er eine Notlandung unternehmen müssen, welche in der Lüneburger Heide vonstatten gegangen sei. Das habe ein anderer Flieger bemerkt und sei an derselben Stelle niedergegangen, um ihm, wenn es nötig sein sollte, zu helfen, eben jener Leonhard, der in seinem Dienst stehe und der zwei Herren an Bord gehabt habe. »Zwei?« fragte Strowisch erstaunt; worauf der junge Mann Leonhard und Luzius so treffend beschrieb, daß kein Zweifel über ihre Identität bestehen konnte. Der dritte sei ein schmächtiger Mann gewesen, den die anderen Leisegang genannt hätten. Luzius habe blaß ausgesehen, sei aber in heiterster Laune gewesen, und seine Augen hätten geblitzt, daß man gemeint habe, elektrische Funken zu spüren. »Nun, und was weiter?« fragte Strowisch ungeduldig. Sie hätten ihn so dringend gebeten, den Apparat dem Herrn Kommerzienrat zurückzubringen, da sie seiner nicht mehr bedürften, daß er ihnen den Gefallen getan habe. Zwar müsse er jetzt wieder zu seiner Firma zurück, sei aber bereit, wenn er sich mit dieser auseinandergesetzt habe, in den Dienst des Kommerzienrats zu treten, wozu Leonhard ihm dringend geraten habe. »Und er?« fragte Strowisch. »Ist er in Ihre Firma eingetreten?« – »Bewahre«, entgegnete der junge Mann. »Die drei Herren haben zusammenbleiben wollen, deshalb konnte er nicht zu Ihnen zurückkehren. Wohin sie sich gewendet haben, weiß ich nicht. Als ich fortflog, habe ich sie noch lange gesehen, wie sie mitten im Heidekraut standen und mir winkten.«
Der Kommerzienrat sagte zu dem Piloten, er solle sich ein Mittagessen geben lassen, inzwischen wolle er sich die Sache überlegen. »Nie hätte ich für möglich gehalten,« sagte er, als er mit dem Prinzen und seiner Nichte wieder allein war, »daß Leonhard sich an diesen Landstreicher hängen würde. Teufelskerl, heilloser! Wenn er jetzt der Inquisition wieder in die Hände fällt – ich rühre keinen Finger mehr, um ihn zu retten.«
»Sie werden ihn nicht bekommen«, sagte Isolde nachdenklich, und Prinz Yp fügte hinzu: »Der junge Flieger hat unbewußt das Richtige getroffen, als er von elektrischen Funken im Auge des Luzius sprach. Es ist wahrscheinlich eine elektrische oder der Elektrizität ähnliche Kraft in derartigen Menschen wirksam, welche ihnen die auffallenden Erfolge verschafft. Ich werde bald genug Material beisammen haben, um eine kleine Abhandlung darüber veröffentlichen zu können, die interessante diesbezügliche Aufschlüsse darüber geben wird.«
Der, von dem sie sprachen, ging um dieselbe Stunde mit seinen Gefährten durch die schleierweiche Oktoberluft über die braune Heide, das Feuer der Liebe im Herzen.
Druck des Bibliographischen Instituts in Leipzig