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Wir waren nun drei Wochen lang in Hinterhornbach, in einem der finstersten Winkel des heiligen Landes Tirol, 1200 Meter hoch über dem fernen Meer.
Wir sind auf die Berge gestiegen und sind auch wieder hinabgestiegen, wir haben dort droben die seltsam stille Luft ein- und ausgeatmet und dabei das Wild im Walde geärgert. Das waren schöne Ferien!
Nun sind sie aber leider zu Ende und so kehren wir halt mit einer gewissen Wehmut, erfrischt und beruhigt in unsere Stadt zurück. Und diese Rückkehr ist ziemlich kompliziert. Zuerst mußten wir ein Stück laufen, jetzt sitzen wir in einem hohen Wägelchen, drunten in Stanzach kommt dann die Motorpost und erst in Reutte die Eisenbahn.
Es ist Nacht, die Straße ist noch vom K. K. Ärar angelegt worden, herrlich und halsbrecherisch – immer am oberen Rande einer Klamm entlang, tief unter uns tobt der Hornbach, aus dem schwarzen Walde wächst das silberne Grau der Felsen in den Mondhimmel und das alles zusammen ist direkt wildromantisch.
Und während wir so ins Lechtal hinunterfahren, fällt es mir immer wieder ein: Hinterhornbach, zwölf Häuser und dreiundachtzig Seelen.
Und ich muß immer wieder an diese Seelen denken und zwar hintereinander. Jede einzelne Seele tritt vor mich hin und fragt mich: »Erinnerst du dich noch an mich?« »Natürlich, du bist doch der Pfarrer, der den anderen Seelen das Tanzen verbietet, und der erst vorgestern eine weibliche Seele von der Kanzel herab verdonnerte, weil sie mit bloßem Hals auf dem Felde gearbeitet hat« – und nun winkt mir eine alte Seele zu, eine richtige Urgroßmutter, die in der Kirche auf der Hurenbank sitzen muß, weil sie vor fünfundsechzig Jahren ein außereheliches Kind neben ihren vierzehn ehelichen bekommen hatte – ihre Enkelkinder haben schon längst kirchlich geheiratet, aber die Ahnfrau muß auf der Schandbank beten. Der Einzige, der nicht beten will, das ist der verzweifelte alte Lehrer, der sich völlig versoffen hat, und dessen Frau Ibsen liest, um den Pfarrer zu ärgern – – und jetzt fällt mir ein abgestürzter Tourist aus Geislingen ein, dessen Leichnam in einer Scheune verweste, weil die Hinterhornbacher für die Bestattungskosten nicht aufkommen wollten, und auch an den kleinen Gemeindestier Sebastian muß ich nun denken, dem man heimlich Nähnadeln ins Heu gestreut hatte, um den Bürgermeister zu ärgern. Man weiß es noch heute nicht, wer dies tat, ein jeder meint, der andere sei es gewesen – sie kennen sich nämlich genau, weil sie leidenschaftlich gern spionieren. So hat jedes Haus sein Fernrohr, durch die sie sich schadenfroh gegenseitig in die Häuser zu schauen trachten. Und weil die Hinterhornbacher so boshaft sind, drum haben sie auch ein boshaftes Gespenst, namens Buhz. Der Buhz schleicht sich an die Höfe heran, reißt den Leuten den Hut vom Kopf, zerbricht Brücken, ruiniert das Vieh, verdirbt das Heu, versperrt durch Steine und Stämme die Wege und glaubt auch nicht an den lieben Gott.
»Den wievielten haben wir denn heut?« fragte plötzlich jemand im Wagen. »Den 15. März 1930«, sagte ich.