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XVII

Die Ungeduld des auf die Aussage Derugas gespannten Publikums wurde nicht sofort befriedigt, da als erste Zeugin Fräulein Gundel Schwertfeger vernommen wurde. Der Vorsitzende legte ihr den Brief der verstorbenen Frau Swieter an Deruga vor und fragte sie, ob er ihr bekannt sei.

»Ja«, sagte Fräulein Schwertfeger, kaum einen flüchtigen Blick darauf werfend, »es ist derselbe, den ich einige Tage vor Mingos Tod zur Post gegeben habe.«

Dr. Zeunemann räusperte sich ein wenig und sah vor sich auf den Tisch. »Sie haben uns das im Beginn des Prozesses verschwiegen«, sagte er.

»Nein, ich habe gelogen«, sagte Fräulein Schwertfeger mit trotziger Tapferkeit, während ihre großen, grauen Augen sich verdunkelten. »Es war das erstemal in meinem Leben, und ich mußte es tun, weil ich sonst meiner verstorbenen Freundin das Wort gebrochen hätte. Dazu konnte ich mich nicht entschließen, gerade weil sie tot ist.«

»Wollen Sie uns jetzt vielleicht«, sagte Dr. Zeunemann sanft, »kurz erzählen, was sich wegen des Briefes zwischen Ihnen begab?«

»Meine Freundin fragte mich, ob ich ihr etwas zuliebe tun wolle. Ich sagte, ich würde alles tun, was in meinen Kräften stände, die leider gering wären. Sie küßte mich und sagte, es wäre nicht viel an sich, aber für mich bedeutete es vielleicht viel: Ich sollte nämlich einen Brief an Deruga besorgen, ohne daß es jetzt oder später jemand erführe. Ich versprach zu tun, was sie wünschte, und fragte, ob sie mir sagen könnte, was sie ihm schreibe und warum es niemand erfahren dürfte. Sie sagte, sie habe das Bedürfnis, ihm für den Fall, daß sie nicht lange mehr leben sollte, Lebewohl zu sagen, und daß sie das heimlich halten wolle, entspringe nur der vielleicht törichten Furcht, man würde sie nicht verstehen und lächerlich finden.«

»Haben Sie sich damals«, fuhr der Vorsitzende fort, »gar keine Gedanken gemacht, ob es sich wirklich so verhalte?«

»Damals dachte ich«, sagte Fräulein Schwertfeger, »sie habe ihm vielleicht geschrieben, sie wünsche ihn noch einmal zu sehen, bevor sie stürbe, und habe sich gescheut, mir das zu sagen. Als dann die Anklage gegen Deruga erhoben wurde, sah ich ein, wie gefährlich der Brief für ihn werden könne, sei es, daß sie ihn gebeten hatte zu kommen oder daß sie ihn von dem Inhalt des Testamentes in Kenntnis gesetzt hatte; und ich nahm mir vor, lieber zu lügen, als ihn ins Unglück zu bringen, da ich wußte, welchen Schmerz das meiner Freundin bereitet hätte.«

»Steht vielleicht damit in Zusammenhang«, sagte Dr. Zeunemann, »daß Sie das Vermächtnis Ihrer Freundin ausschlugen und später sogar die Ihnen vermachten Wertsachen verschenkten?«

Fräulein Schwertfeger wurde dunkelrot.

»Es schien mir allerdings nur so auszusehen«, sagte sie, »als wolle meine Freundin mich für mein Stillschweigen belohnen. Später vollends, als der Verdacht gegen Deruga aufkam, den ich teilte, wäre ich mir selbst vorgekommen wie eine Bestochene und wie eine Helfershelferin bei der abscheulichen Tat, wenn ich das geringste von den Kostbarkeiten meiner Freundin behalten hätte.«

»Es ist Ihnen also niemals«, fragte der Vorsitzende, »die Möglichkeit des Zusammenhangs aufgetaucht, so wie sie sich jetzt dargestellt hat? Ihre Freundin hat Ihnen doch selbst einmal gesagt, wie Sie gelegentlich erwähnten, daß sie demjenigen dankbar sein würde, der ihrem Leiden ein Ende bereitete, indem er sie tötete?«

»Ich hielt das nur für eine augenblickliche Regung«, sagte Fräulein Schwertfeger. »Jetzt erst habe ich eingesehen, wie sehr sich meine Freundin im allgemeinen beherrschte, wenn ich bei ihr war. Dazu kommt, daß ich Deruga nichts Gutes, aber wohl Schlechtes zutraute. Ich habe ihm sehr unrecht getan.«

»Aber das bedachten Sie nie«, sagte Dr. Zeunemann mit mildem Vorwurf, »daß der Gerechtigkeit dadurch Abbruch geschähe, wenn Deruga seine geschiedene Frau gemordet hätte und unbestraft bliebe?«

»Ich dachte«, sagte Fräulein Schwertfeger trotzig, »ich wollte tun, was mein Gewissen mich hieße, und das übrige Gott überlassen.«

»Als Mensch«, sagte Dr. Zeunemann nach einer Pause, »kann ich Ihre Handlungsweise nicht tadeln, obwohl sie nicht als Muster für andere Fälle gelten dürfte.«

Nachdem Fräulein Schwertfeger entlassen war, kam Derugas Vernehmung. Um von den Geschworenen besser verstanden zu werden, wurde er aufgefordert, die Anklagebank zu verlassen und sich auf den für die Zeugen bestimmten Platz zu begeben. Er sah blaß, gleichgültig, verdrossen und verschlossen aus, fast als habe er es auf eine abstoßende Wirkung abgesehen und empfinde Genugtuung darüber. »Sie haben zugestanden«, begann der Vorsitzende ernst, »Ihre geschiedene Gattin getötet zu haben, was Sie bis jetzt leugneten. Sie reisten zu diesem Zwecke und mit dahin zielender Absicht von Prag ab?«

»Ich weiß nicht«, sagte Deruga unmutig, »warum Sie mich noch einmal mit Fragen behelligen. Sie wissen, daß meine Frau sich sehnte, von unerträglichem Leiden befreit zu werden, und daß sie sich an mich wandte, weil sie das Zutrauen zu mir hatte. Ich fühlte menschlich genug, um ihre Bitte zu erhören. Die Ärzte im allgemeinen haben den Mut zu einer so vernünftigen Tat nicht. Ich reiste sofort hin und tat es. Das sollte genügen.«

»Es kommt uns nicht darauf an, die Tat zu wissen«, sagte Dr. Zeunemann, »sondern auch die Absichten kennenzulernen, die den Täter leiteten.«

»Was wollen Sie damit sagen?« fuhr Deruga heftig auf. »Was für Absichten könnte ich gehabt haben, außer, der armen Person zu helfen? Daß ich von der Erbschaft nichts wußte, geht aus ihrem Brief hervor.«

»Aus dem Brief geht allerdings hervor«, sagte der Vorsitzende mit gelassener Würde, »daß Sie mit Ihrer geschiedenen Frau seit Ihrer Scheidung in keiner Verbindung standen, daß Sie also damals von der Erbschaft nichts wußten.«

»Damals!« rief Deruga. »Wollen Sie damit sagen, daß ich hingereist wäre, um meiner Frau anzubieten, ich wolle ihr den Gefallen tun, wenn sie mir soundsoviel Geld dafür gäbe? Und um den Preis ihres Vermögens hätte ich mich kaufen lassen? Ich weiß nicht, nach was für einem Maßstab Sie die Menschen beurteilen. Ekelhafte Welt, wo Menschen richten, die nur gemeine Triebe zu kennen scheinen!«

»Ich muß Sie bitten«, sagte der Vorsitzende, »Ihre Ausdrücke zu mäßigen. Die gefallenen Worte lasse ich deshalb hingehen, weil ich eine krankhafte Erregung bei Ihnen voraussetze. Nachdem ich Sie aber gewarnt habe, würde ich mich im Wiederholungsfalle zu ernsten Maßnahmen gezwungen sehen.«

Inzwischen war Justizrat Fein aufgestanden und bat, ein paar Worte mit seinem Klienten reden zu dürfen. »Aber, liebster Doktor«, sagte er halblaut, indem er ihn am Rock faßte, »was für Geschichten machen Sie? Es hängt jetzt alles davon ab, daß Sie einen guten Eindruck machen. Nachher ist alles vorüber. Nehmen Sie sich doch zusammen, tun Sie es mir zuliebe! Bilden Sie sich ein, Sie erzählten die ganze Begebenheit mir! Der arme Teufel tut am Ende nur seine Pflicht, wenn er alle Möglichkeiten ins Auge faßt. Sie könnten ja auch ein Schweinehund sein, wie es viele gibt.«

»Ich weiß nicht, warum sich mein Blut empört«, entgegnete Deruga, »wenn ich diesen Areopag von Stallhammeln sehe, die über hungrige Wölfe zu Gericht sitzen. Wäre ich doch ein Raubmörder oder Brandstifter! Hier schäme ich mich, ein anständiger Mensch zu sein.«

»Das sind Sie ja gar nicht«, sagte der Justizrat beruhigend, »das heißt nicht in dem Sinne, wie Sie es eben meinten. Und haben Sie denn gar kein Gefühl für das wackere alte Jüngferchen auf der Zeugenbank? Erzählen Sie der die Geschichte! Denken Sie, wie froh sie sein wird, wenn sie Sie für keinen Bösewicht mehr zu halten braucht.«

»Dumme, eigensinnige Gans«, brummte Deruga, aber sein Blick war freundlicher geworden, und er erklärte sich bereit, die Fragen, die man an ihn richten würde, zu beantworten.

»Als Sie den Brief Ihrer geschiedenen Frau erhielten«, begann Dr. Zeunemann von neuem, »faßten Sie da sofort den Beschluß, ihren Wunsch zu erfüllen?«

»Als ich ihre Handschrift sah«, sagte Deruga in ruhig erzählendem Tone, »die ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte und die ganz unverändert war, so daß ich sie sofort erkannte, da erfaßte mich sofort das Gefühl von Unruhe, Wut und Haß, das mich immer überkommen hatte, wenn ich zufällig einmal an sie erinnert wurde, was aber in den letzten Jahren nur sehr selten geschehen war. Was kann sie von mir wollen? dachte ich. Will sie mir sagen, es tue ihr leid, daß sie mein Leben zerstört habe? Bildet sie sich ein, es bestehe noch irgendein Band zwischen uns? Bildet sie sich ein, ich könne je vergessen, was ich durch sie gelitten habe? So ungefähr. Als ich den Brief gelesen hatte, war das alles verschwunden, und ich empfand nur Mitleid und Liebe. Ich empfand, was ich noch nie zuvor empfunden hatte: reine, große, ungetrübte Liebe für das leidende Geschöpf, das ich soviel gequält hatte, eine Liebe, die nur in dem Wunsche bestand, sie zu trösten und ihr zu helfen. Ich erinnerte mich an ihre Angst vor Schmerzen und wie oft sie mich gefragt hatte, ob ich sie lieb genug haben würde, sie zu töten, wenn sie einmal von einer sehr schmerzhaften Krankheit befallen werden sollte, wie dankbar sie mir war, wenn ich es versprach, und wie dann ihre Sicherheit und Überlegenheit verschwand und sie wie ein Kind sich an mich schmiegte. Es war alles ausgelöscht, was mich einst an Eifersucht, Empfindlichkeit und Rachsucht gegen sie verbittert hatte, vor dem einen Gefühl, daß sie mich nicht vergeblich angerufen haben sollte und ich sie von ihrem Leiden befreien wollte, wenn ich sie nicht etwa heilen könnte.«

Die Pause, die Deruga machte, benützte der Staatsanwalt, um durch weitausholende Gestikulationen und im Flüsterton gezischte Anweisungen einen Diener zu beauftragen, daß er dem Angeklagten, der angegriffen zu sein scheine, einen Sessel brächte.

Nachdem er sich bedankt hatte, fuhr Deruga fort:

»Meine Regung war, sofort abzureisen, aber ich überlegte mir, was für höchst bedenkliche Folgen die Tat für mich haben könnte, und ich beschloß, dieselben, wenn möglich, abzuwenden. Die Art und Weise betreffend, wie ich Mingo töten wollte, beschloß ich, es durch Curare zu tun, wovon ich zufällig eine genügende Dosis besaß. Chloroform, das in gewisser Beziehung vorzuziehen gewesen wäre, schloß ich deshalb aus, weil der Geruch es sofort verraten hätte. Allerdings hätte man gerade dabei am ersten auf Selbstmord geschlossen, außer wenn sich feststellen ließ, daß kein Chloroform im Hause gewesen war; sicherer erschien es mir, auf alle Fälle ein Gift zu wählen, das im Augenblick keine Spur hinterließ, damit der Verdacht eines gewaltsamen Endes überhaupt nicht aufkam.

Da meine Frau nicht geschrieben hatte, wie ich zu ihr gelangen könnte, dachte ich, zuerst deswegen bei ihr anzufragen, unterließ es jedoch, weil ich mir sagte, der Brief würde vielleicht einer Dienerin oder Pflegerin in die Hände fallen, die voraussichtlich nicht in das Geheimnis gezogen werden durfte. Nachdem ich vielerlei geplant und verworfen hatte, entschloß ich mich, als Vagabund oder Hausierer verkleidet in ihrer Wohnung vorzusprechen und die Gelegenheit auszukundschaften; ich traute mir zu, daß ich auf diese Art irgendeinen Weg ausfindig machen würde, und rechnete auf die glücklichen Einfälle, die dem Unternehmenden gewöhnlich zu Hilfe kommen. Darauf brachte mich auch der Umstand, daß ich vor Jahren einmal auf einem Maskenballe als Mausefallenverkäufer aufgetreten und nicht nur von niemandem erkannt, sondern von verschiedenen sogar für einen echten, zum Spaß eingeschmuggelten Slowaken gehalten worden war. Ich wickelte den Anzug, den ich aufgehoben hatte, in ein Papier ein und nahm ihn als einziges Gepäck mit, um mich entweder in der Eisenbahn oder im Bahnhof umzukleiden.

Unterwegs überlegte ich mir, daß der Kleiderwechsel im Zuge bemerkt werden und Verdacht erregen könnte, wodurch ich vielleicht aufgehalten würde, und im Bahnhof fand ich keine Gelegenheit. Da es noch sehr früh, etwa halb sechs Uhr war, nahm ich an, daß ich in den Bahnhofsanlagen vollkommen unbeobachtet sein würde. In der Tat war es rings öde und still, und als ich die halbrunde, steinerne Bank sah, die uns Herr Dr. Bernburger beschrieben hat, schien mir das der geeignete Ort zu sein, wo ich mich umkleiden und meinen bürgerlichen Anzug, den ich ja zur Heimreise brauchte, verbergen könnte. Nachdem ich den Vagabundenkittel angezogen hatte, wickelte ich den anderen Anzug ein und verbarg ihn unter der Bank. Zum Überfluß häufte ich noch welkes Laub darüber, das überall verstreut war.

Zunächst ging ich in ein kleines Café in der äußeren Stadt und frühstückte, weniger, um mich zu erfrischen, als um den Eindruck zu prüfen, den ich machte, und ich stellte fest, daß ich durchaus für das genommen wurde, was ich vorstellen wollte. Bis zum Mittag trieb ich mich herum, dann begab ich mich in die Gartenstraße. Ich war durchaus nicht aufgeregt, außer daß ich mich sehnte, die Marmotte wiederzusehen. An den Zweck, der mich hergeführt hatte, dachte ich kaum noch, nur daran, wieviel wir uns zu erzählen haben würden.

Als Ursula mir die Tür öffnete, wurde es mir schwer, mich nicht zu verraten, denn ich freute mich, sie wiederzusehen; ich hätte sie gern begrüßt und gefragt, ob sie mich denn nicht erkennte. Als Mingo läutete und Ursula im Weglaufen die Tür zuschlug, steckte ich rasch einen der hölzernen Löffel, die ich als Verkaufsgegenstände bei mir hatte, dazwischen. Es war eine Eingebung des Augenblicks, der ich vielleicht nicht gefolgt wäre, wenn ich Zeit zur Überlegung gehabt hätte, denn das Wagnis konnte leicht mißglücken. Immerhin traute ich mir zu, mich mit Ursula, wenn sie mir auf die Spur käme, auf irgendeine Weise zu verständigen. Ich stellte den Teller Suppe, den Ursula mir gebracht hatte, auf die Treppe und ging aufs Geratewohl in die nächste Zimmertür; sie führte in das Fremdenzimmer, das unbenutzt war. Von dort aus hörte ich, wie Ursula wiederkam, die Wohnungstür öffnete und brummte, als sie draußen den vollen Teller fand. Nachdem sie in der Küche verschwunden war, ging ich vorsichtig weiter und erblickte durch die offenstehende Tür des Nebenzimmers Mingos Bett. Ich sagte leise: ›Marmotte, da ist Dodo!‹ und sie antwortete ebenso: ›Dodo! Warte, bis Ursula fort ist.‹

Während ich allein in dem Fremdenzimmer saß und wartete, habe ich die Seligkeit des Himmels genossen. Mehrere Stunden lang fühlte ich die mit nichts auf Erden vergleichbare Wonne, die vielleicht gemarterte Heilige empfunden haben, wenn der Schmerz aufhörte und Engel mit der Krone des ewigen Lebens sich aus den Wolken auf sie niederließen. Mein Herz war ganz und gar voll von der göttlichen Liebe, die nichts will als das Glück des Geliebten. Ich hatte sie nun wiedergesehen, die Frau, deren bloßer Name früher einen Ausbruch von Leidenschaften, Liebe, Haß, Rachsucht in mir entfesselt hatte. Was ist noch an uns von dem Kinde, das wir vor dreißig, vierzig, fünfzig Jahren einmal waren? Unser ganzer Körper hat sich seitdem erneuert, wir haben vielleicht keinen Gedanken und keine Empfindungen mehr von denen, die wir damals hatten, und doch, daß wir es sind, ist das Sicherste, was wir wissen. Ach, von der Marmotte, die ich einmal mein genannt hatte, war nichts mehr da, und doch hatte ich in dem einzigen Augenblick in ihrem von den Jahren und der Krankheit zerstörten Gesicht dasselbe Gesicht gesehen, das ihr als Kind schon eigen gewesen sein mochte: aus Unschuld, Liebe und Güte zusammengezaubert. Es war nur als eine geistige Erscheinung da, und ich weiß nicht, mit was für Augen ich es gesehen habe. Das Körperliche war das einer alternden, todkranken Frau, einer Pflanze ähnlich, die, vom Nachtfrost überrascht, mumienhaft im Sonnenschein steht. Es war nichts mehr an meiner armen Marmotte, was die Leidenschaft eines Mannes hätte erregen können, aber sie war mir so teuer, mein Leben hinzugeben, wenn ich ihr Glück damit hätte erkaufen können. Armes, ohnmächtiges Geschöpf, dachte ich, du sollst nicht mehr leiden! Was es mich auch kosten mag, wie hart die Folgen für mich sein mögen, ich will dir Frieden bringen. Und wenn alle deine Qualen auf mich übergingen, so wollte ich sie annehmen und mich freuen, daß du statt dessen ruhen könntest.

Vorher hatte ich gedacht, ich müsse es mir erst Gewißheit über den Charakter und Grad ihrer Krankheit verschaffen, aber ihr Anblick zeigte mir überflüssig, wie fortgeschritten sie war. Sowie ich Ursula die Tür hinter sich schließen und die Treppe hinuntergehen hörte, erhob ich mich, und gleichzeitig rief mich auch die Marmotte. Ich setzte mich auf den Rand ihres Bettes und sagte, wie ich mich gefreut hätte, daß Ursula noch bei ihr wäre, und wie ich kaum hätte unterlassen können, sie auszulachen, weil sie mich nicht erkannt hätte. ›Ich hätte dich gleich erkannt‹, sagte sie, und dann schwatzten wir von der Vergangenheit und tauschten kleine Erinnerungen aus. Auch von ihrer Krankheit, ihren Operationen und wie sie behandelt wurde, erzählte sie mir auf mein Befragen. Ihre Stimme war unverändert, nur fast süßer als früher. Sie klang so, wie man wohl des Abends im Gebirge ein entferntes Alphorn hört, in dem die rosigen, grünen und grauen Farben des dämmernden Horizonts mitzutönen scheinen. Während wir sprachen, hielt sie eine meiner Hände fest zwischen den ihren, und einmal küßte sie sie und sagte: ›Du liebe, gute schöne Hand, ich habe oft an dich gedacht und daß du mich erlösen würdest!‹ Es mochte eine halbe Stunde vergangen sein, da sah ich in ihrem Gesicht, daß ein Anfall von Schmerzen im Anzug war, und ich dachte, nun sei der Augenblick gekommen. Ich hätte etwas mitgebracht, um ihr die Schmerzen zu vertreiben, sagte ich, und wolle es jetzt in der Küche zurechtmachen, damit wir ungestört weiterplaudern könnten. ›Wird es weh tun?‹ fragte sie, indem sie mich ängstlich ansah, und ihre Mundwinkel zitterten. Arme, kleine, furchtsame Marmotte! Trotzdem sie den Tod herbeiwünschte, fürchtete sie sich vor ihm. Ich lachte und sagte: ›Was denkst du, so schnell geht es nicht. Erst will ich dich ein wenig beobachten, denn vielleicht kannst du durch verständige Behandlung noch einmal gesund gemacht werden.‹ Mit den Worten ging ich in die Küche, suchte mir ein Glas und mischte das Gift so mit Limonade und Zucker, daß man seine Bitterkeit nicht schmeckte. Als ich zurückkam, hatte sie starke Schmerzen, und während ich sie aufrichtete, um sie trinken zu lassen, erzählte sie mir, daß sie in der letzten Nacht von unserm Mingo geträumt hatte. ›Wie sehne ich mich danach, sie wiederzusehen‹, sagte sie, ›und später, wenn du auch kommst, stehen wir Hand in Hand und warten auf dich.‹ Ich nickte, stützte sie mit meinem Arm und setzte das Glas an ihre Lippen. Sie sah mich dankbar an und trank begierig.

Ich wartete, bis sie gestorben war, dann legte ich sie nieder, küßte sie auf die Stirn und sagte: ›Adieu, liebe, süße Marmotte.‹ Dann stellte ich in den beiden Zimmern alles so, wie es vorher gewesen war, ging in die Küche, reinigte das Glas, vertilgte überhaupt jede Spur meiner Anwesenheit und ging fort. Im Hause begegnete mir niemand, aber auf dem gepflasterten Wege, der zum Gartentor führte, sah ich den Hausmeister stehen. Bis dahin war ich vollkommen ruhig gewesen oder hatte geglaubt, es zu sein. Aber als ich den Hausmeister sah, kam es mir vor, als müsse ich ihm auffallen und müsse irgend etwas tun, um unbefangen zu erscheinen. Unwillkürlich faßte ich in die Tasche und zog eine Zigarette heraus, stellte mich vor ihn hin und sagte: ›Haben Sie Feuer, Euer Gnaden?‹ Als ich einen Zug getan hatte, ekelte es mich, und ich warf die Zigarette ins Gebüsch, ohne in dem Augenblick daran zu denken, daß das auffallen könnte.

Der nächste Zug nach Prag ging in der Frühe, und es war erst halb sechs Uhr nachmittags. Ich schlenderte wieder in die äußeren Stadtteile und setzte mich dort in ein Café. Als es Nacht wurde, begab ich mich in die Bahnhofsanlagen. Es schien mir noch zu früh zu sein, um mich umzukleiden. Da ich jedoch nicht mehr gehen mochte, setzte ich mich auf die steinerne Bank, unter der ich meinen Anzug verborgen hatte, um die Dunkelheit zu erwarten. Die himmlischen Gefühle, die mich bei Marmotte gehoben hatten, waren verschwunden, ich war schrecklich ernüchtert, und mich fror. Ich hatte den ganzen Tag nichts zu mir genommen als etwas schwarzen Kaffee, und ich war so schwach und abgespannt, daß ich kaum wußte, wozu ich eigentlich dasaß. Ich kam mir abgeschmackt und lächerlich vor.

Gegen Mitternacht erhob sich ein starker Wind, der mich bis in die Knochen schaudern machte und die trübe Erstarrung, in die ich versunken war, durchbrach. Da weit und breit Totenstille herrschte, stand ich auf, zog das Paket unter den welken Blättern hervor, mit denen ich es bedeckt hatte, und kleidete mich um. Den Arbeitskittel wollte ich nicht mitnehmen und dachte erst daran, ihn wieder unter die Bank zu legen. Da fiel mir plötzlich ein, daß ich ihn, um ihn aus der Welt zu schaffen, noch besser in den Kanal werfen könnte.

Ich stand schon auf der Brücke, als ich an mein Geld dachte, das noch in dem Kittel war. Auf dem Wege zum Bahnhof malte ich mir aus, wie verhängnisvoll es für mich hätte werden können, wenn ich ohne Geld geblieben wäre, und dabei fiel mir endlich ein, daß ich auch Mingos Brief bei mir gehabt hatte für den Fall, daß ich ihre Wohnung vergäße. Es tat mir leid, den Brief verloren zu haben, aber ich war zu müde und zu gleichgültig, um umzukehren und einen Versuch zu machen, ob ich das Paket noch aus dem Wasser fischen könnte, was ohnehin unwahrscheinlich war. Auch graute mir, obwohl ich solchen Stimmungen sonst nicht unterworfen bin, vor der verlassenen Stelle, und es war mir zumute, als würde ich mich selbst auf der weißen Bank vor dem schwarzen Wasser sitzen sehen, wenn ich zurückkehrte. Im Eisenbahnwagen schlief ich sofort ein und schlief fest, bis ich zu Hause ankam. Ich hatte den Eindruck, daß niemand mich kommen sah und niemandem meine Abwesenheit aufgefallen war.«

»Warum haben Sie den Sachverhalt nicht sofort der Wahrheit gemäß dargestellt?« fragte der Vorsitzende, der während der langen Erzählung mit seinem Bleistift gespielt hatte und in den Anblick desselben versunken schien. »Das hätte Ihnen von vornherein eine andere Stellung gesichert.«

»Ja, wenn man mir geglaubt hätte!« sagte Deruga. »Den einzigen Beweis, den ich beibringen konnte, den Brief meiner Frau, hatte ich verloren, und ich dachte nicht an die Möglichkeit, ihn wiederzufinden. Auch ich war überzeugt, selbst wenn sich der Kittel herbeischaffen ließe, würde das Wasser den Brief zerstört haben.«

»Sonderbare Geschichte das!« sagte Dr. Zeunemann nach der Sitzung zu den übrigen Herren. »Ich gestehe, der Mensch hat mich beinahe gerührt. Ein derartiges gegenseitiges Wohlwollen findet man selten bei Eheleuten.«

»Die waren ja auch geschieden«, sagte der Staatsanwalt listig.

Alle Herren lachten. »Übrigens«, sagte Dr. Zeunemann, »für ein bißchen nervös und empfindsam halte ich unseren Italiener doch. Ich hatte nicht unrecht, wenn ich ihn mit einem Chamäleon verglich.«

Das wurde zugegeben. Aber es sei schließlich kein Verbrechen, ein Chamäleon zu sein. Viele fänden es sogar reizvoll.

»Ein Spielzeug für Damen«, sagte der Staatsanwalt vergnügt, »und um der Damen willen muß er freigesprochen werden. Ich hoffe, unsere Geschworenen vergessen nicht, daß es die Damen sind, die im öffentlichen wie im privaten Leben den Ausschlag geben.«

»Besonders vergessen Sie hoffentlich nicht«, sagte Dr. Zeunemann, »daß es noch Frauen gibt, die weder im öffentlichen noch im privaten Leben hervortreten und doch tapferer sind als unser starkes Geschlecht.«

Man wollte allerseits an dem Vorsitzenden eine Vorliebe für Fräulein Gundel Schwertfeger bemerkt haben und neckte ihn damit.

Ja, er sähe auf den Kern, rechtfertigte sich Dr. Zeunemann, lasse sich nicht durch Schein und Schimmer verblenden wie der ewig junge Staatsanwalt.

»Sie hat gelogen wie eine Heilige«, sagte dieser, »und mir ist es recht, wenn das Gericht ihr eine Aureole statt der Strafe zuerkennt, denn das Martyrium hat sie schon hinter sich. Hernach werde ich aber mit verdoppelter Kraft den Buchstaben des Gesetzes schwingen.«


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