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Nachdem er sich von Gustav Adolf getrennt hatte, begab sich Friedrich von der Pfalz über Frankfurt nach Mainz, wo ihn die Nachricht vom Tode des Königs traf. Der Schrecken erschütterte ihn so, daß die Krankheit, von der er ohnehin noch nicht ganz hergestellt war, wieder ausbrach und er sich wieder zu Bett legen mußte. Im Fieber wußte er oft nicht, wo er war und in welcher Lage er sich befand; zuweilen glaubte er, er sei auf der Flucht, suchte seinen Hut oder Mantel und rief seiner Frau zu, sich zu eilen und die Kinder nicht zu vergessen. Oder, wenn man ihm sagte, er sei in Mainz, glaubte er, er sei mit seinem Vater zu Besuch bei dem Erzbischof Schweikhard, und er müsse sie auf die Jagd begleiten. Ließ das Fieber nach, so war er sehr schwach und drückte das Gesicht weinend in die Kissen, indem er sich auf seine traurige Lage und das abermalige Scheitern aller Hoffnungen besann.
Er wurde von einem mainzischen Arzte besucht, aber da sein Zustand sich nicht besserte, rief sein Bruder Ludwig Philipp noch einen brandenburgischen, der im Gefolge der Königin Eleonore nach Mainz gekommen und einstweilen dort geblieben war. Diese beiden saßen in einem Nebenzimmer bei dem Kranken, und der mainzische Arzt sagte, er habe dem Patienten die Wurzel der gelben Schwertlilie, Acorus adulterinus, gegeben, das sei austrocknend und adstringierend und gegen alle Arten von Bauchflüssen das beste Mittel. Der brandenburgische Arzt legte den Kopf ein wenig zurück, lächelte, spielte mit den Fingern und sagte, das sei allerdings ein gebräuchliches Mittel; aber ob es auch gut sei? Er könne sich ja irren; aber er sei der Ansicht, man könne ebensogut eine Rübe fressen. So? sagte der Mainzer; ob der andere die Wurzel verkostet habe. Er solle nur einmal daran lecken, dann werde er an dem herben Geschmack sogleich merken, daß sie zur Ruhr gut sei. Der andere zog schweigend einen ovalen, grünlichen Stein aus der Tasche, hielt ihn ans Licht und fragte den Mainzer lächelnd, ob er das kenne. Der Mainzer warf einen kurzen, bösen Blick darauf und sagte, dergleichen würde durch betrügerische Hausierer oft angeboten, sie ließen es sich teuer zahlen und hernach erweise es sich gemeiniglich als verhärteter Kuhmist. Der Brandenburger lachte jetzt geradeheraus, wenn auch ganz leise; dies sei echter Bezoar, sagte er, er habe es von einem Freund aus Amsterdam bezogen, der habe es geradeswegs aus Westindien bekommen, und das Stücklein habe 4000 Reichstaler gekostet. Ha, lachte der Mainzer, er wolle wetten, es sei keine vier Kreuzer wert. Wenn es aber Bezoar wäre, so würde es dem Patienten nicht dienlich sein, denn der sei erweichend und gifttreibend, nicht aber zusammenziehend, könne also dem Kranken noch einen Stoß ins Grab versetzen.
Friedrich hörte das verworrene Geräusch des halblauten Gesprächs im Nebenzimmer, und nachdem er eine Weile darauf gehorcht hatte, kam es ihm vor wie ein Murmeln von Wellen, und wieder in seinen fieberhaften Traum verfallend, glaubte er sich auf dem Wasser zu befinden. Plötzlich hörte er eine ferne, liebe Stimme rufen: ›Vater, hilf! Vater!‹, und er richtete sich hastig auf und rief: »Ich komme!« Angst ergriff ihn: wo war nun das teure Gesicht mit den dunkelblauen Augen, das er eben noch dicht vor sich gesehen hatte? Er rang mit dem Wasser und fühlte sich verschlungen, und im Untergehn überströmte ihn der Glücksgedanke, daß er nun zu seinem Kinde käme.
So starb Friedrich im Beisein seines Bruders Ludwig Philipp, der den Leichnam einsargen ließ, damit er nach Heidelberg gebracht würde; aber da jetzt, nach dem Tode Gustav Adolfs, wieder alles ins Wanken kam, wurde der Sarg einstweilen in Frankental in einer Kirche abgestellt, um mit irgendeiner guten Gelegenheit weitergeführt zu werden.
*
Als der spanische und der österreichische Gesandte in den Vatikan kamen, um den Papst zum Tode des großen Ketzers zu beglückwünschen, wurden sie abgewiesen, weil Seine Heiligkeit an Rheumatismus leide und das Bett hüten müsse; womit sie sich begnügen mußten, wenn sie es auch nicht glaubten. Sein Gemüt sei in Wahrheit angegriffen, sagte der Papst zu seinen Vertrauten, wenn er auch übrigens gesund sei. Er könne und möge durchaus nicht daran glauben, daß der nordische Held gefallen sei; freilich lasse die unanständige Freude jener Gesandten keinen Zweifel bestehen. Man solle ihm doch die näheren Umstände des unglücklichen Ereignisses noch einmal erzählen; es sei gewiß Mord oder Verrat im Spiele gewesen.
Die Berichte liefen bis jetzt alle darauf hinaus, sagte der Stadtpräfekt von Rom, daß der König gleich im Beginne der Schlacht gefallen sei, möglicherweise durch die meuchlerische Hand eines Fürsten, der in kaiserlichem Dienst gestanden habe. Der König habe in der letzten Zeit Todesahnungen gehabt und sich geäußert, daß ihm die übergroße, fast göttliche Verehrung nicht gefalle, die die Menschen ihm darbrächten.
»Welche himmlische Bescheidenheit an einem solchen Helden!« seufzte der Papst.
Vor der Schlacht habe er eine Predigt angehört und einen Psalm singen lassen, den er selbst nach seinem Geschmack ausgewählt habe. Sein fliehender Geist habe das Heer ergriffen, so daß die verwaisten Schweden den Tag, welcher noch blutiger als der bei Leipzig gewesen sei, gewonnen hätten. Unter den Kaiserlichen selbst sei geflüstert worden, der Friedländer habe einen Pakt mit dem Teufel, der habe den tapferen König zu Falle gebracht.
Kardinal Onofrio, ein Kapuziner, sagte, er habe durch einen Verwandten, der in Geschäften durch Nürnberg gekommen sei, ein Bild des Schwedenkönigs erhalten. Es sei von einem dortigen Künstler gefertigt, der den König häufig gesehen, und er habe es in einen köstlichen Rahmen fassen lassen, der einen Lorbeerkranz darstelle.
Ach, das müsse er sehen, rief der Papst; es sei gewiß ähnlicher als das, welches er kenne.
Er besitze auch eine gedruckte Schilderung des Königs, sagte Kardinal Colonna, die von einem venezianischen Gesandten herstammen solle und die das Zuverlässigste und Gerechteste sein solle, was man über ihn habe. Wenn Seine Heiligkeit es gestatte, wolle er vorlesen: »Der König von Schweden ist das vollkommenste Muster eines Helden, das die Geschichte aufweist, und nach allgemeiner Meinung einem Epaminondas, Cäsar oder Alexander weit vorzuziehen. In seinen Gewohnheiten ist er frugal, kleidet sich ohne Schmuck und Zierlichkeit, verschmäht alles Künstliche und teilt mit dem gemeinen Soldaten die Entbehrungen des Kriegslebens. Er ist weder Säufer noch Fresser, klug, bescheiden, mäßig, gerecht, ebenso kühn im Entwerfen seiner Pläne wie vorsichtig in ihrer Ausführung. Obwohl Lutheraner, haßt er die Katholiken nicht, mit Ausnahme der Jesuiten, welche er für staatsgefährlich hält. Seine Frömmigkeit ist nicht geringer als seine Gelehrsamkeit und Kriegskunst, er liest häufig in der Bibel, weil er der Meinung ist, ein Monarch, dem niemand zu befehlen habe, müsse sich nach den Gesetzen Gottes regulieren.«
»Er ist der außerordentlichste Mann, der je gelebt hat«, sagte der Papst, indem er sich die Augen trocknete. Er überrage in der Tat Cäsar und Alexander, da er ihnen an Tapferkeit und Schlachtenruhm nicht nachstehe, an Tugend und Frömmigkeit aber von ihnen nicht erreicht werde.
»Was sein Äußeres betrifft,« las Colonna weiter, »so stellt er die vollkommene Schönheit des Mannes in seiner Person dar. Seine Brust ist breit, seine Beine sind lang und fest, seine Hände groß, fett und wohlgebildet. In seinem Gesicht fallen außer den blauen blitzenden Augen die starke, gebogene Nase und der freundliche Mund auf. Die Farbe seiner Haare ist ein strahlendes Blond, seine Wangen zeigen die Blüte des Frohsinns und der Gesundheit.«
Er gebe viel darum, ihn gesehen zu haben, sagte der Papst, und er müsse gestehn, daß er zuweilen gedacht habe, es könne dazu kommen. Er erinnere sich, als Kind eine alte Prophezeiung gehört oder gelesen zu haben, es werde einst ein blonder Held aus Norden nach Italien kommen und große Veränderungen herbeiführen. Dem Gustav Adolf traue er wohl zu, daß er, wenn das Glück ihm treu geblieben wäre, die Alpen überschritten und der spanischen Herrschaft in Italien ein Ende gemacht hätte.
In Spanien, erzählte der Stadtpräfekt, wären so viele Freudenfeuer abgebrannt worden, daß die Regierung es zuletzt habe verbieten müssen aus Besorgnis, es möchte im Winter an Holz fehlen.
So hätten sie ja noch Juden genug, mit denen sie einheizen könnten, sagte der Papst. Freilich, setzte er spöttisch hinzu, fände der Frühling dann vielleicht keinen Menschen mehr in Spanien.
Die Kardinäle lachten; es war bekannt, daß der Papst die Rede zu führen pflegte, die den Heiland ans Kreuz geschlagen hätten, müßten Spanier gewesen sein.
*
Matthias Bernegger las verschiedenen Freunden die Laudatio funebris vor, die er auf den Tod Gustav Adolfs verfaßt und in welcher er einen Vergleich mit Alexander dem Großen durchgeführt hatte. Lingelsheim lobte die Eleganz der lateinischen Ausdrucksweise, die moderne Beweglichkeit ausatme, ohne vom Geiste des Altertums abzuweichen, vor allen Dingen aber rühmte er die feine Ironie, mit der Bernegger fühlen lasse, daß in dem Vergleich mit Alexander dem Großen, der die Griechen ihrer Freiheit beraubte, nur ein zweideutiges Lob liege und daß die Deutschen Ursache hätten, den Tod dieses Helden, je mehr sie ihn verehrten, desto mehr als ein Glück anzusehn.
Sicherlich wäre die deutsche Freiheit seiner Unersättlichkeit zum Opfer gefallen, sagte ein anderer Professor, und es frage sich doch, ob die österreichische Tyrannei der schwedischen nicht auf die Dauer vorzuziehen sei. Nach menschlicher Art würde Schweden des Königs liebstes Kind geblieben sein, und er würde Deutschland, das Findelkind, ausgesogen haben, um jenes zu bereichern. Immerhin sei er ein großer Mann gewesen; aber man könne doch nicht wissen, wer nach ihm käme.
Wenn es nur nicht um die Religion wäre, meinte Frau Bernegger. Man könne sich doch nun und nimmer wieder unter das päpstliche Joch beugen.
Nun, sagte Bernegger, es gebe jetzt doch schon ansehnliche Standespersonen, die billig dächten. Wallenstein pflege zum Beispiel, wie hart er auch übrigens sei, die Protestanten nicht zu verfolgen, außer auf seinen Gütern, wo es des Gehorsams wegen geschehe. Der Kurfürst von Trier, der freilich etwas launenhaft und exorbitant sei, nehme ungescheut Protestanten in seinen Dienst, und mit Ärzten, Künstlern oder Sängern pflege man es ohnehin nicht so genau zu nehmen. Vielleicht einigten sich die Geister doch allmählich in einem lichteren Reich, wo man nicht mehr über Namen disputierte.
Zu den Freunden gesellte sich einer vom Rat, der in gutem Vernehmen mit Bernegger stand, und trug ihm an, eine Lobrede auf König Ludwig XIII. zu schreiben. Man habe sich nunmehr zu einem engeren Zusammenhalten mit Frankreich entschlossen, und demnach werde es dem Rat nicht unlieb und undienlich sein, wenn eine Schrift zugunsten des Königs verbreitet werde.
Wenn der Ratsherr ihm mitteilen wolle, was sich zum Ruhme des Königs sagen lasse, antwortete Bernegger lächelnd, so getraue er sich schon, es in gutes Latein zu bringen.
Dafür sei er Professor der Beredsamkeit, sagte der Ratsherr ein wenig empfindlich, ein solcher müsse immer einen Vorrat wohltönender Sentenzen in Bereitschaft haben.
Er könne ja den Sueton zu Rate ziehen, scherzte Lingelsheim, da finde sich schon etwas Passendes.
Der französische Gesandte, sagte der Ratsherr, sei ein überaus feiner Herr, wohlmeinend und aufrichtig, und habe aufs klarste demonstriert, daß der französische König sich keine lieberen Nachbarn wünsche als die deutschen Reichsstädte, die nicht auf Vergrößerung ausgingen, und daß er sie deshalb erhalten wolle. Das sei ein Eigennutz, aus dem er kein Hehl mache. Wegen Handel und Verkehr habe er die besten Zusicherungen gegeben. Es dränge sich jetzt einmal alles unter Frankreichs Fittich, Bayern, Köln, Mainz und Trier, da werde man es den schutzlosen Städten erst recht nicht verdenken können. Allein stehen könne man in dem Kriegsgetümmel, wo sich alle wie Wölfe anfielen, nicht, und von Frankreich habe man zuletzt am wenigsten zu befahren, es sei reich, brauche nichts von den andern, teile vielmehr aus und hasse die Spanier. Endlich deutete der Ratsherr an, daß die Stadt sich für einen solchen Dienst Berneggers, der bösen Zeit entsprechend, erkenntlich zeigen werde.
Das sei freilich nicht zu verachten, seufzte Bernegger, der Ratsherr wisse ja wohl, daß er in zwei Jahren kein Gehalt empfangen habe.
Es müsse sich jetzt ein jeder recken und strecken, sagte der Ratsherr. Sie hätten eben erst beschlossen, bei dem diesjährigen festlichen Ratsmahl ein Gericht weniger aufzustellen und auch mit dem Wein eine gewisse Einschränkung zu tun.
Die Lobrede auf Ludwig XIII. versprach Bernegger zu schreiben; der zunehmende Geldmangel verlangte ohnehin manches Opfer, so gehe es in einem hin, dachte er. Weil wenig mehr gedruckt und verlegt wurde, hatte er selbst eine Druckerei eingerichtet, bei der seine Schüler die Setzer waren; aber er verlor so viel Geld bei diesem Unternehmen, daß er es bald wieder eingehen lassen mußte. Ein Buch nach dem anderen entschloß er sich zu verkaufen und rückte die übriggebliebenen sorgfältig zusammen, damit ihn nicht die Lücke an den Verlust erinnere; aber er brachte die lieben, langjährigen Gefährten und ihre vertrauten Gesichter doch nicht aus dem Sinn. Zu den täglichen Ausgaben, die durch die steigenden Preise der Lebensmittel beständig größer wurden, kamen die besonderen, die ihm eigentümlich waren, wie zum Beispiel der älteste Sohn Keplers, Ludwig, der Medizin studierte, sich bittend an ihn wandte, als er wegen leichtsinniger Schulden in Basel eingesperrt werden sollte. Das Geld, das er dem Manne der Susanne Kepler vorgeschossen hatte, stand auch noch aus, da der junge Mensch nach kurzer Ehe gestorben war und er die Frau, die so bald nacheinander Vater und Gatten verloren hatte, in ihrer Trauerzeit nicht damit ängstigen mochte. Noch weniger Aussicht war, daß er von Ludwig je etwas zurück erhielte, wenn er ihm jetzt aushülfe; denn wie oft hatte er schon Änderung und Besserung in Aussicht gestellt, ohne daß es je über Versprechung und Hoffnung hinausgekommen wäre. Konnte er andererseits den Sohn des großen Kepler, seines geliebten Freundes, im Stiche lassen? Sollte er den Kindern des Mannes gegenüber geizen, der ihn wie die ganze Menschheit so reich beschenkt hatte?
Indem er Ludwig das Geld schickte, schrieb er ihm: Zwei Dinge habe sein Vater im Weltenraum geschaut: das Geheimnis und das Gesetz. Niemand könne ergründen, warum ein so himmlischer Geist zeitlebens im Staube nach der irdischen Notdurft habe ringen müssen; aber er habe einem innewohnenden Gesetze folgend seine Pflicht getan, ohne zu wissen, was es ihm eintrage und wohin es ihn führe, ob es vergeblich und ein Nichts sei. Es tue ein Königssohn nicht freiwillig seinen Purpur von sich, viel weniger solle er, Keplers Sohn, das Erbteil der Tugend von sich weisen. Niemand habe Gott von Angesicht gesehn; niemand wisse den Ursprung des Kampfes und des Leidens, das Deutschland zerreiße, noch sein Ende; niemand wisse, ob, was wir wünschten, unser Glück sei, oder unser Unglück, was wir fürchteten; so bleibe dem gebrechlichen Menschen nur das Gesetz, das ihn durch sein Gewissen heiße, auch ohne Zweck, ja wenn es wäre, auch ohne Liebe seine Pflicht zu tun.
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Der Kapellmeister Heinrich Schütz in Dresden stieg eine schmale, dunkle Treppe in einem baufälligen Hause hinauf und klopfte an eine Tür, die sich endlich so weit öffnete, daß Schütz aus der Spalte die spitze Nase des Pfarrers Grüninger vorstehen sah. In dem Zimmer, das er betrat, stand ein breites Bett, und auf diesem lag der Mann, den er suchte, nämlich der Bassist Kramer, die Zierde und Stütze der von Schütz gegründeten kurfürstlichen Kapelle. Beim Eintritt des Kapellmeisters lachte der Sänger laut und fragte Schütz, wie er ihn denn ausgeschnüffelt habe. Er habe sich hier vor seinen Gläubigern verkrochen, und wenn doch einer da hinaufkäme, so würde er über die Stiege hinunterfliegen, daß er hernach nicht einmal seine Zähne zusammenlesen könnte. Wo denn seine Frau und seine Kinder wären? fragte Schütz, indem er sich mit Zurückhaltung in dem Raum umsah, wo außer dem Bett ein paar alte Kisten als einziger Hausrat standen. Die habe er fortgeschickt, ihm einen Krug guten Weines zu schaffen, sagte Kramer, und sie wüßten wohl, daß sie sich nicht ohne Wein wiederzukommen trauen dürften, sonst würden sie mit Prügeln empfangen. Ob er ihnen denn Geld mitgegeben habe? fragte Schütz. Geld? hohnlachte der Sänger, dergleichen habe er seit Wochen und Monaten nicht in der Hand gehabt, kenne es nur vom Hörensagen. Hoffentlich bringe ihm der Kapellmeister welches, er habe die Hungerleiderei satt. Es wären ihrer viele, die bedürftig wären, sagte Schütz, und auch würdigere; wenn er ihm noch einmal etwas gäbe, so würde er es um Kramers Frau willen tun und auch nur ihr einhändigen, damit es nicht sogleich versoffen würde. »Ha,« rief der Sänger, »sollte nicht diese Kehle, die die göttlichen Töne hervorbringt, mit Malvasier und Burgunder gesalbt werden?« Und in dieser Art fuhr er fort: »O Barbarenmutter, warum hast du mich in diesem Böotien zur Welt gebracht! Aber ich werde ihm den Rücken wenden und dahin gehen, wo man die Musen ehrt. Ich werde Hofsänger beim König von Dänemark werden, der mir die Kehle mit Gold wattieren und jeden Triller in Diamanten betten wird, oder noch lieber, ich werde als ein Stern an den Höfen von Mantua oder Rom aufgehn und mich von den Söhnen des Virgil und Horaz adorieren lassen.«
Hier fing der Pfarrer, der bis dahin teilnahmslos auf einer Kiste gesessen hatte, zu jammern an, wenn Kramer an den päpstlichen Hof wolle, solle er doch lieber stracks zur Hölle fahren, der Teufel selbst sei nicht so häßlich wie der römische Antichrist, und er, der Pfarrer, habe es immer gedacht, daß Kramern die Ehe mit der Katholikin ins Verderben führen werde.
»Schweig, Pfaff, mit deinem Gewinsel!« schrie der Sänger, »hier in Sachsen ist die Hölle, und euer Kurfürst ist der Erzteufel, der sich selber besäuft und seine Diener verschmachten läßt!«
In diesen Kriegszeiten, sagte Schütz, habe mancher fromme Mann keinen Schluck Wasser und kein Stück Brot für seine Kinder. Kramer habe keine Ursache zu klagen. Er, Schütz, habe auf Befehl der Kurfürstin eine Kantate zum Geburtstage des Kurfürsten geschrieben, Kramer solle ihm seinen Part vorsingen. Dabei holte er ein Notenblatt hervor und legte es vor den Sänger auf das Bett hin. »Bewahre Gott Johann Georg, unsern teuren Herrn«, las dieser, in ein wildes Hohngelächter ausbrechend. »So werde ich singen: Bewahr uns Gott vor Hans Jürgen, mög ihn der Teufel bald erwürgen!« und er begann diese Worte nach einer einfältigen Melodie herunterzuleiern.
Während der Pfarrer die Hände rang, lachte Schütz und sagte dann, indem er sich behutsam auf die Bettkante setzte, Kramer solle ihm versprechen, seinen Part ordentlich zu singen, so wolle er ihm sofort einen guten Wein holen lassen und ihm auch ein Sümmlein, soviel er vermöge, vorschießen, das seiner Hausfrau zu verwalten obliegen solle.
Der Sänger knurrte, solches Traktieren und Klausulieren passe ihm nicht, lieber wolle er königlich dänischer Hofsänger werden, so habe er es besser als irgendein Fürst im Reich und könne auf die deutschen Buben und Bettler pfeifen. Er habe Deutschland gründlich und für immer satt, auch Weib und Kinder, die er nun seit sechs Jahren mit sich herumschleife, ohne Dank davon zu haben.
Schütz beachtete dies Gebrumme nicht, weil er einen besänftigten Ton darin spürte, und fragte, ob im Hause jemand sei, den er nach dem Wein schicken könne; worauf der Pfarrer sich von der Kiste erhob und sagte, Schütz solle ihm das Geld geben, so wolle er es um Gottes und Christi willen tun.
»Bruder,« rief ihm der Sänger nach, »bringe kein schlechtes Gesöff, sonst schütt ich es dir über den Kopf, daß sich die Läuse daran vollsaufen.«
Inzwischen, sagte Schütz, solle Kramer die Partitur durchsehen. Der Kurfürst und der Kurprinz würden ihn gewiß remunerieren, er wisse ja, daß der Kurprinz auf seine Stimme versessen sei, wenn er nur selbst Geld habe, so werde er seiner nicht vergessen.
Ach was, sagte der Sänger, die Kunst müsse Salz lecken wie die Ziege, indes der Soldat mit goldenen Tressen einhersteige und mit gemästeten Gänsen und Marzipan gefüttert werde.
Es werde ja nun Friede werden, nachdem der Schwedenkönig gefallen sei, sagte Schütz.
Mittlerweile hatte der Pfarrer Wein geholt, wühlte aus einer Kiste ein paar Gläser hervor und schenkte dem Sänger ein. Dieser ermunterte seinerseits den Pfarrer, er solle nur der Gottesgabe Ehre erweisen, ohne sich vor Schütz zu fürchten; der sei ein gutes Männlein und gönne jedem das Seine; worauf sich Grüninger mit der Flasche auf seine Kiste setzte, die Augen zudrückte und selig lächelte.
Während Kramer seinen Part mit halber Stimme sang, wobei ihm Schütz zuweilen einhelfen mußte, kam die Frau des Sängers mit zwei Kindern an der Hand, bettelhaft gekleidet, mit eingefallenem, sorgenvollem Gesicht, aus dem zwei schön geschnittene, dunkel umschattete Augen schwermütig hervorsahen. Sie begrüßte den Kapellmeister mit einem ernsten Lächeln und einer anmutig würdevollen Verneigung, von dem Pfarrer jedoch nahm sie keine Notiz. Der Sänger bewillkommnete sie laut und zärtlich: »O meine Geduldige, Heißgeliebte, Angebetete! Ach, es ist meine Schuld, daß aus ihr, die den Charitinnen gleich war, ein altes Scheusal geworden ist! Meine Roheit, meine Mißhandlungen, meine teuflische Selbstsucht haben sie so heruntergebracht!«
Nein, fiel der Pfarrer ein, es sei die Strafe Gottes, erstens, weil Kramer ein abgöttisches Weib heimgeführt habe, zweitens, weil er seine Kinder in der Abgötterei aufwachsen lasse. Aber die Frau solle nun endlich ein Einsehen haben und nicht länger mit Beelzebub buhlen, jetzt sei der rechte Augenblick, sich zu bekehren.
Die Frau, die nicht alles zu verstehen schien, antwortete nicht und sah nur mit traurigem Blick den Kapellmeister an, der sie freundlich bei der Hand nahm und, da er wiederum keinen Stuhl entdeckte, zu einer Kiste führte, indem er ihr auf italienisch ermutigend zusprach.
Des Sängers Gesicht begann sich zu röten, und er rief, jetzt wolle er singen, ob Schütz nichts Besseres habe als den wurmstichigen Kanon?
Er habe wohl etwas Besseres, antwortete dieser, was er auf den Tod seines Vaters über einen schönen Spruch aus der Bibel geschrieben habe, nämlich: ›Ich sage euch ein Geheimnis, wir werden nicht ewig schlafen, aber wir werden alle verwandelt werden.‹ Dabei zog er seine Geige hervor, die er unterm Arm in einer Tasche mitgebracht hatte, legte die Noten aufs Bett und begleitete sich, die Melodie mit der Stimme andeutend, auf dem Instrument mit einigen Akkorden. Die Töne schienen langsam und schmerzlich wie aus Gräbern aufzusteigen und gingen dann auf den Worten ›verwandelt werden‹ in eine seltsam verschlungene, auf und nieder wogende Figur über. Nachdem er eine Weile aufmerksam zugehört hatte, begann der Sänger sorgfältig zu singen, so daß seine Stimme weich, voll und gelinde dahinflutete. »Man meint,« sagte Schütz, »man höre das Wasser des Lebens im Paradiese rauschen.« So sei es gut, das mache ihm so leicht keiner nach. Kramer solle ihm nun versprechen, daß er keine fremden Dienste annehmen, sondern in Dresden bleiben und die böse Zeit durch ausharren wolle.
»Um Euretwillen,« schluchzte der Sänger, »um Eurer Heiligkeit und Kunst willen, göttlicher Meister, will ich dableiben. Wie ein Kindlein, wie ein ganz kleines Kindlein an seiner Mutter will ich an Euch hangen. Gedenkt meiner aber auch bei dem kurfürstlichen Fasse und zapft ihm etwas ab, damit ich meine Kehle ölen und geschmeidig halten kann.«
Auf die Bitte der Frau, ihr den Text des Gesanges zu erklären, übersetzte Schütz ihr die Worte; was den Sinn des Ganzen belange, fügte er hinzu, so verstehe er davon vielleicht nicht mehr als sie; aber die Musik gestalte sich ihm zu einem Bilde, daß er sich der Wahrheit zuweilen etwas näher fühle. Sie wisse ja wohl, daß sich die Dissonanzen durch Verschiebung des einen oder anderen Tones auflösten, oder daß man aus einer Tonart wiederum durch Versetzung in eine andere übergehen könne, und allemal sei der Augenblick der Verwandlung von überirdischem Wohllaut begleitet, wie wenn etwa die Töne sich dem Wesen Gottes vermischten, um zugleich wieder in die Welt überzuströmen.
Das sei eine Irrlehre, schrie der Pfarrer, plötzlich ganz betrunken von seiner Kiste aufspringend, eine vermaledeite Sektiererei. Wer von Geheimnissen fasele, sei ein Sektierer und müsse verbrannt werden. Man habe an die Auferstehung des Fleisches zu glauben; so wie man gehe und stehe, werde man am Jüngsten Tage herausgeblasen.
»Willst du schweigen, sächsische Tarantel!« rief der Sänger; »das wäre ein Unrat, wenn wir uns mit unserm schnöden, stinkenden Fleisch in Ewigkeit behelfen sollten. Nein, verwandelt müssen wir werden, das tut dir und mir not, ach, wenn wir nur auf der Stelle gänzlich verwandelt würden!«
Während er so lärmte, trat atemlos und erschreckt die alte Frau ein, der Kramer den Raum abgemietet hatte, und erzählte, es sei ein großes Zusammenlaufen in der Stadt, weil der Ewige Jude sich gezeigt habe, und sie habe ihn auch selbst ganz in der Nähe gesehen. Am Brunnen bei der Kreuzkirche habe er sich zuerst gezeigt, da habe gerade ein kleines Mädchen Wasser geschöpft, und wie es den alten Mann gesehen habe, müde am Brunnenrand lehnend, habe es ihm mitleidig den gemeinen Becher voll Wasser hingereicht. Da habe er den Kopf geschüttelt und es wehklagend angesehen und sei am Stabe weitergegangen, darüber es dem Kinde so gegraut habe, daß es weinend fortgelaufen sei. Entsetzlich sei er anzusehen, langes graues Haar flattre ihm um den bloßen Kopf, er äße und tränke nicht, spräche auch nicht und verstehe keine christliche Sprache. Jedermann sage, das bedeute nichts Gutes, denn der Ewige Jude lasse sich nur sehen, wo er Krieg und Pest und Weltuntergang wittre, in der Hoffnung, dabei das Ende seines Elends zu finden.
Da zugleich von der Gasse ein verworrenes Geräusch heraufdrang, fing der Pfarrer kläglich zu schreien an, der Feind sei da, der Krieg sei in der Stadt, und kroch eilends unter das Bett. Er solle sich schämen, rief ihm der Sänger zu, sich hier zu verstecken und Weib und Kind unbehütet in der Wohnung zu lassen. Ach, die werde Gott schon behüten, jammerte der Pfarrer, er stehe ja den Witwen und Waisen vor; aber die Kroaten verschonten keinen evangelischen Pfarrer, sie möchten ihn doch um Gottes willen nicht verraten. Nein, das könne er nicht leiden, der Pfarrer solle heim zu Weib und Kind, rief der Sänger und suchte, indem er sich herunterbeugte, den Pfarrer unter dem Bett hervorzuziehen, der sich mit beiden Händen daran festklammerte und dazu schalt: Das komme alles von der Bosheit und dem Unglauben der Kalvinisten und Sektierer. Zur Strafe, daß man sie dulde, schicke Gott ein Übel über das andere, man sollte sie doch allesamt umbringen, daß Gott sein getreues Häuflein verschonen könnte.
Indes die beiden Frauen auf den Knien lagen und beteten, die Italienerin leise mit ihrem Rosenkranz, die andere lauter, Gott solle doch die Stadt Dresden, wenn sie es auch verdient hätte, nicht ganz wie Sodom und Gomorrha vertilgen, trat Schütz an das Fenster und sah auf die Gasse hinunter, durch die der fremde alte Mann ging, der der Ewige Jude sein sollte.
In einen braunen Mantel gehüllt, glich die einsame Gestalt dem Stamm einer Weide; wenn er durch die Pfützen schritt, die der Frost mit einer dünnen Haut überzogen hatte, schlug ihm das schwarze Wasser über die Füße. Ein paar Buben liefen in einiger Entfernung hinter ihm her, und in den Haustüren standen Männer und Frauen, die ihm nachstaunten. Vielleicht, dachte Schütz, sei es nur ein vom Kriegselend verschlagener armer Mann, dem ausgestandene Not das Gemüt verwirrt habe, wie das jetzt nicht selten vorkäme. Oder wäre es wirklich der Unglückselige, dessen jahrtausendalte Augen den Heiland der Welt am Kreuze gesehn hatten und den ein Geruch der Verwesung über Wüsten und Meere an diesen Ort gezogen hatte?
In Schützens Seele fingen der Alte, den der Sturm der Zeit über die Erde jagte, die Menschen, die ihm furchtsam nachsahen, die Häuser und das Wasser, das langsam aus den Rinnen tropfte, zu tönen an. Klagelaute wanden sich aus der Schlucht der Gasse um das Kreuz, das unsichtbar die Erde beherrschte, und verschmolzen oben zu Akkorden der Gnade. Wie Blüten von Frühlingsbäumen rieseln, so tauten die Harmonien von dem furchtbar-heiligen Holze, das allen, Sündern und Duldern, Zuflucht an seinem Fuße gab. Dort, so dachte Schütz, indem er die Hände faltete, würde der Ausgestoßene, wer es auch sei, dort würde jeder Suchende und dort auch er, des Kampfes im Schmutz und Staube müde, den Frieden finden.
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