Ricarda Huch
Fra Celeste
Ricarda Huch

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Als ich den später so berühmten und angebeteten Fra Celeste zum ersten Male predigen hörte, war er erst in den Ortschaften bekannt, die im Umkreise seines Klosters lagen. Ich war in die Kirche eingetreten, weil ich so ungewöhnlich viele Leute hingehen sah, aber ich erwartete mir eigentlich nichts anderes, als die Nase zu rümpfen; denn ich war hochmütig wegen der Bildung, die ich auf den hohen Schulen gesammelt hatte, und glaubte durchaus nicht an diese Genialen, die es vermöge angeborener Kräfte mit den bestgeschulten Geistern aufnehmen können. Von einem, der erst ein Bäckerjunge gewesen, dann ein Mönch geworden war, glaubte ich, daß er höchstens dem dummen Pöbel durch Lärm, Schlagwörter und leeren Bombast imponieren könne. Als er nun aber, dieser wundervolle Mann, in Begleitung mehrerer Geistlicher, denen er um einige Schritte voranging, durch das geöffnete Portal eintrat, fühlte ich mich sogleich gesichert und erhoben, was ich schwerlich begründen könnte, denn bei der Dunkelheit, die in der tiefen alten Kirche herrschte, vermochte ich sein Äußeres nicht zu unterscheiden. Auch als er auf der Kanzel stand, sah ich nur, daß er eine hochgewachsene kräftige Gestalt hatte, die sich mit Unbefangenheit, aber nicht häufig bewegte, und daß die Form seines Gesichtes schön, breit und stark war. Obgleich er schnell gegangen war, fing er sofort, ohne daß 4 man etwas von Atemnot bemerkt hätte, zu sprechen an mit dieser einzigen, unerschöpflichen Stimme, die aus dem Busen eines Gottes zu kommen schien. Eine Weile sprach er schlicht, gleichförmig, mit mittlerer Stärke, bis er sowohl von den immer rascher aufquellenden Einfällen wie auch vom Klange seiner Stimme berauscht wurde. Dann behandelte er sie wie ein Instrument, Geige oder Flöte, worauf er phantasierte; etwas vorgebogen, mit verzückten Augen schien er den Tönen nachzublicken, als wären es schimmernde Paradiesvögel, die die schwarzen Pfeiler umschwebten und das Gewölbe mit Musik erfüllten. Das Merkwürdige war nun, daß die Predigt keineswegs nur ein wohlklingender Gesang war, sondern klar geordnet und voll eigenartiger Gedanken und Betrachtungen. Sie handelte von der Sonntagsheiligung, und zwar zuerst von den Belustigungen, mit denen gewöhnlich der Feiertag verbracht wird, hernach von dem eigentlichen Sinn und Wert der gebotenen Ruhe. Da war kein borniertes Eifern oder Scheinheiligkeit oder Tugendsalbung, nichts, worüber man hätte lachen oder was man hätte leicht widerlegen können, sondern ritterliche Verachtung gemeiner Lust. »Gott hat uns zu Herren der Erde geschaffen,« sagte er unter anderem, »sollen wir uns von ihr knechten lassen für den vergänglichen Bettel, mit dem sie uns dingen will? Wer wäre ich, wenn die Sklavenumarmung der Dirne Welt meine Sehnsucht stillte? Regieren will ich die Erde von meinem Platz aus, nach meinen Kräften, als der König, der ich geschaffen bin, sechs Tage lang. Aber am siebenten will ich den Herrn suchen, der über mir ist, und ihm dienen. Denn auch wir möchten vergehen und anbeten.« Indem er dies letzte mit einem 5 unbeschreiblichen Schmelz der Stimme sagte, sah ich zum ersten Male sein herzliches Lächeln, wobei die Zähne schimmerten wie Mondschein, der durch eine dunkle Wolke fällt. Dann, nach einer kleinen Pause, fuhr er lauter fort, daß es klang, wie wenn ein Frühlingsdonner über die Himmelswölbung rollt: »Kniet mit mir und betet an!« worauf sich alle niederwarfen. Die meisten blieben in dieser Stellung bis zum Ende der Predigt und schienen froh, ihrer leidenschaftlichen Inbrunst dadurch einen Ausdruck geben zu dürfen. Durch die Reihen der Menschen, die sich an ihn drängten, als er die Kirche verließ, um sein Kleid oder seine Hände zu berühren, ging er mit aufrichtiger, ganz ungesuchter Gleichgültigkeit, obwohl es namentlich Frauen waren und seine Jugend eine gewisse Reizbarkeit gegenüber dem weiblichen Geschlecht entschuldigt hätte. Aber man sah wohl, daß es diesem Liebling Gottes nicht einmal einen Kampf kostete, derartige Versuchungen zu überwinden.

Ich erinnere mich, daß inzwischen die Sonne untergegangen war und ein wonnig kühler, mehr zu empfindender als sichtbarer Flor sich über die graue Kirche, den Turm und alle Gegenstände herabsenkte. Der Himmel schien mir höher zu sein, als ich ihn je gesehen hatte, und ich stand noch und schaute hinein, nachdem sich die Menge längst verlaufen hatte. Allmählich war es mir, als höbe ich mich von der Erde und schwebte langsam nach oben, getragen von einem mächtigen, befreundeten Element, das, wie ich genau wußte, Fra Celeste regierte. Seit diesem Abend brachte ich den Bruder nicht mehr aus meinem Sinn, und als ich kurz darauf erfuhr, daß er einen Sekretär suchte, der seine Korrespondenzen und weltlichen Angelegenheiten 6 überhaupt besorge, lief ich ohne Zögern zu ihm in der Meinung, die Vorsehung habe mich eigens für dieses Amt auserlesen, wie ehemals den guten Parsival für den Gral. Ich wurde sogleich vorgelassen, der himmlische Mann betrachtete mich eine Weile aufmerksam, strich liebkosend über meine Wangen, erkundigte sich nach meinem Alter, verwunderte sich, daß ich schon dreiundzwanzig Jahre zählte, denn ich gliche, sagte er, mehr einem kleinen Fräulein von sechzehn Lenzen, und äußerte Zweifel, ob ich auch imstande sei, seine Geschäfte zu führen. Er selbst nämlich, obschon er wie ein Erzengel mit Nachtigallen- und Adlerzungen redete, konnte weder fließend lesen noch schreiben, und da er schon damals zahlreiche Briefe empfing, die ihm gleichgültig oder gar lästig waren, suchte er jemand, der sie nach seinem Gutdünken schicklich beantwortete und ihn selbst nur in Ausnahmefällen damit behelligte. Ich zählte ihm alle Studien auf, die ich gemacht hatte, was ihn sehr zu befriedigen schien, und er gab mir einige Briefe, die er kürzlich erhalten hatte, damit ich sie abfertige, wie es mir gut scheine, und ließ mich an seinem Schreibtisch allein.

Der erste Brief, den ich öffnete, war von einer Frau, die einen starken Trieb fühlte, ins Kloster zu gehen, ihr Mann, schrieb sie, wollte sie aber nicht gehen lassen; ob es gottgefälliger sei, dem himmlischen Herrn zuliebe dem irdischen ungehorsam zu sein oder bei dem letzteren auszuharren. Ich beantwortete den Brief folgendermaßen: »Frau, wenn Sie ins Kloster gehen, entwenden Sie Gott eine Seele, nämlich die Ihres Mannes, der mit Weltlust voll zu sein scheint und ohne Sie vielleicht zur Hölle fahren müßte. 7 Bessern Sie ihn durch das Beispiel Ihrer Tugend, bis er selbst vor den irdischen Plagen sich ins Kloster zu flüchten sehnt, und gehen Sie dann in Gottes Namen miteinander.« Der zweite Brief war ebenfalls von einer Dame, welche, um im Glauben gestärkt und vom Verderben errettet zu werden, eine Unterredung mit dem heiligen Bruder wünschte und ihn auf die Dämmerstunde eines bestimmten Tages zu sich einlud. Diesen Brief hielt ich für das beste, unbeantwortet zu zerreißen.

Der dritte war von des Bruders Abte, der sich beklagte, daß er schon lange ohne die schuldige Berichterstattung bleibe, ferner, daß der Bruder, wie ihm zu Ohren gekommen sei, bei seinen Predigten oft ins Blaue fahre und nicht daran denke, der alleinseligmachenden katholischen Kirche die Ehre zu geben. Nach einigem Bedenken antwortete ich so: »Hochehrwürden, über das, was ich predige, bin ich nicht Herr, denn es ist Eingebung, und zwar, wie ich glaube und hoffe, des guten, nicht des bösen Geistes. Daß Hochehrwürden solange keine Nachricht von mir empfangen haben, ist die Schuld meines Sekretärs, den ich wegen dieser Nachlässigkeit scharf getadelt habe.« Eben als ich dies geschrieben hatte, trat Fra Celeste wieder ein und verlangte, meine Arbeit zu prüfen. Nachdem er die beiden Briefe gelesen hatte, lobte er mich sehr und bat mich, bei ihm zu bleiben; er sei zufrieden mit mir.

Von diesem Augenblick an blieb ich der Gefährte dieses einzigen Mannes, hatte mein Zimmer unmittelbar neben dem seinigen und begleitete ihn auf seinen Reisen; denn nun kam die Zeit, wo alle Städte unseres Landes wetteiferten, ihn in ihren Mauern zu empfangen. Die erste Reise, die wir 8 zusammen unternahmen, ging nach seiner Vaterstadt, die er wiederzusehen wünschte. Dort ereignete es sich, daß bei der ersten Predigt, die er hielt, eine vornehme, reich und edel gekleidete Dame, während er in einer Pause angab, worüber er das nächste Mal predigen würde, von einer Ohnmacht angewandelt wurde. Sie erholte sich aber sogleich und drängte sich am Schlusse, obschon es ihr sichtlich ungewohnt und zuwider war, sich im Volksgewühl zu bewegen, dicht zu Fra Celeste hin, der sie mit einer Gebärde des Abscheues oder Zornes zurückstieß. Als ich mit dem Bruder allein war, sagte ich hierauf bezüglich: »Nun glaube ich wirklich, daß uns der Teufel in Gestalt von Frauen versucht; denn wenn Sie nicht den verkappten Satan in jener lieblichen Dame durchschaut haben, begreife ich nicht, wie Sie die Kraft haben konnten, sie so hart zurückzustoßen.«

Damals hatte ich den Bruder noch nicht in der fliegenden Wut gesehen, daher erschrak ich nicht wenig, als seine stillen, schattigen Augen plötzlich groß und fürchterlich wurden und er so mit gezückten Schwertblicken hart vor mich trat. »Ist das deine Andacht,« rief er, »daß du nach den Frauen umherschaust? O ekelhafte Schwäche und Verderbnis dieses Kotleibes! Errötest du nicht über deine Zuchtlosigkeit, wenn du dein keusches Jugendgesicht im Spiegel betrachtest, das Gott dir gegeben hat? Wenn du es besudeln solltest mit Gedanken oder Taten, verlasse dich auf mich, daß ich dich umbringe mit diesen meinen Händen.« Dabei war sein ganzer Körper gewaltsam gespannt, und seine Hände, die ich bisher nur schwermütig ruhen oder einen Nachdruck der Rede mit gleichgültig stolzer 9 Gebärde hatte begleiten sehen, bekamen etwas so Ehernes und Unerbittliches, daß ich, ohne es zu wollen, ein wenig vor ihm zurückwich. Aber trotzdem es mir nicht recht geheuer war, entzückte mich der Anblick des feuerspeienden Mannes, wie man bei Ungewittern, Wolkenbrüchen und Stürmen zugleich vor Angst und Wonne schaudert. Ich segnete den Umstand, daß Küsse kein rotes Mal oder sonst eine Spur zurücklassen, denn ich zweifelte nicht, der Bruder würde mich stehenden Fußes erschlagen, wenn er wüßte, daß ich die Lockungen meines unruhigen und naschhaften Herzens zuweilen erfolglos bekämpft hatte.

Übrigens legte sich das Wetter, so schnell es gekommen war, vielleicht unter dem Eindruck meiner erschrockenen und liebenden Blicke; wenigstens behandelte mich Fra Celeste im Verlaufe des Tages mit so engelgleicher Zartheit, daß ich mich mitten im Himmel wähnte und mir schwur, künftig dem erhabenen Beispiel meines Herrn nachzueifern und aller Frauenliebe zu entsagen, um mich ihm ganz ohne Einschränkung zu ergeben.

Am folgenden Morgen fiel mir unter den eingelaufenen Briefen sogleich einer durch die reizende, sichtlich einer Frau gehörige Handschrift auf. Die Buchstaben waren kühn, schlank, behend und prächtig und tanzten in so anmutigen Neigungen über das Papier, als ob sie mit den Augen des Lesers kokettieren wollten. Zu meinem wachsenden Erstaunen las ich nun folgendes: »Dolfin, ich habe Dich erkannt und Du hast mich von Dir gestoßen. Als ich Dich sah, verwandelte sich mein Blut in Tränen und meine Tränen wurden Blut. Liebst Du mich denn nicht mehr ? Ich liebe Dich so sehr! Ich will Heimat, Eltern und Mann verlassen 10 und die Deine sein. Laß mich, sag nicht nein zu meinem Herzen. Wenn Du mich rufst, komm ich und bleibe bei Dir ewig. Aglaia.«

Dieser Schrei der Liebe, obschon er mir nicht galt, erschütterte mein Herz, und ich saß lange und starrte in den Brief hinein. Die stürmischen, geschmeidigen Buchstaben schienen mir wie arabische Rosse über eine Wüste zu jagen, ich hörte den Rhythmus ihrer aufschlagenden Hufe, versank darüber in Träumerei, und ehe ich mir's versah, hatte ich einen Reim erdacht als Antwort auf die geheimnisvolle Liebesklage. Der Vers hieß so:

Durch den Himmel hin wandr ich allein,
Hast du Flügel, o komm und sei mein;
Sei des einsamen Mondes Weib,
Wie ein Stern blitzt dein silberner Leib –

Ich hatte gerade die letzten Worte niedergeschrieben, als Fra Celeste bei mir eintrat und, wie er häufig zu tun pflegte, über meine Schulter sah. Es gelang mir nicht mehr, das Geschriebene zu verdecken, und so kam es, daß er sowohl meinen Vers wie auch den Brief las, der ihn veranlaßt hatte. Wenn ich auch gleich erraten hatte, daß es sich hier um nichts Geringes handle, überraschte mich doch, was ich nun wahrnahm. Eine gewaltige Eiche, in die der Blitz fährt, die Feuer fängt und wie eine vom Sturme hin und her gewehte Fackel gegen den Himmel lodert, der möchte ich Fra Celeste vergleichen, als er den Inhalt des verhängnisvollen Schreibens ins Herz gefaßt hatte. So hing aber alles zusammen.

Fra Celeste, der mit seinem weltlichen Namen Dolfin hieß, 11 war als armes, elternloses Kind zwischen fremden Leuten aufgewachsen und wurde, nachdem er kaum das Notdürftigste in der Schule erlernt hatte, einem Bäcker in die Lehre gegeben. Als er etwa achtzehn Jahre alt war, kam er wie nach einem dumpfen Traume zu sich und verspürte einen heißhungrigen Trieb, seine Kräfte an etwas Ungeheuerem zu üben. Auf ein bestimmtes Ziel richtete sich sein Ehrgeiz nicht, auch hätte er die Bildung dazu nicht besessen, aber alles, was er um sich her sah, schien ihm verächtlich und viel zu klein für den Riesenmut seines Herzens. So war er beschaffen, als er sich in ein vornehmes und reiches Fräulein verliebte, in deren elterliches Haus sein Beruf ihn führte. Wenn nicht ein überirdischer Geist in ihm gewesen wäre, möchte es ihm als einem armen Bäckerburschen niemals gelungen sein, eine Beziehung zu dem Fräulein herzustellen, besonders da er nicht einmal auffallend schön war, außer daß der später so wohlredende, damals noch blöde Mund, schön, stark und rot, die glänzendsten und vollkommensten Zähne besaß und mit seinem Lächeln, das freilich nur selten erschien, alle Herzen bezaubern konnte.

Die Bekanntschaft hatte Fra Celeste so angebahnt, daß er einmal, anstatt das Haus zu verlassen, an der Gartentür stehenblieb und unentwegt in den Garten hineinblickte, wo das Fräulein allein auf einer Bank saß. Etwas beunruhigt, fragte sie endlich, worauf er noch warte, und als er, ohne sich zu besinnen, sagte: auf eine von den Rosen, die an den hohen Stämmen längs eines Gebüsches hinter der Bank blühten, bog sie sich rückwärts, pflückte eine, ging zu ihm hin und gab sie ihm, der kurz dankte und fortging. Erst dann 12 wunderte sie sich über das, was sie, überrascht von der Seltsamkeit eines solchen Betragens, gleichsam unbewußt getan hatte, und lachte sich selbst aus; nichtsdestoweniger suchte sie eine Gelegenheit, den wunderlichen Bäcker wiederzusehen. Ihre Phantasie wurde vollends angeregt, als er kleine Gespräche mit ihr zu führen begann; denn nun verspürte sie den Genius, der in seiner Brust wohnte. Obgleich er wenig oder nichts gelernt hatte, wußte er seine Einfälle und Beobachtungen so zu äußern, daß das Geringste bedeutend erschien, ja, er konnte Albernheiten, wie daß der Himmel blau und das Wasser naß sei, so vortragen, daß man aufhorchte und es tagelang mit sich herumtrug. Anfänglich gefiel es dem Fräulein, mit ihrem sonderbaren Verehrer von der Familie und den Bekannten geneckt zu werden, allmählich aber vermied sie es, von ihm zu sprechen und mit ihm gesehen zu werden, und wenn man sie dennoch auf ihn anredete, konnte sie spitzige Antworten geben, wie daß der arme Bäckerjunge gescheiter, stolzer und edler sei als ihre hochgeborene Umgebung. Nun zeigten ihre Eltern Mißfallen an dem Verkehr, was wiederum ihre Zuneigung verstärkte, und es kam dazu, wovon mir das einzelne nicht bekannt ist, daß Liebesworte und Küsse zwischen den beiden jungen Leuten gewechselt wurden. Zugleich aber bemächtigte sich des Fräuleins heimliches Schuldgefühl, so daß sie ihn bald hochmütig vermied, bald mit leidenschaftlicher Hingebung suchte, während er dieser Verwirrung gegenüber sich immer sicherer und männlicher fühlte. Des Fräuleins Eltern, deren Geschlechtsnamen ich nicht nennen will – sie selbst hieß Aglaia – erfuhren oder ahnten, wie gefährlich diese Spielerei mit der Zeit geworden war, und 13 beschlossen, damit nicht noch Ärgeres geschehe, ihr Kind so schnell wie möglich standesgemäß zu verheiraten. Sie warfen ihr Auge auf den Grafen, den ich später selbst kennengelernt habe, einen großen, prächtigen Mann mit geräumigen Augen und geringelten schwarzen Haaren, die angenehm glänzten, so daß er wohl schön genannt zu werden verdiente. Er war aber auf diese Vorzüge weit weniger eitel als auf seine Geistesgaben und Glücksgüter, in welchen letzteren er die ersten zeigen wollte, insofern nämlich, daß er von allem das Schönste und Seltenste besaß. Was allgemein geschätzt und kostbar war, schaffte er an, und so bewarb er sich auch um Aglaia, deren Witz, Eigenart, liebliches Wesen und körperliche Vorzüge er von allen Seiten hatte rühmen hören. Da nun das Fräulein von den älteren und verständigen Leuten Tag für Tag das Los einer armen Bäckersfrau in grellen Farben beschreiben hörte, verlor ihr Herz die kindische Zuversicht, und sie fing an, sich für eine überspannte, romanlesende Person zu halten, daß sie die gute, klare, gesunde Wirklichkeit so hatte übersehen können. Sie sah sich von Zichorien- und Kartoffelnahrung aufgeschwemmt und unförmig geworden, von vielen Kindern umzetert, die gesäugt, gewaschen und geprügelt sein wollten. Von Dolfin waren ihr hauptsächlich die weißen Arme und Hände gegenwärtig, die sie bald mit klebrigen Liebkosungen, bald mit Schlägen verfolgten; denn ohne das, hatte man ihr gesagt, würde es durchaus nicht abgehen. Alle ihre Lieblichkeiten, die weiche Zartheit ihrer Hände, ihr träumerisches oder ausgelassenes Wesen, ihren Aberwillen gegen das Alltägliche und Gemeine würde man ihr dort zum Vorwurf machen und allmählich austreiben, bis 14 sie sich in die platte Form des Durchschnittspöbels hineingebückt hätte. Wenn sie sich überlegte, daß sie von allen ihren Zweifeln auch nicht ein Wort zu Dolfin hätte sagen mögen, fühlte sie, wie fremd sie einander waren; sie gehörten zwei verschiedenen Welten an und hatten sich nur auf einem Inselchen des Grenzflusses ein Stelldichein gegeben. Dies alles bedenkend, glitt sie dem behaglichen Schicksal, das man ihr zubereitet hatte, mit guter Miene in den Schoß, ja, um es besser bewerkstelligen zu können, verliebte sie sich sogar unwillkürlich ein wenig in ihren Bräutigam, wozu ihr der Ärger über sein pompöses Betragen und die Reue über die Unarten, die sie ihm zufügte, das beste Mittel waren. Zwar hatte sie noch einige Begegnungen mit Dolfin, der, als er erfuhr, was im Werke war, den Jammer seines zärtlichen Herzens hinter grobem Zürnen verbergend, sie fürchterlich anherrschte und anfänglich dadurch das Feuer ihrer Liebe neu anfachte. Aber als sich das rechtmäßige Gefühl für ihren künftigen Gatten mehr und mehr ausbildete, schämte sie sich der Worte und Küsse, die sie mit Dolfin gewechselt hatte, und wich ihm aus; und als er trotzdem ihren Weg kreuzte, wurde sie in ihrer Angst schnippisch und böse und nannte ihn einen Narren, daß er eine mutwillige Spielerei für Ernst genommen habe.

Dies war der Anlaß, der ihn in das Kloster führte. Der bloße Liebeskummer hätte ihm die Welt vielleicht nicht dermaßen verleidet, aber die Tatsache, daß sein Nebenbuhler das Glück davongetragen hatte, weil er reich war, daß man also auch Menschenseelen, das edelste und heiligste Besitztum, sich erkaufen kann, das füllte ihm die Brust bis an 15 die Kehle mit Groll und Verachtung, dazu mit Stolz, weil er solcher Niedertracht und Schwäche nicht unterworfen war. Er hätte stundenlang auf geprägtem Golde gehen können, ohne sich einmal danach zu bücken, ja ohne nur hinzublicken. Nun entwickelte sich die Krankheit, zu der er von jeher Anlage in sich gehabt hatte, mehr und mehr, die nämlich, daß er sich einsam fühlte, einsam wie eine göttliche Seele in einem unreinen Körper, einsam wie ein übriggebliebenes Tier in einem verschütteten, ausgestorbenen Dorfe. Er litt unter dieser Einsamkeit in Gesellschaft von vielen ebensogut, wie wenn er sich allein mit Beten oder häuslicher Arbeit beschäftigte, wie auch wenn er mit mehreren ein Gespräch führte; es geschah ihm dann wohl, daß die Menschen und Gegenstände von ihm wegzurücken schienen in die leere Unendlichkeit, wo er sie nicht mehr erreichen konnte, obgleich er sie mit derselben Deutlichkeit wie vorher sah. Denn auch die Mönche trieben es nicht viel anders als die Leute draußen in der Welt, ließen sich nichts abgehen, bekümmerten sich trotz allen Betens und Singens viel mehr um irdische als um himmlische Dinge, kurz, er konnte sich durchaus nicht vorstellen, daß Gott sein Reich mit diesen Maultieren bevölkern möchte. Da er nun auch diese Menschen, deren Profession doch die überirdische war, so gemeinplätzig und überflüssig fand, wurde Zorn gegen alle Sterblichen in ihm herrschend, die das Ebenbild Gottes durch den Schmutz schleiften, und er wurde, so schweigsam er sonst auch war, stets beredt, wenn er sich darüber auslassen konnte. Dies zeigte sich, als er an einem Bußtage einmal an der Reihe war, zu predigen, und der Sturm seiner Rede so stark daherrauschte, daß 16 auch die schläfrigsten Mönche in ihrem dickhäutigen Herzen darunter erbebten. Der Abt suchte das neuentdeckte Talent sogleich zu verwerten, indem er ihn öffentlich reden ließ, und die Wirkung war denn auch über alle Erwartung groß. Die Melancholie seines jungen Gesichts und die Süßigkeit seiner Stimme, die seine Worte auf Schwanenfittichen über die Häupter der Menge dahintrug, verführten die Sinne; dazu kam aber die Macht seiner Seele über die Seelen, die er aus dem Schlamm der Erde in den Äther emporriß. Er wurde nun häufig zum Predigen in die benachbarten Dörfer und Städte geschickt, was dem Kloster hübsche Summen eintrug, da er der Regel gemäß wie alle anderen Mönche persönliches Eigentum nicht haben durfte, die Gemeinden aber reichlich zusammensteuerten, um ihn auf der Kanzel zu sehen. Er fing nun an, eine berühmte Persönlichkeit zu werden, und weltliche Freuden und Ehren taten sich ihm überall auf: wo er hinkam, suchten die angesehensten Männer und Frauen seine Gesellschaft. Er, der als Kind und Jüngling in jeder Hinsicht gedarbt hatte, hätte nun nach Herzenslust genießen können; anstatt dessen steigerte sich seine Geringschätzung aller Lust der Welt, je mehr sie sich ihm darbot, weil er den Schmerz seiner Sehnsucht, wenn er innewurde, daß sie durch nichts gesättigt werden konnte, um so empfindlicher spürte.

Dies war der Zeitpunkt, wo ich ihn kennenlernte und wo er Aglaia wieder begegnete. Aglaia hatte unterdessen, an der Seite ihres Gemahls, der an Geist wie an Körper immer fetter und bequemer geworden war, ohne Sorgen zwar, aber auch ohne innere Genugtuung gelebt. Da ihr einziges Kind früh gestorben war und ihr ein dringender Grund 17 sich ernstlich zu beschäftigen, fehlte, blieb ihr Muße genug, über den Lauf der Welt nachzudenken und zu träumen, und sie malte sich oft aus, wie es geworden wäre, wenn sie, anstatt sich von der kümmerlichen Menschenvorsicht binden zu lassen, Dolfin gefolgt wäre, der jetzt in seinem Kloster nicht einsamer war als sie in ihrem Palaste. Von seinem Ruf als Buß- und Sittenprediger hatte sie, die sich für das Kirchliche nicht interessierte, nichts vernommen, und als sie die Ankündigung an den Häusermauern las, daß der berühmte Fra Celeste eine Predigt über den Kirchenbesuch und das Gebet halten werde, trat sie in die betreffende Kirche, in deren Nähe sie eben war, ein, ohne zu ahnen, wen sie wiedersehen sollte. Eigentlich hatte sie sich nur unterhalten und ausruhen, allenfalls etwas Neues hören wollen, aber die Rede des Mönches schüttelte ihr Herz gewaltig, wenn sie eben auch nicht Schritt für Schritt dem Gedankengange folgte, den er entwickelte; sie vertraute sich dem starken Fluge seiner Worte, der sie weit wegtrug über Länder und Meere in eine fremde und doch heimische Herrlichkeit. Ihre Seele kehrte von der Reise zurück, als die Musik der Stimme über ihr plötzlich schwieg; dann räusperte sich Fra Celeste und gab in seinem gewöhnlichen, halblauten Sprechtone an, welches der Text seiner nächsten Predigt sein würde.

Gleich das allererste Wort schlug wie ein Hammer an Aglaias Herz, die Erinnerung stürzte daraus hervor und füllte aufschwellend ihre Brust an, was sie zuerst als eine Wollust, dann mit Angst empfand, bis es sie zu ersticken drohte. Es begab sich nun alles, was ich bereits erzählt habe: sie schrieb jenen Brief an Dolfin, erwartete aber die Antwort nicht, 18 sondern erforschte seine Wohnung, verschaffte sich Zutritt zu ihm und stand auf der Schwelle seines Zimmers, ehe er noch die Empörung seines Blutes, die durch ihr Schreiben entstanden war, bemeistert hatte.

Wenn ich diese Liebliche aus ihrem Grabe oder vielmehr aus ihrer himmlischen Verklärung auf einen Augenblick zurückrufen könnte, möchte ich sie noch einmal so sehen wie jenes erste Mal: die Augen voll Tränen, die Lippen zitternd vor Sehnsucht und Hoffnung, wie eine zaghafte Seele vor dem halboffenen Tore des Paradieses, goldig umflossen von dem himmlischen Lichte, das daraus hervorströmt, aber demütig und furchtsam zurückgebogen, wenn vielleicht der Engel mit dem Schwerte die Sünderin verscheuchen wollte. Einige Augenblicke mochte sie so in schwebendem Zögern dagestanden haben, dann stürzte Fra Celeste auf sie zu, nahm sie in die Arme, preßte sie gegen seine Brust, bedeckte ihr tränenüberströmtes, glückseliges Gesicht mit Küssen, faßte ihren Kopf zwischen seine Hände und drückte ihn an seinen Hals, das alles in einem Nu und abwechselnd viele Male hintereinander, so daß ich dachte, es müsse der feinen, schlanken Frau Hören und Sehen vergehen. Was sich weiter zwischen ihnen begab, kann ich aus eigener Anschauung nicht erzählen, denn ich hielt es für angemessen, mich zu entfernen; jedenfalls fand eine völlige Aussöhnung statt, und der Beschluß wurde gefaßt, sich künftig nicht mehr voneinander zu trennen, vorausgesetzt natürlich alle die Beschränkungen, die die Verhältnisse ihnen auferlegten.

An diesem Tage predigte Fra Celeste von der himmlischen und irdischen Liebe so über alle Maßen herrlich und 19 weihevoll, daß man das allumfassende Herz Gottes selbst in seinen Worten klopfen zu hören glaubte. Einige junge Wüstlinge und viele leichtfertige Frauen legten in seine Hand das Gelübde künftiger Keuschheit ab, und es war gewiß nicht einer unter den Zuhörern, der sich nicht dessen geschämt hätte, worauf er sich bisher in seiner Verblendung etwas zugute zu tun pflegte.

Der Ruhm des wundervollen Mannes nahm jetzt schnell zu, alle Zeitungen sprachen von ihm, seine Reden wurden gedruckt und gesammelt. Wenn er sie nun zufällig irgendwo fand und las, mißfielen sie ihm in solchem Grade, daß er sie geradezu für abgeschmacktes, leeres Gewäsch erklärte und beschloß, seinen Geist auszuarbeiten und seine Kenntnisse zu vermehren, um ihnen einen gediegenen Gehalt zu geben. Zu diesem Zwecke studierte er viele wissenschaftliche Werke, theologische, historische, philosophische, ja auch naturwissenschaftliche, und zwar las er nach kurzer Übung ein solches Buch schneller, als man ein Glas leichten Weines trinkt, ohne daß ihm etwas Wesentliches entgangen wäre. Nun kamen von nah und fern Gelehrte, Professoren der Universitäten und die ersten Staatsmänner und zahlten hohe Preise für einen Platz in der Kirche, wenn Fra Celeste predigte, während seine Anziehungskraft für das niedere Volk sich nicht verminderte. Unter der Last der Gelehrsamkeit wurde sein Genius nicht lahm und steif; niemals gab es einen Prediger, der die gepflegtesten wie die vernachlässigtsten Geister gleich mächtig beherrschte.

Was Aglaia betrifft, so entschloß sie sich kurz und gut, ihren Mann ein für allemal zu verlassen und uns zu begleiten oder wenigstens mit uns, wo immer wir uns längere Zeit 20 aufhielten, zusammenzutreffen. Ohnehin war es dem Bruder unleidlich, auch nur das seelenloseste Stückchen ihrer Gegenwart auf Augenblicke einem anderen gönnen zu müssen, und seine Wut auf den Grafen machte es wünschenswert, daß Aglaia demselben entzogen und damit die Ursache seiner Eifersucht hinfällig würde. Konnte sie auch seine Wohnung nicht teilen, so war sie ihm doch leicht erreichbar, und es verging selten ein Tag, ohne daß sie sich gesehen hätten. Häufig begleitete ich ihn bei diesen Besuchen, besonders wenn wir die Abendmahlzeit zusammen einnahmen, welche Stunden mir immer wie ein Glanz und Leuchten in der Erinnerung bleiben werden. Die allmächtige Zunge des herrlichen Mannes war dann meist schweigsam, und er ließ Aglaia mit mir scherzen und schwatzen. Ich höre sie noch: wie ein kleines tanzendes Wasser, das sich von einem himmelhohen Felsen herabstürzt und schäumend von Klippe zu Klippe springt, hüpfte das übermütige Geplauder von ihren beweglichen Lippen. Manchmal, wenn ich einschlafe, ist es mir, als neigte sie sich über mich und ließe ein feines, singendes, plätscherndes Wiegenlied in mein wehmütig horchendes Ohr rieseln. Ach, ob die singende Seele, wenn sie die Erde wieder aufsuchte, bei mir verweilen würde? Während sie mit mir sprach, ruhten ihre Augen mit dem stillen, feuchten und glänzenden Blick auf Dolfin, von dessen Antlitz an diesen Abenden die Traurigkeit ganz verschwunden war. Er glich einem kleinen Jungen mit glücklichem Weihnachtsgesicht, in dem Augen und Zähne blinken und lachen.

Überhaupt war er jetzt fast immer gehoben und heiter, nur dann und wann wurde er von einer unerhörten 21 Melancholie ergriffen, die ihn jählings wie eine hungrige Wölfin anpackte, auch wenn er in Aglaias Gesellschaft war. Ich legte dies anfänglich als ein Symptom inneren Zwiespalts aus, hervorgerufen etwa durch das Unrechtmäßige seines Verhältnisses zu der geliebten Frau, was auch ihre eigene Meinung war. Denn als ich sie einmal fragte, ob sie sich keine Gedanken darüber mache, daß sie wider göttliches und menschliches Recht ihren Gatten verlassen habe, sah sie mich, die Unvergleichliche, Süße, mit großen Augen ängstlich an und sagte, sie wisse wohl, daß sie unrecht gehandelt habe, könne es aber durchaus nicht bereuen, hingegen fürchte sie, Dolfin, der ja ein heiliger Mann sei, nehme Anstoß daran, und ich möchte ihr helfen, solche Bedenken, wenn sie ihm kämen, zu zerstreuen. Allmählich fand ich aber heraus, daß diese Anwandlungen von Traurigkeit nichts als grimmige Rückfälle seiner alten Krankheit waren, daß er sich einsam fühlte zwischen den lebendigen Erscheinungen, sobald ihm irgendwie zu Bewußtsein kam, wie sie in beständiger Verwandlung begriffen in den Tod eilten. Ein fallendes Blatt, ein körperliches Unbehagen, ein verlängerter Schatten, das Schwinden der Zeit konnte unversehens diesen grausamen Gedankengang in ihm wecken; ihn wegzuscheuchen, gelang aber fast immer bald einem innigen Wort oder Blick Aglaias. Auch während des Predigens konnte die Melancholie ihn plötzlich ergreifen und aus der Stimmung des angefangenen Themas herauswerfen, was ihn aber keineswegs verwirrte, sondern ich mußte dann an einen Holzkloben denken, der langsam fortgeglimmt hat, nun aber recht Feuer fängt und mit lichterloher Flamme brennt. Er sang das Lied von der Vergänglichkeit alles 22 Irdischen bald mit den kreischenden Trompetentönen singender Schwäne, bald leise und traurig wie unter rinnenden Tränen; aber wie das Meer, dessen ewig wiederkehrender Wellenbrandung man Tag und Nacht nicht müde wird zu lauschen, langweilte er nie durch das eintönig tiefe Läuten und Rauschen seines Vortrages.

Während dieser Zeit war ich im Dienste Dolfins außerordentlich beschäftigt. Der Graf nämlich hatte sich bei der Erklärung seiner Frau, sie werde nicht zu ihm zurückkehren, sondern sich der Einsamkeit ergeben, keineswegs beruhigt, vielmehr ihr nachgespürt, wohin sie ging und was sie tat, und war dabei auf die Vermutung geraten, daß an ihrer rätselhaften Flucht Fra Celeste schuld sei. Da nun seine Briefe an Aglaia unbeantwortet blieben, wendete er sich an ihn, welcher aber nichts davon erfuhr, denn ich vollführte den ärgerlichen Briefwechsel, der sich daraus ergab, ohne ihn durch den weltlichen Plunder in seiner himmlischen Versunkenheit zu stören.

Auf die erste warnende Anzeige des Grafen, daß ihm seine Frau, er wisse wohl mit wem, davongelaufen sei, antwortete ich im Namen Fra Celestes, daß ich ihn aufrichtig beklage, daß eben leider die Verderbnis auch im weiblichen Geschlechte immer zunehme, daß aber im Grunde an einer Frau nicht viel gelegen sei, er möge Trost bei Gott suchen, wo er ihn sicher mit der Zeit finden werde. Die folgenden Briefe, welche nun schon bedrohlicher klangen, beantwortete ich, indem ich sagte, nichts schmerze mich mehr, als wenn Frauen in trauriger Kurzsichtigkeit und Verkennung statt meines Geistes, der von Gott erfüllt sei, meine arme, fleischliche Person liebten. Wenn seine Frau diese 23 unglückliche Verwechslung begangen habe, wollte ich gerne für ihre Erleuchtung beten. Ein andermal hielt ich ihn ernstlich dazu an, sich zu prüfen, ob er nicht durch etwelches Sündenwesen seiner Frau Ursache gegeben hätte, ihn zu meiden, worauf er sich eingehend mit Darlegung seines ganzen Lebenswandels verantwortete. Ich machte ihn auf mancherlei Lasterhaftigkeit in demselben, den er für durchaus ehrbar und tadellos hielt und an dem auch vom landläufigen Standpunkt aus nicht viel auszusetzen war, aufmerksam; schließlich aber deutete ich ihm an, daß ich argwöhnte, er sei mit einer fixen Idee behaftet, er möge, wenn er glaube, daß es nützlich sei, meine Predigten lesen, schreiben könne ich ihm künftig nicht mehr, da es doch zu nichts führe und meine Zeit kostbar sei. Ich erhielt darauf noch einen Brief des Grafen, worin er ankündigte, daß er sich nunmehr an den Abt von Fra Celestes Kloster wenden würde, um zu seinem Rechte zu kommen, und nach kurzer Frist hatte ich denn auch diesen Mann Gottes auf dem Halse, mit dem ich ohnehin in heftigem Streit begriffen war.

Seitdem er für Aglaia zu sorgen hatte, welcher der Graf natürlich die Mittel, um fern von ihm zu leben, nicht gab und die auch von den erzürnten Eltern ununterstützt gelassen wurde, war Fra Celeste sehr auf Geld erpicht und wollte nur noch gegen hohe, ihm selbst ausgezahlte Vergütungen predigen, wie wenn er eine Privatperson gewesen wäre. Hierauf wollte sich der Abt durchaus nicht einlassen und ergoß sich in langen Hirtenbriefen über die selige Armut, und daß der Bruder sich durch die Welt, mit der er jetzt in Berührung komme, nicht solle verderben lassen. Ich schrieb, wie ich das Geld nur zu wohltätigen 24 und ähnlichen Zwecken gebrauchte, übrigens aber so frugal lebe, wie ich es unter seiner Leitung im Kloster gelernt hätte.

Der Abt, der ein höchst frommer und milder Mann war, gerade deswegen aber immer besorgte, man möchte sein Ansehen nicht respektieren und ihn in den Hintergrund drängen, gab sich damit nicht zufrieden und bestand trotz vieler erfinderischer und künstlicher Briefe, die ich verfaßte, auf dem Rechte des Klosters. Als nun noch die Angelegenheit des Grafen dazu kam, fing er an, von der seligen Keuschheit zu sprechen, und daß er nun wisse, wozu der Bruder das viele Geld brauche, und wie es ihm weh tue, daß ein Schaf aus seinem Stalle sich so verirre. Es sei wahr, antwortete ich, halb betrübt, halb entrüstet, daß unzählig viele Frauen zur Kirche wallten, um mich predigen zu hören, was aber nicht zu tadeln, sondern zu loben sei, da ich nur von erbaulichen Dingen spräche, die sie belehren und bessern könnten. Daß aber die neidischen und eifersüchtigen Männer diesen Umstand benützten, um mich zu verdächtigen, sei traurig, noch trauriger, daß er solchen Einflüsterungen Glauben schenke. Der Abt schrieb zurück, er halte für das traurigste, daß sie auf Wahrheit beruhten, er sehe aber wohl ein, daß er mit seiner Sanftmut über mein verhärtetes Herz keine Macht habe, und werde deshalb die Sache dem Heiligen Vater selbst vorlegen, an welches höchste Haupt der Christenheit auch der Graf sich entschlossen habe, zu gelangen; dieser werde wohl noch Mittel in der Hand haben, mir beizukommen.

Bald danach lief ein Schreiben aus Rom vom Kardinal San Fiori ein, einer überaus klugen, feinen und lieben 25 Person, was sich denn gleich in den ersten Zeilen verspüren ließ. Nur der Schlechte, schrieb er, glaube nicht an die Tugend, er dürfe sich zwar nicht rühmen, gut zu sein, denn das sei bekanntlich nur der einige Gott und vielleicht einige Auserwählte, auf denen sein Geist ruhe, aber es sei sein Glück und sein Stolz, an das Gute zu glauben. Er hoffe deshalb, daß es mir, das heißt dem Fra Celeste, gelingen werde, das schwarze Gewölk, das sich um die helle Sonne meines Tugendruhmes zusammenballe, zu zerstreuen, glaube aber, meiner Gegenwart würde das leichter werden als schriftlicher Verständigung. Da außerdem der Heilige Vater selbst wie alle Kardinäle schon lange wünschten, die Stimme des berühmten Predigers zu vernehmen, lüde er mich ein, nach Rom zu kommen, wo ich meinem wahren Berufe, die Menschheit zu erleuchten, obliegen und nebenbei die beiden anhängigen Geschäfte erledigen könnte.

Fra Celeste, dem ich nun in Kürze alles Vorgefallene mitteilte, erklärte sich sofort bereit, nach Rom zu gehen, doch fanden wir für gut, daß ich voranreiste, um die Verhandlungen einzuleiten. In dem Kardinal San Fiori, dem ich mich sogleich vorstellte, fand ich einen Mann von äußerst höflichen und liebenswürdigen Sitten, dem man ansah, daß er ein Feinschmecker des Lebens war, der aber zugleich das Göttliche zu schätzen wußte, so daß es ihm fast ein Bedürfnis war, mit aszetischen oder wenigstens enthaltsamen Leuten zu verkehren. Er wußte solche so zu behandeln, daß sie keinen Anstoß nahmen, den Gastmählern beizuwohnen, die er den Lebemännern unter der hohen Geistlichkeit veranstaltete, und das auserlesenste Gericht würde ihm nicht gemundet haben, wenn ein überirdischer Hauch, sei 26 es durch metaphysisches Gespräch oder Anwesenheit einer vergeistigten Persönlichkeit, es nicht eingesegnet hätte; ja, wenn er einen erprobten Koch und alle Bequemlichkeiten eines modernen Hauses hätte mit sich nehmen können, zweifle ich nicht, daß er sich unter den Anachoreten der Wüste am wohlsten befunden hätte. Kurz, er stellte die Rolle eines edlen Kirchenfürsten mit Pietät und Talent dar, womit auch seine mittelgroße, volle Gestalt und sein regelmäßiges Gesicht mit der geraden Nase, das ein Paar geschwinde, kunstreiche Augen in verschiedener Weise beleuchteten, übereinstimmte. Er empfing mich überaus liebenswürdig, bewirtete mich und unterhielt mich unterdessen eine Weile mit geistreichen Kleinigkeiten, bis er denn allgemach anfing, mich nach dem Tun und Treiben meines Herrn auszuhorchen.

Ich erzählte ihm freiwillig, was ich irgend wußte, ausgenommen alles, was auf Aglaia Bezug hatte; verbreitete mich über seine himmlische Sanftmut, über seine erhabene Gleichgültigkeit gegen die Versuchungen der Welt, über seinen göttlichen Zorn gegen das Gemeine, was ich mit vielen Beispielen belegte, und sagte unter anderem, wenn man einen Engel an der Liebe erkennte, mit der alle Herzen, die sein Wesen verspürten, ihm dienen müßten, sei er ein Engel oder doch gewiß ein Kind Gottes zu nennen. Der Kardinal war unermüdlich, mir zuzuhören, streichelte mir, während ich sprach, mehrmals Haar und Wangen und schenkte mir, ehe er mich entließ, einen Brillanten in einer Busennadel. Er ließ sodann in der zartesten Weise für alle meine Bedürfnisse sorgen und lud mich häufig zum Essen ein, wobei auch viele andere Kardinäle und geistliche 27 Personen anwesend waren. Alle behandelten mich mit großem Wohlwollen, und der Kardinal San Fiori sprach von nichts anderem als von der Heiligkeit des Fra Celeste, was ihn selbst so rührte, daß ihm nicht selten Tränen aus den Augen flossen. Von dem Grafen sagte er unverhohlen, er würde froh sein, wenn er ein Mittel wüßte, um diesen Plagegeist zum Schweigen zu bringen; viel schwieriger schien es mir, die Geldangelegenheit zu lösen, denn der Heilige Vater mochte wohl dem Abte nicht unrecht geben, sich andererseits aber auch ungern entschließen, den Aufwand des Bruders aus eigener Kasse zu bestreiten. Auf wiederholte Nachfrage des Kardinals, wozu denn Fra Celeste so große Summen benötigte, brachte ich erstlich seine Familie vor, die ich zu diesem Zwecke, arm und zahlreich, erfunden hatte, ferner seine verschwenderische Wohltätigkeit, und da auch das noch nicht zu genügen schien, sagte ich, daß er Kapital sammle, um in Afrika einen Staat zu gründen, der in Gestalt eines großen Bundesklosters seine göttlichen Ideale verwirklichen sollte. Dieser Plan interessierte den Kardinal so ungemein, daß meine Phantasie kaum Vorrat genug hatte, um seine Erkundigungen nach jeder Einzelheit des afrikanischen Gottesreichs zu genügen. Trotzdem machte ich in dieser Sache keinen Fortschritt, sondern wie mir der Kardinal sagte, der Heilige Vater behielt sich vor, mit eigenem Munde dem Bruder seine Ansprüche auszureden.

Aber die Reihe zu reden kam erst an Fra Celeste. Der Papst hatte den sinnreichen Einfall gehabt, der Bruder möchte seine erste Predigt über die Heiligkeit der Ehe halten, was ich ihn sogleich wissen ließ, als er spät abends in Rom eintraf. Er sagte, daß er etwas anderes im Sinn gehabt hätte, 28 und schien unzufrieden über die Störung zu sein. Am anderen Morgen erwachte er in bester Laune und bestand darauf, sofort zu predigen, ehe er sich noch dem Heiligen Vater vorgestellt hatte und ehe nur eine ordentliche Anzeige davon gemacht werden konnte. Es verbreitete sich aber so schnell, wann und wo die Rede stattfinden würde, daß es nicht an Zuhörern fehlte, im Gegenteil drängte sich das Volk noch vor der Tür auf dem Markte, um vielleicht von dort aus einige Worte aufzufangen. Freilich glich auch diese Predigt einem alten öligen Weine, von dem ein einziger Tropfen eines greisen Mannes Blut in Feuer verjüngen kann.

Man stelle gewöhnlich, fing er an, die Liebe der Eltern zu den Kindern als die uneigennützigste am höchsten, aber das sei irrig, denn in den Kindern liebten die Eltern nur sich selbst, während Mann und Frau oft um so heftiger zueinander strebten, von desto verschiedener Art sie wären. In solchem Verhältnisse könne man lernen, was die Bestimmung des Menschen sei: das eigene Selbst einem fremden aufzutun und hinzugeben. Dazu sei es nicht notwendig, daß das geliebte Wesen vollkommen sei, doch dafür gehalten solle es werden. »Ich bin kein Tier oder Sklave,« so etwa sagte er, »daß ich an meine Sinne gebunden wäre: wenn ich will, daß sie so herrlich und engelgleich ist, wie ich sie im ersten Traume meiner Liebe sah, so ist sie es. Und daß der Zwang meiner Liebe sie so mache, deshalb ist ihre Hand unlöslich in meine versiegelt.« Er sprach dann über Untreue, von leichtfertigen Ausschweifungen und allen Üppigkeiten der Genußsucht mit so viel Ekel und ungeduldigem Hohne, daß sich die Getroffenen beinah sichtlich 29 darunter duckten. Aber nachdem er noch viel Wundervolles über die eheliche Liebe und Treue gesagt hatte, was wie ein hohes Freudengeläute aus der stillen, kühlen Kirche in die goldene Mittagsluft des Marktes hinausflutete, hielt er plötzlich inne, weil irgend etwas, sei es der Anblick einer weinenden Witwe oder eines steinernen Grabmals an der Mauer oder ein Einfall der eigenen Brust die schwarzen Gedanken in ihm aufgeweckt hatten. Es folgte eine Pause, die allen willkommen war, damit sie das Vernommene in ihrem Herzen konnten ausklingen lassen, dann sagte er plötzlich mit verändertem Tone langsam: »Nun will ich euch das Geheimnis sagen. Gott hat die Ehe gemacht für die Menschen, aber der Selige ist der, welcher der Liebe entbehren kann.«

Mochte es nun der dunkle, zitternde Rhythmus seiner Worte sein, es war uns Hörern, als ob von oben her ein kalter Schatten auf unsere lichte Rosenpracht gefallen sei aus einer schwarzen, langsam steigenden und wachsenden, unentrinnbaren Wolke. »Kann ich denn überhaupt«, sagte er, »mein Selbst einem anderen Menschen geben? Denkt euch, ein Vater habe seinen Sohn im Gefängnis. Er besucht ihn, aber er darf nicht zu ihm hinein, nur schauen darf er ihn durch das vergitterte Fenster. Auch das ist Glück, aber er möchte doch dichter bei dem geliebten Kinde sein und das teure Gesicht küssen. Indessen das ist unmöglich, weil der Sohn festgebunden ist hinten an die Mauer des Kerkers, und der Vater drückt sein Gesicht fest an das Gitter, wie wenn er es zerbrechen wollte, damit er hinein könnte zu seinem Kinde. So ist die Liebe, es gibt keinen Weg, der die Seele zur Seele führt. Die Seele kann die Seele nicht 30 berühren, nicht küssen, nicht vernehmen; eingemauert in verkittete Steine spüren sie ihre Nähe nur an einem halberstickten Schrei oder an einer Träne, die durch das lückenhafte Gefüge rinnt. Wie kann die Verborgene, die Eingekerkerte mein sein? Aber nun kommt das Ärgste: wenn ich das Gefängnis zerschlagen und die geliebte Seele befreien könnte, wer weiß, ob mein Herz sie erkennte? Ich habe sie ja nie gesehen, nie gefühlt, nie gehört, nur geträumt von ihr und nach ihr mich gesehnt. Hätte sie das zärtliche Auge, das so warm und kosend über meinen Körper blickte, spräche sie mit der lachenden Stimme, die mich mit Rosenblättern überschüttete? Während ich mich mühte, die Seele zu gewinnen, die ich nicht fand, gewöhnte ich mich an das zerbrechliche Bild, das sie verhüllte. Vergänglichkeit ist aber die Spur von Gottes Finger, als er mit einem Fluch anrührte alles, was wir nicht begehren sollen, oder wir sind des Todes.«

Mit solchen und ähnlichen Worten schlug er die Liebe, die er zuvor verherrlicht hatte, ans Kreuz, und seine Augen schienen mit göttlichem Jammer mitleidvoll auf die Gemarterte zu blicken. Am meisten zu bewundern fand ich aber dies, daß Fra Celeste seine Zuhörer mit dieser trostlosen Ansicht nicht entließ. Von einem künstlerischen oder frommen Impulse getrieben, schloß er mit der erhebenden Wendung, daß diese Schmerzen und Enttäuschungen nur in der irdischen Liebe stattfänden, die besitzen wolle. Wer diese überwände, die Menschen nur suchte, um ihnen wohlzutun, sonst aber mit sich und Gott genug hätte, würde eine Liebe ohne Ende und ohne Bitterkeit erlernen. Und das wahre, heilige Sakrament der Ehe sei, daß jedem in der 31 eigenen Brust ein Gefährte anvertraut sei, der ihm treu bleibe bis zum Tode und über den Tod hinaus; ein göttlicher Keim oder Schutzengel, der jedem mitgegeben sei, den man hegen und pflegen und lieben solle, damit man, wie es in der Ehe vorgeschrieben sei, ein Fleisch und eine Seele mit ihm werde.

Diese Predigt hatte Fra Celeste den Leuten wie eine Art Liebeszauber zu kosten gegeben, wenigstens war die Begeisterung für ihn so stark und einmütig, wie sonst die ansteckenden Seuchen auftreten, an denen man sterben kann, nur weil man glaubt, sie zu haben. Die Geldfrage wurde ohne weiteres so erledigt, daß der Papst dem Bruder monatlich fünftausend Franken auszahlte, wofür derselbe sich verpflichtete, mindestens eine Predigt in der Woche zu halten, an welchem Orte innerhalb der christlichen Welt der Papst für gut finden werde. Da wir an demselben Tage Aglaia in Rom erwarteten, kaufte er so viel Blumen und Früchte, daß man einen Wagen damit hätte anfüllen können, und ließ sie nach ihrer Wohnung schaffen, die sich außerhalb der Stadt ganz im Freien befand. Dort feierten sie ein solches Wiedersehensfest, daß einer, der es von außen betrachtete, hätte meinen können, Nero, der schönste und wildeste Kaiser der Welt, wäre für eine Sommernacht ins Leben zurückgekehrt, um an dem Busen einer liebestrunkenen Frau sich wieder in den Tod zu schwelgen.

Aber Fra Celeste war am folgenden Tage voller Kraft und Lust und hielt eine Rede über die Wonne der Armut, die, wenn das möglich war, die vorige an eindringlicher Wärme übertraf. Er ging davon aus, daß das Beste am Menschen die Sehnsucht sei, daß aber die Sehnsucht aus Mangel 32 entspringe, daher der Elendeste und Erbärmlichste eigentlich der sei, welcher genug habe. Er sei gleichsam in einem Kerker eingesperrt und müsse, weil er seine Lebensorgane zu wenig üben könne, langsam erstarren und erlahmen und aus seiner dumpfen Sattigkeit in den Tod hinüberdämmern.

Wozu soll ich wiederholen, was Fra Celeste von der Sklaverei des Geldgierigen und von der Freiheit des Armen sagte? Man mußte ihn auf der Kanzel stehen sehen im einfachen Mönchsgewande wie einen Imperator auf dem Triumphwagen, wenn er mit seinen Königsaugen über die große und wahrhaft prächtige Versammlung hinsah, ohne sie auch nur mit einem Blicke zu streifen! Nicht eine Schiffsladung von Gold und Edelsteinen hätte der reichste von allen ihm anzubieten gewagt, weil er sich des schäbigen Geschenkes geschämt hätte.

Auf das Ersuchen des Papstes, der den erstaunlichen Einfluß Fra Celestes auf das Volk zum Guten zu verwerten wünschte, predigte er ferner über die großen Sünden, wie Diebstahl, Raub und Mord, weil das Banditenwesen namentlich auf dem Lande und im Gebirge blühte. Obgleich nun solche Fehler der Liebe des erhabenen Mannes ganz fremd waren, wußte er doch darüber zu reden, als ob er jahrelang das Geschäft eines Räuberhauptmannes betrieben und das Blut zahlloser Christen auf dem Gewissen hätte; denn er besaß die Gabe, jedem Menschen durchs Antlitz in die Brust zu schauen und alles, was dort wallte und wogte, ins eigene Herz zu fassen. Den Leuten schien er deshalb wie ein Bruder, der alles mit ihnen durchgemacht hätte, dann aber vorausgeeilt wäre und ihnen freundlich die kräftige Hand reichte, damit sie ihm nachkämen. 33

Unsere Wohnung war nun beständig umlagert von Bittstellern, die Rats einholen oder Beichte ablegen wollten, vornehmen und geringen, Männern und Frauen. Viele, die er, weil er zu überhäuft war, wegschicken mußte, kamen zu mir, die ich auch in seinem Namen so gut wie möglich zufriedenstellte; besonders mußte ich mir ein großes Lager von Reliquien zusammenstellen, Haarlocken, Stückchen von abgelegten Gewändern und dergleichen mehr, die ich ohne Wissen meines Herrn unter die Gläubigen verteilte.

Bei diesem Ansehen, das Fra Celeste anfing im ganzen christlichen Europa zu genießen, war es dem Kardinal San Fiori höchst zuwider, daß der Graf, der, um seine Sache besser zu betreiben, selbst nach Rom gekommen war, ihn unablässig bedrängte, den großen Mönch zur Rechenschaft zu ziehen, widrigenfalls er alles bekanntmachen und den Feinden unserer Kirche eine Handhabe geben würde, sich auf unsere Kosten lustig zu machen. Ich hatte das Glück, auf ein unschädliches Mittel zu verfallen, wie man den Grafen loswerden könnte, das den Beifall des Kardinals fand und das wir unter viel Spaß und heimlichem Gelächter ins Werk setzten. Der Kardinal lud nämlich den Grafen zu einem Essen ein, währenddessen er die Bemerkung machte, die Anhänglichkeit des Grafen an seine pflichtvergessene Frau sei um so rührender, als diese, wenn sie einmal Reize besessen, dieselben jedenfalls längst verloren und guten Grund hätte, sich in die Einsamkeit zurückzuziehen. Um meine Meinung befragt, äußerte ich mich bescheiden, ich hätte zwar die Gräfin in der Kirche gesehen, pflegte aber nicht auf das Äußere der Frauen zu achten, sie scheine 34 aufrichtig fromm zu sein, und das genüge mir. Der Kardinal von Grossetto, welcher neben mir saß, streichelte mich und lobte meine Genügsamkeit, während er den übrigen zublinzelte, man müsse mich in meiner Einfalt nicht stören; dann sagte er schmunzelnd, leider gebe es viele Frauen in Rom, die schöner als fromm wären, und zählte mehrere von diesen auf. Als die schönste priesen alle einmütig eine gewisse Dame, die wir vorher für unser Spiel auserlesen und von allem unterrichtet hatten. Sie war vor nicht langer Zeit eine intime Freundin des Kardinals San Fiori gewesen, ebenso schlau wie pompös anzusehen und sehr willig, die Rolle, die wir ihr zugedacht hatten, zu übernehmen. Die Herren wurden nicht müde, die unerhörte Schönheit dieser Dame zu preisen, als deren einzigen Fehler sie bezeichneten, daß sie unnahbar sei und jeden, der sich ihr in liebevoller Absicht nähere, unbarmherzig heimschicke. Sie führten mehrere reiche und edle Herren an, deren Herzen sie durch ihre Sprödigkeit gebrochen hatte, bis der Graf vor Begierde brannte, diese Kostbarkeit in seinen Besitz zu bringen. Er sagte in hochfahrendem Tone, daß keine Frau unüberwindlich sei und daß wohl nur der rechte Mann noch nicht erschienen sei, wobei er durchblicken ließ, daß er das Zeug dazu in sich spüre. Der Kardinal San Fiori erbot sich zwar, die Bekanntschaft zu vermitteln, warnte aber den Grafen freundschaftlich, er möge sich lieber bittere Qualen und Demütigungen ersparen. Die Dame, die der Graf nun kennenlernte, behandelte ihn anfangs mit gleichgültiger Kälte, zwischenhinein zeichnete sie ihn durch liebenswürdige Koketterie vor den anderen aus, was sie dann aber durch vermehrte Strenge wieder ungültig zu machen schien, durch 35 welches Betragen sie seine Verliebtheit aufs äußerste reizte. Bald war er dermaßen in ihrer Gewalt, daß sie es wagen konnte, ihm Hoffnung auf ihre Liebe zu machen, wenn er sie zu seiner rechtmäßigen Gemahlin machen würde. Der Graf schwur, nie etwas anderes im Sinne gehabt zu haben, und reichte augenblicklich dem Heiligen Vater die Bitte ein, derselbe möchte seine Ehe mit Aglaia lösen. Kardinal San Fiori, welcher die Führung der ganzen Angelegenheit in der Hand hatte, bezeugte über diese Wendung Erstaunen und Entrüstung, sagte, daß keinerlei Gründe zu einer Scheidung vorlägen, da Aglaia, wie jedermann wisse, sich nicht eigentlich gegen ihn vergangen hätte, vielmehr im Grunde aus lobenswerter Frömmigkeit die weltliche Luft seines Hauses meide, und daß die unheilige Raserei eines Mannes, der kein schönes Weib ansehen könne, ohne sie besitzen zu wollen, nimmermehr durch die Kirche gerechtfertigt werden dürfe. Nachdem er den Grafen in dieser Weise eine Zeitlang auf der Folter gelassen hatte, wurde die Scheidung ausgesprochen, und er führte die Angebetete heim, wodurch wir in alle Zukunft vor seinen Verfolgungen sicher waren.

Fra Celeste hätte nun sein Leben mit größerem Behagen genießen können, wenn sich nicht sogleich neue Widerwärtigkeiten erhoben hätten, welche diesmal von Aglaias Eltern ausgingen. Sie verlangten nämlich, ihre Tochter solle, anstatt in der Welt umherzuvagabondieren, in ihr Haus zurückkehren, und kamen selbst nach Rom, um die Widerspenstige abzuholen. Der Heilige Vater sowie die Kardinäle sprachen sich dahin aus, wenn Aglaia nicht bei ihren Eltern leben wolle, möchte sie wenigstens in ein 36 Kloster eintreten, wo sie ja der Einsamkeit nach Herzenslust frönen könne; denn die Verehrung für Fra Celeste, so berechtigt sie auch sei, könne ungebildete oder bösartige Menschen doch zu Mißdeutungen veranlassen, und da sie auf die Freuden der Gattin und Tochter des Hauses ohnehin verzichtet hätte, sei nicht einzusehen, was sie noch in der Welt zurückhielte. Ich sagte dem Kardinal, daß Fra Celeste die Dame längst in diesem Sinne zu beeinflussen versucht hätte, daß es bislang aber vergeblich gewesen sei, da sie die Eintönigkeit des Klosterlebens fürchtete, und fügte hinzu, vielleicht werde seiner Beredsamkeit und Menschenkenntnis ein besserer Erfolg zuteil. Dieser Aufforderung kam der Kardinal unverweilt nach; er besuchte die Gräfin, sprach mit ihr von den Annehmlichkeiten des Klosterlebens, dem er sich herzlich gerne hingeben möchte, wenn ihn nicht Geschäfte zum Nutzen der Kirche noch in der Welt zurückhielten, und verliebte sich mittlerweile über die Maßen in Aglaia, was sowohl ihr wie mir sehr zur Belustigung diente. Eines Tages kam aber Fra Celeste dazu, dem ich diese Vorgänge aus Rücksicht verschwiegen hatte, und geriet über den unerwarteten Anblick des Kardinals in jene Wut, deren Symptome ich früher beschrieben habe. Ohne abzuwarten, daß einer von uns die Anwesenheit des Kardinals bei Aglaia erklärte, fuhr er heraus, man habe ihm den Verkehr mit der Gräfin zum Vorwurf gemacht, jetzt sähe er die Ursache dieses Eifers, man wolle selbst bei ihr ein und aus gehen, dabei sei er im Wege gewesen. Im Feuer des Sprechens erhitzte er sich mehr und mehr, bis er von oben bis unten in eine prasselnde Flamme verwandelt schien mit seinen knirschenden Zähnen und lechzenden Augen; 37 wir schauten ihn an wie einen gläsernen Zylinder, der glüht und kracht, so daß man sein Auseinanderspringen jeden Augenblick erwartet und sich bereit hält wegzulaufen, um von den heißen Scherben nicht getroffen zu werden. Während ich Stellung nahm, um ihm rechtzeitig in den Arm zu fallen, wenn er etwa auf den Kardinal los wollte, ließ die göttliche Vorsehung diesen entschlüpfen, den der aufgeregte Mann, von der Eifersucht wie von einer Windsbraut gefaßt und mitgerissen, sonst, wie er selbst glaubte, vielleicht erdrosselt hätte.

Da zeigte es sich wieder, wie Gott diesen wunderbaren Menschen liebte und auch die scheinbaren Verirrungen zu seinem Wohle ausschlagen ließ; denn der Kardinal, zu dem ich mich, nicht ohne eine gewisse Befangenheit überwinden zu müssen, am folgenden Tage begab, empfing mich zwar betrübt, aber herzlich, indem er mir von dem Ruhebette, wo er lag, beide Hände entgegenstreckte. Er erzählte mir, daß ihn einerseits die Eitelkeit zu Aglaia geführt hätte, nämlich die Aussicht, größere Macht über ihren Geist zu gewinnen als der berühmte Prediger, daneben lüsterne Neugier, die Frau kennenzulernen, von der man sich so bedeutende Gerüchte zuflüsterte. Die Holdseligkeit ihrer Erscheinung und ihres Wesens hätte es ihm gleich beim ersten Besuche angetan, und anstatt sich nun zurückzuhalten, wie es seine Pflicht gewesen sei, habe er sich dem verbotenen Spiele hingegeben, noch dazu unter geflissentlicher Täuschung des eigenen Gewissens, dem er vorgelogen habe, es geschehe zu einem heiligen Zwecke. Fra Celeste aber habe mit dem Blitzen seiner Augen und seiner Zunge das Truggewebe entzündet und zu Asche gebrannt, so daß 38 er sich selbst angeschaut habe, wie er wirklich sei, schwach und voll Sünden. Jetzt stehe es ihm fest, sagte er, daß der Bruder ein Seher sei, auf dem der Geist Gottes unmittelbar ruhe, und trug mir auf, Aglaia, die seine Torheit ermutigt und dadurch gleichfalls gesündigt hätte, Unterwerfung unter die Ratschläge des prophetischen Mannes zu empfehlen. Ich sagte, Fra Celeste hätte im Sinne, einige große Predigten über das Klosterleben zu halten, wodurch er hauptsächlich Aglaias Herz zu treffen gedächte, was zwar nur ein Einfall war, der mir im Augenblicke kam, von meinem Herrn aber, dem ich davon Bericht erstattete, sofort aufgegriffen wurde. Sein Genius bemächtigte sich der hingeworfenen Idee so vollkommen, daß er bald darauf, an drei aufeinanderfolgenden Tagen, drei Predigten über diesen Gegenstand hielt, die eine Horde von Kannibalen in Säulenheilige hätte umwandeln können. Die Folge davon war, daß unter vielen anderen Leuten auch Aglaias Eltern sich voll Abscheu von der Welt abkehrten und Kutte und Schleier nahmen. Die Arme war so gerührt über das Betragen der beiden Alten, die, ohne sie noch ferner anzuklagen, noch irgend etwas von ihr zu fordern, mit großer Würde, Demut und vielen Zeichen beginnender Heiligkeit sich zum Eintritte ins Kloster vorbereiteten, daß sie stundenlang Tränen vergoß, sich mit Selbstvorwürfen peinigte und sich ihnen vielleicht sogar angeschlossen hätte, wenn nicht Fra Celestes Krankheit dazwischengekommen wäre.

Er wurde nämlich mitten in einer Predigt durch einen Hustenanfall unterbrochen, konnte sie nur mit größter Anstrengung zu Ende bringen und warf bei der nächsten Wiederkehr des bösartigen Hustens sogar Blut aus. Die Ärzte 39 erklärten einmütig, daß Fra Celeste das Predigen für unabsehbare Zeit ganz aufgeben müsse, widrigenfalls das Schlimmste zu befürchten stehe. Dies Verbot war für ihn, dem Reden so notwendig war wie Atmen, hart genug; nun aber kam hinzu, daß der Heilige Vater wünschte, der Bruder möge sich während der Ruhezeit in sein Kloster begeben; denn weil sein Tod als nach aller Wahrscheinlichkeit nahe bevorstehend erklärt wurde, war man darauf bedacht, daß der heilige Mann sein ruhmwürdiges Leben durch ein entsprechendes Sterben kröne. Im Kloster, glaubte man, werde sich diese weihevolle Szene am schönsten abspielen, während sehr zu befürchten war, daß in einem Kurorte am Mittelmeer, wohin die Ärzte ihn gewiesen hatten und wohin Aglaia ihn als Pflegerin begleiten würde, sich allerlei Weltliches, sei es auch nur in Form von Gerüchten und Verdächtigungen, profanierend einmische. Um den teuren Kranken nicht durch diese Widerwärtigkeiten aufzuregen, griff ich, ohne es ihm zu sagen, zu einem freilich etwas gewagten Mittel; ich erzählte dem Kardinal San Fiori, nachdem ich mir Geheimhaltung meiner Mitteilung hatte beteuern lassen, daß ich Ursache hätte zu fürchten, mein Herr werde zum protestantischen Glauben übertreten. Er sei in Verkehr mit einem protestantischen Geistlichen von hoher Stellung geraten, dem augenscheinlich daran gelegen sei, den berühmten Prediger für seine Kirche zu gewinnen; er entblöde sich nicht, darauf anzuspielen, was für weltliche Vorteile dem Bruder dadurch zufließen würden, daß er Reichtümer sammeln und sogar eine Frau nehmen könnte. Obgleich ich nun gewiß wüßte, sagte ich, daß mein Herr weder durch Geld noch durch Frauen 40 zu bestechen sei, trüge ich mich doch mit ängstlichen Befürchtungen, denn in sein Kloster wolle er wegen des Streites, den er in früherer Zeit mit dem Abte gehabt hätte, keinesfalls zurückkehren, ohne Mittel könne er in der Welt nicht leben, also treibe ihn vielleicht die Not in das Lager der Feinde.

Bei dieser Gelegenheit habe ich den ersten von den drei Küssen bekommen, die mir Aglaia gegeben hat. Ich erzählte ihr, um sie zu erheitern, meine eben angeführte Unterhaltung mit dem Kardinal, und indem ich meine Phantasie laufen ließ, wohin sie wollte, fügte ich ausschmückenderweise hinzu, daß er mich insgeheim gedungen hätte, alle Schritte des Bruders zu überwachen, ihn beständig von allem zu unterrichten und seinen Übertritt zum protestantischen Glauben, wenn es soweit komme, nötigenfalls mit den äußersten Mitteln zu hintertreiben. Aglaia fragte erschreckt, was unter diesen Mitteln zu verstehen sei, worauf ich wieder fragte, ob sie niemals von einem farblosen Pulver gehört hätte, das man mit unfehlbarer Wirkung in den Wein seines Todfeindes mischen könne, und ob sie nicht wisse, daß fanatische Gläubige sogar ihre Freunde mit solchen Pulvern bewirteten, wenn das zum Heile der Kirche dienlich sei. Dann sprach ich noch von den glänzenden Anerbietungen, die der Kardinal mir gemacht hätte, und daß ich ihn zwar in dem Glauben gelassen hätte, als sei ich nicht abgeneigt, ihm zu dienen, daß ich aber, wie es sich von selbst verstehe, meinen Herrn niemals verraten würde. Die Liebliche sagte lächelnd, da ich des Sündenlohnes verlustig gehe, wolle sie mich schadlos halten, was für Lohn ich mir wünsche? worauf ich vor ihr niederkniete und um 41 einen Kuß von ihrem Munde bat. Sie nahm meinen Kopf zwischen ihre kühlen Hände, daß es mir wonnig über den Leib rieselte, und küßte mich langsam auf beide Augen, indem sie sagte: »Deine Augen sind fromm wie die Taube und klug wie die Schlange.«

Übrigens trug der Kardinal mir wirklich auf, ihn von allen auffallenden Schritten, die der Bruder unternähme, in Kenntnis zu setzen; denn seit der Androhung des Glaubenswechsels erschien er ihnen vollends wie ein schönes, aber furchtbares Tier, von dem man der heillosesten Dinge gewärtig sein müsse. Sie behandelten ihn denn auch mit großer Sorgfalt wie die Ägypter ihre heiligen Krokodile und Ochsen, überschütteten ihn mit Ehren, versprachen ihm soviel Geld er irgend wollte und entließen ihn mit Segenswünschen nach dem kleinen Ort am Meere, der ihm empfohlen war. Der vielgeliebte Mann aber war so krank, daß er sich um nichts mehr bekümmerte, nicht einmal um Aglaia, die uns möglichst schnell nachgereist kam, um ihn zu pflegen. Wie von Mohammed erzählt wird, daß Gott ihn bei seinen Lebzeiten durch die sieben Himmel geführt habe, während er auf Erden körperlich anwesend war, so, hätte man glauben können, sei es mit Dolfin geschehen. Er lag häufig so unempfänglich da, als hätte die Seele den Körper verlassen, der doch lebte.

Auch wenn der Geist gegenwärtig war, achtete Fra Celeste nicht auf seine Umgebung, und wenn er Aglaia und mich auch um sich duldete, ließ er doch deutlich merken, daß ihm unsere Gegenwart weder lieb noch leid war. Sprach er zu uns, war es zwar mit der Geduld und Sanftmut eines abgeschiedenen Geistes, aber auch wie aus weiter Ferne und 42 so unverständlich, daß man nicht wissen konnte, ob er im Fieber phantasierte oder ob er schon in andere Sphären hinüberschwebte. Was Aglaia am wehesten tat, war, daß er von ihrer gemeinsamen Vergangenheit sprach wie von einem dumpfen Traume oder von der törichten Kinderzeit, ja, wenn sie ihm leidenschaftlich Gesicht und Hände küßte, um seine Erinnerung zu erwärmen und zu beleben, betrachtete er sie mit mitleidiger Verwunderung, etwa wie ein Christ einen Wilden, der sich noch darin gefällt, seinem Götzen geschlachtete Feinde als Opfer darzubringen.

Süß waren diese traurigen Tage durch sie für mich, die stundenlang mit mir am Meer zu sitzen pflegte, geborgen unter einem hohen, schattenden Felsen, an dessen zackige Vorsprünge sie das liebe blonde Haupt lehnte. Die lachende Bläue des Wassers tanzte unbemerkt vor ihren Augen, während sie mir leise, wie ein fernes, trauriges Glöckchen läutet, von den göttlichen Wundern der Vorsehung erzählte, die sie an sich erlebte. Denn, so etwa sagte sie zu mir, ich habe mein Herz an das Irdische gehängt, seit ich lebe, und auch meine Liebe zu Dolfin, auf die ich mir soviel zugute getan habe, war nur irdische Liebe. Wenn er predigte, bin ich selten in die Kirche gegangen, und tat ich es einmal, so lauschte ich wie auf eine schöne Musik, oder ich freute mich an seinen göttlichen Gedanken wie an kostbaren Schmuckstücken, mit denen man sich putzt. Die Welt, der ich gedient habe, hat mir mit vollen Händen gegeben, aber da, wo ihr Reich aus ist, stehe ich als die ärmste Bettlerin, und die Brosamen, die man mir reicht, sind Steine für mich. Und das habe ich verdient, denn ich fragte niemals, was jenseits der Grenze wäre, und habe die Sprache nicht gelernt, die man dort 43 spricht. Siehst du, sagte sie, ich habe ein Märchen gelesen von einem verzauberten Walde, wo jeder, der den kleinen goldenen Schlüssel nicht hatte, in Stein verwandelt wurde. Ich habe nie nach dem Schlüssel gesucht, weil ich nicht dachte, daß ich den Wald je betreten würde; nun erkennt mich Dolfin nicht und stößt mich als einen Stein mit dem Fuße fort.

Ich suchte sie auf alle Art zu trösten und sagte ihr, was ich wußte und nicht wußte vom ewigen Leben und der Auferstehung des Fleisches; denn solche Gespräche beruhigten sie, weil sie ihr das Gefühl gaben, als tue sie etwas, um sich Fra Celeste zu nähern. Vorübergehend, sagte sie, könne sie sich in das wunschlose Dasein und Allumfassen eines geläuterten Geistes wohl hineinversetzen, und eine atemraubende Wonne komme dann über sie, ein Gefühl, wie wenn eine große blaue Welle immer wachsend auf sie zueile, um im nächsten Augenblick ihren ganzen Leib mit feuchter Wärme zu überfluten. Aber wenn sie dann um sich schaue und ihr einfalle, wie sie an manchem vergangenen Abend unter rauschenden Bäumen gesessen und Dolfin erwartet habe und wie sie plötzlich seine Stimme halblaut ihren Namen habe rufen hören und was sie dann gefühlt habe, dann vergingen jene blassen Einbildungen wie Sterne vor der Sonne und sie möchte ein Jahrtausend voll überirdischer Seligkeit für die Wiederkehr einer einzigen solchen Minute geben.

Wenn sie inmitten der südlichen Glut und Pracht in sich zusammengeschmiegt saß, als ob ihr kalt wäre, und ich in Muße das weiße Gesicht an dem feuchten schwarzgrünen Felsen betrachten konnte mit den Augen, die flehentlich 44 zu bitten schienen: hab mich lieb; einsam und sehnsüchtig wie eine Seerose auf einem unterirdischen Wasser, wohin nie ein Mensch gedrungen ist, zog mich mein Herz zu ihr hin, und ich war oftmals nahe daran, sie in die Arme zu nehmen und zu küssen. Aber es hielt mich immer etwas gebunden, was vielleicht der unbewußt gegenwärtige Gedanke an den Mann war, dem sie angehört hatte und den ich wie einen Gott unter den Menschen verehrte.

Sie indessen gab mir bald darauf den zweiten von den drei Küssen, die ich von ihr empfangen habe, als Botenlohn nämlich für die Nachricht vom ersten Zeichen der wiederkehrenden Gesundheit Fra Celestes, die ich ihr brachte. Nach einigen Tagen und Nächten, die er fast ununterbrochen schlafend zugebracht hatte, erwachte er eines Morgens in heiterer Stimmung, sah mich aus seinen ruhigen Augen freundlich an und fragte, indem er suchend umherblickte, warum Aglaia nicht da sei. Ich sagte, daß es noch zu früh sei, eilte aber sogleich zu ihr, um sie zu holen. Unbeschreiblich war es, anzusehen, wie sich der ahnungsvolle Todesschrecken in ihrem verschlafenen Gesicht langsam in ungläubiges, schüchternes Entzücken verwandelte. Sie zog mich auf einen Stuhl dicht neben sich, ließ mich alles, was ich gesagt hatte, mehrere Male wiederholen und verfolgte, während ich sprach, mit den Augen die Bewegungen meiner Lippen, dann plötzlich warf sie unter heftig hervorstürzenden Tränen die Arme um meinen Hals und küßte mich auf den Mund.

Damals schien es uns, und ich glaube Fra Celeste selbst, als ob ihm das Leben für ewig zurückgegeben sei. Warum, warum auch ließ ihn Gott noch einmal wiederkehren, wenn 45 es nur für eine kurze Frist war, die mit einem schreckenvollen Untergange enden sollte? Ich will mich nicht vermessen, die Absichten der unerforschlichen Gottesweisheit auszulegen; und wer kann wissen, ob Gott die Menschen nicht selbst über ihr Leben oder Sterben entscheiden läßt, wenn sie sich dessen auch im Wachen nicht bewußt sind? Wie dem auch sei, so viel Ergebenheit und Todesfreudigkeit Fra Celeste vorher gehabt hatte, mit so viel Ungestüm stürzte er nun in die Arme des Lebens. Ja, niemals zuvor hatte ich ihn so von Lust und Kraft und Liebesdrang übersprudeln sehen, gerade als wäre er inzwischen beim Brunnen des Lebens gewesen und hätte unter heilkräftigen Balsambäumen und verjüngendem Tau geschlafen. Anstatt dessen blieb Aglaia immer noch in den Flor ihrer Schwermut gehüllt, als könne sie sich aus dem anschmiegenden Gewebe nicht herauswinden oder wolle nicht, weil sie das helle Licht fürchte. Ihr Lachen, ihr Glücksgesicht, ihre zärtlichen Worte, alles schimmerte durch diesen dämpfenden Schleier – ob nun ihr Herz das frühere unbefangene Zutrauen zum Leben nicht wiedergewinnen konnte, oder ob die furchtbare Todeskrankheit, der sie anheimfallen sollte, schon ihren Schatten über sie geworfen hatte. Weil aber niemand das letztere ahnte, glaubten wir, sie werde sich bald an die Wiederkehr des Glückes gewöhnen und alles werde wieder sein wie sonst. Fra Celeste machte Entwürfe für weite Reisen, die er unternehmen wollte, denn die Lust zum Predigen war zugleich mit der Gesundheit in ihm neu erwacht, und dazu kam, daß ihm seit seiner Genesung Freude an der Natur gekommen war, die er früher gewissermaßen übersehen hatte. Diese späte und plötzliche Neigung 46 hatte etwas von dem Anstaunen eines Blinden, der als erwachsener Mensch die Erde kennenlernt oder doch nach langem Dunkel wiedersieht, und die kindliche Gründlichkeit, mit der er bald den geraden Wuchs der Zypressen, bald das wächserne Blütenblatt der Orangen oder das wechselnde Farbenspiel der Wolken und Wellen bewunderte, stand dem herrlichen Manne so rührend an, daß uns nicht selten Tränen in die Augen traten, wenn wir ihm zuhörten.

Seine Ungeduld zu predigen ließ sich durch unsere Besorgnis nicht zügeln, und so hielt er denn in der benachbarten großen Hafenstadt jene gewaltigste und berühmteste seiner Reden, die, was niemand damals, am wenigsten er selber, ahnte, seine letzte sein sollte. Der Gegenstand der Predigt war der Tod und die Unsterblichkeit; übrigens ist sie so oft gedruckt und so viel gelesen worden, daß ich mich nicht damit abmüßigen will, den Inhalt hier anzugeben. Wer könnte aber den siegreich schwebenden Blick und das melodische Lächeln schildern, womit er seine Worte begleitete! Wiederum mußte ich denken, ob wohl seine Seele, während wir seinen Körper für krank gehalten hatten, das geheimnisvolle Geisterland, das wir Himmel nennen, durchwandert habe, daß er so wundervoll in Bildern, die allen verständlich waren, davon zu erzählen wußte. Andererseits fragte ich mich, wie es möglich sei, daß der selige Mann, der das Paradies und die Glorie Gottes angeschaut hatte, sich von dem vergänglichen Frühling auf unserem armen Sterne so konnte bezaubern lassen? Immerhin: es mögen Tausende unter den Zuhörern denselben Wunsch gehabt haben, diese Worte in ihrer Sterbestunde wieder erklingen zu hören, oder daß Fra Celeste selbst als Engel des Todes 47 vor ihr Bett träte und sie an seiner Hand über die Schwelle der Ewigkeit führte. Wenigstens wallfahrtete an den folgenden Tagen eine unabsehbare Menge von Leuten zu ihm: Hinterbliebene, die über den Zustand ihrer Verstorbenen Bescheid zu haben wünschten, Lebensüberdrüssige, die sich mit Selbstmordgedanken trugen, Zweifler und Verliebte, oder er wurde gebeten, Sterbenden mit seinem Zuspruch den Tod leichter zu machen. Aber nur die wenigsten von allen bekamen noch den Trost seines himmlischen Genius zu verspüren, denn unterdessen hatte schon die große Veränderung angefangen.

Bereits an dem Tage der Predigt hatte Aglaia wegen einer Unpäßlichkeit zu Hause bleiben müssen, und bald erwies es sich, daß das vermeintliche Unwohlsein eine ernste Krankheit war, dieselbe, von der Fra Celeste eben genesen war, gerade als wären die bösen Keime von ihm auf sie übergegangen. Wer mag sagen, wie lange das Übel schon in ihr gewesen war? Jedenfalls nahm es mit einer unglaublichen Geschwindigkeit zu, so daß der behandelnde Arzt nach wenigen Wochen schon merken ließ, es sei keine Hoffnung auf Wiederherstellung der Kranken. Während man nun hätte erwarten sollen, Fra Celeste würde die geliebte Sterbende mit verdoppelter Zärtlichkeit umfangen, sie vorbereiten, ihr Mut einflößen oder wenigstens ihr die langen Stunden durch teilnehmende Gegenwart verkürzen, begab sich gerade das Gegenteil.

Er suchte sie erst selten, bald gar nicht mehr auf, vermied die Erwähnung ihres Namens, kurz, tat, als ob sie ganz und gar aus seinem Gedächtnis geschwunden wäre. Daß dies aber keineswegs der Fall war, konnte ich daraus schließen, 48 daß die gute Stimmung ihn völlig verlassen hatte. Ich weiß nicht, wie ich den Zustand verzweifelter Erstarrung oder Zugeschlossenheit bezeichnen soll, in dem er lebte; das Einsamkeitsgefühl ging wie ein kalter Hauch beinahe sichtbar von ihm aus und bildete eine Eisluft um ihn herum, die jedes lebende Wesen von ihm fernhielt. Die arme Aglaia lag unterdessen still auf ihrer Terrasse über dem Meere, freilich ohne zu ahnen, wie krank sie war, aber ein viel bittereres Leiden im Herzen, denn sie war überzeugt, daß Dolfin sie nicht mehr liebe. Mit seiner Krankheit, sagte sie, wäre es vorbei gewesen, die Leidenschaft, die er ihr nach seiner Genesung gezeigt habe, sei nur ein erzwungenes Feuer und deshalb nur von kurzer Dauer gewesen.

Eines Tages bewog mich das Mitgefühl mit ihrem stillen Grame, ihn zu fragen, warum er die Arme nicht aufsuche, ob er etwas gegen sie habe, die sich einbilde, er liebe sie nicht mehr. Er schoß einen zornigen und zugleich verzweifelten Blick auf mich und sagte: »Es ist so, ich liebe sie nicht mehr, wozu sollt ich sie besuchen?« Und als ich, nicht ohne Bitterkeit, wie ich gestehen muß, fortfuhr: »Die Unglückliche, bald wird sie ja tot sein«, gab er mir die entsetzliche und merkwürdige Antwort: »So soll sie mir auch nie gelebt haben«, womit er schnurstracks an mir vorbeiging und dadurch das Gespräch abschnitt. Nachdem ich ihn während des ganzen Tages nicht mehr gesehen hatte, war ich überrascht, ihn auch abends nicht zu Hause zu finden; daß er bei Aglaia nicht war, wußte ich, und so ging ich in einiger Sorge, um ihn zu suchen, nach seinem Lieblingsplatze, wo er oft in der Zeit seiner Genesung gesessen und geruht hatte, einem fünfeckigen Brunnen von der Größe eines 49 kleinen Teiches, um den herum Zypressen im Kreise standen. Von dort aus führte eine Zypressenallee nach einer Seite abwärts, während man nach der anderen über graue und grüne Hügel hinüber nach fernen blauen Bergen blickte. Das Schönste aber war, wie sich die hohen, dunkeln Bäume in dem grünlichbraunen Brunnenwasser spiegelten; sie schienen leibhaftig hineinzuragen, und man wurde sich, daß es nur Bilder waren, erst bewußt, wenn eine Luft das Wasser mit silberner Bewegung darüber hinlaufen ließ. Dort fand ich den Bruder wirklich auf dem steinernen Rande sitzen und hinunterblicken, und zwar war er so in dies Schauen oder Träumen verloren, daß er heftig zusammenfuhr, als er meinen Schritt dicht neben sich hörte. Ich sah ihm gleich an, daß er in der Stimmung war, wo er ein weiches, kindliches Bedürfnis hatte, sich mitzuteilen, und so erfuhr ich denn, was während der letzten Zeit in dem unglücklichen, wunderbaren Manne vorgegangen war. Vielleicht, daß ich nicht mehr alle Worte treffe, die er brauchte, aber ungefähr so, wie ich erzähle, sprach er mit mir:

»Du weißt,« sagte er, »daß ich als Kind arm war, keine Eltern, niemand, nichts auf der Welt hatte. Vielleicht hatte ich gerade deshalb solche Sehnsucht, etwas zu besitzen, etwas zu haben, das mir gehörte, zu dem ich sagen könnte: Das ist mein, mein eigen. Und ich will dir nur sagen, daß ich, wenn ich etwas geschenkt bekam oder mir verdient hatte, wenn es auch nichts als ein schmutziges Kupfergeldstück war, die ekelhafte Münze küßte, in der Hand herumtrug, bis sie heiß und feucht war, sie am Halse und auf der Brust verbarg, damit ich sie recht innig fühlte, sie auch wohl tief in die Erde hineingrub, bei der Dunkelheit mühsam 50 wieder herausscharrte und mit klopfendem Herzen mit mir ins Bett nahm. So machte ich es mit allem; aber das Geld mußte ich immer bald wieder ausgeben, die anderen Kleinigkeiten zerbrachen oder verdarben sonst, oder, wenn das nicht der Fall war, verging mir die kindische Täuschung, als könnten sie jemals wirklich mein werden. Und ich kann dir nicht sagen, wie bitterlich ich geweint habe, wenn ich spürte, daß mein Herz leer blieb; daß die Gegenstände meiner Sehnsucht so fremd und hart und undurchdringlich waren wie am ersten Tage. Mein Gott, wie liebte ich einmal eine lila Blume, die traubenartig über eine dicke graue Mauer herüberhing wie eine schlanke, verzauberte, winkende Hand! Aber ich war viel zu klein, um sie zu erreichen, und sah sie nur täglich von unten, erst voller und dunkler werden und dann allmählich welken, bis sie wie ein schmutzigweißer, zerrissener Fetzen hin und her flatterte. Ein andermal liebte ich einen großen, runden, rostbraunen Pfirsich in einem fremden Garten, so saftschwellend und flaumig, wie ich nie mehr einen gesehen habe; einmal eine kleine dunkelblaue Wolke mit einem weißgoldenen Rande, die mir vorkam wie ein schönes, weiches Sammetjäckchen, und über deren Erblassen und Verschwinden ich mich lange nicht trösten konnte; in wieviel kleine, stolze, gleichgültige Katzen und in wieviel vornehme Knaben, die ich zur Schule gehen sah, ich verliebt war, kann ich dir nicht aufzählen. Zuletzt lernte ich, daß nichts auf der Erde uns gehören kann – denn was mein wäre, müßte das nicht mein bleiben? – und daß wir keinen Besitz haben sollen auf der Erde. Wäre etwas, nur das Geringste mein, so müßte ich es ja lieben und würde um dessenwillen die Erde lieben und den Himmel vergessen. 51

Da kam sie und sagte, daß sie mein wäre, und ich fühlte, wie mein Herz warm und voll wurde und die schneidende, kalte Einsamkeit von mir wegging. Mein Herz war wie ein krankes Vögelchen, das man in Watte eingepackt hat, und empfand nichts als eine weiche, liebe, zarte Berührung. Nur manchmal kam mir die Angst, das Glücksgefühl, an das ich mich gewöhnt hatte, könnte plötzlich verschwinden und mich allein in einer wüsten, kalten, unendlichen Höhle stehenlassen, und in gewissen Augenblicken sah ich meine Täuschung und meinen Wahnsinn deutlich ein; aber wenn sie mich ansah und ich ihren Blick mitten in meinem Herzen fühlte wie einen Kuß, kam die Himmelsruhe wieder und hüllte mich in einen purpurnen Mantel von Ewigkeit und Fülle. Und nun verläßt sie mich doch. Das einzige, was mein war, woran ich glaubte, woran ich meine Seele festgebunden hatte, verdunstet mir auf den Händen wie ein Tropfen Wasser!« Darauf strömten herzzerreißende Klagen und gegen Aglaia Bitten und Vorwürfe von seinen Lippen, ein so leidenschaftliches und unfaßbares Durcheinander, daß ich es nicht wiedergeben kann.

Ich sagte allerlei selbstverständliche Dinge, wie daß es doch Aglaias Schuld nicht sei, daß sie sterben müsse, daß sie ihn immer geliebt habe und noch liebe, daß er sie jetzt nicht verlassen solle, daß sie nach ihm verlange und was dergleichen mehr war. Es verfing aber nichts von allem, sondern er blieb dabei, daß er sie nicht mehr sehen könne; ihre Blässe, ihre Magerkeit, ihre leidenden Mienen würden ihn anstatt mit Mitleid mit Haß erfüllen, denn sie zeigten ihm an, daß sie sich langsam aus seiner Umarmung winde, um ihn allein zurückzulassen. Er hatte, während er sprach, einen Arm um 52 meinen Hals geschlungen und das teure Haupt an meine Schulter gelehnt, so daß ich über ihn gebeugt saß, welche Stellung es vielleicht mit sich brachte, daß ich etwas wie väterliche Erbarmung für ihn empfand. Ich umfaßte ihn mit Zärtlichkeit und sprach davon, daß er doch hoffen müsse, Aglaia in einer jenseitigen Veränderung wieder zu begegnen. Es fielen mir dabei unwillkürlich Bruchstücke aus der Rede über den Tod und die Unsterblichkeit ein, die er kürzlich gehalten hatte, wovon mir einiges wie von selber auf die Zunge kam, so die Stelle, wo er das Sterben eines Menschen mit dem Ausklingen eines Liedes verglich; wenn alle Instrumente verbrennten, auf denen man es singen könne, wenn alle Kehlen verstummten, das Lied sei da, unsterblich und unveränderlich, nicht nur an einem Orte, sondern überall da, wo jemand es erinnernd durch sein Herz ziehen lasse. Ich hatte aber diese Worte kaum ausgesprochen, als er aufstand, mich von sich stieß und mich drohend anschrie: »Das sollst du mir nicht sagen! Schweig mit deinem hohlen Gefasel! Sie will ich haben, an meinem Herzen fühlen, an meine Brust drücken, ihr Gesicht sehen, verwelkt, verrunzelt, verbleicht, mit erloschenen Augen, uralt meinetwegen, wenn es nur ihres ist, das ich liebe und kenne. Sollen deine nichtssagenden Vergleiche und erkünstelten Bilder eine Seele sättigen, die nach ihrer Liebe schreit?« Ich fürchtete schon, er würde in seiner Art zu rasen anfangen, anstatt dessen warf er sich auf die Erde und weinte. Ich wußte nicht mehr, was ich sagen oder tun sollte, und eine große Trostlosigkeit kam über mich, wie ich noch niemals empfunden hatte. Ich setzte mich auf den Rand des Brunnens und betrachtete die Schönheit der Nacht, während mir Tränen über das Gesicht liefen. 53 Der Himmel war ganz schwarz, nur am Horizonte war ein weißer Streifen, an dem die Umrisse entfernter dunkler Hügel hinglitten. In den nahen Gebüschen sauste ein warmer Wind, aber die trauernden Gestalten der Zypressen neben mir bewegten nur unhörbar ihre Wipfel auf und nieder. Es kam mir in den Sinn, es wären riesige, schwarz umflorte Schwerter mit dem Griffe in der Erde, die Spitze gegen den Himmel gewendet, und ich wollte sehen, wie sie sich spiegelnd in das Wasser hineinbohrten; aber das lag tot und glanzlos in der Dunkelheit. Meine Traurigkeit wurde allmählich etwas durchsichtiger und leichter, so daß ich mich so weit zusammennehmen konnte, Fra Celeste durch den Einfluß stiller, liebevoller Gegenwart ein wenig zu beruhigen; er sprach bald von selbst den Wunsch aus, nach Hause zu gehen, und wir schritten schweigend nebeneinander her. In der Art, wie er zuweilen den Kopf nach mir drehte, ohne mich anzusehen, fühlte ich, daß er sich meiner Nähe bewußt war und daß er mich lieb hatte, wie ich denn keinen Menschen gekannt habe, dessen Gemüt sich so körperlich empfinden ließ, als strahlte es Wärme oder sonst eine Kraft von sich auf andere.

Am folgenden Tage zeigte es sich, daß, was ich von Aglaias Kummer gesagt hatte, doch in sein Herz gedrungen war, denn er erklärte, zu ihr gehen zu wollen. Trotz meines Abratens bestand er darauf, ich solle ihn begleiten, vielleicht damit ich, wenn die Zusammenkunft nach allem Dazwischenliegenden peinlich wäre, über die Verlegenheit hinweghülfe. Er hatte sich augenscheinlich nicht vorgestellt, wie mächtig die Gegenwart sogleich wirken würde; sie hatten nämlich kaum einander in die Augen gesehen, als sie 54 alles, was sie gefühlt und voneinander gedacht hatten, völlig vergaßen und sich mit einem Schrei in die Arme stürzten. Nach einer geraumen Weile besannen sie sich erst, und Aglaia sagte aufseufzend, indem sie versuchte, sich von ihm loszumachen: »O, warum liebst du mich nicht mehr?« worauf er mit schluchzender Stimme rief: »Ich liebte dich nicht mehr ? Ich will dich ewig, ewig lieben, nur verlaß mich nicht! Stirb nicht! Sei wieder mein!« so und ähnlich, wodurch ihr mit einem Male der Zustand ihrer Gesundheit und ihr bevorstehendes Ende offenbar werden mußten. Ich sah voll Schrecken zu ihr hinüber, welchen Eindruck es auf sie gemacht oder ob sie es noch nicht gefaßt hätte, ihr Gesicht war aber über und über verklärt und schimmerte unter einer Glorie von Seligkeit, denn gerade weil sie mit einem Schlage alles begriffen hatte, erklärte sich ihr Dolfins Benehmen, und daß sie seine Liebe in Wahrheit nicht verloren hatte. Auch war es ihr in diesem Augenblick unmöglich, an einen nahen Tod zu glauben, so daß sie mit dem Ausdruck innigster Überzeugung schwören konnte, sie würde bei ihm bleiben, ihn nie verlassen. Erst dann, als sie vielleicht in seinen und meinen Blicken keinen Glauben und keine Hoffnung sah, veränderte sich plötzlich ihre Stimmung, und sie klammerte sich ängstlich an ihn, indem sie flehte: »Laß mich nicht sterben! Laß mich bei dir bleiben!« Ja, sie suchte ihn durch Erinnerung an das vergangene Liebesglück zu erschüttern, gerade als ob ihm nur der gute Wille gefehlt hätte, sie vom Tode zu erretten.

Während dieser ganzen Zeit hatte ich, unschlüssig, ob ich bleiben oder gehen sollte, am anderen Ende der Terrasse gestanden, und da ich sah, wie Fra Celeste die Weinende mit 55 überschwenglicher Zärtlichkeit an sich zog, und glaubte, sie würden sich nun aussprechen und verständigen, schickte ich mich an fortzugehen, aber in demselben Augenblicke ließ er sie wieder los und stürzte, indem er mich beiseite schob, aus der Türe.

Mein erster Antrieb war, ihm zu folgen, wodurch vielleicht alles eine andere Wendung genommen hätte; aber Gott muß es so und nicht anders gewollt haben. Denn Aglaia bat mich, bei ihr zu bleiben, und da es mir schien, als ob ihr in der Tat die Anwesenheit eines hilfreichen Freundes notwendig wäre, so entkräftet und hinfällig sah sie aus, führte ich sie zu dem Diwan, auf dem sie, durch ein ausgespanntes Segeltuch vor der Mittagssonne geschützt, gelegen hatte, deckte sie zu und setzte mich neben sie. Sie erholte sich bald und schien sich wohler und innerlich beruhigt zu fühlen, denn sie fing in beinahe heiterem Tone von ihrer Krankheit zu reden an, und wie wunderbar es sei, daß sie niemals an die Möglichkeit des Todes gedacht habe. Als ich eine Einrede machen wollte, um sie zu vertrösten, legte sie ihre leichte Hand auf meine und schüttelte langsam den Kopf; sie fühlte jetzt, daß es so sei, sagte sie, und sei es zufrieden. Dann betrachtete sie lange das Meer, das unter uns in der Sonne lag wie ein kühles blaues Feuer. In jeder Welle schien ein Flämmchen zu glühen, das sich duckte, wenn der kleine amethystfarbige Wasserfall darüber wegsprang. Die runden Pappeln hatten den Sonnenschein wie einen goldenen Mantel um sich gewickelt, und an den weißen Mauern der Häuser rieselte er in langen fließenden Tropfen herunter, ja, die Luft selbst glitzerte durch und durch. Als ich die Augen von dem Glanze weg wieder auf Aglaia wendete, sah ich, daß ihre 56 Wangen ganz naß von Tränen waren, obschon ihre Augen lächelten. Sie schloß die Augen und sagte: »Nun ist alles fort, Sonne, Meer und die ganze Erde.« Dann öffnete sie sie wieder, schloß sie von neuem und so weiter, schließlich aber kehrte sie das Gesicht nach der anderen Seite und vergrub es in das Kissen, auf dem sie lag. Nachdem ich noch eine geraume Zeit neben ihr gesessen hatte, ohne daß sie sich regte, fand ich, daß ich ihr nichts nützen und sie der Sorgfalt ihrer Dienerin überlassen konnte, und stand auf. Von dem Geräusch gestört, richtete sie sich auf, sah mich mit ihren überirdisch glänzenden Augen an und sagte leise: »Sag mir Lebewohl.« Süße! Blume des Lebens! Wußtest du denn, daß es das letzte, allerletzte Mal war, daß dein Mörder schon auf dem Wege war, dich von der schönen Erde wegzumähen? Langsam neigte sie ihr Gesicht gegen meines und küßte mich auf die Stirne, lächelte und legte sich wieder zurück; als ich mich an der Tür noch einmal nach ihr umwandte, sah ich, daß sie mir nachblickte. Ihre Augen gingen mit mir, solange sie konnten, in das volle, glühende, sonnige Leben hinaus; ihre Hände streckten sich nach mir aus, als wollten sie sagen: Nimm mit von mir, halte fest von mir, was du kannst, um dich weht die liebe Luft, um dich fließt das schöne Licht, aus dem ich scheiden muß! Vielleicht, habe ich später denken müssen, war dies der letzte Kuß, der von ihrem glücklichen Munde kam. Denn wenn Dolfin ihre Liebkosung, ihr zutrauliches Anschmiegen und ihre Seelenworte noch empfunden hätte, erscheint es mir unmöglich, daß er sie hätte töten können. Oder war es ihr eigener Wunsch? Wollte sie den bitteren Kelch des Todes, zu dem sie verurteilt war, zu einem Liebestrank aus den Händen des 57 Freundes machen? Das wird, wenn nicht die Toten wiederkehren, für immer unenträtselt bleiben.

Was sich nun mit Fra Celeste begab, weiß ich nur vom Hörensagen, und ich will es in Kürze so erzählen, wie ich es mir nach den Berichten zusammengestellt habe. Als er Aglaia verlassen hatte, suchte er ihren Arzt auf, denselben, der ihn früher von der Hoffnungslosigkeit ihres Zustandes unterrichtet hatte, und drang in denselben, ob wirklich kein Mittel auf der Welt ihr Leben erhalten könne. Der Arzt sagte nein, er erwarte im Gegenteil ihr Ende an jedem Tage, und als Fra Celeste, in dem das gefährliche Feuer schon durch die Unterredung mit Aglaia entzündet war, heftig entgegnete, das dürfe nicht sein, sie solle und müsse leben und dergleichen mehr, zuckte er etwas geärgert und ungeduldig mit den Schultern und sagte, der Bruder möge sich an andere Ärzte wenden, er könne sie nicht retten. Darauf war Fra Celeste, wie mir der Arzt erzählte, in eine solche Wut geraten, daß ihm die feurige Lohe aus dem Munde zu schlagen schien. Die Ärzte, sagte er, seien die Wächter des Lebens, das Allerheiligste sei ihnen anvertraut. Denn das Leben sei das Kostbarste, kostbarer als die ewige Lampe, die die Priester im Tempel gehütet hätten. Damals hätte der Tod die Treulosen bestraft, die das Feuer hätten erlöschen lassen. Aber die edelste Flamme sei gemieteten Knechten anvertraut, gottlosen, die nicht wüßten, wie heilig sie sei, und sie nachlässiger bewahrten als ein Hirt seine Schafe und Gänse. Aber, hatte er zum Schlusse gesagt, wenn Religion und Ehre und Pflicht sie nicht warnten, solle die Furcht es tun! Und dabei hatte der unbegreifliche Mann dem erschrockenen Arzte gegenübergestanden wie ein hungernder 58 Löwe, der sich zum Sprunge streckt, und auch seine Stimme hatte den schaurig brüllenden Ton der Wüstentiere angenommen. Sowie aber Fra Celeste die Angst des Arztes sah, hatte er, ungleich den Bestien, welche dann über ihr Opfer herfallen, plötzlich abgebrochen und war, ohne noch einen Blick auf ihn zu werfen, fortgegangen.

Von hier aus muß er sich sofort zu Aglaia begeben haben, denn die Dienerin, welche sein Kommen zwar nicht bemerkte, sah ihn kaum eine Stunde später das Haus verlassen. Gleich darauf fand sie ihre Herrin tot, ein kleines, dolchartiges Messer, mit dem sie die Bücher aufzuschneiden pflegte, im Herzen. Ich habe mir nie anders vorstellen können, als daß der verzweifelte Mann, mit seinem Blute noch ganz in Flammen, die Qual verkürzen und den unausweichlichen Untergang seines Glückes mit eigener Hand ausführen wollte, oder daß er seine Geliebte gleichsam als ein Eifersüchtiger umbrachte, der ein furchtbar übermächtiger Liebhaber nachschlich, der Tod. Denn daß die Furchtsame, die sich wie ein geängstigtes Kind in den Schoß des Lebens versteckte, selbst ihr Ende beschleunigt hätte, dazu könnte ich mich nicht leicht überreden. Daraus, daß sie mit unverzerrtem Gesichte wie eine Ruhende dalag, durfte man schließen, daß er die Tat sofort ausführte, bevor sie den Zustand seines Gemütes ahnte; vielleicht, vielmehr, beugte sie sich der erwarteten Umarmung des Freundes entgegen.

In der Erschöpfung, die dem Aufruhr seines Blutes zu folgen pflegte, kam Fra Celeste nach Hause, wo ich ihn voll Besorgnis erwartete. Wie nach einem vorübergegangenen Gewitter die Erde ihre kräftigste Würze ausströmt, hauchte seine himmlische Natur dann ihre ganze Wärme, Liebe, 59 Heiligkeit und Schöpferkraft aus. Die Augen auf die leere braune Wand des Zimmers geheftet, als ob es ein Stück Himmel voll Abendrot wäre, phantasierte er über die Nichtigkeit des Lebens, aber anders und ungleich rührender, als er früher getan hatte. Er zerpflückte das Leben wie eine hundertblätterige Rose und ließ seine Tränen auf den zerrissenen Duft fallen; wie einer saß er da, der den rotfunkelnden Wein langsam aus dem Glase zur Erde rinnen läßt und zuletzt den feinen Kristall in der Hand zerbricht, daß das Blut über die knisternden Scherben träufelt. Es war nichts von Bitterkeit in seiner Verachtung, sondern nur die königliche Trauer eines Herrschers, der seine Krone zerbricht und vom Throne herabsteigt. Daß er von Aglaia wie von einer Verstorbenen sprach, fiel mir, obschon ich das Vorgefallene nicht ahnte, nicht auf; denn ich hatte selbst die Empfindung, als sei sie nicht mehr zu Hause hienieden. »Wenn ich sie und unsere Liebe in einem Buche gelesen hätte,« sagte er, »wäre mir weniger geblieben? Ich hätte die Erinnerung, aber die schreckliche Sehnsucht nicht. Ein Stern ist mir jetzt nicht ferner als sie.« Und dann sprach er wundervolle und träumerische Dinge, daß man den Sternen nachtrachten solle, so unerreichbar sie auch schienen; denn jedem werde, was er begehre, einem Gold, einem Frauen, einem Essen und Trinken, einem Ruhm, und wer die Sterne wollte, würde die Sterne bekommen, aber dazu hätte noch keiner den Mut gehabt.

Während er so zu mir sprach, streichelte ich seine rechte Hand, die er auf meine Schulter gelegt hatte, und führte sie häufig an meine Lippen; es war kein Blutgeruch an ihr, sie lag wie eine wilde Taube, die schläft, warm und mit gleichmäßigem Pulsschlag zwischen meinen Händen. 60

Wie die entscheidenden Ereignisse meistens unerwartet eintreten, war ich auch ganz ohne Argwohn, als der geliebte Mann mich auf Stirn und Augen küßte und mir gute Nacht wünschte, da er das Bedürfnis habe, noch eine Weile allein in der kühlen Nachtluft spazieren zu gehen. Gegen meine Gewohnheit beschloß ich sogar, ihn nicht zu erwarten, sondern ging mit der angenehmen Schläfrigkeit, die ich verspürte, sogleich nachdem er das Haus verlassen hatte, zu Bette.

Unterdessen suchte er im Meere den Tod. Wer weiß, ob man jemals etwas über sein Verbleiben erfahren hätte, wenn nicht Fischer, die in der hellen Nacht auf offenem Meere angelten, ihm zugesehen hätten. Zuerst sahen sie den Umriß einer Gestalt am Strande stehen, die die Arme gegen das Wasser ausstreckte. Wenn sie für möglich gehalten hätten, daß der Mann mit Todesgedanken umging, sagten sie, hätten sie eilfertig rudernd noch an das Ufer gelangen und ihn an seinem Vorhaben hindern können; aber nichts dergleichen war ihnen in den Sinn gekommen. Bald hatte er ausgesehen, als ob er das Meer segnete, bald schien er zu beten, und da er von übermenschlicher Größe war, wie sie sagten, hätte es ihnen gegraut, und sie hätten sich gefragt, ob das wohl etwas Sterbliches sei. Während sie starr auf die Erscheinung blickten, beugte sich dieselbe plötzlich gegen sie, wandelte, nach ihrer Angabe, einige Schritte auf den Wellen, was sie deutlich sehen konnten, da ein breiter Wasserstreifen eben vom Monde beschienen war, und versank dann wie ein Blitz in der Tiefe. In diesem Augenblick schrieen sie laut auf und fuhren, ihre Furcht überwindend, auf die Stelle zu. Mit dem Rudern beschäftigt, sahen sie 61 nicht, ob der Körper noch einmal aufgetaucht war und mit dem Wasser gerungen hatte; als sie ihn auffanden, war er bereits tot, und sie konnten nichts tun, als den Leichnam des verehrten Mannes, den sie sofort erkannten, an das Ufer zu schiffen.

Das Aufsehen, das dies plötzliche Ende Fra Celestes in unserem Kurorte machte, war ungeheuer. Ich fürchtete, der Arzt, bei welchem der Verstorbene kurz vor seinem Tode gewesen war, könnte eine für seinen Namen verderbliche Aussage über ihn machen; anstatt dessen war er es, der feststellte und bekanntmachte, daß Aglaia sich mit eigener Hand getötet hätte, wahrscheinlich, nachdem der Bruder, um ihre Seele mit dem Himmel auszusöhnen, sie auf ihren nahe bevorstehenden Tod vorbereitet hätte. Ob der Arzt davon wirklich überzeugt war oder ob er das Andenken des Heiligen vor jedem Makel bewahren wollte, habe ich nicht ergründen können, jedenfalls hatte Fra Celeste in seinem Zorne einen überwältigenden Eindruck auf ihn gemacht, wie damals auf den Kardinal San Fiori. Eine göttliche Flamme, sagte er, hätte ihn ganz durchleuchtet, und er hätte in Wahrheit mit feurigen Zungen gepredigt. Zwar hätte er, der Arzt, nicht alles verstanden, was der Bruder in der dunklen Sprache der Offenbarungen vorgebracht hätte, aber er hätte sich gedemütigt gefühlt, wie wenn Gott selbst ihm die Hüllen von der Seele gerissen hätte und er in der Nacktheit seiner Sünde vor ihm geblieben wäre.

Mit unglaublicher Schnelligkeit verbreitete sich die Nachricht von diesem Todesfalle; am folgenden Tage meldeten schon alle Zeitungen das Gerücht, der Heilige Vater werde den großen Prediger und Bekehrer des Volkes heilig 62 sprechen. Allein es zeigte sich, daß damit nur ein Wunsch ausgesprochen war, den die Menge allerdings hegte, den der Papst aber nicht erfüllen zu dürfen glaubte, vielleicht weil er nicht sicher war, ob der Ruf des erhabenen Toten gegen etwaige Bemäkelungen überall mit Erfolg verteidigt werden würde. Diese Bedenklichkeit wurde ihm übel ausgelegt, denn es hieß nun, er habe dem göttlichen Redner seinen Ruhm mißgönnt, ja, ihn gehaßt, weil er allerlei Mißbräuche und Eitelkeiten der Kirche angegriffen hätte. Es entstand sogar, ich weiß nicht wie, ein Gerede, Fra Celeste habe im Sinne gehabt, aus Verachtung der päpstlichen Herrschaft Protestant zu werden, weswegen ihn der Papst mit geheimnisvollen und fürchterlichen Mitteln in den Tod gehetzt habe. Wenn er übrigens auch kein regelmäßiger Kalenderheiliger wurde, genoß er doch im allgemeinen das Ansehen eines solchen, was sich nicht nur in der lauten Trauer zeigte, sondern vorzüglich bei einer anderen merkwürdigen Gelegenheit. Es erhoben nämlich sowohl das Kloster, dem Fra Celeste angehört hatte, wie auch seine Vaterstadt Anspruch auf seinen Leichnam, für den die Pfarrgemeinde unseres Kurortes bereits ein Grab auf dem Friedhofe ausgewählt hatte. Dieser Streit wurde mit außerordentlicher Heftigkeit geführt, bis er schließlich mit dem Siege von Dolfins Vaterstadt endigte, welche die beiden anderen Ansprecher durch Zahlung großer Summen beschwichtigte. Während der drei Monate, die dieser Prozeß dauerte, stand der Sarg mit dem teuren Toten in der kleinen Kirche, wo er nach seiner Krankheit einige Male gepredigt hatte, ganz zugedeckt von immer frischen Blumen, die ihm täglich von frommen Personen gespendet wurden. Dann wurde die Leiche unter 63 düsteren Feierlichkeiten nach ihrem endgültigen Begräbnisorte geführt.

Du herrlicher Gesang, du Liebeslied, du Sturmlied, wo schläfst du? Oder spielen dich Engel auf einer Harfe von Sternen? Oder wärest du für immer verloren, du schöne Melodie? Vielleicht umklingst du mich Tag und Nacht, und ich vernehme dich nur nicht, weil die Brandung des Lebens dich überdonnert. Möchte ich dich wieder hören, wenn ich sterbe!

 


 


 << zurück