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Am Allerseelentage war Totenwetter; Wolken und Sturm fegten über die Landstraße, die zum Kirchhof führte, neben den schwarzgekleideten Menschen hin und über die Gräber. Als ich bei früh eingebrochener Dämmerung in die Altstadt kam, wälzte er sich dicht über der Erde wie ein großer Wurm durch die Straßen, vor Hunger und Gier ächzend und schnaufend. Die Farfalla saß mit dem Kirchenweibe am Herde und die letztere sagte: »Jetzt würde der alte Mukerutz sein Haus anbinden damit es der Sturm nicht umwürfe.« Der alte Mukerutz wohnte in ihrer Kindheit unweit des Münsters in einem uralten wackeligen kleinen Hause, das er bei jedem Unwetter, aus Furcht, der Wind möchte es umreißen mit einem dicken Seil umwickelte und an eine breitstämmige Linde, die noch dort stand, festband. »Ich habe ihn oft gesehen«, erzählte sie, »wie er mit einer feuerroten Mütze auf den weißen Haaren aus dem Fenster sah und mit geballter Faust dem Sturme drohte, der an dem Hause zerrte, und laut lachte, wenn der es nicht bekommen konnte.« Es wurde leise gesprochen, denn Riccardo lag auf seinem Bett und schlief; er sah so aus, daß man ihn für einen Toten hätte halten können. Am Tage vorher war er auf der Polizei gewesen in der Hoffnung, er würde seine Harmonika zurückerhalten; aber trotz allem, was er vorbrachte, verweigerte man sie ihm. Der Herr, mit dem ich von der Sache gesprochen hatte, war nicht gerade unfreundlich, sondern sagte, bis Riccardo keinen Bettelbrief hätte, könnte ihm das Instrument doch nichts nützen, einen solchen könne er aber nicht eher bekommen, bis einer von denen, die jetzt einen besäßen stürbe, weil niemals mehr als eine bestimmte Anzahl von Personen die Erlaubnis bekämen. Wenn einer stürbe, sollte er zuerst berücksichtigt werden. Daß Riccardo die Harmonika haben wollte, um für sich allein zu Hause zu spielen, wurde ihm nicht geglaubt. »Was Riccardo mehr als alles andere gekränkt hat«, sagte die Farfalla, »ist das, daß der Herr sagte: du sollst den Brief haben, sowie einer von den andern krepiert; was für Vieh sind wir denn, sagt Riccardo, daß wir nicht sterben wie die anderen Menschen, sondern krepieren! Er würde nicht einmal von einer Katze oder einem Hunde so sprechen.«
Das Kirchenweib, auf welches dies keinen Eindruck machte, sagte: »Der erste von den Spielkrüppeln, der sterben wird, ist der Elendgraf; denn ich habe ihn gestern gesehen und zu ihm gesagt: du bist voll, Elendgraf, es geht kein Tropfen Schnaps mehr in deine Kehle! worauf er sagte: ich glaube auch, es ist so weit; den Pfropfen darauf und hinunter in den Keller, die Würmer warten schon.« Dann erzählte sie mir, daß der Elendgraf aus einem der ältesten adligen Geschlechter der Stadt stamme und einen vornehmen Namen und die Krone darüber trage, den er, wie er sagte, nicht um eine Million verkaufen würde. Da es seinen Eltern ärmlich ging, ihm aber die Lust an Frauen, Spiel und allerlei Ueppigkeit im Blute lag, machte er Schulden, verschwendete, was er hatte und nicht hatte, bis ihm niemand mehr etwas leihen wollte, dann warf er sich aufs Trinken, und da er eine schöne Stimme hatte und wegen seines edlen Namens die Erlaubnis bekam, fing er an, singend durch die Straßen zu wandern, womit er so viel verdiente, daß er sich täglich betrinken konnte. Jetzt, sagte sie, sei er sehr alt und so hinfällig, daß er keinen Schritt mehr gehen könnte, ohne von seinem Sohne unterstützt zu werden. »Wenn Riccardo noch ein Weilchen wartet, kann er der Nachfolger des Elendgrafen werden«, sagte das Kirchenweib und nahm Abschied, denn sie mußte noch auf den Kirchhof gehen und auf siebenundzwanzig Gräbern ein Gebet sprechen. Ich fragte die Farfalla, ob sie glaube, daß die schwindlerhafte Alte wirklich bei dem Wetter auf den Kirchhof ginge und im Namen anderer Leute, die sie nichts angingen, siebenundzwanzig Gebete spräche. Aber die Farfalla, obschon sonst nicht leichtgläubig, belehrte mich eifrig, daß das Kirchenweib keineswegs eine Schwindlerin sei, sondern jedes Jahr am Allerseelentage bis in die Nacht hinein auf Gräbern hockte und betete, wofür sie viel Geld bekäme. Es hatte sie manch' einer gesehen, wie sie in der Dunkelheit, einem großen Frosche ähnlich, von einem Hügel zum anderen hüpfte.
Ich hatte mich auf das Fenster gesetzt und sah auf die halbdunkle, verödete Straße hinunter, die der Wind ausgefegt zu haben schien, um Raum für den Triumphzug der Toten zu schaffen. Nur eine Frau kam die Gasse herauf, langsam gegen den Wind ankämpfend; sie hatte einen Teller in der Hand und rief mit abgeschrieener, müder Stimme mehrmals hintereinander: »ein Almosen für eine arme Seele!« Es war die Frau des Irrsinnigen, der schon seit Jahren wegen eines Diebstahls im Gefängnisse saß und der nun endlich gestorben war, so daß sie das Geld zusammenbetteln mußte, um ihn anständig in den Sarg und ins Grab zu bringen. »Jeder giebt einen Kreuzer für solchen Zweck«, sagte die Farfalla, »und doch muß sie noch nicht genug bekommen haben; denn sie kommt schon zum drittenmal in unsere Gasse.« Ich gab ihr ein Geldstück, das sie dem unglücklichen Weibe selbst hinuntertrug; als unten die Hausthüre aufging, hörte ich den Wind hineinfahren und die morsche Treppe schütteln. Die Farfalla trat an die Frau heran, die nach wenigen gewechselten Worten weiterging; der Wind blies so in ihr dünnes Kleid, daß es um sie herumflatterte und die Kälte ihr geradezu die Knochen fassen mußte. »Es ist ein Glück für sie, daß der Mann gestorben ist«, sagte die Farfalla, als sie wieder ins Zimmer trat, »aber sie ist von allem Arbeiten, Darben und Kümmern so schwach, daß sie ihn wohl nicht lange überleben wird.«
Oben an der Ecke wurde jetzt das trübselige Licht in der zerbrochenen Laterne angezündet und der Mann mit der Leiter schob sich so eilig wie möglich dicht an den Häusern die Gasse hinunter. Nach einer Weile ging die Thür des gegenüberliegenden Hauses auf und die Geliebte des Schusters Bonalma setzte einen großen, augenscheinlich schweren hölzernen Kübel auf die Schwelle. Sie beugte sich, auf den Sturm horchend, mit halbem Leibe aus der Thür vor, blickte herauf, von wo eben ein Schwarm welker Blätter raschelnd in die Gasse hineingefegt wurde, schüttelte sich und trat wieder in das Haus zurück. Die Farfalla erklärte mir, daß ihre Mutter gestorben wäre und daß sie das Wasser vor die Thüre setzte, damit die armen Seelen trinken könnten, wenn sie kämen »Aber wenn man den armen Seelen zu trinken geben will«, setzte sie hinzu, »muß man roten Wein hinstellen; dazu ist sie zu geizig.« Ich dachte an das große Gesicht der Frau des Schusters und an ihn selber, wie ich ihn scheu, bleich, verbissen hatte dasitzen sehen, wie einen heimlichen Mörder. Wer weiß, sagte ich mir, ob das junge, üppige Weib nicht übers Jahr als ein blutloser Schatten um die Schwelle flattert und gierig nach irdischem Trunke suchen wird, um sich für eine Stunde Leben anzusaugen.
Die Farfalla sagte, sie möchte wohl ein Lämpchen für die armen Seelen brennen lassen und unterließe es nur, weil Riccardo es nicht dulden wollte. Warum, sagte er nicht, er wäre voll von seltsamen Gedanken, die er nicht ausspreche. Aber übers Jahr würde für ihn eins brennen; ob ich es auch glaubte? Wenn man das eingefallene, schon jetzt erstorbene Gesicht auf dem harten Kissen sah, konnte man nicht mehr zweifeln, daß es zu Ende mit ihm ging, und ich sagte es ihr, während sie mich mit einem sonderbaren Ausdruck von Spannung ansah, als läge ihr viel daran, daß ich ihre Meinung bestätigte. Es fiel mir ein, wie Riccardo mir erzählt hatte, daß sie auf den heiligen Berg ginge, um von der Madonna seinen Tod zu erbitten, und wie er sie manchmal, wenn sie stritten, argwöhnisch betrachtete und zu fragen schien, möchtest du, daß ich sterbe?
Plötzlich mich nach ihr umwendend, stellte ich die Frage, ob Riccardo recht gehabt und ob sie wirklich ein Gelübde um seinen Tod gethan hätte, die sie augenblicklich, einen festen Blick auf mich richtend, bejahte. Sie mochte mir ansehen daß ich nicht gerade Abscheu, aber doch ein Befremden empfand, daß eine Mutter den Tod ihres Kindes herbeiwünschen konnte, denn sie fügte nach einer Pause, ohne daß ich eine Bemerkung gemacht hätte, hinzu: »Sie können häufig in den Zeitungen lesen, daß Eltern sich mitsamt ihren Kindern töten, nur um sie nicht Hungers sterben zu sehen. Ihn zu töten, brächte ich nicht übers Herz, und doch weiß ich nicht, was aus ihm werden soll, wenn ich vor ihm sterbe. Den einzigen Wunsch habe ich noch: ihn mit meinen Augen tot zu sehen, dann will ich gern eine Stunde nach ihm sterben.« Das war einer der Augenblicke, wo ich sie bewunderte und liebte. Ich sagte, daß ich es für besser hielte, wenn Riccardo in das Spital gebracht würde, wo er in der richtigen Weise behandelt und gepflegt werden könnte. Alle ihre Bemühungen ihn dazu zu bewegen, sagte sie, wären umsonst gewesen. Sowie sie nur das Spital erwähnte, regte er sich auf in der Erinnerung an die schmerzvollen zehn Jahre, die er dort gelegen hätte; ja neulich hätte er zu weinen angefangen und vorwurfsvoll gefragt, warum sie ihn nicht zu Hause sterben lassen wollte; nun spräche sie nicht mehr davon. Ich versprach das meinige zu thun, um ihn auf gelinde Weise doch dafür zu gewinnen, und zwar sogleich, wenn Riccardo erwacht und allein mit mir sein würde; denn sie mußte nach der kleinen Anetta sehen, die um diese Zeit die Geburt ihres Karnevalskindes erwartete.
Vor einigen Monaten hatte ich die kleine Anetta als Dienerin bei einer Dame meiner Bekanntschaft, die ich als menschenfreundlich kannte, untergebracht, damit sie in einen Kreis von Ordnung und Biederkeit versetzt und dem Einfluß der Fabrikarbeiterschaft entzogen würde. Sie war nicht den ganzen Tag beschäftigt, damit sie vor Einbruch des Abends zu ihren Kindern zurückkehren konnte, und wurde gütig behandelt. Gern war sie nicht darauf eingegangen, denn wie die meisten Frauen der Altstadt hielt sie die Freiheit überaus hoch, aber da auch der Pfarrer in meinem Sinne wirkte, hatte sie uns schalten und mit sich machen lassen, was wir wollten ohne zu widersprechen. Die Dame war anfangs sehr für die hübsche, kinderhafte Frau eingenommen, doch klagte sie bald über Nachlässigkeit und Unpünktlichkeit Anettas, die zwar bei jeder Ermahnung heftig erschrak und versprach, alles zu thun, was verlangt würde, es aber am folgenden Tage schon wieder vergessen zu haben schien. Wegen meiner Empfehlung und aus Mitleid mit dem hilflosen Wesen übte die Dame Nachsicht und hoffte auf Besserung, wenn erst die Geburt des Kindes vorüber sein würde. Freilich schüttelte sie bedenklich den Kopf und meinte, der Hauptgrund sei ein völliges Fehlen des Pflichtgefühls; daß die arme, kleine Blonde lauter thörichte Träume im Kopfe hatte von Glückesrausch und ausgelassener Freude, und darüber Glockenschlag, Kehrbesen, Wascheimer und Scheuerlappen vergaß, wollte sie nicht als Entschuldigung gelten lassen. Als die Farfalla gegangen war, saß ich still am Fenster und dachte an das arme, kleine Leben, das, im Rausch und Fieber einer Ballnacht erzeugt, nun in die sturmkalte, unwirtliche Welt kommen sollte. Der Wind schlich eben nur leise winselnd durch die Gasse, so daß ich deutlich die schwachen Atemzüge Riccardos hörte und das träumerische Knarren seines Papageis, den er inzwischen von dem in der Fremde verstorbenen Freunde ererbt hatte. Bei uns, dachte ich, sieht man den alabasternen kleinen Amor zierlich auf einem guten alten Löwen sitzen und mit seinen Pfeilen spielen oder seinen Rücken mit schalkhafter Demut unter einen leichten Frauenschuh beugen. Die wahre Göttin Liebe würde mit einem Tritt ihrer Sohlen das alberne Figürchen zu Staub zertreten. Ich glaubte sie zu sehen – ja da schien ihr großes, weißes Gesicht durch die Dunkelheit der Gasse, breite Brauen über den trauernden Augen und ein Tyrannenlächeln um den grausamen Mund. Trug sie ein Schwert unter dem langen schwarzen Mantel, der schluchzend und rauschend wie ein dunkler Strom über die Steine schleppte? Die Hand, mit der sie ihn auf der Brust zusammenhielt, war eine weiße, volle, erbarmungslose Sklavenbändigerhand. Nun tauchte, wie ich starr auf die Vision hinuntersah, neben ihr wie folgsame Hunde, wildes Getier auf, Panther, Tiger und Hyänen mit auf die Erde geduckten Leibern und wedelnden Schweifen, mit blanken Zähnen und Augen, die gierig nach allen Seiten schillerten, die gräßliche Meute der großen Jägerin. Ihr unerbittliches Auge sieht gleichgültig auf die gehetzten blutenden Menschen, die jammern, kämpfen, sich winden und verzweifeln und immer wieder auf und weiter müssen, aufgeschreckt von den mordlustigen Tieren, und ihr herrischer Mund lächelt müde, wenn sie die Arme gen Himmel ringen und ewig ferne Götter und Heilige um Hilfe anflehen.
Ich hatte eine lange Weile gesessen und geschaut, als Riccardo aufwachte, mich anrief und zu mir selbst brachte. Ich hatte einige Kleinigkeiten mitgebracht, von denen ich wußte, daß sie ihm Freude machen würden, und sagte wie gewöhnlich, Lisabella schicke sie ihm. »Ich habe eben von ihr geträumt«, sagte er; »ich war auf dem Kirchhof und suchte ihr Grab, denn im Traume war sie tot, da sah ich plötzlich mitten auf einem kahlen Hügel das Kirchenweib sitzen mit ihrem langen Rosenkranz in der Hand. Ich fragte: für wen betest du? und sie sagte: für Lisabella; als ich aber eben fragen wollte, warum das Grab so kahl wäre, war es nicht mehr die Alte, sondern Lisabella, weiß wie ein Engel und mit feurigen Flügeln, die hatte den Kopf auf eine Hand gestützt und lächelte mich an.« Er sah froh aus, als ob ihm ein Glück begegnet wäre, und ich gewann es nicht über mich, ihm eben jetzt vom Spital zu sprechen, da doch sicherlich noch Augenblicke genug kamen, wo er ohnehin traurig sein würde.
Als ich in tiefer Dunkelheit durch die menschenleeren Gassen heimging, umsausten mich im Winde unsichtbare Scharen von Toten, die die kurze Frist ihrer Freiheit benützten, um sich in das geliebte Leben einzudrängen. Wie Schwärme von Eintagsfliegen wogten sie um die matten Lämpchen, die für sie brannten, und um die Schwellen, die sie nicht überschreiten konnten. Der Sturm trug ihren sehnsüchtigen Chor: Nimm uns Tote wieder, o Leben! Hüll' uns Tote in dein Licht, o Leben! Küß uns Tote mit deinen wilden Küssen, berausche uns mit deinen schimmernden Thränen! Setz uns deinen Rosenkranz auf, o Leben, wenn auch die Rosen verblühen und die Dornen uns blutig ritzen! Setz uns deine Dornenkrone auf, o Leben, wenn auch nur eine Rose zwischen den Dornen aufblüht und uns duftet aus ihrem tauigen Kelche!