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Durch das Dorf hastete ein Flüstern, es sprang von Tür zu Tür; Gesine wurde, wo man sie erblickte, gerufen. Sie ging einsilbig und mit verdunkelten Augen an den Menschen vorüber. Um ihren Leib schlackerten die Röcke, und die grauwollenen Strümpfe an ihren mageren Beinen schlugen in Runzeln über den Fuß. Ein wenig gebückt ging sie über die Straße und schlich zum Hause der Lee Tews, das jetzt freigegeben war; dort wollte sie Ordnung schaffen, denn die Zeit kam heran, wo Lee wieder Einzug in das Dorf halten sollte.
Gesine traf auf die Fischerswitwe, die behäbig vor ihrer Haustür stand. Sie hatte ein freundliches Lächeln aufgesteckt und rief Gesine an.
»Nun kommt die Lee Tews zurück!« Geheimnisvoll, als hätte sie eine Neuigkeit, flüsterte sie mit Gesine. Die blieb stumm und gab auf die an sie gestellten Fragen keine Antwort, sondern schickte sich an weiterzuwandern; doch die Witwe hielt sie am Arm zurück.
»Ob sie noch so blond und schön ist? Eigentlich war sie immer das schönste Mädchen im Dorf – bescheiden und still. Was meinst du, Gesine, wie das alles gekommen ist?«
Gesine war ungeduldig geworden, trat mit einem Fuß aus dem einen Pantoffel heraus, bückte sich ein wenig und richtete dann ihren Oberkörper auf. Die Bewegung zeigte die Ungeduld, mit der ein sonst geduldiges Lasttier sich gegen eine zu starke Last wehrt.
»Wenn sie zurückkommt, wird sie sich wundern, wie schön du ihr das Haus in Ordnung gehalten hast.«
Mit diesen Worten packte die Witwe Gesine am Arm und wollte sie mit Gewalt in ihr Haus ziehen. Gesine stemmte sich wie ein störrischer Esel gegen den Leib der Frau und blieb stumm. Endlich gelang es ihr, sich loszureißen und ging die Straße aufwärts.
Verächtlich meinte die Witwe: »Da hängt sich diese Tunte an Lee, als wäre sie die Kinderamme; sie kriecht wie ein Wurm über die Erde und läßt sich von jedem Menschen treten.«
Die Straße herauf kam der Netzmacher Peters. Er sah Gesine und hielt sie an, auch ihm wollte sie entschlüpfen, blieb aber stehen, als er sie ansprach.
»Wollte sie sich bei dir anbiedern, Gesine?«
»Wer?«
»Die Dicke – die Witwe, mit der du eben standst!«
Ein Windstoß fuhr durch die Straße, der schlug die Kleider um Gesine, daß ihr magerer Körper sich noch entblößter abzeichnete.
»Nee, Peters, sie wollte nur wissen, wann Lee Tews nach Hause kommt.«
»Die Lee wird sich wundern!« murmelte der Netzmacher. »Erst sind sie über sie hergefallen, jetzt möchte man alles ungeschehen machen. Das ist die Art der Menschen – erst hängt man jemanden an den Galgen, schmeißt mit Steinen nach ihm, brüllt im Chor: ›Kreuziget ihn!‹ Und wenn er nahe am Ersticken ist, dann schneidet man ihn ab, streichelt ihm die Backen und sagt sanft: ›Was du armes Wurm doch alles durch die Niedertracht der anderen erleiden mußtest!‹ und singt Hosianna.«
Peters machte ein nachdenkliches Gesicht und ging mit Gesine wieder die Straße zurück, von wo er gekommen war.
»Hast du den Golpers schon gesehen, Gesine?«
»Nein!«
»Ganz griese Haare hat er bekommen. Die Leute erzählen, er hat den Jan gefischt und wieder über Bord geschmissen und nun will er nicht mehr zum Fang hinaus, er will das Fahrzeug verkaufen.«
Diese Rede hörte Gesine mit offenem Munde an.
»Nun mußt du mich aber gehen lassen, Peters, denn ich will Lees Wohnung herrichten; wenn sie kommt, muß alles sauber sein, so wie früher.« Gesine sagte das mit einer sanften Ungeduld in der Stimme und beugte ihren Oberkörper.
Der Netzmacher wich nicht von ihrer Seite, er blieb bei ihr, unterwegs wurde er gesprächig. Als sie am Hause Lee Hinrichsens anlangten, sang ein Vogel. Sein Lied erklang vom Baum hinten im Garten.
»Sieh, sieh«, meinte der alte Netzmacher, als er den Gesang des Vogels vernahm, »der übt sich auch schon, um der Lee ein Begrüßungslied zu singen.«
Beide lauschten sie dem Schlag des Vogels, es war ein Fink. Schmelzend tönte aus seiner Kehle das Lied, sein Kropf war gebläht, die bräunlichen Halsfedern sträubten sich, und seinen Schnabel hatte er aufgerissen in die Luft gestoßen, und dabei wippte der Schwanz ein wenig auf und nieder. Er verstummte, als die beiden hinter das Haus traten, wippte auf, sprang von Ast zu Ast, spreizte die Flügel und schwang sich mit einem lockenden Ruf in die Luft und entschwand flatternd in die Weite.
Ruhig lag das Haus. Frisch glänzten die Gardinen hinter den hellen Fenstern und ließen einen Blick in das Innere frei. Weder Hefte noch Papiere lagen mehr auf dem Boden, nur frischer Sand leuchtete und ließ ein paar Fußtapfen erkennen, die dem Raum Leben gaben.
Gesine reichte dem Netzmacher die Hand und drehte den Schlüssel im Schloß – knarrend öffnete sich die Tür.
»Ein Fischer wird hier nicht mehr einziehen!« Mit diesen Worten ging Peters.
Gesine trat ein und setzte sich auf die geschnitzte Bank mit blauem Grund und den goldenen Buchstaben. Sie las den Spruch, konnte ihn nicht entziffern und wußte auch nicht, daß er die Bedeutung einer Tragödie in sich barg.
»Morgen werde ich Lee erwarten können!«
Sie sprach mit sich selbst und freute sich, Lee beweisen zu können, daß die Schuld an der Entwicklung der ganzen Angelegenheit nicht bei ihr lag.
Schuld! Dieses Wort stimmte sie ein wenig nachdenklich.
Trug überhaupt jemand Schuld? Auch das konnte Gesine sich nicht beantworten, sie wollte es auch nicht, ihr Denken reichte nicht so weit. Ein feines Lächeln huschte um ihre Augenwinkel.
»Das Haus gehört ihr nun doch noch, denn Harrald Johannsen hat auf die Restsumme des Vertrages durch seinen Brief an das Gericht Verzicht geleistet«, murmelte sie vor sich hin.
Sie wurde wie ein Kind, das mit einer Puppe spielt und seine Schmerzen diesem Spielzeug mitteilt, weil es glaubt, diese Puppe nehme Anteil an seinem Leben und verstehe seine Schmerzen. So unterhielt sich Gesine mit den Stühlen, weil sie glaubte, Lee darin wiederzufinden und die Stühle könnten ihre Gedanken und Worte übertragen. Selbst war sie zu arm an Worten, um einem Menschen ihre Gefühle zu schildern. Ihr fehlte das Anpassungsvermögen an ihre Umwelt. Früher war sie grob, schrie ihre Worte hinaus, weil ihr das wie eine Schutzwehr für ihre Person erschien. Jetzt war sie ins Gegenteil umgeschlagen. Aus ihrer Härte wurde Weichheit, und die Scheu vor den Menschen machte sie anderen gegenüber wortkarg.
Sie schritt zu der Kuckucksuhr, die an der Wand hing, zog sie auf und stellte sie auf die volle Stunde. Der hölzerne Vogel trat aus seinem Haus, verneigte sich steif und rief sechsmal: Kuckuck, kuckuck ...! Als der Vogel verschwunden war, drehte Gesine die Uhr noch einmal auf die volle Stunde und freute sich an diesem kindlichen Spiel.
Ein Schatten, der durchs Fenster fiel, ließ sie das Spiel unterbrechen. Den Schatten warf ein Mann, der am Fenster des Hauses stand und versuchte, in die Stube hineinzusehen.
Als er Gesine dort hantieren sah, trat er ins Haus.
»Lee Hinrichsen hier?« Diese Frage richtete er in der Diele an die erschreckte Gesine.
Sie schüttelte den Kopf, der Ton blieb ihr vor Schreck hinter den Stimmbändern sitzen.
»Wo ist Frau Hinrichsen?«
Gesine kannte den Besucher nicht, konnte sich schlecht an sein Gesicht erinnern und kroch in sich zusammen, denn sie glaubte, jemanden von der Justiz vor sich zu haben; sie machte kurze Schritte nach rückwärts, der Mann folgte ihr und setzte sich auf die Bank in der Diele.
Unschlüssig stand Gesine, sie wußte nichts mit dem Besucher anzufangen, endlich kam er ihrer Hilflosigkeit entgegen.
»Ach, Frau Hinrichsen ist noch nicht zurück?« Er machte dabei eine Bewegung mit dem Kopf, die bedeuten sollte, noch in der Stadt – und Gesine wiederholte mit ihrem Kopf dasselbe Zeichen: noch in der Stadt.
Der Besucher sah sich um und drang mit weiteren Fragen in Gesine.
»Kommt sie vielleicht morgen, oder bleibt sie noch länger?«
»Vielleicht morgen!« Gesine bückte sich und wollte etwas von der Erde aufheben, was gar nicht dalag ...
»Vielleicht morgen!« wiederholte sie, mit einem verlegenen Lächeln im Gesicht, zu dem Fremden hin. Der stand auf, grüßte auf Butenländer Art und ging, wie er gekommen war, lautlos hinaus.
Am Deich begegnete der Mann dem Fischer Golpers. Der blickte auf, erkannte den Gast, er war ihm nur zu genau in der Erinnerung, denn den Schlag des Zimmermannes von der »Niobe« konnte er nicht vergessen, der war zu hart seinem Gedächtnis eingeprägt. Der Zimmermann ging vorüber und tat, als hätte er den Fischer nicht erkannt. Golpers wollte grüßen, vergaß aber sofort den Gruß bei dem Blick, den der Fremde ihm zuwarf.
Als Golpers den Zimmermann hinter sich wußte, drehte er sich um und sah ihm nach. Unbekümmert setzte der seinen Weg fort; er merkte, daß er gemustert wurde, aber das machte ihm nichts aus.
Er ging bis zum Strom und legte sich am Strand nieder Kinder trieben hier ihr Spiel, tauchten im Wasser unter, kamen wieder an die Oberfläche, prusteten wie junge Seerobben, wenn sie sich an den Strand zurückarbeiteten, und wälzten sich zufrieden im Sand. Luft und Sonne hatten ihren Körpern einen bronzenen Überzug gegeben. Borstig standen ihnen die flachsblonden Haare am Kopf. Zuweilen brüllten sie vor Freude und ahmten das Geschrei der Möwen nach, bewarfen sich mit dem weißen Sand des Strandes, begannen einen Kampf, wälzten ihre Körper über die dürftige Grasnarbe hin und tauchten plötzlich wieder im Wasser unter.
Aus ihrem Spiel schreckte sie ein dumpfer, heiserer Sirenenruf eines Dampfers auf. Sie machten seine Flagge aus und stritten sich über die Farben der einzelnen Nationen. Fast alle Zeichen der internationalen Flaggensprache kannten sie. Die war ihnen geläufiger als die Psalmen, die sie in ihrer Schule pauken mußten. Diese Dorfjugend wuchs am Strand wie die jungen Hunde auf, sie stritten und bissen sich, tollten und waren fröhlich, sie kannten eigentlich nur die Furcht vor dem Bakel des Lehrers, aber auch die war nicht allzugroß.
Mit verschränkten Armen lag der Zimmermann und gedachte seiner eigenen Jugend im Dorf. Es war nicht hier am Strand, Menschenhirne und Hände hatten den Strom versetzt, seine Ufer verlegt – alles um des Gewinnes willen.
Im Dunst des Tages sah er den Hafen liegen; es war ein Gerüst von Eisen, das in die Luft starrte. Eiserne Arme drehten sich, hoben Lasten, die die Hände der Arbeit geformt, hier oder in einem anderen Lande, vielleicht viertausend Seemeilen gegen Westen hin oder nach Osten. Stählerne Leiber in allen Ausmaßen schwammen auf dem. Wasser, fraßen die Lasten und trugen sie über See, Tausende von Meilen. Es war der Austausch der Güter der Kontinente.
Fast alle Häfen der Welt hatte der frühere Zimmermann der »Niobe« kennengelernt. Er wußte vieles über sie. Am besten kannte er den Hafen, der sich hier in seinen riesigen Ausmaßen vor ihm erstreckte. Wie ein ungebärdiges, sich nach dem Fraß rekelndes Ungeheuer, das nie voll gesättigt war, sondern immer neue Zufuhr schluckte, kam ihm dieser Hafen vor.
In seiner Jugend hatte er sich nie um das Morgen gekümmert. Jetzt als reifer Mann sah er die Welt anders. Er ging den Dingen auf den Grund und fühlte den Pulsschlag der Zeit. Mit klugem Wissen betrachtete er die Welt. So schätzte er den Giganten nach Zahlen und erinnerte sich, daß durch die Pforten dieses Hafens in einem Monat 3231 Überseeschiffe mit 3 586 942 Tonnen Ladung von Übersee kamen und gingen. Täglich über hundert Schiffe aller Gattungen mit durchschnittlich über tausend Tonnen Ladung im Leib. Er murmelte das vor sich hin und war sich klar darüber, daß die Entwicklung dieses Monstrums noch ungehemmt seinen Gang nahm.
Aus seinem Nachdenken riß ihn ein schrilles Signal, das vom Wasser herübersprang. Vier Fischdampfer schmokten den Strom entlang.
Die Fische hätte er bald vergessen! Querab vom Strand, auf der anderen Seite des Stromes, lag der Fischhafen, umtobt von der Gier der Menschen nach Gewinn.
Wie schnell hatte sich dieses Stück des Hafens entwickelt. Nur ein paar Jahrzehnte hatten dazu gehört. Er konnte sich noch gut der Zeit erinnern, als der erste Fischdampfer die Elbe hinabdampfte. Damals folgten diesem das Gelächter, und der Hohn der Fischer nach, die sich bald zum Fluch gegen sie selbst wenden sollten. Lag nicht der Fluch des Goldes über allem, das ihm untertan war?
Jakob Harm blickte sinnend über das Wasser ... In allen Häfen der Welt sah er den gleichen Kreislauf der Entwicklung der bestehenden Gesellschaft – Aufblühen und Untergang, Nichtstun und Arbeit, Gewinn und Verlust, Reichtum und Not, Sattsein und Hunger, Peitsche und Bibel, Lachen und Fluch, Gesundheit und gemarterte Leiber. Dabei dachte er an den Ausspruch eines Mannes, der auf die vermeintlichen Errungenschaften der Arbeiterklasse stolz war: »... das ist die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft, die in ihrer letzten Phase als reife Frucht dem Sozialismus der Arbeit einst in den Schoß fallen wird.«
Jakob Harm sah entgegen dieser Anschauung den Konkurrenzkampf der Unternehmer unter sich und den geschlossenen Kampf der Unternehmer gegen die Arbeiter, gegen alle und alles, was sich ihrer Herrschaft entziehen, gegen sie auflehnen wollte. Er sah, wie das Unternehmertum den Staat gefügig machte, wenn er ihrem Kommando nicht schnell genug nachkam.
Die Fischereiflottille der Stadt Berlin kam Jakob in den Sinn, die auf Kosten der Gemeinde erbaut war und nicht einmal zum Auslaufen kam, sondern, noch bevor der Konkurrenzkampf der Riesengemeinde mit dem Privatkapital einsetzte, sang- und klanglos dem Machtgebot des Kapitals verfiel. Der Vernichtungswille des nationalen Unternehmertums zeigte sich ihm besonders deutlich, wenn er an die italienische Fangflottille dachte, die vor ein paar Jahren geschaffen wurde, um eigene Fänge ins eigene Land zu transportieren. Sie wurde durch die Machinationen der Fischgewaltigen des Nordens verdrängt. Verrostete Schiffsleiber lagen klagend am Kai. Ohne Nutzanwendung durch ein Machtgebot des Kapitals zum Untergang bestimmt.
»Fluch des Goldes!« Erbittert lachte er auf.
Und unwillkürlich gedachte er des Landes, in das ihn seine letzte Reise geführt hatte, von der er in diesen Tagen erst heimgekehrt war. Es schien ihm, als wenn die Last des goldenen Fluches dort mit starker Hand hinweggewälzt worden war.
Wieder riß ihn der Schrei einer Sirene aus seinem Nachdenken. Er stand auf, ging zur Fähre und fuhr hinüber zum Hafen, hinein in den hämmernden Strom des Lebens und der Arbeit, zu seinem Schiff.
»Ihre Strafzeit ist um, Frau Hinrichsen, Sie werden zu der Minute der Einlieferung auch wieder entlassen werden, das ist ...« Der Direktor der Anstalt wandte sich an seinen Oberinspektor, der neben ihm saß und die Akten vorbereitete.
Der Hauptwachtmeister stand in strammer Haltung, er war der einzige, der offen eine Waffe trug und seine Dienstmütze auf dem Kopf hatte.
Noch jemand außer Lee war im Zimmer, der Pastor, er stand am Fenster und sah angestrengt auf den Hof hinaus.
Lee mußte zwischen allen stehen und sah, ernst in das Gesicht des Direktors.
»Die Stunde der Entlassung ist sechs Uhr und zehn Minuten.«
Der Oberinspektor sagte das mit einem freundlichen Lächeln.
»Da nur bis sechs Uhr abends die Entlassungen vorgenommen werden, werde ich veranlassen, daß Sie kurz vor sechs Uhr die Anstalt verlassen dürfen ...« Der Direktor beugte sich zu den Akten, drehte sich zum Pastor hin, der ließ sich in seinem Nachdenken nicht stören und sah weiter auf den Hof hinaus.
»Natürlich erlaube ich Ihnen gern, noch eine Nacht zu bleiben, wenn Sie hier noch zu schlafen wünschen und nicht über Nacht in Ihren Ort zurückkehren wollen ...«
Lee war verwirrt. Bei ihrem Eintritt in die Anstalt mußte sie Formalitäten erledigen, die wie eine endlose Kette der Qual waren. Bei ihrem Abgang war es die gleiche Kette, nur in umgekehrter Reihenfolge. Sie stand und sah das ewig lächelnde Gesicht des Oberinspektors, der hinter seinem Lächeln und den freundlichen Worten die Peitsche sehen ließ, mit der er regierte.
Dreißig Jahre »Dienst am Strafgefangenen« hatte diesen Mann zu einer besonderen Methode des Regierens geführt.
Lee entsann sich, wie sie einmal in seinem Zimmer vor ihm stand und Erlösung von der Qual einer Arbeit erbat, wie er lächelnd auf ihre Bitte einging und ihr eine noch schlimmere Arbeit zudiktierte und als sie ein zweites Mal mit der gleichen Bitte kam, er lächelnd wie ein Vater seinem Kinde, ihr diese Ungezogenheit vorhielt.
Nein, »faul« sagte er nicht zu ihr, sie empfand die Peitschenhiebe seiner Worte noch heute, wie er ihr wohlwollend die Hand gab und leise streichelnd sagte: »Recht undankbar sind Sie meiner Güte gegenüber, aber es geht nicht, denn ich darf mit Ihnen keine Ausnahme machen ..., wo soll es hinführen, wenn jeder dreimal die Arbeit wechseln wollte ... Krank macht sie das? Unsinn! Bei uns wird niemand durch die gerechte Verteilung der Arbeit krank. Der Arzt hat Sie für diese Arbeit fähig gehalten – und nun bringen Sie ein wenig Energie auf – dann geht alles.«
Sie sah sich wieder in ihrer Zelle über die schmutzige Arbeit gebeugt und machte die gleichen Bewegungen, zehnmal sechzig Minuten, Tag um Tag.
»Wünschen Sie zu bleiben oder entlassen zu werden ...«
Diese Worte des Direktors rissen Lee aus ihren Gedanken.
»Nein, danke, ich möchte entlassen werden.«
Jetzt drehte sich der Pastor um. Er sprach in einem geschraubten Ton zu ihr. Seine Redeweise, wie auch seine Predigten waren zum Gelächter der Insassen dieses Hauses geworden.
»Möge der Herr Sie behüten und Sie nicht mehr vom Pfade der Tugend abweichen lassen. Es war eine große Sünde, meine Tochter, die Sie auf sich geladen haben. Der Herr hat Rechenschaft von Ihnen gefordert. Ich hoffe, Sie sind in sich gegangen und haben gesühnt?«
Es fiel Lee schwer; auf diese verlogenen Worte eine Erwiderung zu geben, darum blieb sie still, jedoch ihre Gedanken gingen zurück auf eine Zusammenkunft in ihrer Zelle, die sie mit diesem Manne hatte, und ihre Augen wurden groß.
»Sie meinen, der Herr soll mich behüten, Herr Pastor? Wissen Sie, ich habe diesen Schutz in all der Zeit, die ich hier verbracht habe, vergebens gesucht und auch bei Ihnen.«
Alle vier sahen Lee an, diese Antwort an den Pfarrer hatten sie von dieser Frau nicht erwartet.
»Wir haben über das, was der Herr über uns verfügt, nicht zu rechten, meine Tochter, dieses Haus ist ein Teil der irdischen Gerechtigkeit, in der die Verfehlungen an den Geboten unseres Gottes gesühnt werden sollen. Wir sind allzumal Sünder vor dem Herrn aber wir befleißigen uns, hier der Herr Direktor, der Herr Oberinspektor und ich, allen Sündern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.«
Er drehte sich wieder dem Fenster zu, dort sah er ein anziehendes Bild. Draußen auf dem Hof arbeiteten ein paar weibliche Gefangene an einem Blumenbeet. Sie standen tief gekrümmt, und ihre unteren Glieder waren bis zu den Schenkeln oberhalb der Kniekehlen entblößt.
»Hatten Sie über irgend etwas in der Anstalt zu klagen?«
Der Direktor spielte während dieser Frage mit den Akten, sein Gesicht war korrekt, keine Miene stand darin, aus der man hätte etwas lesen können.
»Haben Sie noch einen Wunsch?« fragte der Oberinspektor lächelnd.
»Nein, keinen ...? Nun, dann wünschen wir Ihnen, daß der Aufenthalt in dieser Anstalt die schwerste Lehre in Ihrem Leben war. Sie werden an der Kasse alles noch Notwendige erledigen, und nun gehen Sie mit Gott.«
Der Direktor verneigte sich, Lee wurde hinausgeführt.
»Eine einfache Frau«, meinte der Oberinspektor.
»... die die schwerste Sünde wider Gott begangen hat«, sagte der Pfarrer.
»Diese Fälle mehren sich in erschreckender Weise. Allein in meiner Anstalt sind dreißig Prozent aller weiblichen Strafgefangenen Übertreterinnen des § 218«, fiel der Direktor ein.
»Meine Herren, ich danke Ihnen; damit wären wir wohl für heute fertig.« Langsam verneigte sich der Direktor vor seinen nächsten Mitarbeitern, dem »Seelsorger« und dem Oberinspektor.
Gleich flatternden, lahmen Vögeln leuchteten im Gang zum Direktionsgebäude die Lichtsignale auf, die Wärter eilten auf ihre Stationen, und Lee ging über Treppen und Gänge das letztemal in ihre Zelle, die Tür schloß sich hinter ihr, sie holte tief Luft und setzte sich. An ihrer Kleidung sah sie entlang, ein dumpfer, modernder Geruch entstieg ihr.
Unter ihrem Fenster stand eine Linde, schräg schien ein Sonnenstrahl durch das Gitter, er tanzte im Raum, leckte an den Wänden entlang, und Milliarden von Staubteilchen irrten im Licht, sie senkten sich, stiegen auf, fielen zur Erde und bewegten sich dort entlang. Hohl schlug eine Glocke an, Lee wanderte ihre letzten Minuten in der engen Zelle auf und ab, dabei ergriff sie die Angst vor der Freiheit. Der Lärm des Tages war ihr fremd. Monotoner Gesang fraß sich an ihr Ohr, sie horchte auf. Düster klang es, in den Tönen schwang die tiefe Traurigkeit dieses Ortes mit. Bald lag alles hinter ihr.
Ein Schlüssel drehte sich im Schloß, die Tür öffnete sich, sie trat hinaus, ging über den Hof; Rufe schallten ihr nach, sie hörte nicht darauf. Eine unsinnige Angst trieb sie vorwärts, das letzte Tor erst hinter sich zu haben, und eine neue Angst stieg in ihr auf, die Angst vor der Straße. Die lag vor ihr, lang und schmal. Es schien ihr, als sollte diese Straße kein Ende haben. Tot war es um sie, erst am Ende der Straße begann das Leben. Sie ging müde zum Bahnhof.
Scham hatte sie erfaßt, Scham, die an Stelle des Gedrücktseins und der Furcht getreten war. Sie zählte die Schritte, die sie zurücklegte, plötzlich kam ihr die Besinnung, daß sie diese Angewohnheit der letzten Monate ablegen konnte. Sie hob den Kopf und ging aufrecht vorwärts.
Früh hatte Lee die Stadt erreicht, von der sie zu ihrem Dorf gelangen konnte, und entstieg dem Zug. Sie sah, wie sich über ihr die Bogen der Bahnhofshalle kühn über die Gleise schwangen; diese Kühnheit im Schwung des Eisens gab auch ihrem Körper einen Halt. Sie reckte ihren Leib empor und schüttelte die unsichtbare Last von sich ab. Die Luft, die sie umgab, war freier als die am Ort ihres letzten Aufenthaltes, und tief sogen die Lungen diese Freiheit ein. Die Gesichter der Menschen studierte sie, um zu sehen, ob sich in deren Zügen Befremdung oder Verwunderung widerspiegelten. Lee dachte, man müsse ihr die Qual des letzten Jahres ansehen.
Doch niemand kümmerte sich um sie, die Menschen hasteten an ihr vorüber, sie waren mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt und hatten ihre eigenen Sorgen. Im großen Strom der Reisenden tauchte Lee unter, sie fühlte sich frei, verließ die Halle des Bahnhofs und wanderte planlos durch die Stadt. Den Genuß des Morgens wollte sie auskosten, und sie ließ sich durch die Straßen der erwachten Stadt treiben.
Ihre Augen erfaßten das Leben anders, als sie es bisher gesehen hatten. Das, was sie jetzt wahrnahm, war nicht eine einheitliche Stadt, sondern es waren Städte, die eine große Stadt ausmachten. Deutlich schieden sich die Grenzen der einzelnen Gebiete, jeder Teil hatte sein eigenes Gesicht, jeder Komplex trug ein eigenes Wesen zur Schau.
Düstere Straßen, in denen die Bewohner genauso dunkel einhergingen, wechselten mit freundlichen Gegenden ab, wo die Gebäudefronten hell in den Tag grüßten.
Eng drückten sich in gekrümmten Winkeln schmalbrüstige Häuser aneinander. Es sah aus, als neigten sich vom bedrängten Alter die Dachfirste wieder der Erde zu, als wollten sie in sie hineinwachsen.
Durch Villenviertel zog sie, wo die Paläste im Grün der Gärten lagen, an denen ein Fluß vorbeiplätscherte. Grün grenzte ein Gürtel von Parks diesen Teil der Stadt ein. Verschwiegen, wie die Bewohner dieses Stadtteils waren, lagen die Straßen. Dann kam sie in eine Gegend, wo die Gebäude sich wuchtig emporblockten. Steinernen Würfeln gleich, waren die Quader übereinandergeschichtet.
Bogen überbrückten die Straße und verbanden die Gebäude miteinander. Protzige Würde des Besitztums strahlte von ihren Fassaden nieder.
Lee blieb stehen, die Gewalt dieser Gebäude bedrückte sie, dann las sie die Schilder: »Bank« und »Börse«.
Quadratisch abgezirkelt lag dieser Block. Beim Umgehen dieses Quadrates tanzten Zahlen in ihrem Gehirn auf, und sie dachte an Harrald Johannsen. Sie spuckte aus, denn aus ihrem Magen drängte eine bitterliche Flüssigkeit hoch. Diesen Teil der Stadt umschritt sie noch einmal. Dicht dabei standen Kirchen. Drei. Ihre spitzen Türme stießen wie Nadeln in die Luft. Diese Türme ragten wie Schwurfinger zu Ehren der Unantastbarkeit des Besitzes in den Himmel. Von ihren Spitzen blinkte die Kraft des Goldes in den Tag.
Alle Macht, alle Pracht, alles Elend und alle Not gehen von hier aus, hier von der Macht des Goldes, dachte Lee, dann schritt sie über einen weiten Platz. Die Straßen verengten sich, sie schoben sich zusammen. Die Menschen drängten aneinander vorbei, Wagen jagten dahin, Lärm tobte über allem. Ewiger. Schatten lagerte über diesen Straßen, die Sonne bezwang mit ihrem Licht nicht die Kühle und das Schwarz des Viertels. Immer belebter wurde die Straße, hastiger eilten die Menschen dahin, plötzlich schob sich alles ineinander, die Menschen und die Wagen. Brodelnder Lärm stieg an, aus den Tiefen der Straße wuchs gewaltiges Leben. Plötzlich wurde Lee von einem Strudel der Menschen erfaßt und mitgezogen.
Schwarz wogte alles um sie her, und Menschen mit ernsten Gesichtern marschierten; dann hörte sie Gesang, der wuchs an und beherrschte die Straße. Fahnen sah sie im Zug, ihr Tuch leuchtete dunkelrot, wie über die Erde geronnenes Blut Erschlagener. An ihr vorüber marschierten endlose Züge mit dem Links im Schritt.
Links, links, links! hämmerte es in ihrem Ohr, es war der Marschtritt der Kolonnen. Dann wieder schlug flammender Gesang um sie, sie hörte die Melodie und lauschte dem Text des Liedes, konnte ihn aber nicht erfassen.
Plötzlich schien ringsum die Erde zu beben, ein scharfer Ruf glitt über die Menge; er gellte wie ein langgezogener Schrei aus Not, und aus allen Kehlen zugleich scholl es: »Nieder! Nieder! Nieder!«
Immer neue Kolonnen rückten heran. Links, links, links! hämmerte es in ihr weiter. Links ist der Schritt, links, links, links! Lee sah Frauen im Zug, die marschierten wie die Männer, mit dem gleichen Ernst; sie trugen vor ihrem Zug her ein breites Plakat mit der Aufschrift:
Nieder mit dem Gebärzwang!
Hinweg mit dem § 218!
Dieses Plakat zog Lee in seinen Bann! Unbewußt faßte sie Tritt und marschierte mit, sie verspürte weder Hunger noch Durst, nur ein wunderbares Gefühl durchfuhr sie, sie fühlte sich frei und geborgen, diese Masse stand wie ein Schutzwall um sie. Erst oberhalb des Hafens löste sie sich vom Zuge ab. Sie fragte nicht, was dieser Zug bedeutete, sie kümmerte die Minute nicht, sondern sie stand still und ließ die Menge an sich vorüberziehen. Dann wandte sie sich aufwärts der Straße zu und wollte in ihr Dorf.
Am Eingang einer breiten Allee blieb Lee betroffen stehen. Bunt und grell schrie Reklame von den Häuserfronten. Lee befand sich in dem Viertel der Stadt, das von der Vergnügungsindustrie beherrscht wurde.
Tausend Quellen lockten mit verlogenem Tand zum Eintritt in eine dämmernde, alles versprechende Tiefe. Frauen glitten an ihr vorüber, die hatten Gesichter, bunt wie ein Gemälde, und Kleider, schreiend in Farbe und im Schnitt wie ein Karnevalsgewand.
Unwillkürlich verglich sie diese Umgebung mit dem Zug der Menschen, den sie soeben verlassen hatte, und hetzte die Straße entlang zum Strom hinunter, um zur Fähre und ihrem Dorf zu kommen. Da hörte sie deutlich ihren Namen rufen. Sie drehte sich um und sah Jakob, den Zimmermann, der mit langen, wiegenden Schritten auf sie zukam.
»Guten Tag!« sagte sie leicht und erfaßte seine Hand.
»Jetzt habe ich Sie doch erwischt.« Er lachte breit und nahm ihren Arm, aber sie entzog sich ihm.
»Hallo, Deern, so nicht«, und er klopfte ihr lachend auf die Schulter, »ich hab dich doch verheiratet, und mein alter Freund Hinrichsen würde wohl gar nichts dagegen haben.« Mit diesen Worten setzte er sich in Bewegung und zog sie sanft neben sich her, durch die schmalen Straßen des Hafenviertels.
Aus den Kneipen zogen schlechte Luft und widrige Lieder heraus. Lee fühlte sich durch die Art des Zimmermanns betroffen, aber sie konnte sich dem Zwang seiner Persönlichkeit nicht entziehen.
Sie standen bei den Fischhallen. Ruhig lagen die Gebäude langgestreckt im Licht der Sonne. Wie ausgestorben war alles Leben, nur am Ponton schaukelten ein paar Fischkutter mit hochgezogenen Kurren zwischen den Masten.
Lee wollte fort, diesem Ort entfliehen, die Fahrzeuge erinnerten sie an alles Vergangene, und sie bat Jakob Harm, daß er sie entlassen möge. »Ich will ins Dorf zurück«, bettelte sie leise.
»Das Dorf hat Zeit, das wecken Sie doch nicht aus seinem Schlummer, dazu gehört eine stärkere Faust und eine andere Zeit. Dieses Dorf liegt abseits vom Wege der großen Heerstraße ..., lassen Sie uns ans Meer fahren!«
Er stand vor ihr und lachte sie an, dann nahm er ihren Arm und ging zu den Pontons. Sie bestiegen ein Boot, das hinaus ans Meer fuhr. Ja, das Dorf sollte warten!
Vor ihnen weitete sich der Hafen, wie ein Filmband rollte er an ihren Augen vorüber, als sie am Verdeck des Dampfers standen. Die Ufer des Flusses ebbten langsam zurück, der Strom wurde breiter, seine Wellen trugen sie höher, und vor ihnen lag frei das Meer. An ihnen vorbei zogen Kutter und Boote, flinke Barkassen und große Dampfer.
»Sehen Sie voraus, Lee Hinrichsen, da kommt ein Motorschiff, auf, die letzte Errungenschaft der Technik.« Immer näher kam das Schiff, es wuchs größer aus dem Wasser heraus, rauchlos zog es heran.
»Hören Sie, Musik!«
An Deck wurde es lebendig, alles drängte nach Backbord zur Reling.
Die Klänge, die vom Motorschiff herüberzogen, erschienen Lee bekannt, sie hatte sie irgendwo gehört ... Da entsann sie sich, ihre Augen wurden groß, sie sah den Zug der marschierenden Gestalten, den Zug der Arbeit, und sie summte die Melodie.
Jakob Harm sah sie an, denn ihr Mund, der leicht geöffnet war, sang leise die Melodie. Ihre Augen leuchteten.
Da brummten drei tiefe Töne über das Wasser, querab vom Dampfer, mit dem sie auf der gleichen Höhe waren.
Dreimal strich die Flagge, am Heck dieses Dampfers nieder und schwebte wieder auf. Fröhliche Menschen winkten, sie riefen, ihr Ruf klang unverständlich über das Wasser.
Lee sah, wie sich die Flagge wieder entfaltete, sie wehte knatternd im Winde und hatte die tiefrote Farbe geronnenen Blutes Erschlagener. Dieses Rot leuchtete, es wehte der Stadt entgegen, die im Dunst hinter ihnen lag.
»Was ist das für eine Flagge, was für ein Schiff?«
Lee fragte es mit verhaltenem Atem.
Der Zimmermann beugte sich zu ihr hinab und sprach ruhig, aber fest und voller Bedeutung: »Ein Schiff, das aus dem Lande der befreiten Arbeit kommt! Sie müßten dieses Land kennenlernen, so wie ich es gesehen habe. Durch tausend Qualen ist sein Volk gegangen. Es wurde von Stürmen gepeitscht. Schließlich erhob es sich, schüttelte ein Jahrhunderte währendes Joch der Knechtschaft ab, eroberte sich die Freiheit und baute sich eine neue Welt, die es mit zäher Energie gegen alle Angriffe verteidigt. Heute steht dort als oberstes Gesetz das, was wir hier vergebens suchen – der höchste Schutz für Mutter und Kind.«
Er nahm Lees Arm und drehte sie mit dem Gesicht nach Osten zu. Ein feiner Wind kämmte ihr blondes Haar zurück.
Vor ihnen lag das Meer, groß und frei. Es hob und senkte sich in der endlosen Weite. Segel der Fischkutter erschienen sichtbar am Horizont. Die Sonne war über den Mittag hinaus nach Westen zu gegangen. Klar im Äther, lichtlos blau, unendlich weit lag das Meer. Lee hob sich weit vorn am Bug des Dampfers wie ein Strich gegen Meer und Luft ab. Neben ihr sprach Jakob Harms, der Zimmermann, bewegt von den Eindrücken seiner letzten Reise. Ein Leuchten kam in seine Augen, als seine ausgestreckte Hand nach Osten wies.
»Von dort kommt das Licht! Dort ist Sonnenaufgang, von dort kommt die Erlösung für uns alle!«
Mit innerer Bewegung lauschte Lee. Die Worte des Zimmermanns hatten in ihrem Ohr einen besonderen Klang. Zu ihm aufblickend, folgte sie der Richtung seines Armes. Auf ihrem Gesicht spiegelte sich ein freudiger Glanz. Vergessen war die Qual der Vergangenheit, der grau begonnene Tag wurde hell in ihr. Das Fieber einer ungewissen Zukunft war von ihr gewichen.
Die Kraft, die aus Jakob Harms Worten klang, gab ihrem Denken eine neue Richtung – sie fand die Antwort auf Fragen, unter deren Zwang sie in den letzten Jahren gelebt hatte.
Was in ihr geschlummert hatte, brach auf. Jetzt erschien ihr das Leben in einem anderen Licht. Nicht ziellos lag vor ihr die Zukunft. Mit neuem Mut schritt sie ins neue Leben.
* * *