Annie Hruschka
Das Haus des Sonderlings
Annie Hruschka

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[12.]

Heidy hatte die Jalousien geschlossen, saß völlig zum Fortgehen gekleidet am Fenster und spähte aufmerksam durch die Spalten hinab.

Der untere Teil des Villengartens drüben war durch Bäume ihren Blicken entzogen, die Umrisse des Hauses aber konnte sie deutlich erkennen. Zuweilen huschte über den helleren Streifen davor, den der Kiesweg bildete, etwas Dunkles. Das war Barry, der als Wächter die Runde machte.

In einer Viertelstunde mußte der Mond aufgehen. Heidy erwartete ihn mit Sehnsucht, weil jetzt in der Dunkelheit ihr eine an das Haus drüben schleichende Gestalt leicht entgegen konnte.

Freilich – so früh würde ja wohl noch niemand kommen . . .

Plötzlich wurde ihre Tür, die sie nicht versperrt hatte, leise geöffnet und Karls Stimme rief halblaut:

»Fräulein, kommen Sie rasch herunter. Die Gnädige drüben ist aus dem Fenster gestiegen und will offenbar fort.«

Sofort war sie an seiner Seite und eilte die Treppe hinab. Dabei fragte sie mit unterdrückter Stimme:

»Aus dem Fenster? Hast du es gesehen?«

»Ja. Wahrscheinlich wollte sie die Haustür, die vorn liegt, nicht öffnen. Wollen Sie ihr nach?«

»Natürlich.«

Sie hatten den Eingang zum Garten schon erreicht und es war gerade noch Zeit, sich eilig hinter ein Gebüsch zu drücken, denn über die Straße glitt eine weibliche Gestalt und spähte lauschend in den Wirtschaftsgarten hinein.

Als sie nichts sah und alles ringsum totenstill blieb, wandte sie sich wieder ab und schritt eilig die Straße entlang in der Richtung gegen Baden.

Es konnte nur Frau Torwesten sein, obwohl Heidy nur die Umrisse der Gestalt erkennen konnte. Auch sie trug einen langen dunkeln Mantel, der ihre Gestalt ganz verhüllte, und um den Kopf ein mehrfach gewundenes, schwarzes Spitzentuch.

Heidy folgte ihr nicht auf der Straße, sondern auf einem Fußpfad, der unterhalb der Böschung über Rasengrund führte. Als man nach zehn Minuten den Wald erreichte, ging eben der Mond auf. In der Nähe von Baden gab es noch viele Fußgänger, so daß Heidy nicht fürchten mußte, gesehen zu werden, falls Frau Torwesten sich umblickte. Sie war aber offenbar ganz sicher, sich unbemerkt entfernt zu haben.

Heidy hielt im Gehen heimlich Umschau nach dem Geheimagenten, konnte aber niemand vor oder hinter sich entdecken. Nur ein altes Weib sah sie auf der anderen Straßenseite, das dieselbe Richtung einzuhalten schien. Als man aber die hellerleuchteten Straßen der Stadt erreichte, war auch die alte Frau verschwunden.

Es war Kobler also offenbar nicht geglückt, rechtzeitig nahe genug an die Villa zu kommen, um Frau Torwestens Entfernung zu beobachten.

Heidy war der Ueberzeugung gewesen, daß Frau Torwesten, da die Zusammenkunft nicht in Solitudo selbst stattfand, wie sie anfangs vermutet hatte, sich nach irgend einem Lokal in Baden begeben würde, wo sie vermutlich erwartet wurde.

Aber die Meinung erwies sich als falsch.

Frau Torwesten ging geradenwegs auf einen Autostandplatz zu, verhandelte mit dem Chauffeur und bestieg dann sein Fahrzeug.

Heidy, die sich ein gutes Stück hinter ihr befand, blieb vor Schreck unwillkürlich stehen. Wie sollte sie ihr nun weiter folgen? Es standen ja noch zwei Fahrzeuge dort. Aber ehe sie nach Frau Torwestens Abfahrt – und früher durfte sie sich ja nicht hinwagen – eines mietete und wartete, bis angekurbelt war, mußte das erste ihren Blicken längst entschwunden sein. Fassungslos starrte sie hinüber. Frau Torwesten war bereits eingestiegen. Der Chauffeur kurbelte den Motor an. Dabei war es Heidy, als glitte längs der andern Fahrzeuge etwas Gebücktes hin, hielte einen Augenblick bei dem an der Kurbel stehenden Chauffeur an und entschwände dann nach vorne ihren Blicken. Es sah aus wie ein großer Hund. Aber er kam dann an der Vorderseite des Autos nicht mehr zum Vorschein.

Wo war er hingeraten?

Heidy hatte keine Zeit, den Gedanken weiter zu verfolgen, denn zu ihrer unaussprechlichen Erleichterung kam jetzt ein Autotaxi, dessen Täfelchen auf »Frei« stand, die Straße herab und schien auf den Standplatz halten zu wollen.

Durch eine heftige Armschwenkung hielt sie es an.

»Folgen Sie dem Auto dort vorne, welches eben abfährt, so unbemerkt als möglich, wohin es auch fährt! Ich zahle doppelt, ja dreifach, wenn Sie Ihre Sache gut machen! Nur sehen darf man uns nicht!«

Der Chauffeur warf einen Blick nach dem bezeichnten Auto, in dem er nur eine Dame sah und lächelte. »Aha – zwei eifersüchtige Frauen,« mochte er wohl denken. Da legte Heidy, ehe sie einstieg, einem Impuls folgend, die Hand auf seinen Arm und sagte bebend:

»Bitte, bitte, helfen Sie mir, daß wir sie nicht aus den Augen verlieren: Es hängt so viel davon ab!«

Der Mann sah unter dem verhüllenden Lodenmantel und der Schirmmütze weder, ob er es mit einer vornehmen Dame zu tun hatte, noch ob sie schön war. Aber er fühlte das Zittern ihrer kleinen Hand und den flehenden Blick der tiefblauen Augen und empfand plötzlich einen mitleidigen Eifer, ihr zu helfen.

Er schob sie rasch in den Wagen und schwang sich auf seinen Lenksitz.

»Ich werde mein Möglichstes tun, Fräulein. Seien Sie nur unbesorgt. Niemand wird uns sehen.«

Dann ging es fort mit Windeseile dem andern Auto nach, das pfeilgeschwind der Triester Reichsstraße zuflog und dann plötzlich abbog gegen Wien zu.

*

Heidy war noch nie in einem Automobil gefahren. In ihren bescheidenen Lebensverhältnissen wäre ihr dies als unerhörter Luxus erschienen.

Aber seit sie einen Teil ihres bisher ängstlich gehüteten Notpfennigs flüssig gemacht hatte, um Georg Torwestens Verschwinden aufzuklären, rechnete sie überhaupt nicht mehr. Sie dachte auch jetzt weder an die Auslage, noch an das Neue dieser Fahrt, ja nur überhaupt daran, daß sie in einem Automobil saß. In ihr war nur die brennende Angst, das andere Fahrzeug vor sich aus den Augen zu verlieren, und die aufregende Vorstellung: Frau Torwesten fährt vielleicht zu dem Versteck, wo man Georg verborgen hält!

Der Chauffeur machte seine Sache sehr gut. Er hielt sich immer in derselben vorsichtigen Entfernung und mied die Mitte der Straße.

Bald erreichte man die ersten Häuser Wiens. Es ging durch ziemlich belebte Straßen. Heidy hatte keine Uhr bei sich, aber sie hörte halb elf schlagen. Der Stadtteil, durch den sie kamen, war ihr unbekannt. Nach und nach wurden die Häuser niedriger, die Straßen einsamer, die Umgebung nahm einen beinahe ländlichen Charakter an.

Dann wurde es dunkel. Die Laternen hörten auf. Regelmäßig in Felder geteiltes Gartenland breitete sich zu beiden Seiten der schmal und holperig gewordenen Straße aus.

Hin und wieder bemerkte Heidy die Umrisse kleiner Häuschen oder hoher galgenartiger Holzgestelle, die aus der Ebene aufragten. Am Himmel zogen jetzt schwarze Wolken mit silbernen Rändern auf, die zuweilen den Mond verdeckten und alles in Finsternis hüllten.

Der Chauffeur hatte die Entfernung zwischen den beiden Autos vergrößert, da man bei der herrschenden Stille sonst vorne das Arbeiten des Motors gehört hätte. Jetzt lenkte er plötzlich in einen Seitenweg ein, hielt an und sprang ab.

Während er den Motor abstellte, sagte er:

»Ich kenne die Gegend hier. Die vorne können nun nicht mehr viel weiter. Wenn wir ihnen länger folgen, müssen sie uns bemerken. Wollen Sie ihnen zu Fuß nach? Die linke Weghälfte liegt im tiefen Schatten, weil es da innerhalb der Hecke eine Baumschule gibt.«

Heidy stieg aus.

»Wo sind wir eigentlich?«

»Am Ende von Erdberg. Fürchten brauchen Sie sich nicht, Fräulein. Es wohnen lauter Gärtner hier herum, keine schlechten Leute. Oder soll ich mit Ihnen gehen? Die Fahrstraße hört bald auf.«

»Nein danke. Erwarten Sie mich hier.«

»Schön. Dann fahre ich aber noch ein Stück tiefer hinein, denn wenn die vorne wenden, müßten sie meinen Wagen im Vorüberfahren bemerken. Wie lange soll ich warten?«

»Das weiß ich nicht. Vielleicht dauert es lang». Aber ich komme bestimmt zurück. Hier haben Sie einstweilen etwas für die bisherige Fahrt.«

Heidy drückte ihm eine Banknote in die Hand und machte sich eilig auf den Hauptweg zurück.

Das vordere Auto hatte wirklich bereits angehalten. Heidy, die sich im Schatten der Hecke hielt, sah deutlich seine Umrisse und auch die einer weiblichen Gestalt, die daneben stand.

Dann löste sich die Gestalt von der Gruppe und schritt rechts weiter durch einen Gemüsegarten auf ein kleines Haus zu. Das Auto wendete und fuhr langsam zurück, um tiefer unten anzuhalten.

Heidy, die, um nicht bemerkt zu werden, sich so gewaltsam in die Hecke drückte, daß sie fast verwachsen damit schien, sah, wie es ein gutes Stück unter dem Seitenweg, der ihr eigenes Auto aufgenommen hatte, halten blieb.

Als sie sich dann vorsichtig dem Häuschen näherte, in dem Frau Torwesten bereits verschwunden war, bemerkte sie zu ihrem Schrecken plötzlich eine dunkle Männergestalt, die dahinter hervorkam, einen Augenblick wie lauschend stehen blieb und dann in großen Sätzen zur Straße hastete.

Heidy konnte weder ausweichen, noch sich verbergen. Sie war zu Tode erschrocken und glaubte bereits alles verloren.

Es ist sicher einer der Lyttons – man hat mich vom Haus aus gesehen und will nun –

Weiter kamen ihre Gedanken nicht. Der Mann hatte sie erreicht und raunte ihr hastig zu:

»Gehen Sie ja nicht bis ans Haus! Es ist gefährlich. Die Kerle sind sicher zu allem entschlossen! Verbergen Sie sich dort drüben im Glashaus, bis ich wieder komme!«

Damit eilte er im Laufschritt weiter.

Heidy starrte ihm bestürzt nach. Wer war der Mann? Einer der Lyttons sicher nicht!

Plötzlich glaubte sie an der Haustür drüben ein Geräusch zu vernehmen. Da packte sie zum erstenmal Angst, wirkliche Angst. Sie vergaß alles andere und flog in atemloser Hast nach dem Glashaus, das seitwärts im tiefsten Dunkel lag. Es gab dort Bäume und allerlei aufgestapeltes Gerümpel. Der Eingang war zu. Hinter dem Gebäude fand sie einen Zaun, der den Garten von dem anstoßenden Anwesen trennte. Er war schadhaft. Heidy sah hinter ein paar Fässern etwas wie eine Lücke. In diese duckte sie sich.

Dann lauschte sie wieder angestrengt. Es war alles totenstill ringsum bis auf leise gedämpfte Stimmen in dem Gärtnerhaus. Man hatte dort Licht gemacht, aber nicht in der vorderen Stube, deren Fenster dunkel blieben, sondern in einem nach hinten gelegenen Raum, dessen Fenster Heidy von ihrem Versteck aus nicht sehen konnte. Doch merkte sie es an dem Lichtschein, welcher plötzlich auf die hinter dem Haus stehenden Sträucher fiel.

Sie sah sich in ihrem Versteck genauer um.

Ihr gerade gegenüber befand sich die Seitenfront des Hauses durch einen Kiesweg und eine Reihe Blumenbeets von dem Glashaus getrennt, dessen Eingangstür wenige Schritte rechts von ihrem Versteck lag.

Dieses selbst war nach rückwärts, wie sie jetzt erst merkte, offen. Es hatte da einen alten Lattenzaun gegeben, der zwei Besitztümer trennte, im Laufe der Zeit aber so morsch geworden war, daß er an vielen Stellen niedergebrochen war. Dann hatte man ihn von beiden Seiten mit Gebüsch bepflanzt, das aber noch jung war und keine zusammenhängende Hecke bildete.

Was war jenseits des Zaunes? Offenbar wieder eine Gärtnerei. Es beruhigte Heidy außerordentlich, daß sie hier schlimmstenfalls einen Weg zur Flucht hatte. Sie spähte zwischen den Büschen durch. Ja, es gab Blumen- und Gemüsebeete dort und in einiger Entfernung, sogar ein Gebäude, in dem sie Licht zu sehen glaubte. Heidy dachte wieder an den Mann, der ihr die sonderbare Warnung zugeraunt hatte. War er schon hier gewesen, als Frau Torwesten ankam? Oder war es der Agent Kobler, der ihr auf eine noch unaufgeklärte Weise gefolgt war?

Wohin war er gegangen? »Verbergen Sie sich, bis ich wiederkomme,« hatte er gesagt. Aber sie konnte doch nicht tatenlos hier versteckt bleiben. Sie wollte doch Frau Torwesten beobachten und womöglich belauschen.

Es schien ihr nahezu gewiß, daß die Lyttons in dem Gärtnerhaus wohnten. Vielleicht hatten sie die Gärtnerei schon lange zuvor unter falschem Namen gepachtet, um sich dann hier unauffällig verbergen zu können.

Vielleicht war der Besitzer ein Freund von ihnen? Aber dies war ja gleichgültig. Die Hauptsache war, daß da, wo sie sich befanden, auch Georg sein mußte! Bei diesem Gedanken hörte das angstvolle Herzklopfen Heidys plötzlich auf, und die alte kaltblütige Entschlossenheit überkam sie wieder. Nein, sie würde nicht tatenlos hier stehen bleiben. Sie mußte sich Gewißheit schaffen, ob ihre Folgerungen richtig waren und es wirklich Frau Torwestens Vater und Brüder waren, mit denen sie hier heimlich zusammentraf.

Wenn sie sich nun vorsichtig um die Ecke schlich bis zu dem erleuchteten Fenster – konnte sie vielleicht einen Blick hineinwerfen! Oder es stand offen und man hörte, was gesprochen wurde . . . Eben wollte Heidy diesen Versuch wagen, als drüben am Haus eine Bewegung entstand und zwei Personen von rückwärts um die Ecke bogen.

Es waren ein Mann und eine Frau. Heidy erkannte in dieser Frau Torwesten. Dann blieb ihr das Herz vor Schreck fast still stehen. Die beiden kamen schnurgerade auf den Eingang zum Glashaus zu. So nahe an Heidys Versteck, daß sie fast ihren Atem hätten hören können. Da blieben sie auch stehen.

»Hier also habt ihr ihn?« fragte Frau Torwesten, während ihr Begleiter die Tür aufschloß. »Ist er denn da sicher? Wenn er nun um Hilfe ruft?«

»Würde man ihn trotzdem nicht hören, denn die alte Heizanlage ist längst außer Gebrauch, und der frühere Besitzer hat alle Oeffnungen nach außen hin vermauern lassen. Sie bekommt ihre Luft nur aus dem Glashaus, das wir stets verschlossen halten. Uebrigens ruft er nicht. Er ist ganz apathisch infolge der starken Morphindosen, die Vater ihm täglich zweimal gibt, um seine Willenskraft allmählich zu schwächen. Ich denke, in einer Woche tut er alles, was man von ihm verlangt, ohne darüber nachdenken zu können. Schon jetzt fällt ihm das Denken schwer.«

»Und wenn er die Ueberschreibung trotzdem nicht unterzeichnet? Uebrigens, da fällt mir etwas ein, Charles, was eigentlich der Grund ist, warum ich dich bat, mich hierher zu führen und mir die Falltür zu zeigen. Es war nämlich nur ein Vorwand. Vater entschlüpfte vorhin das Wort Testament. Was meinte er damit? Ich merkte wohl, daß er sich nachher ärgerte und sagte, er habe sich nur versprochen. Aber ich kenne ihn. Sage du mir die Wahrheit, Charles! Ich verlange sie!«

»Ich weiß es nicht. Vater und John haben immer Heimlichkeiten vor mir. Ich wußte ja auch nicht, daß es Fred ans Leben gehen sollte. John schickte mich damals einfach zurück, als Fred drohte, er wolle Torwesten selbst aufsuchen.«

»Konntest du es nicht verhindern?«

»Nein. Sonst, bei Gott, hätte ich es getan! Fred war mein Freund und ein guter Kerl. Er hatte dich einfach zu lieb. Aber ich hätte ihn wohl auch auf andere Weise zur Ruhe gebracht.«

»Sie haben uns beide betrogen. Und jetzt – Charles, wenn sie auch jetzt wieder etwas vorhätten, von dem wir nichts wissen? Ich habe die Bedingung gemacht, daß Torwestens Leben nicht angetastet werden darf. Vater versprach mir, sobald er die Abtretung über eine Million unterschrieben habe, ihn nur soweit mit sich zu nehmen, bis er ihn ohne Gefahr für euch frei lassen könne, d. h. bis ich das Geld behoben und wir uns alle in Sicherheit gebracht hätten. Seit Freds Tod verläßt mich eine gewisse Unruhe nicht mehr. Dazu kommt jetzt dieses Wort aus Vaters Mund von einem Testament, das Georg unterschreiben soll. Versprich mir . . .«

Sie verstummte, denn aus dem Innern des offenen Glashauses waren dumpfe Laute ertönt.

»Ist das . . . Torwesten?« fragte sie schaudernd

»Ja, hier rechts ist die Falltür. Willst du hinab zu ihm? Vielleicht könntest du ihm zureden . . .«

»Nein, nein, um keinen Preis! Laß uns lieber die Tür hier wieder schließen und fortgehen!«

Sie trat von der Schwelle zurück um ihrem Bruder Raum zu geben.

Heidy zitterte in ihrem Versteck an allen Gliedern. Sie hatte jedes Wort gehört. Da unten war Georg verborgen und nun wollte man die Tür wieder schließen . . .

Aber es kam nicht dazu. Ein Geräusch am Garteneingang lenkte die Aufmerksamkeit des jungen Lytton plötzlich dorthin

Ein einziger Blick genügte ihm, um die im Mondschein blitzenden Pickelhelme zu sehen, die sich leise in gebückter Stellung dem Hause zuschoben.

»Polizei! Wir sind verraten!« zischte er leise. »Da – kriech hinter das Glashaus und durch den Zaun. Dann durch die Nachbargärten weiter – ich warne die andern!«

Damit glitt er lautlos und pfeilgeschwind gegen den rückwärtigen Hauseingang, während vorne Polizeimannschaft anrückte.

Frau Torwesten sprang so nahe an Heidy vorüber hinter das Glashaus, daß der Saum ihres Kleides sie streifte. Ein leises Knacken von Zweigen, dann war es still. Auch sie war verschwunden.

Heidy achtete zunächst nicht weiter auf das, was drüben beim Hause vorging. Sie dachte nur eines: Er hat die Tür nur zugedrückt, aber nicht verschlossen – der Weg zu Georg ist frei!

Mit einem Sprung war sie am Glashaus, öffnete die Tür und tastete sich vorwärts, bis ihre Hände einen Riegel fühlten.

Es war nicht ganz dunkel hier innen. Durch einen Teil des Glasdaches leuchtete der Mondschein. Der Riegel ließ sich leicht aufziehen, aber die Falltür war schwer.

Einen Augenblick dachte Heidy daran, die Polizeileute draußen zu Hilfe zu rufen. Aber da fielen Revolverschüsse. Die Lyttons wehrten sich offenbar. Man hörte schreien, eine befehlende Stimme, dann wurde wieder geschossen – diesmal von beiden Seiten

Da gab Heidy den Gedanken auf. Wie leicht konnte statt eines Polizisten einer der Lyttons herüberschleichen, wenn sie erst merkten, daß auch das Versteck ihres Opfers entdeckt war!

Sie strengte also alle Kräfte an, und es gelang ihr, die Falltür zurückzulegen.

»Georg – bist du unten?« rief sie hinab.

»Ja.« klang es gleichgültig herauf. »Wer ist da?«

»Ich – Heidy! O, Georg, komm rasch herauf, ich kann die Treppe nicht sehen, du aber weißt sicher, wo sie ist.«

Der Freudenlaut, den sie erwartet hatte, blieb aus. Aber sie hörte Torwestens Schritte unten, und dann kam er die Treppe hinaufgeschlichen. Heidy umklammerte ihn mit zitternden Armen.

»Endlich! Endlich! O, mein Georg!« stammelte sie mit Tränen in der Stimme.

Er blieb immer merkwürdig ruhig.

»Liebe Heidy,« murmelte er und strich wie verwundert über ihr Gesicht. »Du bist hier? Wo sind wir eigentlich? Weißt du, daß ich sehr müde bin? Kann ich mich nicht irgendwo hinlegen und schlafen?«

Er blickte suchend um sich. Sie sah, daß er taumelte.

Heidys Herz zog sich krampfhaft zusammen. So mußte sie ihn wiederfinden, schlaff, matt und gleichgültig – während er früher voll kraftvoller Energie gewesen war! Aber sie hatten ihm ja Morphium gegeben – wer weiß, in welchen Dosen – um seine Willenskraft einzuschläfern! Kein Wunder, daß er ein gebrochener Mann war . . .

Bei diesem Gedanken gab es Heidy einen Ruck. Wie würde er in diesem Zustand den Fragen gewachsen sein, die der Untersuchungsrichter ihm vorlegen wollte?

Drüben im Haus wurde noch immer geschossen. Es schien eine regelrechte Belagerung zu geben. Die Lyttons wollten sich offenbar nicht ergeben.

Torwesten wurde endlich aufmerksam darauf. Er stand da, schwer auf Heidys Arm gestützt, den Oberkörper an ihre Schulter gelehnt.

»Was ist das? Wer schießt?« fragte er verwundert, und Heidy merkte immer deutlicher, daß er schwer sprach, unbeholfen, als habe die Zunge ihre Beweglichkeit eingebüßt.

Da sagte sie entschlossen:

»Kümmere dich nicht darum. Ich werde dir später alles erklären. Jetzt müssen wir vor allem fort. Komm, Georg.«

Sie zog ihn sanft mit sich, erst hinaus, dann hinter das Glashaus. Dort gab es offenbar noch eine größere Lücke im Zaun, da der junge Lytton seine Schwester dahin gewiesen hatte.

Torwesten folgte ihr willig wie ein Kind, das dem stärkeren Willen gehorcht.

Heidy hatte die Lücke bald gefunden, und zwei Minuten später eilten sie aufatmend zwischen den Beeten des Nachbargartens hin. Hier konnte sie von drüben niemand mehr sehen.

Nun galt es nur noch, die Straße zu erreichen und den Seitenweg zu finden, wo Heidy ihr Auto wußte.

Hoffentlich gab es so weit hier unten keine Polizisten mehr . . .

»Oho, wohin denn? Was haben Sie in unserem Garten zu schaffen? Halloh, Karl, da wollen welche ausbrechen,« rief plötzlich jemand dicht vor ihnen, und eine resolute Frauensperson verstellte den Weg. Aber statt zu erschrecken, atmete Heidy erleichtert auf. Das war ja eine bekannte Stimme.

»Frau Göbel! Gott sei Dank! Welches Glück, daß es gerade Ihr Garten ist, in den wir gerieten!« sagte sie. »Sie werden uns helfen!«

»Fräulein Heidy!?« stammelte die Gärtnerin erschrocken. »Wie, um Gottes willen, kommen Sie denn nachts hierher? Und wo man, wie es scheint, da nebenan nach Verbrechern jagt? Mein Mann wollte eben ein wenig nachschauen gehen –«

»Rufen Sie ihn rasch, bitte. Aber ihn allein.«

»Da kommt er schon – mit unserem Knecht . . .« Sie rief laut: »Schick den Ludwig zurück, Karl! Er soll sich am Zaun drüben postieren, wo die Brücken sind. Daß niemand herüber kann. Du aber komm zu mir!«

Sie standen, durch Gebüsch gedeckt, so, daß die Ankommenden sie noch nicht gesehen haben konnten. Heidy hörte, wie die Schritte des einen sich entfernten, die des anderen näher kamen.

Inzwischen sagte Frau Göbel sehr ernst:

»Sie haben gesagt, daß wir Ihnen helfen sollen, Fräulein Heidy. Das will ich gewiß gerne tun. Aber da drüben geht nichts Gutes vor, und wir wissen, daß keine ehrlichen Leute dort wohnen, darum . . .

»Woher wissen Sie, daß Ihre Nachbarn keine ehrlichen Leute sind?« unterbrach sie Heidy.

»Mein Schwager hat uns gestern besucht und dabei zufällig den alten Bremer von drüben gesehen. Er soll die Gärtnerei ja auch erst vor kurzem gekauft haben. Niemand hier kennt ihn und seine beiden Gehilfen. Aber mein Schwager Anton behauptet, er habe den alten Bremer in Amerika gesehen, wo er sich ganz anders nannte und wegen Taschendiebstahls eingesperrt wurde . . . Wir haben es niemand gesagt und uns nur fern von den Leuten gehalten. Jetzt aber – Sie können ja nur von drüben gekommen sein, und Sie haben ja einen Mann bei sich . . .«

»Er gehört nicht zu diesen Leuten, das schwöre ich Ihnen, Frau Göbel. Es ist mein Bräutigam. Die Leute drüben wollten ihm ans Leben, und ich habe ihn gerettet. Sie kennen mich ja – wenn ich für ihn bürge, so werden Sie mir glauben!«

Der alte Göbel war inzwischen herangetreten und hatte Heidys Worte mitangehört.

Er sah seine Frau an und kratzte sich verlegen hinter dem Ohr.

»Alles gut und schön, Fräulein. Sie kennen wir ja . . . aber wir möchten doch auch nicht in Ungelegenheiten kommen. Am Ende können Sie sich selbst täuschen . . .«

»Nein! Bestimmt nicht!«

»Wenn es nachher bekannt wird . . .«

»Das braucht es ja nicht. Ich bitte Sie nur um zwei Dinge: erstens nachher keinem Menschen zu sagen, daß Sie uns hier getroffen haben, zweitens zu sehen, ob die Straße unten frei ist. Das ist die ganze Hilfe, die ich von Ihnen begehre.«

Wieder sahen sich die Göbels zweifelnd an. Heidy drängte flehend:

»Vertrauen Sie mir doch! Er ist krank – er braucht jetzt Ruhe, um sich zu erholen, und die kann nur ich ihm verschaffen! Später werde ich Ihnen alles aufklären, nur halten Sie uns jetzt um Gottes willen nicht länger auf!«

Da sagte Frau Göbel, gerührt durch Heidys innigen Ton:

»So geh', Vater. Sieh' nach, ob die Straße frei ist. Wenn unser Fräulein Heidy so spricht, wird sie wohl wissen, was sie tut. –«

Der Alte entfernte sich schweigend. Nach kurzer Zeit kehrte er mit dem Bescheid zurück, daß draußen kein Mensch zu sehen sei.

Heidy drückte beiden die Hände und führte Torwesten, der das ganze Gespräch mit stummer Verwunderung mitangehört hatte, weiter.

Der Seitenweg, in dem sie ihr Auto wußte, lag ein Stück unterhalb des Gartenausganges. Sie erreichten ihn und das Auto ohne weiteren Zwischenfall.

»Gibt es keinen anderen Weg als den, den wir gekommen sind?« fragte Heidy den Chauffeur.

»O ja. Ich brauche nur hier weiterzufahren. Dann erreiche ich eine Straße, die gegen den Prater zu führt. Aber es ist ein Umweg, wenn wir zur Stadt sollen.«

»Das tut nichts. Schlagen Sie ihn nur ein.« Dann gab sie ihm die Adresse ihres Hauses an.

Sie schob Torwesten in das Gefährt, stieg gleichfalls ein und sank erschöpft in die Kissen. Erst jetzt fühlte sie, wie ermüdet sie war.

Da fragte Torwesten plötzlich, als sich das Auto in Bewegung setzte, ängstlich:

»Wohin bringst du mich Heidy? Ich bin so müde. Ich möchte nach Haus . . .«

»Ja, lieber Georg, wir fahren nach Hause. Dort sollst du ungestört ausruhen.«

Frau Siebert wurde mitten in der Nacht durch ein Klingeln geweckt. Erschreckt fuhr sie in die Kleider und eilte hinaus, denn sie dachte nicht anders, als Heidy sei draußen in den ›Drei Linden‹ ein Unfall zugestoßen. Aber als sie die Tür öffnete, stand Heidy selbst vor ihr und daneben ein Mann, den sie im ersten Augenblick nicht gleich erkannte, denn er hatte den Rockkragen hoch hinaufgeschlagen und eine Chauffeurmütze auf dem Kopf.

»Georg!« rief sie im nächsten Augenblick erschrocken. »Aber wie sieht er aus –! Mein Gott – ist er denn . . .«

»Still,« unterbrach sie Heidy, »es darf vorläufig niemand wissen, daß er hier bei uns ist.« Sie schob ihn in den Flur hinein und schloß die Tür hinter sich ab.

»Er ist krank, du hast ganz richtig gesehen,« flüsterte sie dann der Mutter zu. »Gott gebe, daß man uns wenigstens ein paar Tage Zeit läßt, ihn gesund zu pflegen. Morgen früh will ich zu Herrn Hempel und alles weitere mit ihm besprechen. Jetzt aber müssen wir uns mit Georg beschäftigen.«

 


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