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Ueber dem Pflaster des Markusplatzes lag eine dünne Schneeschichte, nicht dicker als ein kleiner Finger, aber es war doch wirklicher, weißer, nasser Schnee, eine Seltenheit, die sich 112 dort nicht jedes Jahr ereignet. Die Tauben flatterten in unruhigen Scharen her und hin, schrieben dort und da mit trippelnden Füßchen ihre Hieroglyphen in die kühle Decke, schlugen mit den nassen Fittichen um sich und huschten dann in einem Saus unzufrieden wieder empor, um auf den Dächern der Prokuratien ein behaglicheres Unterkommen zu finden. Die erwachsenen Venezianer gebärdeten sich nicht viel anders, als wäre ihre sonst so sonnige Stadt über Nacht an den Nordpol versetzt worden; die Schulkinder dagegen jubelten und scharrten mit roten Händen den Schnee zusammen. Aber er ballte sich nicht und das gehoffte Vergnügen floß ihnen alsbald als trübes Wasser zwischen den Fingern davon. Da machten auch sie verstimmte Gesichter. Die Fremden schauten auch nicht heiter drein. Da, wo der Schnee vom Wind in Ecken und Fugen gejagt, sich etwas massiger ansammelte, wie in den Winkeln zwischen den bunten Säulchen der Markuskirche, in den Ornamenten an den bronzenen Fußgestellen der drei Kirchenmaste, in der Ecke neben dem Eingang zum Dogenpalaste, wo im Relief sich byzantinische Kaiser in die porphyrenen Arme fallen, standen in tiefsinnige Betrachtung verloren, die roten Nasen, die blauen Schleier, die gewürfelten Plaids mit schmelzenden Flocken betupft, die Engländer und Engländerinnen und prägten sich das außerordentliche Phänomen ins Gedächtnis, daß sie in Venedig schneien sahen.
Auch Emma Leichtfuß war wenig erbaut von dieser Ueberraschung. Um solch ein Wetter zu finden, war sie nicht über den Karst und die Adria gefahren. Uebellaunig, wie sie abgereist, war sie angekommen. Italien zeigte bei dieser Temperatur seine verdrießlichen Seiten. Man war aufs Hotel angewiesen, wo man wenigstens der internationalen Erscheinung eines warmen Ofens froh wurde. Aber das ewige Kommen und Gehen in dem vielbesuchten Gasthof, das immer wiederkehrende Chorsingen größerer Liedertafeln vor den Thüren während der Mahlzeiten, die ungewohnte Tageseinteilung, der Mangel an Raum und Komfort und hundert andre Dinge wirkten eher schlimm als bessernd auf ihre angegriffenen Nerven, und sie zweifelte daran, daß sie sich hier eingewöhnen und lange ausdauern werde.
Aber schon am andern Tage schien die Sonne und am dritten nach ihrer Ankunft mieteten Leichtfuß' ein möbliertes Stockwerk in einem der kleineren Palazzi, der als maison meublée für Fremde eingerichtet war, und nur ein wenig weiter hinauf am großen Kanal, nahe beim Ponte Serra lag. Dort konnte sich die kleine Familie bequemer ausbreiten.
113 Ueber Robert kam es wie ein unverhofftes Gefühl des Behagens. Er stöberte den halben Tag in Kirchen und Palästen, auf Straßen und Plätzen herum und verbrachte die andre Hälfte mit seinem Kind in den giardini pubblici oder in seiner Gondel.
Emma machte zu diesem Treiben anfangs gute Miene, sie ließ sich von ihrem Gatten, der über dem Entzücken seiner Künstlerseele beim Wiedersehen alter Bilder und Häuser sich selbst zu vergessen schien, geduldig bald dorthin, bald dahin schleppen; aber man sah's ihr an, daß sie sich dabei langweilte und ihre gewohnte Berliner Geselligkeit je länger, desto empfindlicher vermißte. Die Theater boten wenig Erfreuliches, immer dieselben oft genug gehörten Opern von Bellini, Verdi oder noch Schlimmeres. Und die Abende daheim im tête à tête mit ihrem zeichnenden Gatten dünkten sie noch weniger ergötzlich. Was ihr nur eingefallen war, in dieser Saison ihre gewohnte Gesellschaft und deren Vergnügungen zu fliehen!
Erna? . . . Das Kind hätte sich im Berliner Tiergarten gerade so gut erholt. . . . Ihre Nerven? . . . Als ob Langeweile, Kunstgenuß und Gondelfahren für das, was ihr fehlte, helfen konnten!
Sie seufzte. Sie wußte, was ihr fehlte. Die Freiheit und eine Freiherrnkrone über dem Monogramm in ihren Taschentüchern, auf ihrem Briefpapier, an ihrem Wagenschlag.
Nun fing Robert noch gar an zu malen! . . .
Trotz alle dem befreundete sich Emma merkwürdigerweise nach und nach mit dem venezianischen Leben. Sie machten Bekanntschaften mit Einheimischen und Fremden, ließen sich erst ein wenig, dann immer mehr in das anregende gesellige Treiben ein, und was mehr als alles dazu beitrug, die milde Luft, die Stille, die ruhige vernünftige Lebensweise wirkten kräftigend auf Emmas ganzes Wesen. Sie mußte sich eines Tages wider Willen gestehen, daß ihr trotz aller Langeweile kaum jemals so behaglich in ihrer Haut gewesen war, wie seit den vier oder fünf Wochen, die sie in der Dogenstadt so mißliebig verbrachte.
Auch der Karneval übte seine aufheiternde Wirkung aus. Emma machte gute Figur auf einigen Bällen. Ihr Kreis erweiterte sich, ihr Behagen wuchs. Sie wünschte nur immer dringender, daß jemand aus der Heimat, Vater oder Mutter, oder selbst die Schwester mit ihrem guten Jobst käme, damit sie selbst mehr von der Geselligkeit genießen konnte, als an der Seite ihres Gatten möglich war, welcher derlei Vergnügungen bald überdrüssig wurde und sich endlich nach gewohnter Weise in einer improvisierten Werkstatt einspann, wo er den unteren 114 Teil des halben Fensters grün verhängt und eine Staffelei davor aufgestellt hatte.
Es war aber nicht bloß die Arbeitslust und die Scheu vor geselligen Festen, welche Robert mehr und mehr zurückhielt, dem Vergnügungstriebe seiner Gattin tagtäglich zu Diensten zu stehen: er konnte sich, so sehr er dagegen sich sträubte, der Wahrnehmung nicht entziehen, daß es mit seiner Gesundheit nicht ganz nach Wunsch bestellt war.
Je besser sich Emma in Venedig akklimatisierte, je wohler der jungen Frau hier wurde, desto unbehaglicher empfand sich Robert. War's, daß er sich während Ernas Krankheit zu viel zugemutet hatte, war's, daß die aufregenden Erfahrungen, die sein Familienglück untergraben und die Liebe zu seinem Weibe vergiftet hatten, sich nachgerade auch in Rückschlägen auf seinen Körper fühlbar machten; war's das italienische Klima, dessen er sich lang entwöhnt hatte, und das ihm nun schlecht bekam, oder war es, was das wahrscheinlichste, ein Zusammenwirken dieser drei Ursachen auf die sonst so widerstandskräftige Maschine und den sonst so leichtfertigen Geist, der diese bewegte: Robert fühlte sich unbehaglich, fühlte sich ungesund.
Es wird mich nicht umwerfen, meinte er. Er war nicht gewohnt, krank zu sein, und dachte sich auch diesmal solchen Anwandlungen nicht zu ergeben. Er schleppte sich gewaltsam von Akademieen zu Kirchen, von Kirchen zu Palästen, und als ihm das denn doch durch wachsendes Unbehagen verleidet wurde, ließ er sich wenigstens nicht ausreden, in den Mittagsstunden neben seinem Kind in den öffentlichen Gärten zu sitzen und abends seine Frau auf den Markusplatz zu begleiten, wo die Militärbanden Musik machten und unter den Arkaden das bunte Gewimmel von Menschen aller Art, aller Stände, aller Nationen sich herumtrieb.
Emma, die allmählich sich mit diesen und jenen Familien befreundet hatte und Tags über von ihnen viel in Anspruch genommen wurde, war mit diesem Ritterdienst ihres Gatten zufrieden; sie hatte das Köpfchen voll Toilettenfragen, Ballprojekten und ähnlichen Scherzen, die ihr so viel zu denken gaben, daß sie gar nicht zu bemerken Zeit fand, ob etwa das Aussehen ihres Robby sich verschlechtert und sein Verhalten sich verändert habe.
Hedwig, die Spreewälderin, die sie mitgenommen hatten, weil das Kind bei ihr gedieh und an das Biederweib gewöhnt war, hielt es zwar einmal für geboten, die Frau darauf aufmerksam zu machen, daß der Herr so elend aussähe und nun auf der Bank im Garten immer zusammengeknickt und 115 kurzatmig dasäße, wie es sonst gar nie seine Art gewesen wäre. Aber Emma lachte die Kindsmagd aus: was sie sich nicht einbilde, der Herr brüte wohl über einem neuen Bilde, über einem Entwurf zu einem Konkurrenzprojekte oder sonst einem brotlosen Kunststück; das mache ihn nachdenklich und einsilbig; und Nachdenken über schwere Probleme verderbe wohl auch ein wenig die Frische der Gesichtsfarbe und der Augen. Das habe nichts zu bedeuten. Und sie flatterte die Treppe hinunter ans Wasser, wo ihr Gondolier, der immer große Augen machte, wenn sie, zierlich die Füßchen setzend, in sein Gefährt hüpfte, sie mit den schmachtenden Blicken eines lyrischen Tenors erwartete und dann flink vom Ufer stieß.
Desselben Tages machten ihr Briefe, die aus Deutschland kamen, ganz besondres Vergnügen. Sie trällerte wie ein Frühlingsvogel in den hochgewölbten Zimmern des alten Palastes herum, ohne ihrer glücklichen Stimmung Worte zu geben.
Erst am Abend auf dem Markusplatze sagte sie, am Arm des Gatten hängend, der langsam und wortkarg sich durch die Menge nach dem Café Specchi schob: »Denk dir, Papa hofft in einer oder zwei Wochen sich von Geschäften frei machen zu können und hegt die Absicht, uns zu besuchen! Wie mich das freut!«
Robert hatte nichts darauf zu antworten. Das Sprechen war ihm heute mühsamer als sonst, und dazu empfand er bei dem jubelnden Klang der wenigen Worte, welche seine Frau in die Nachtluft rief, ein mißtrauisches Gefühl, das sonst nicht zu seinen Gewohnheiten paßte.
Es lag wohl an seinem krankhaften Zustande, sagte er zu sich selbst, aber er ward es trotzdem nicht los, und er hatte die deutliche Empfindung, als ob ihm Emma den besten Grund ihrer Freude verschwiege und daß des Vaters Kommen allein sie nicht so zwitschern machte vor Lust, wie es eben geklungen hatte.
»Laß uns niedersitzen. Mir wird das Gehen schwer!« war alles, was er erwiderte.
»Fühlst du dich unwohl?« fragte die Frau und wieder mit einer Hast und Erregung, die mit der geringen Aufmerksamkeit, die sie seit Monaten für ihn an den Tag legte, nicht stimmte.
Robert schüttelte den Kopf und antwortete: »Es hat nichts zu bedeuten. Ein Schnupfen wahrscheinlich, der mir in den Gliedern steckt. Weiter nichts! Sorge dich nicht!«
»Um so besser!« versetzte Emma rasch und blickte mit strahlenden Augen vor sich hin, ohne einen Gegenstand fest zu betrachten, 116 als träume sie von lustigen Tagen der Zukunft, die sie im Geiste schon vor sich sah.
Robert wunderte sich noch ein Weilchen über ihr Gebaren, dann nahm er ein deutsches Zeitungsblatt und versuchte zu lesen, während die Fußgänger an ihm vorüberrauschten und von der Mitte des Platzes die Militärmusik eine Verdische Ouvertüre zu schmettern begann.
So saßen sie auch einige Tage später im Februar in einer Vollmondnacht, die sich schon frühlingshaft anfühlte, beim Schall der Posaunen und Pauken unter den Bogen der Prokuratien, als Emma, wie aufs ehrlichste betroffen, ausrief: »Alle guten Geister! Sind Sie hier in Venedig! Das nenn' ich eine schöne Ueberraschung! Willkommen! Willkommen!«
Robert, dem vor Müdigkeit die Augen unmerklich hinter seinem Zeitungsblatte zugefallen waren, hob jäh den Kopf wie ein aus dem Schlaf Geschreckter und sah nun zu seinem bittern Erstaunen den Freiherrn Horst von Wolkenfels im Reiseanzug vor seinem Tischchen stehen, den Hut in der rechten Hand, das linke Ende seines schwarzen Schnurrbartes in der andern, die Stiefelhacken höflich aneinanderschlagend und sich dann tief vor ihm verbeugend. Uebermut und Unternehmungslust blitzten aus des Junkers schönen Augen.
Robert erwiderte den Gruß und bat den Herrn an seinen Tisch und fragte was so der Brauch, wenn zwei Landsleute sich unerwartet an fremdem Orte begegnen.
Die langsame Art zu sprechen, das ganz und gar veränderte Aussehen des Malers, die unbeholfene Müdigkeit seiner Bewegungen und besonders die seltsam glänzenden Augen überraschten Horst. Emma, die ihn mit gespannter Aufmerksamkeit, Emma, die ihn voll Neugier, Mutwillen und Erwartung beobachtete, merkte, daß in ihrem Anbeter etwas vorging bei Betrachtung ihres Mannes. Und wie um ihrer Befangenheit Luft zu machen und ihn wieder auf andre Gedanken zu bringen, fing sie hastig an, zu plaudern und zu fragen, daß ein Wort das andre überstürzte. Auch wie lang er in Venedig zu bleiben gedenke, fragte sie den Freiherrn.
Horst schien ihre Reden zu überhören. Er beugte sich näher zu Robert und erkundigte sich: »Fühlen Sie sich nicht wohl, Herr Leichtfuß?«
»Je nun, es muß schon gut sein!« antwortete dieser.
»Vielleicht bekommt Ihnen die Nachtluft nicht,« versetzte jener. »Haben Sie einen Arzt befragt?«
»Einen Arzt? Für mich? In meinem Leben noch nicht!«
117 »O mein Mann hat eine eiserne Gesundheit!« hielt Emma für gut hinzuzufügen. »Er arbeitet nur eben etwas angestrengt, und das gibt ihm diese Zimmerfarbe. Es hat nichts weiter zu sagen.«
Robert sah die Sprechende mit einem seltsamen Blick an. Horst schwieg. Man hörte die Blechinstrumente in ihrer vollen Macht von der Mitte des Platzes herüberschmettern.
Nachdem das Stück zu Ende gespielt war, nahm wieder Emma das Wort. »Wir finden es hier in Venedig wunderschön, Herr von Wolkenfels. Sie sollten sich gleichfalls zu längerem Aufenthalt entschließen.«
»Ich gestehe, es war das eigentlich meine Absicht!« erwiderte Horst langsam, als formulierte er sich selbst erst beim Sprechen einen Gedanken, der in diesem Augenblick in ihm entstand. »Aber –«
»Kein Aber! . . . Sie führen Ihre Absicht eben aus!« rief Emma und lachte dazu.
»Nicht doch, gnädige Frau! Es geht nicht! Veränderte Dispositionen meiner Freunde . . . allerhand Verbindlichkeiten . . . daheim . . . die Absicht, in Rom Bekannte zu treffen . . .« Der Freiherr schien denn doch dem jungen Gedanken die rechten Worte nicht geben zu können. Er geriet über seine Ungeschicklichkeit in Verlegenheit, und, darüber ungeduldig, schloß er hastig und bestimmt: »Enfin, es geht nicht; ich bin gezwungen, schon morgen diese schöne Stadt wieder zu verlassen.«
»Ach was!« rief Emma und sah ihn mit redenden Augen vorwurfsvoll an, als wollte sie sagen: Warum quälst du mich oder warum lügst du so?
Horst log aber nicht.
Wohl war er mit der kecken Absicht auf die Reise gegangen, der spröden schönen Frau, die in Venedig müßig ging, die Zeit zu vertreiben, gält' es dabei auch ihrem kunstverbissenen Eheherrn eine Nase zu drehen, so lang wie der Kampanile hier nebenan. Horst hatte verdammt wenig Respekt vor Ehemännern im allgemeinen und keine Neigung für Robert Leichtfuß insbesondre. Er war ein wilder rücksichtsloser Lebemann, der sich um die Hörner, die er andern aufsetzte, nicht die geringsten Skrupel zu machen pflegte. Zudem war er in Emma verliebt, und hatte sich im stillen versprochen, ihr für den großen Korb, den er während der Hochzeitsfeier seines Vetters von ihr erhalten, einen Streich zu spielen. Aber seit er Robert wiedergesehen, war das alles anders.
So war der Freiherr Horst nicht geartet, daß er einen 118 kranken Mann betrog und Hörner auf eine Stirn setzte, die das Fieber in Schweiß badete. Wehrlosen Mann schlägt man nicht. Das wäre ihm als Feigheit erschienen. Der Frau, die einen Kranken pflegen soll, sagt man keine verliebten Possen ins Ohr. Damit war für ihn die Sache entschieden, sein Abenteuer mißglückt und seine Abreise beschlossen.
Emma sagte, was ihr in den Sinn kam, um diesen Entschluß, an dessen Ernst sie schlechterdings nicht glauben wollte, lächerlich zu machen.
Robert, der den Feind in Horst erkannte, von dessen vornehmer Anwandlung aber nichts ahnte, glaubte, daß jener seiner Frau zu liebe hierhergekommen sei; an seine baldige Abreise glaubte auch er nicht. Der Zorn hatte trotz der Krankheit, die er fühlte, noch Macht über ihn, und sein Wille zwang den widerstrebenden Körper. Er dachte: sie sollen ihrer Lust nicht froh werden, die beiden, und der Schwäche nicht froh werden, die mich anfiel.
Er raffte sich auf und schritt mit Horst und Emma den Markusplatz entlang und verbrachte den Rest des Abends im Speisesaal des Hotels Barbesi, wo Baron Wolkenfels Wohnung genommen hatte.
Sein Blick war glänzend und unstät, seine Rede überlaut und atemlos, die Bewegung seiner Hände hastig und zitternd; aber der Entschluß, sich aufrecht zu halten und den Frevlern das Spiel zu verderben, stand fest in ihm.
Emma schien von alle dem nichts zu merken, sie lachte jedesmal, wenn auf Horsts Abreise die Rede kam, und während die Gondel die beiden Gatten heimwärts brachte, kramte sie vor Robert allerhand gesellschaftliche Projekte aus, wie sie diesem Landsmann das Leben in Venedig angenehm machen wollten.
Horst kam am andern Mittag, wie er geladen war, zum Frühstück zu Leichtfuß. Robert war ein aufmerksamer Wirt und plauderte und beobachtete, obwohl ihm das Blut in den Schläfen hämmerte, ein wachsender Druck wie ein eiserner Reif den Schädel umspannte und eine Schwäche in allen Gliedmaßen ihn jeden nächsten Augenblick auf den Teppich seines Zimmers der Länge lang hinzuwerfen drohte.
Er sah, wie jene heimlich miteinander zischelten. Er hörte nicht, was sie sagten.
»Sehen Sie denn nicht, daß Ihr Mann sehr krank ist?«
»Er denkt nicht daran.«
»Das Fieber schüttelt ihn ja. Seien Sie nicht leichtfertig. Sie sind in Italien. Rufen Sie einen Arzt.«
119 »Er will ja keinen haben.«
»Es ist Ihre Pflicht, einen zu rufen, auch gegen seinen Willen.«
»Stille! Er achtet auf uns. Ich werd' es thun, weil Sie es wollen. Aber Sie können glauben, er ist oft so. Es bedeutet nichts. Sie bleiben doch hier?«
»Nein! Ich reise in zwei Stunden. Mein Koffer liegt gepackt in der Gondel, die vor Ihrer Hausthür auf mich wartet . . .«
So war es. Nachdem unter etwas gezwungenen Gesprächen der drei Tischgenossen, von denen keiner dem andern traute, das Frühstück langsam sein Ende erreicht hatte, nahm Horst Urlaub von der Frau des Hauses. Diese glaubte noch immer nicht an den Ernst seines Vorsatzes. Auch Robert, der sich nur mehr mit größter Mühe aufrecht hielt, drückte gelinden Zweifel aus.
Da Horst aber auf seiner Aeußerung bestand und die Zeit zur Abreise drängte, schlug der Maler vor, seinen Gast nach dem Bahnhof zu begleiten.
Mehr als einmal meinte Robert, während er die Treppe hinabstieg, er solle sich auf die Stufen werfen und da liegen bleiben, werde was wolle. Während die Gondel über den Kanal glitt, verging ihm des öfteren Hören und Sehen. Er aber wollte nicht krank sein, jetzt nicht!
Sie stiegen aus. Wie er in die Bahnhofshalle gekommen, wußte er nicht. Er sah, wie Horst den Arm lang aus dem Koupeefenster streckte, er fühlte, wie dieser seine Hand heftig preßte, und hörte, wie er dazu sagte: »Ich bitte Sie, Herr Leichtfuß, schonen Sie sich, pflegen Sie sich und machen Sie mit dem verfluchten heimtückischen italienischen Klima keine Scherze. Jedem taugt die Luft über den Lagunen nicht.«
»Mir taugt sie. Aber ich danke herzlich für Ihre Teilnahme,« sagte Robert und verzog zu einem bittern Lächeln seine Lippen. Da hörte er den langgezogenen Pfiff der Lokomotive, der ihm wie nie zuvor durch Mark und Bein ging, und fühlte, wie die Hand des seltsamen Samariters aus der seinigen gezogen wurde, obwohl er sie eben noch fest zu halten vermeinte. Der Zug rasselte die lange Halle hinaus.
Es war Robert auf einmal, als wankten alle Waggons durcheinander und winkte man mit hunderttausend weißen Taschentüchern aus den Fenstern. Alles drehte sich mit ihm im Kreise. Er taumelte hinterwärts und fiel mit dem Rücken an die Wand, wo er hilflos hängen blieb und mit weit aufgerissenen Augen vor sich hinstarrte.
120 Seine Kraft war nach der übermenschlichen Anstrengung erschöpft, erschöpft bis auf den letzten Tropfen, den der strenge Wille aus seinem zuckenden Herzen gepumpt hatte. Er fühlte, daß er schwerkrank und hilflos sei wie ein kleines Kind. Aber der Feind war fort!
Das war sein Gedanke, der ihm selbst den elenden Zustand, welchem er sich verfallen fühlte, nicht ganz erbärmlich erscheinen ließ.
»Was hast du?« rief jetzt Emma, die sich endlich nach Robert umsah, nachdem sie, bis der letzte Wagen verschwunden war, ihr Batisttüchlein im Winde hatte flattern lassen und nun nicht wenig erstaunt war, ihren Gatten nicht mehr dicht an ihrer Seite, sondern etliche Schritte weit weg an der Wand lehnend zu finden, bleich wie diese und ohnmächtig sich aufzuraffen.
»Bist du wirklich krank?«
»Es scheint so. . . . Und kränker, als es scheint. . . . Ich komm' nicht vom Fleck. . . . Rufe den Gondolier, daß er mich wegträgt. . . . Es wird ihm schon einer oder der andre helfen.«
Emma lief hinaus, und es geschah, wie Robert verlangte. Sie legten ihn in das schwarze sargartige Häuschen der Gondel und fuhren ihn zurück nach seiner Wohnung. Es schien ihm eine endlose Fahrt.
Emma saß neben ihm und fragte ihn dies und das.
Sie merkte kaum, daß er nicht antwortete. Ihre Gedanken waren nicht bei ihm.
In der Nacht war es Robert, er hätte die Krankheit als eine dunkle massige Gewalt personifiziert bald neben, bald unter, bald über sich, und er ringe mit ihr aus allen Kräften, daß ihm vor Anstrengung die Luft versagte und der Schweiß aus allen Poren flösse. Zwanzigmal glaubt' er sie, wie schon am Tage, abgeschüttelt, gebändigt, erwürgt zu haben. Aber gleich darauf entwälzte sich das hundertarmige Scheusal seiner Kraft und schlug ihn in den Nacken und drosselte ihn am Halse und warf sich mit Zentnergewichten auf seinen Kopf, auf seine Brust, auf seine Beine, daß er meinte, nun wär's ganz aus mit ihm und er trüge solche Last keine Sekunde länger. Aus und tot! Aber im nächsten Augenblick schnellte die elastische Willenskraft den dunklen Koloß doch wieder an die Decke, und Robert glaubte aus dem Bett zu springen und heiler Haut gerade noch zu entrinnen. Aber nein, der Unhold fing ihn schon wieder ein, bald bei einem Bein, bald bei den Haaren, und zerrte ihn zurück ins Bett und warf sich mit zehn Pferdekräften über ihn und hielt den Röchelnden fest mit fünfzig von 121 seinen Armen und that ihm mit den andern fünfzig allen Schabernack, Spott und Schmerz an, dessen er sich in seiner geknebelten Ohnmacht nicht erwehren konnte.
Ja, mit dem Wehren und Erwehren war's vorbei! Er hatte alle Kraft ausgegeben am Tage. Er wußte gar nicht, wo er all die Kraft hergenommen, die er ausgegeben hatte. Denn es war eine so fürchterliche Anstrengung gewesen, deren er sich noch nachträglich mit Schaudern erinnerte. Dafür war er nun ganz ausgeleert und ausgehöhlt, und da lag er hilflos, atemlos, hoffnungslos unter der höhnischen Gewalt, die mit aller Grausamkeit riesiger Ueberlegenheit ihn mißhandelte und nicht mehr aufkommen ließ.
Als es Tag wurde, wich das Scheusal nicht, es machte sich nur unsichtbar vor den Menschen. Robert aber fühlte, wie es ihn an allen Gliedern festhielt. Kein Gedanke mehr an Widerstreben. Heute war nicht gestern. Die Anspannung aller Kräfte hatte sich gerächt. Er hätte nie zuvor für möglich gehalten, daß man so zu Schanden werden könnte, so hinfällig, und so preisgegeben jeder fremden Willkür. Wie tapfer er sich gesträubt, er war doch erlegen. Immer wieder dachte er den einen Gedanken: ich bin schwächer als ein ganz kleines Kind, und ein jeder kann mit mir anfangen, was ihm beliebt.
Fahlen Lichtes schaute der Morgen durch die hohen Spitzbogenfenster. Langsam mühte sich der Blick des Kranken die vier Wände seines Gemaches hinauf und hinab und wieder zum Fenster zurück. Wo war er denn eigentlich? Er mußte sich besinnen . . . richtig in Venedig! Was er jetzt in der Stille der ersten Frühe sachte rauschen zu hören vermeinte, war die Lagune, die trägen Schlags gegen die Ufersteine vor seinem Hause anwallte, wenn einer der langen Kähne sie durchschnitt.
Es war ein ekelhaftes Wasser die Lagune, trüb und stinkend und grau, wenn sie des Südens lügenhafte Sonne nicht färbte und vergoldete. Es muß ein scheußlich Ende sein, in dieser vielbesungenen Lagune zu versinken.
Und damit fiel ihn ein klägliches Heimweh an und eine klägliche Angst vor dem Kranksein in der Fremde, vor dem Sterben in der Fremde.
»Wirft du nicht aufstehen, Robby?« fragte Emma, die auf einmal neben seinem Lager stand. Er hatte sie nicht eintreten hören und sah sie erst, als sie mit überraschten Blicken ihn betrachtete.
»Ich kann nicht!« sprach er leise. Auch das Sprechen that ihm weh und ging über sein Vermögen.
122 »Wirklich nicht?« sagte die Frau und sah ihn noch schärfer und staunender an als zuvor.
Sie hatte gestern noch nicht an ein ernstes Unwohlsein ihres Gatten geglaubt. Sie war trotz allem, was Horst gesagt, und was sie an Robert gesehen hatte, der stillen Ueberzeugung, daß sich dieser nur aus Eifersucht und Bosheit also verstellte, um ihr die Freude des Beisammenseins mit dem Vetter ihres Schwagers zu verderben.
Wie hatte sie sich gefreut, als ihr der Vater geschrieben, Horst sei im Begriffe, nach Venedig zu reisen und sie heimzusuchen. Was hatte sie sich nicht für Aufsehen und Vergnügen versprochen, wenn sie an der Seite des schmucken schneidigen Kavaliers sich überall da zeigte, wo der Fasching die lustigen und neugierigen Leute der guten Gesellschaft zusammenführte!
Ja, sie hatte sich Wunder und Zeichen, sie hatte sich ein ganz neues Leben, sie hatte sich weiß Gott was von dem überraschenden Erscheinen Horsts versprochen – Und kaum war er erschienen, war er auch wieder verschwunden! Er, der doch ihretwegen die Reise gemacht und den Vorsatz, ihr das Dasein in Venedig zu erleichtern und zu verschönern, deutlich genug zu verstehen gegeben hatte, war, kaum daß er ihr einmal »Guten Abend« und »Guten Tag« gesagt, davon gefahren. Er war davongegangen plötzlich, wie ein Mann, der auf fröhlicher Bahn ein Gespenst auftauchen sieht, das mit knöcherner Hand ihm umzukehren gebietet.
Was war's denn, das ihm entgegengetreten war? Robert, ihr sonst so flegelhaft gesunder Mann, der, um ihr die Freude zu verderben, sich auf einmal wie ein siechender Spitalbruder zu geberden beliebte, in dessen Gesellschaft kein lautes Wort geredet und keine andre Zerstreuung als Wannenbäder und Latwergen angebracht werden durfte. Rein ihr zum Possen, aus tückischer Eifersucht hatte er sich derartig aufgespielt . . .
Emma war überzeugt davon, daß ihrem Gatten heute nicht mehr fehlte als ihr, wenn sie vorgab, nervös zu sein. Und wie viel das bedeuten wollte, brauchte ihr niemand zu erklären.
So sah sie ihn denn mehr spöttisch als mitleidig an, wie er in seinen Kissen lag, und sie konnte sich die Bemerkung nicht versagen: »Mach uns doch nichts weis! Du und krank! Wovon denn? Du warst immer einer der gesündesten Menschen auf der Welt. Rühmtest dich selber dieses Vorzugs. Ruh dich aus; ich bin überzeugt, schon heut abend stehst du wieder frisch auf deinen Beinen.«
Robert antwortete nicht gleich. Nie im Leben war ihm 123 das Sprechen eine so mühsame Arbeit gewesen. Langsam brachte er's heraus: »Schicke nach einem vernünftigen Arzt . . . und vor allem schick mir das Kind!«
Emma ging lächelnd hinaus. Ihr sollt' er so leicht nichts weismachen! Aber so sind diese Männer: so lang ihnen nichts fehlt, bramarbasieren sie mit ihrer unanfechtbaren Gesundheit; aber fliegt sie dann wirklich einmal ein Schmerzchen, irgend ein Unbehagen an, aus dem eine Frau noch lang kein Aufhebens machen würde, gleich gehaben sie sich, als wären sie des größten Mitleids würdig!
Robert heischte kein Mitleid. Robert achtete nicht auf Emmas Worte. Er hatte jetzt nur den einen Gedanken: sein Kind sehen! Er fühlte, wie es ihm von Minute zu Minute schlechter ward, er merkte, wie ihn auf Augenblicke die Besinnung verließ. Wie lange konnte das noch so fortgehen? Vielleicht war's bald mit allem aus. Da wollte er seinen Liebling noch einmal mit seinen Augen sehen und mit beiden Armen ans Vaterherz drücken.
Es dauerte nicht lange, bis die Wendin sich blicken ließ. Aber es dünkte doch den Kranken sehr lange.
Seine Augen gingen wieder die Wände auf und ab und ans Fenster hin. Nach und nach ward ihm zu Mute,. als hätte alles nur dieselbe graublaue Farbe, die Wand und das Fenster, das Bett und die Luft. Und weiter meinte er, die Lagune drunten an die Uferquadern klatschen zu hören. Und dann war ihm, als seien Luft und Wasser nur ein Ding, und zu den Fenstern herein strömte die Lagune, grau wie die Luft und unausweichbar wie diese, und sein Bett höbe sich auf dem Wasser, höher und höher, bald werde es die Decke erreichen und mit ihm durchs Fenster schwimmen, hinaus auf die Lagune und weiter hinaus ins offene Meer. Es war nur noch eine Rettung, daß die Thüre aufginge beizeiten und das Wasser durch sie einen Abfluß fände. Dann war er gerettet! Aber die Thüre ging noch nicht auf und die Wendin mit dem Kind auf dem Arm kam noch immer nicht!
Wie er sich nach seiner Erna sehnte! Selbst die Fieberhitze konnte ihm diese Sehnsucht nicht wegbrennen, sondern mußte sich ihrer bedienen.
Aber da drehte sich doch endlich die Thüre in ihren Angeln und von drallen Armen hob sich ein juchheiendes Kind, die feisten Händchen nach dem guten Papa ausstreckend, bald Worte, bald unartikulierte Rufe von sich jubelnd.
Die Erscheinung des winzigen Mädchens wirkte in der That 124 befreiend auf ihn, wenn auch nur für kurze Weile. Der Fieberwahn trat zurück, wie der Kranke das holdselige Ding betrachtete, das von den Armen der Amme herab zu ihm verlangte.
Da, wie er schon die Hände zu erheben versuchte, um nach dem Schätzchen zu greifen, kam ein erschreckender Gedanke über ihn: »Wie,« rief es in seinem Bewußtsein, »wenn es eine ansteckende Krankheit wäre, die dich befallen hat, und du sie deinem Kinde mitteiltest in Anhauch und Umarmung?«
Davor sei Gott! dacht' er, und ehe die Spreewälderin ihm das Kind in den Arm gebettet hatte, rief er so rasch, als er mit aller Anstrengung es hervorstoßen konnte: »Nein, Hede! Nicht in mein Bett legen! Ich weiß nicht, was mir fehlt! So, tragen Sie Erna wieder hinaus. . . . Ade! Baby! Auf Wiedersehen, mein Herzblatt! Mein süßer Schatz! Ade! – Und vergessen Sie nicht, Hedwig, daß ich einen Arzt brauche. Holen Sie mir gleich selbst einen! Aber gleich! . . . Ade, Herzchen!«
Robert war wieder allein. Das Wiedersehen des Kindes, so kurz es gewesen, hatte ihm unsagbar wohl gethan. Er fühlte das Fieber nicht. Er schloß die Augen und sah im Geiste das süße kleine Geschöpf noch vor sich. Er war sich des Glückes, so ein Kindchen sein zu nennen, selbst in dieser Lage bewußt und erquickte sich daran.
Von einem nahen Turm begann jetzt ein heftiges Läuten. Jeder Glockenschlag schien auf seinen Kopf zu treffen. Das Fieber kam wieder. Wenn sie dich mit den Füßen vorantragen, dacht' er, werden sie auch an den Glocken zerren, damit die Nachbarsleute wissen, man läute einem zum letzten Gang und damit sie ein Vaterunser beten. . . . Je nun, dacht' er, werd' es, wie's will! Du hast es dann überstanden! . . . Die Todesangst war von ihm gewichen. Die Gleichgiltigkeit des Schwerkranken war über ihm ausgebreitet wie ein Leichentuch, das ihn von Haupt zu Füßen bedeckte. Sorglos und still lag der entkräftete Mann in den Kissen und erwartete mit halbgeschlossenen Augen den Arzt und sein Schicksal, bis auf einmal das Fieber ihn wieder in seiner Heftigkeit anfiel, und Wahnvorstellungen und Schmerzen ihm ein leises Stöhnen erpreßten.
So fand ihn der Arzt, der endlich auch erschien. Es war ein vernünftiger Medizinmann, ein Deutscher, der seit langen Jahren in Venedig praktizierte und die Tücken des Klimas kannte.
Er trat mit jovialer Geberde ein, denn Emma hatte ihn mit liebenswürdiger Beredsamkeit darauf vorbereitet, daß er keinen schweren Fall und, genauer gesagt, nicht viel mehr als 125 einen eingebildeten Kranken vorfinden werde. Sie sah auch nicht sehr besorgt, sondern schon mehr schadenfroh aus, wie sie hinter dem Medikus auf den Spitzen der Modeschuhe in die Krankenstube hüpfte. Gleich werde der zimperliche Herr die Sentenz hören: Stehen Sie auf und wandeln Sie nach der Piazzetta, denn es fehlt Ihnen nichts als eine leichte Indigestion und etwas schwere Eifersucht.
Allein es kam anders. Was der Arzt nach längerer Betrachtung des armen Mannes aussprach, klang sehr besorgt und betroffen; er gab genaue Vorschriften über Diät und Behandlung und bat Emma mit ziemlich derber Ehrlichkeit, alle falschen Vorstellungen jetzo fahren zu lassen und sich des Ernstes der Lage bewußt zu werden, darin ihr Mann schwebte. . . . Er habe schon schwereren Fällen zur Genesung verholfen, fügte er, wie um die besorgte Gattin etwas zu beruhigen, hinzu, es sei genug Hoffnung vorhanden; aber verdammt ernst sei der Fall, des solle Emma jede Stunde des Tages eingedenk bleiben und nichts versäumen und seine Vorschriften aufs genaueste befolgen. Jedenfalls müsse eine Wärterin ins Haus, die dem Patienten ganz zu Diensten stehe, es wäre denn, daß die gnädige Frau die Uebung hätte. –
»Ist das eine ansteckende Krankheit?« war ihre erste Frage.
»Das eigentlich nicht; allein sie liegt vielleicht in der Luft,« antwortete der Arzt, und nachdem er noch einmal das Rezept, das er geschrieben, mit prüfenden Augen überflogen und der Dame, die ihm sehr unangenehm überrascht gegenüberstand, nochmals alle Vorsicht empfohlen hatte, ging er.
Robert lag still und ruhig, in sein Schicksal ergeben, zu schwach, um sich zu regen, zu müde, um zu denken.
Emma stand noch eine Weile stumm und starr vor ihm, die Stirn in Falten, die Hände geballt im Schoß.
Also Robert war wirklich krank! Schwer krank!
Sie hätte mit den Zähnen knirschen und mit dem Fuß aufstampfen mögen vor Zorn über diese Thatsache. . . . Am Ende übertrieb der Arzt. . . . Die Aerzte in Italien sollten alle Quacksalber sein mehr oder weniger. Ja wohl, er übertrieb, um sich wichtig und unentbehrlich zu machen! Je schwerer die Krankheit, desto verdienstlicher die Rettung, desto ansehnlicher die Rechnung!
Ja! . . . Emma öffnete die Augen weit, wie wenn sie genauer sehen wollte als der Arzt. Aufmerksam betrachtete sie ihren liegenden Gatten. Ihr ward dabei, als hätte sie ihn lange, lange nicht betrachtet. Ihr ward, als hätte sich sein 126 Gesicht verändert. . . . Ja, ja, der Mensch, der da vor ihr lag, war wirklich krank und ganz entsetzlich krank!
Und ein Widerwille gegen den kranken Mann bemächtigte sich ihrer, wie sie so vor ihm stand, daß ihr ein Graus den Rücken hinab und die Haare hinauf und über die Ellbogen in die Fingerspitzen fuhr; ein Widerwille, der sie starr machte und schüttelte.
War ihr Robert in den letzten Zeiten nur unbequem gewesen, jetzt erschien er ihr abscheulich, unerträglich, entsetzlich.
Sie wandte sich ab. Sie hätte ihm jetzt nicht die geringste Hilfeleistung gewähren können. Nein, sie war das um keinen Preis im stande. Sie lief hinaus, um irgend jemand zu finden oder suchen zu lassen, der für Geld und gutes Zureden die Pflege des Kranken übernähme. Es mußte doch auch hier solche Leute geben, die derartiges für Geld besorgten.
Nun, so ein Menschenkind war bald gefunden. Michelina, die Frau des Gondoliers, der in ihren Diensten stand, ein dralles, ungekämmtes Frauchen, das immer auf Schlappschuhen ging und in ein blaßgrünes Umschlagtuch gewickelt war, wartete ohnehin schon mitsamt dem Gatten in der kleinen Fremdenwirtschaft auf und leistete alle die gröberen Verrichtungen, für die Ernas Hedwig zu schade war.
Von ihrem Manne nun mit bedeutsamem Ellbogen in die Seite gestoßen, versicherte sie, daß sie schon einmal bei einem Pfarrer gedient, der drei Brüder an der Cholera krank liegen gehabt, und daß sie vier Wochen lang sogar im Ospedale civile die Treppen gefegt und den Boden gescheuert und überall eine sichere und leichte Hand bewiesen habe, die sie zur Krankenpflege besonders befähigen möchte. Den guten Sior Roberto wolle sie Tag und Nacht nicht aus dem Auge verlieren, und die gnädige Frau werde gewiß mit ihr zufrieden sein.
Die gnädige Frau verlangte gar nicht mehr und war zufrieden. Da hatte sie ja für den Augenblick, was sie brauchte, um ihren Gatten zu besorgen und seinen Arzt und ihr Gewissen zu beruhigen.
Es war ein eigen Ding Emmas Gewissen. Nie im Leben dazu verhalten, ihren Launen Zwang anzuthun, hatte sie nach Willkür gelebt von Anfang bis heute, gethan, was sie freute, und gelassen, was ihr zuwider war, ohne jemals die Frage, ob sie dazu berechtigt sei, auch nur einer Antwort zu würdigen. Nach Belieben und Gefallen, und wär's auch seinen lieben Mitmenschen zum Trotz, leben! Alles andre schien ihr dummes Zeug. Wenn ihre Mutter sich durch ihre Vornehmthuerei bald 127 rechts, bald links Schranken zog, so war Emma lang darüber hinaus. Das erste Gebot der Vornehmheit war ihr, keinen Herrn und kein Gesetz über sich fühlen und rücksichtslos sich nach souveränem Gutdünken bewegen und bescheiden. . . . Jemand etwas zu liebe thun? Vielleicht. Aber sie liebte ja niemand. . . . Pflichtgefühl? Sie fühlte nichts dergleichen und meinte lange, Pflicht sei auch nur so eine Schulmeisterserfindung, um die ein Mensch, wenn er erst über die Konfirmandenzeit hinaus, sich weiter nicht zu kümmern brauchte.
Trotzdem war ihr heute wunderlich zu Mut. Ein drängendes Unbehagen, das sich fast wie Unzufriedenheit mit sich selbst erklärte, trieb Emma von einem Zimmer ins andre und litt sie nirgends, wo sie verweilen wollte. Schon zweimal war sie so vor ihres Gatten Kammerthüre gewesen. Einmal hatte sie sogar die Thüre geöffnet und die Schwelle überschritten.
Da lag er, die weißen Hände krallenartig auf der Decke ausgestreckt, die Stirnhaare feucht, im Gesicht so blaß, die Nase stand daraus so seltsam hervor, sie schien ihr größer und spitziger als gewöhnlich. War das, was man ein hippokratisches Gesicht nennt? Ihr ward so greulich zu Mute, daß sie nicht länger hinsehen konnte. Neben dem Bett auf einem Strohstuhl hockte die gute Michelina und flickte an einem bunten Lappen. Das verschossene grüne Tuch hing nachlässig malerisch von der einen Schulter zur Erde hinab, die Ringel des losgegangenen schwarzen Haares nickten in die frühgerunzelte Stirn, und auf der großen Zehe des übergeschlagenen Fußes ließ sie ihren Schlappschuh baumeln – alles ganz wie sonst – daß sie nicht laut vor sich hinträllerte, war die einzige Veränderung an ihr. Erregt von der Krankheit, die sie pflegte, war sie sicher nicht.
Hat das Volk Nerven! Aber dafür bezahlt man es! dachte Frau Leichtfuß, sich überwindend und sich auf den Zehen streckend, um dem Liegenden noch einmal und besser ins Gesicht zu schauen.
Da schlug Robert die Augen auf, zwei große traurige, gläserne Fieberaugen, und diese schienen Emma zu fragen: Was willst du hier?
Ja, was wollte sie hier? Sie nickte ihm hastig zu und lief hinaus und die Treppe hinunter, bis sie unter dem Portal auf den Stufen stille hielt und aufs Wasser sah.
Tonin, der Gatte Michelinas, kauerte in halbsitzender Stellung auf den unteren Stufen, nahe bei seiner Gondel und schien zu schlafen. Jede Thätigkeit außer dem Ruderführen 128 und bei Tische bedienen, dünkte ihn heute frevelhaft, denn es war Sonntag, und Fastnachtsonntag dazu.
Emma holte tief Atem. Und jetzt wußte sie auf einmal, daß es durchaus nicht Unzufriedenheit mit sich selbst war, was sie nicht ruhen ließ, sondern unüberwindlicher Ekel vor aller und jeder Krankheit, mochte damit behaftet sein wer immer, Ekel und Furcht vor dem alten Hause, darin vielleicht die Luft verpestet war und jedem, der in demselben atmete, Keime desselben Leidens einflößte.
Sie wollte andre Luft atmen, frische, freie! Fort von hier! Sie stieß Tonin, der auf ihren Ruf nicht gehört hatte, mit der Fußspitze an, bis er aus seinem Mittagsschläfchen aufwachte. Sie hieß ihn das Kind und die Amme aus dem Hause holen und dann die Gondel zur Fahrt bereit machen.
Es hatte sich ein milder, sonnendurchglitzerter Tag aus dem Morgennebel geschält. Ueber dem Wasser blinkte das Licht wie ein silbernes Schuppennetz auf blauem Grunde, und das blanke, breite, hellebardenartiggeformte Metall am Schnabel der Gondel warf so blendenden Glanz, daß man kaum hinsehen konnte.
Emma lehnte sich in die Kissen des schwarzen Kämmerchens zurück und sann nach, was nun werden sollte.
Erna und die Amme saßen draußen vor dem Kämmerchen im Sonnenschein, denn es war heute viel Leben auf den Kanälen. Alles schien sich des lustigen Tages zu freuen, und hier und dort konnte man vermummte Menschen in allerhand bunter Verkleidung wahrnehmen, die schon am lichten Tag anfingen, sich zu vergnügen. Meist Handwerker und kleine Leute, welche diese Gelegenheit lang erwarten.
Emma gefiel das Getriebe nicht. Es störte sie in ihren Gedanken, wenn die Amme vor Erstaunen immer wieder aufschrie und das Kind desgleichen that, weil es die Amme schreien hörte.
»Hinaus, hinaus ins Freie!« rief sie dem Gondolier zu, als ob auch hier noch, wo der Kanal sich verbreiterte, die Nähe des Hauses ihr den Atem benähme.
Tonin ruderte die Barke an der Piazzetta vorüber, wo es heute von Menschen wimmelte, und dann im Bogen rechtshin gegen die Insel Giudecca.
Die schweigende vor sich hinbrütende Frau fuhr aus den schwarzen Lederkissen auf. Es war zu toll, was ihr hier einfiel. Es sagte fortwährend etwas in ihr: sie müsse bleiben 129 und den kranken Mann pflegen. Das gehörte sich so und die Leute würden sie tadeln, wenn sie's unterließe.
Welche Leute? Und seit wann fragte sie nach den Leuten?
Sie trat hinaus und setzte sich zu dem Kinde.
Die Gondel fuhr die Insel entlang. Die mächtige Kuppel und die beiden spitzen Türme des Redentore hoben sich stolz über die niedrigen Dächer empor und die gewaltige Treppe bewegten sich muntere Menschen hinauf und hinab, die aus der Kirche kamen oder in die Kirche gingen.
Ein seltsamer Gedanke bewog die Frau, hier auszusteigen. Auch sie möchte in das Gotteshaus eintreten, rief sie dem Ruderer zu. Erna und Hedwig könnten sich derweilen noch weiter auf dem Wasser ergötzen. Denn für das Kind sei es in dem Steinbau noch zu kalt. In einer halben Stunde sollten sie sie wieder abholen.
Die Spreewälderin wunderte sich, denn sie wußte, daß Emma nicht katholisch war. War Emma selber klar, was sie drinnen suchte? Wollte sie im Tempel Palladios eine fromme Stimmung auf sich niederbeten? Wollte sie in stiller Sammlung Pflichteifer und Selbstverleugnung erfassen lernen?
Sie wollte allein sein und zu einem Entschluß kommen.
Sie drückte sich ins Gestühl und sah vor sich hin. Sie redete mit sich selbst, so ehrlich, so eindringlich, wie nie zuvor im Leben. Etwas von der Macht des erhabenen Raumes ging denn doch in ihre Gedanken ein. Der heilige Ort in seiner schlichten Größe, der sie umfing und von der Welt abschloß, wirkte wie ein Zauber auf ihre ratlose Seele. Nein, sie durfte, sie konnte sich nicht von Robert trennen! Und jetzt weniger denn zuvor. . . .
Der Gottesdienst war eben vorüber. Noch hallten die letzten Töne der Orgel mit gellender Aufdringlichkeit durch den weiten Raum an ihre Ohren. Und dann ward es feierlich still, daß der Gegensatz zu dem kurz noch vernommenen Geräusch fast unheimlich wirkte. Man hörte nur das Scharren der Füße, die über die Steinfliesen gingen, und hier und da das dumpfe Auffallen des schweren Pfortenholzes auf das Lederpolster über der Kante des andern Thürflügels, wenn Gläubige aus und ein gingen. Noch einmal stieß eine der Orgelpfeifen einen vergessenen kurzen Ton aus wie einen überzähligen Seufzer, und dann ward's ganz still ringsum.
Es waren nur noch wenige Beter in der Kirche und nur Leute aus dem niedern Volk, Fischer, Handwerker, Hökerweiber und Bettler. In die Nähe der vornehm gekleideten Frau, die 130 zu beten schien, wagte sich von diesen niemand. Kaum daß einer über die gefalteten Hände weg hinüberblinzelte, ob etwa da was zu erbetteln sei.
Emma saß unbeweglich. Die Leute gingen an ihr vorüber und hinaus. Drei oder vier knieten noch weitverstreut im großen Schiff des Redentore. . . . Durfte sie Robert verlassen? . . .
Eine Bauersfrau in blauem, grobem Kittel fiel ihr auf. Sie hatte einen löcherigen, uralten, gelben Shawl um ein kleines Kind und die eigenen Schultern geschlagen. Während sie den Rosenkranz in rauhen Händen hielt, sah sie bald auf den Heiland am Altar und bald auf das kleine Wesen, das sein Köpfchen müd und blaß an ihren Hals legte, also zwischen Hoffnung und Besorgnis ihre Aufmerksamkeit teilend.
Das Kind war sicher krank, und die Mutter mochte sich wohl zu einer Anzahl von Vaterunsern und englischen Grüßen verlobt haben, damit ihm der himmlische Vater helfe, wo Menschenwitz nicht ausreichte. Das Weib merkte, daß die fremde Frau es beobachtete, da betete es nur um so inbrünstiger drauf los.
Der blindergebene Glaube hatte etwas Störendes, Beunruhigendes für Emma, der das nur Lippendienst und Gedankenlosigkeit zu sein schien. . . . Aber um wieviel weiter war die Köhlergläubige, die vielleicht nicht lesen konnte, als die mit allen Wassern moderner Bildung gewaschene Dame, die sich, der einfachsten Erfüllung menschlicher Pflicht gegenübergestellt, ratlos und widerspenstig befand und jetzt mit geckenhaftem Grauen die Wahrnehmung machte, daß das Kind, welches die Bäuerin an Hals und Gesicht drückte, mit daumenbreiten Pusteln und Geschwüren bedeckt war, wo immer die Lumpen seiner Kleidung das nackte Fleisch durchschauen ließen.
Die Mittagsglocke dröhnte mit hellen, gleichmäßigen Schlägen. Es war, als fielen die Töne drall aus der hohen Kuppel nieder und vibrierten langhin durch die Schiffe des Tempels. Die Bäuerin schlug ein Kreuz über Stirn und Brust und bekreuzte auch das Kind. Dann sah sie sich mit ängstlichen Augen rechts und links um, wie wenn sie nach einem Almosen suchte, und schickte sich endlich doch zum Gehen an, denn es mußte wohl so sein, weil irgendwo der Mann ihrer und des Kindes wartete.
Ihr Blick streifte flehend Emma.
Diese legte etliche Kupferstücke auf den Rand des Betstuhles und rückte dann weit davon weg in die Bank hinein, als fürchtete sie eine Berührung, wenn jene sich bedankte.
Die Arme begriff das. Ohne sich zu erbosen, strich sie 131 die Kupfermünzen mit zitternden Fingern ein und nickte nur, die Brauen kläglich in die Stirn hinaufziehend, als wollte sie sagen: Ja, ja, so traurig steht's mit meinem kleinen Engel. Ich aber bin doch seine Mutter!
Dann zog sie das gelbliche Tuch noch sorgfältiger um das blasse Geschöpf zusammen und schlich auf ihren Schlappschuhen hinaus aus der Kirche.
Aber Emma würgte nun auch die Luft in diesem hohen Raume, die ihr durch den Atem der Aussätzigen verpestet schien. Sie stand hastig auf und ging am andern Ende der Bank hinaus und verließ durch eine andre Thüre die Kirche, noch ehe das Zwölfuhrläuten aufgehört hatte.
Tonin war mit der Gondel noch nicht zur Stelle. Und wie Emma oben auf den Stufen des Redentore stehen blieb, und mit vorgehobener Hand über die Lagune hinspähte, drängte sich allerhand bettelhaftes Gesindel, wie es die Kirchthüren in Italien zu umlagern pflegt, an sie heran und hob Hände, Krücken und Rosenkränze gegen sie und flehte in kläglich aufdringlichen Tönen durcheinander.
Sie kaufte sich mit den etlichen Centesimi, die sie bei der Hand hatte, von den immer dreister Winselnden nicht los; sie stieg, so eilig sie konnte, die Stufen hinab; allein rechts ein schäbiger Greisenkopf, links drei unglaublich schmierige, weitausgestreckte Hände kleiner Tagediebe begleiteten sie zu ihrem Widerwillen bis an den Uferstein hinab, von dem sie endlich, ohne umzusehen, in die just anlangende Barke Tonins sprang.
Sie spuckte ins Wasser und fand, Venedig sei eine abscheuliche Stadt, in der ein reinlicher Mensch vor Ekel umkommen müsse. Was ihr eingefallen war, sich an einen solchen Ort zu verbannen! Und zu welchem Zwecke, grundgütiger Himmel!
Tonin stand, mit der Mütze in der Hand und halbgesenkten Hauptes ihres Befehls harrend, auf dem Hinterteile des Schiffes.
»Zum Telegraphenamt!« herrschte sie dem verdutzten Fergen zu.
Und der eiserne Schnabel der Gondel drehte sich gegen San Marco.
Die Depesche, welche Frau Leichtfuß an ihren Vater aufgab, war kurz und bündig: »Komm sofort und hole mich! Emma.«
Daß Heribert nichts Eiligeres in der Welt zu thun haben würde, als sein verzogenes Kind zu holen, dessen war sie sicher. Aber wie die entsetzlich langen Tage hinbringen, bis der Alte kam!
Ihre Ungeduld wuchs von Stunde zu Stunde.
Am Montag morgen sprach sie im nahen Grand Hotel 132 vor und bestellte Zimmer für sich und das Kind. Am Dienstag mittag glaubte sie es doch noch bis zu des Vaters Ankunft im alten Hause auszuhalten. Wie ihr aber der Arzt biedern Angesichts die Mitteilung machte, daß er Robert von dem schlimmsten Ausgang nun wohl gerettet glaube, doch werde die Krankheit nur langsam abziehen und die Genesung nur zögernd sich einstellen, da war sie entschlossen, noch heute fortzugehen.
Sie ließ am Nachmittag ihre Koffer packen, schickte diese voraus nach dem Gasthof und trat, als es dämmerte, bei Robert ein.
Sie wollte ihm sagen, daß sie des Kindes wegen fortgehe, um dieses vor Ansteckung zu bewahren. Der Arzt möge dagegenreden, was er wolle. Sie glaubte Aerzten nicht. . . . Sie wollte ihm sagen, daß sie ja doch nichts helfen könnte, sie hätte ungeschickte Hände und wäre durchaus zur Krankenpflegerin verdorben, während er ja in der besten Obhut der vortrefflichen Michelina bliebe. . . . Sie wollte ihm sagen, daß sie nur wenige Minuten entfernt wohnen und täglich wiederkommen werde. . . .
Aber sie sagte nichts von alle dem. Es log sich so ungeschickt einem Schwerkranken gegenüber. Und die Wahrheit, daß sie seiner überdrüssig sei und das Leben an seiner Seite satt habe und ihn nie wiedersehen wolle – warum sollte sie diese Versicherung dem siechen Menschen auf sein Schmerzenslager hinwerfen, wo er doch ihrer und alles dessen, was um ihn vorging, nicht achtete!
»Ich freue mich zu hören, daß es dir besser geht, Robby,« sagte sie und zwang sich, näher heranzutreten.
Der Kranke schlug die Augen auf und sah sie an, als wunderte er sich nicht wenig, denn ihm war nicht zu Mut, als ging' es erfreulich mit ihm; aber er zog die Lippen, als wollt' er lächeln.
Sein Schweigen war ihr peinlich. »Lebe wohl!« sagte sie und entfernte sich. Er sah ihr, nur die Augen bewegend, nach, und sein Blick hing an der Thüre, bis diese sachte wieder ins Schloß gedrückt wurde.
Es war niemand mehr bei dem Kranken als die Frau des Gondoliers, die an einem Stück zweifelhaften Flitterstaates nähte, und es sehr nötig zu haben schien, denn sie hob keinen Blick von Hand und Arbeit empor.
Man hörte manchmal den widerspenstigen Stoff unter der Nadel knistern. Sonst war es mäuschenstill in der Stube. Mäuschenstill, wie wenn der Mensch und alles um ihn herum in banger Erwartung lauschend, leiser zu atmen trachtete.
133 Das Fenster ging nach einem kleinen Seitenkanal hinaus und stand noch offen. Die lange Dämmerung war in Dunkelheit übergegangen. Ein Licht blinkte draußen auf und warf einen Schimmer über die Fensterscheibe und die rechte Fensterwand. Man hatte auf der Straße die Laternen angezündet.
Michelina erhob sich nun, betrachtete das bunte Stück noch einmal, das sie in ihrer ausgestreckten Hand hin und her drehte, und ging dann, das Fenster zu schließen.
»Laßt offen!« sagte ganz leise der Kranke.
Sie sah ihn an und zuckte dann die Achseln, als wollte sie sagen: Meinethalben! Mir wird die Nachtluft nicht schaden.
Dann beugte sie sich etwas zum Fenster hinaus und blieb in dieser Stellung, mehr als einmal mit dem Kopfe nickend wie zu vertraulichem Gruß.
Von draußen hörte man sachtes Geräusch, wie wenn Leute in eine Gondel steigen und die Ruder sich in Bewegung setzen.
Man hörte ein Kind weinen, und dann eine Frauenstimme, die beschwichtigend dazwischen redete.
Der Kranke hob ein wenig das Haupt vom Kissen. Es sank sofort wieder zurück. »Erna?!« klang es verwundert und besorgt von seinen Lippen.
Das Venezianerweib am Fenster seufzte.
»Was ist denn?« fragte er. Es klang wie ein leises Wimmern. Denn er wußte, daß es Erna war, die er eben draußen weinen gehört hatte.
»Nun sind sie fort!« antwortete Michelina und hielt sich abermals zu einem kleinen Seufzer verpflichtet.
»Wer?« fragte der Kranke.
»Alle miteinander!« versetzte jene ohne sich vom Fenster abzukehren. »Die schöne Frau und das liebe Kind und die gute Hedwig! Fort sind sie! . . . Wie schade! . . . Wir zwei beide aber bleiben noch bei einander. Eccellenza brauchen sich nicht zu fürchten. Es wird alles nach Wunsch gehen. Ich bin da!«
»Fort? Wer ist denn fort?« fragte der Kranke nochmals, der nicht begriff, was Michelina plapperte, und er sah sie jämmerlich an, darauf die Venezianerin ihre Litanei noch einmal von vorn begann.
Roberts Denkkraft war durch das kaum überstandene Fieber sehr gelähmt. Die Worte, die er gehört, lagen gleichsam noch unbegriffen in seiner Ohrmuschel. Nur ihr Klang war ihm bisher ins Hirn gegangen, nicht ihr Sinn. Nun nahm er mühsam eines nach dem andern und fügte sie sachte, sachte seinem Verständnis zu.
134 Während sich der kranke Mann also abmühte, ward es draußen auf den Kanälen immer lebendiger und lauter. Wiederschein von Fackeln, die auf vorüberfahrenden Gondeln brannten, warf flüchtigen rötlichen Schimmer gegen die Decke. Lautes Necken, Kichern und Lachen und verschiedene Gesänge wurden hörbar, tauchten auf, wuchsen an und verschwanden in der Ferne.
Dazwischen tönten die langgezogenen Rufe der Gondoliere: »sta li... sta li!...« Sie haben eine gar eigentümliche Art, sich zum Ausweichen anzumahnen. Es klingt melancholisch, wie so mancher Ruf in Venedig und könnte einen traurig machen.
Aber die scheinbar traurigen Rufe wurden bald wieder von tosender Lustigkeit überschrieen und übersungen.
»O wie schön! Wie schön!« rief Michelina am Fenster ein übers andre Mal aus, da sie ganz Ergötzliches gesehen haben mußte.
Der Kranke ward unruhig und ließ es merken. Da klärte ihn die Wärterin auf, daß heute Fastnacht und alle Welt auf den Beinen und guter Laune sei!
»Und Erna?« fragte Robert noch einmal.
»Fort!« war alles, was Michelina erwiderte. Sie erwiderte es mit lachendem Munde und war nun wieder ganz in ihre Nähterei vertieft, die sie, aufrecht stehend, beim Schein einer Kerze und des einfallenden Gaslichtes vor dem Fenster gar emsig betrieb.
Robert begriff nicht, was es heißen wollte: Erna fort! Er schwieg und mühte sich sachte zurecht zu grübeln, was eigentlich diese verkehrten Redensarten bedeuten sollten.
Darüber war Michelina mit ihrer Hände Arbeit zustandegekommen. Es war eine spitze steife Haube von altem dunkelroten Samt gefertigt, die sie aus dem Trödel irgend einer früheren Herrschaft aufgelesen haben mochte. Darum war nun eine breite, brüchige, alte Goldborte genäht. Und an der Spitze baumelte eine gelbe Messingschelle, die ein bißchen klingelte, wenn sie geschüttelt wurde, was Michelina jetzt mit einer Beflissenheit that, als sollte das dem Kranken die größte Freude machen.
Robert begriff um so weniger, was sie wollte, als sie jetzt mit liebevoller Vorsicht die Haube sich auf den ungekämmten Scheitel probierte, die Bindebändchen über den Hinterkopf fest in eine Schleife zog, neben ihr also närrisch geziertes Haupt die brennende Kerze hob und sich wohlgefällig im Spiegel betrachtete.
Die Schellenkappe auf dem Haar, das Licht in der Hand und ein süßsaures Lächeln auf den Lippen, trat sie an Roberts 135 Bett und begann zu reden, wie sie sich's während der Nähterei ausgeheckt und eingelernt hatte.
»Liebster Herr Roberto, es ist heute Fastnacht und alles auf den Beinen! Diese Nacht kehrt nur einmal im Jahre wieder. Ich weiß, was ich Ihnen schuldig bin. Um keinen Preis der Welt möcht' ich meine übernommene Pflicht verletzen! Bei Gott, niemals! Die ist mir heilig! Aber verschnaufen darf sich der treueste Wächter auch einmal ein halb Stündchen. . . . Nicht wahr, geliebtester Herr, die arme Michelina darf auf ein halbes Stündchen hinunter, und Sie geben ihr in Gnaden Urlaub? Sie kommt gleich wieder. Sie brauchen sie ja nicht. Und ist sie erst wieder da, dann wird sie Sie warten und pflegen mit verdreifachtem Eifer, wie eine richtige barmherzige Schwester! Wahrlich wie eine barmherzige Schwester! . . . Nicht wahr, ich darf? . . . O tausend Dank, tausend Dank, gnädigster Herr, ausgezeichnetster Herr! . . . Ich geh' und bin gleich wieder da! Tonin wartet schon drunten! . . . Ich komme!«
Robert folgte ihr mit den Augen. Er hatte ihr keinen Urlaub gegeben. Er hatte gar nichts gesagt als ein leises: »Auch Michelina fort? . . . Wer bleibt dann bei mir?« Sie hatte des nicht acht und sprang davon, daß die Schlappschuhe auf den Backsteinen des Flurs wie ein hölzernes Gelächter klapperten.
Von drunten Rufen, Lachen und Gesang und das Plätschern des Wassers und das Klingeln der Narrenschelle.
Robert hörte das alles jetzt recht deutlich, wie er so hilflos und verlassen in ungeglätteten Kissen lag. Und in dieser Einsamkeit besann sich sein Verstand nach und nach, und auf einmal begriff er alles, was sich ereignet hatte, und er erkannte, wie er dran war. Mit der erbarmungslosen Klarheit eines ganz und gar ernüchterten Verstandes sah er die häßliche Wirklichkeit, die Erbärmlichkeit seiner Lage, den beispielslosen Verrat des Weibes, das ihm Treue gelobt hatte fürs Leben, und das er geliebt hatte, besserer Einsicht zum Trotz, bis in diese närrische Stunde.
Zum erstenmal im Leben war er aller und jeder Illusion über Emma bar. »Erna! Arme Erna mein!« tönte es von den Lippen des Verlassenen, und zwei große Thränen, die er seinem Liebling aus bitterem Herzen nachweinte, rannen langsam über die Wangen in seinen Hals hinab. »Arme Erna!«
Wieder ward es draußen auf dem Kanal lebendig. Aber es schien bessre Gesellschaft vorüberzufahren als vorhin. Eine anmutige Stimme ließ sich in zierlichen Ritornellen vernehmen: 136
»Blühende Winden!
Ich harre still in meinem dunklen Stübchen;
Weiß denn mein Schatz die Thüre nicht zu finden?«
Und eine andre Stimme folgte melancholischer im Ausdruck:
»Welkender Flieder!
Einst war ich reich an Liebe, Glück und Wonne.
Nun ging sie hin und nimmer kehrt sie wieder!
Gleich darauf wetteiferte ein noch zarteres Organ mit den übrigen:
»Am Brunnen die Kressen!
Hast du aus Lethes Welle denn getrunken,
Daß aller Liebe du so ganz vergessen?«
Es klang schon schwer verständlich; aber eine starke Baßstimme, welche die andern alle übertrumpfen wollte, war bei der Stille der Nacht selbst aus der Ferne noch vernehmlich, als sie sang:
»Narrenschelle!
Wer sich im Schmerz berauscht der Weiber halber,
Der trinkt den Trank der Thorheit an der Quelle.«
Man hörte nur mehr ein lustiges Gelächter, das fern erstarb. Dann lag der Kanal wieder ruhig. Die Masken waren nun wohl alle auf dem Markusplatz, oder wo es sonst in der Stadt hoch herging, versammelt und zerstreut. Kaum daß noch ab und zu ein Ruderschlag und das Gleiten eines Nachens im Wasser sich hörbar machte.
Robert konnte nicht schlafen. Es war ihm, als sei er selbst zum Schlafen zu schwach. Er vermochte kein Glied zu regen. Hilflos lag er da, unfähig ein Glas Wasser an die brennenden Lippen zu führen. Allein sein Geist war frisch und thätig. Seine Vorstellungskraft zauberte ihm bunte Bilder auf die finsteren Wände seines Krankenzimmers, bunte Bilder vergangener und gegenwärtiger Zeit. Aber in seinen Ohren sang das fiebernde Blut, daß er fortwährend ein Klingeln zu vernehmen meinte . . . das Klingeln der Narrenschelle, wie er es nannte.
Ja, beim Klingeln der Narrenschelle, beim Drängen der Dominos, beim Springen der Bébés und der Debardeurs, auf einem Fastnachtsball der großen Oper hatte er seine Emma gefunden und ihre Liebe gewonnen . . . er sah das lustige lüsterne Gewimmel im Geiste wieder vor sich . . . und in einer Fastnacht hatte er sie wieder verloren! Beim Klang der Narrenschelle ging sie dahin und nimmer kehrt sie wieder!
Addio per sempre!
Es war ihm, als neigte sich Michelina, die treulose Wärterin, zum Fenster herein mit einer ungeheuer langen, spitzigen, 137 brennroten Mütze, daran die klingelnde, gelbe, strahlenwerfende Schelle gerade über seiner Stirne baumelte. Und dann kam alles zum Fenster hereingeschwommen, was draußen oder irgend sonst in seinem Leben Lärm gemacht hatte, Masken und Gondoliere, Zechbrüder und Tänzerinnen, Akademiker und Modelle, Debardeurs, Bébés und Dominos aller Farben! Und sie tanzten um sein Bett einen schwindligen Cancan und einen Ringelreihen, dabei sie kopfüber durcheinander purzelten, daß ihre phantastisch ausgerenkten Gliedmaßen rechtshin und linkshin flatterten. Endlich fing auch sein Bett zu tanzen an. Das war bedenklich! Und er sagte sich: »Jetzt steht es schlimm um dich!«
Und aus dem Tanzen des Bettes ward ein Schwanken und Schwimmen. Er hatte es schon immer gefürchtet: das Wasser werde zum Fenster hereinkommen und alles mit sich fortspülen. Da hatte man die Bescheerung! Steigend und neigend, wiegend auf und ab ging es hinaus zum Fenster. Es schwamm das Bett wie eine Barke den kleinen Kanal hinaus und in den großen Kanal hinein. Da staunten die Leute, die geputzten, vermummten, über das seltsame Schiff und über den Mann im Nachthemde darin und über den Fergen gar, der hinter dem Kopfende stand ohne Augen, ohne Kleider, ohne Fleisch an den Knochen, ein Gerippe, durch das alle Laternen der Stadt Venedig ihre Strahlen hindurch werfen, das aber trotzdem in kraftvollen Knochenhänden die lange Sense schwang und mit derselben statt eines Ruders das schaudernde Wasser durchfurchte.
Auf der Piazzetta schimmerten die Lichter und verschwanden hinter ihnen. An San Giorgio maggiore ging's im Flug vorüber. Das war des Malamocco weithin gestreckte Küste. Wie mit Dampfergeschwindigkeit sausten sie daran entlang. Die Lagune schwand nun zurück. Die Wogen kräuselten sich, hoben sich gewaltig und groß. Das war die hohe See, die uferlose, Himmel und Wasser ringsum, am Himmel der volle strahlende Mond und im Wasser sein schwankender in tausend Schuppen zerbröckelnder Widerglanz. Ein Meer von zitterndem Silber unter einem dunkelblauen, wolkenlosen, Friede atmenden, Kühlung hauchenden Nachthimmel. . . . Keine klingelnde Schelle mehr, kein lärmendes Gesindel mehr . . . Stille . . . Ruhe . . . Friede . . . Schlaf! . . . . . . . . . . . .
Aber es steht schlecht mit mir! Recht schlecht! Es könnte kaum schlimmer mit mir stehen! Das war der erste Gedanke beim Erwachen.
Es dämmerte noch lange nicht. Er mußte immerhin etliche 138 Stunden geschlafen haben. Michelina war noch nicht zurückgekehrt, sondern trieb sich unter Masken um, mochte sich der Kranke behelfen, wie er wollte.
Dieser rief ein übers andre Mal. Niemand kam. Er litt brennenden Durst und allerhand Unbehagen. Das Bettlaken, durch die unruhige Lage des Fiebernden zerwühlt, drückte ihm die Wülste schmerzlich in Rücken und Genick. Sein körperliches Uebelbefinden war kaum mehr erträglich. Wie sollt' er so genesen, ohne Wartung, ohne Pflege!
Ja, es stand sehr schlimm mit ihm! . . . Auch wenn er genas. Er hatte kein Weib, kein Kind, keinen Herd, kein Heim, kein Geld mehr. Er war einunddreißig Jahre und hatte nichts erreicht, als eine verfehlte Ehe und einen Haufen mißglückter Studien und Entwürfe, von deren Ausführung kein Mensch etwas wissen wollte.
War es nicht besser, er starb hier im Elend? Weit weg vom letzten Ende schien er sich unter diesen Umständen überall nicht.
Er machte sich das recht klar. Und sein trostloses Befinden war nicht danach, um ihn rosigen Täuschungen über seine Zukunft hinzugeben.
Aber die alte Gewohnheit, sich sein Mißgeschick zurecht zu denken, siegte auch hier in dieser elendesten Verfassung seines Körpers über alle Anfechtungen. Da der Morgen graute, sah er wie ein Spatz ans Fenster geflogen kam und auf dem Brett hin und wider trippelte, piepste und den Schnabel wetzte. Robert mußte den graugefiederten Vagabunden lang anschauen und er sagte: »Sieh, auch er lebt und sein himmlischer Vater sorgt für ihn!«
Und nun das Fieber für Augenblicke seinen Geist frei ließ, sagte sich der abgemattete Mann, nachdem er einen recht tiefen Blick in seine jämmerliche Lage und seine armseligen Hoffnungen gethan hatte: »Schlechter, als es mir jetzo geht, kann es kaum mehr werden. Doch wo die Not am größten, ist Gottes Hilfe am nächsten. Und so mag es, wie mir scheint, sich nun wohl allmählich zum Besseren wenden. Ich falte die Hände über meiner zerknitterten Bettdecke und harre in Geduld des freundlicheren Schicksals, das wohl schon unterwegs zu mir ist. Vielleicht sterb' ich vorher; aber ich glaub' es nicht recht; diesen Spaß mag ich meinen Feinden noch nicht machen.«
Robert täuschte sich darin, daß er das bessere Glück schon unterwegs zu ihm wähnte. Es verzögerte sich noch eine gute Weile. Und ihm sollte noch schlechter werden, als schon war. Allein die fromme Zuversicht ließ ihn die böse Schickung leichter 139 tragen. Die wilde Verzweiflung, die ihn mehr als einmal anfallen wollte, durfte ihm nicht an den Hals, denn am Hauptende seines Bettes, wo kürzlich noch in seinen wüsten Fieberträumen das zähnefletschende Gerippe sein mörderisches Steuerruder hantiert hatte, stand jetzt wieder die blonde lächelnde Fee des Leichtsinns und scheuchte mit rosigem Schleier die Mücken und bösen Grillen von seiner feuchten Stirne.
Der Arzt war nicht wenig erbost, als er am Mittag über Michelinas seltsame Krankenpflege Bericht erhielt. Da ihr Mann der ausgezogenen Herrschaft nach dem Hotel gefolgt war, ließ das thörichte Weib sich leichter, als es anfangs den Anschein nahm, bedeuten, sich anderswo nach bequemerem Dienst umzuthun. Schimpfend, ihre große Unschuld beteuernd, strich sie den Lohn ein und zog ab. Eine gewissenhafte stille Nonne von den barmherzigen Schwestern nahm ihren Platz ein. Von dieser waren fastnächtliche Thorheiten, wie sie Tonins schönere Hälfte begangen hatte, durchaus nicht zu besorgen.
Robert fragte nur immer wieder nach dem Kinde. Das war der einzige Wunsch, der seiner Geduld Abbruch that. Die Nonne kannte das Kind nicht und wußte nichts davon. Der Arzt hieß ihn still liegen und seine genugsam gefährdete Gesundheit nicht noch durch unnütze Aufregungen schädigen. Morgen oder übermorgen käme doch sein Schwiegervater an, und der werde ihm alle Aufklärungen geben, die er verlange.
Robert, dem die Sehnsucht nach Erna am Herzen nagte, ward von tiefer Traurigkeit umfangen. Was wollte der andre mit seinem Schwiegervater sagen?
Der Doktor gehörte jener Schule an, die etwas Brutalität für ein notwendiges Requisit hält, ohne welches ein Arzt nicht weit gedeihen könnte. Frau Leichtfuß hatte er kaum gesehen. Die Familienbeziehungen seines Patienten interessierten ihn nicht im geringsten. Was ihn wirklich bekümmerte, war die Krankheit Roberts, die sich durchaus nicht zu verschwinden anschickte, obschon der Arzt das Fieber gebrochen glaubte.
Drei oder vier Tage nach Emmas schnöder Flucht war Heribert Meyer in der That nach Venedig gekommen. Er hatte sich nicht leicht aus allerhand Geschäften in Berlin losreißen können, und seine Laune darüber war die übelste von der Welt. Wie es aber schon seine Art war, er maß die Schuld daran nicht etwa der Ungeduld und Feigheit seines Lieblings zu, sondern demjenigen, der alle diese Beweggründe durch sein Verhalten geschaffen, der seine Emma so wenig glücklich gemacht, daß diese sich zu einem solchen Gewaltstreich vor 140 der Welt und zum Anrufen des väterlichen Schutzes zur unbequemsten Zeit im Jahr genötigt gesehen habe.
Alte Abneigung und neuer Verdruß hatten so noch während der Reise, und ehe Heribert den wahren Sachverhalt kannte, zusammengewirkt, um den armen Robert tief und vollkommen ins Unrecht zu setzen.
Daß Emma ungleich größere Schuld an dem Zerwürfnis der beiden Gatten tragen könne, dieses Gedankens war ein Mensch mit Heriberts Grundsätzen nicht fähig. Und wenn man ihm auch einleuchtend und unwiderleglich bewiesen und immer wieder bewiesen hätte, daß Emma sich so nichtswürdig betragen habe, daß Robert neben ihr rein wie ein Lamm neben dem Wolf erschien – der alte Meyer hätte niemals dieser Thatsache den geringsten Einfluß auf sein Thun oder Denken verstattet.
Für ihn gab es ein für allemal nur zweierlei Menschen auf der Welt. Seine Familie, d. h. seine nächsten Angehörigen, und der große Rest der übrigen Sterblichen, die nur insofern in Betracht kamen, als sie seiner Familie wohl oder übel thaten, mit ihr befreundet oder verfeindet waren.
Er war der Mann, der mit fünfzehn Thalern in der Tasche auf zerrissenen Stiefeln nach Berlin gekommen war und seiner Anfänge noch genau gedachte. Sie waren ihm durchaus nicht bequem gemacht worden. Er hatte sich behauptet und emporgearbeitet. Eigene Kraft und fremde Hilfe waren die zwei Faktoren, die ihm dies Emporkommen ermöglicht hatten und die nach wie vor bei jeder Unternehmung den Ausschlag gaben. All eigene Kraft reichte nicht zum Erfolg im Leben aus. Der eine bedurfte ab und zu des andern. Wer einem half war ein Freund, wer einem nicht half ein Feind. Die Freunde, solange sie fördersam zu einem hielten, hatten immer recht; die Feinde unter allen Umständen schweres Unrecht. So lernte man's nicht in der Schule, aber so hat es das Leben den Emporkömmling gelehrt. Daß es ein unverletzliches Gesetz der Moral, daß es eine unbestechliche, über Freundschaft und Feindschaft erhabene Gerechtigkeit geben müsse, war Heribert Larifari, Kindergeschwätz.
In seinen Augen war Robert als etwas wie ein Spielzeug für Emma erschienen. Er hatte nie besondren Geschmack daran gefunden, allein weil sie es durchaus ihr eigen nennen wollte, hatte der zärtliche Vater es ihr gegeben, und war sie glücklich damit, so war es sein »lieber Robby«. Hätte sein Schwiegersohn Schwächen gehabt, die Emma nicht zuwider waren, Heribert hätte beide Augen darüber zugedrückt. Hätt' 141 er Schulden gemacht, Heribert hätte sie ohne viel Redensarten bezahlt. Sein Kind war ein Stück seiner selbst, sein Kind sollte glücklich sein. Er konnt' es bezahlen.
Aber von dem Augenblick an, da seine Emma kein Gefallen mehr an ihrem ehelichen Spielzeug fand, da es ihr unerträglich erschien und sie von ihm befreit sein wollte, da gab es für Heribert gar keine Frage, ob dies Gefühl berechtigt sei oder nicht, ob es etwa bloß aus bübischer Laune, aus frevelhaftem Kitzel, aus einem sündhaften Gemisch von Feigheit, Niedertracht und Eigensinn entstanden und darum von keinem unparteiisch Urteilenden zu genehmigen sei. Von dem Tag an war Robert in Heriberts Augen ein ausgemachter Schuft und überwiesener Verbrecher, von welchem Emma um jeden Preis befreit werden mußte, und den zu beseitigen kein Mittel zu schlecht war.
Ihm genügte die unbestimmte Möglichkeit, was für Geschehnisse sich ereignet haben mochten, was für Unthaten von diesem Robby vollbracht sein mußten, wenn ein Engel wie seine älteste Tochter sich zur Trennung von ihrem Gatten entschloß. Dem Kerl wollte man's zeigen! Und in diesem Gedanken ballte Heribert Meyer ein übers andre Mal im fortsausenden Waggon des Expreßzuges die Faust in die Luft und schrie jeden Schaffner barsch an, der ihm die Billets einknipste.
Er fluchte über die langsame Beförderung der Gondel, die vom Bahnhof bis zum Palazzo Ferro eine halbe Stunde brauchte. Und als er endlich ins Zimmer stürmte, wo die Tochter seiner wartete, schloß er sie ungestüm in die Arme und wehrte dem Redestrom, damit ihn Emma zu überzeugen sich einstudiert hatte, und ballte wieder die Faust und rief: »Er soll an mich denken!«
Hatte er doch schon vor Monaten in Berlin den Hilferuf vernommen, da sein Kind sich vor der Roheit jenes Farbenschmierers nicht sicher gefühlt! Da hatte dieser sich auch noch mit gröblichen Redensarten ihm gegenüber aufgespielt. Heribert hatte das nicht vergessen und von dieser Stunde an einen Bruch . . . befürchtet? ei, was nicht gar! erhofft, ersehnt, herbeigebetet!
Wäre Emma nur nicht so langmütig gewesen, hätte sie nur schon früher den Mut gehabt, mit dem Tagdieb zu brechen! Doch noch war's nicht zu spät, und Emmas Zukunft konnte sich noch immer herrlich und befriedigend gestalten. Jetzt nur nicht lang mit Erzählungen Zeit verdorben! Wie's hergegangen, was den letzten entscheidenden Ausschlag gegeben, war ihm sehr gleich! Es galt nur zu wissen, ob Emma fest und zum Aeußersten entschlossen sei. . . .
142 Das war sie! Gut! Nun also auch keine Stunde mehr verloren! Heriberts Stunden waren sehr kostbar, und sobald die eine wichtige Angelegenheit abgemacht war, hatte er in dieser verrückten Stadt, wo es keine Droschken gab, wo man nie recht vom Flecke konnte und zu allem die doppelte Zeit brauchte, rein nichts mehr zu suchen. Daheim warteten seiner ebenso dringende wie glänzende Geschäfte. Hier war nur eine häßliche Sache zu besorgen. Diese konnte nicht rasch genug abgethan werden! Vorwärts!
Heribert steckte sich eine dicke Brieftasche vor die Brust. Das einfachste schien ihm, dem Zigeuner seinen Entschluß abzukaufen. Ein klares Geschäft, eine runde Summe. Wieviel verlangst du für die Einwilligung? . . . Zugestanden! Abgemacht! Hier die Summe, und wir sind fortan geschiedene Leute! Holla!
Und wenn nicht? . . . Na, wir werden ja gleich sehen! Heribert hatte gewiß schon schwierigere Dinge zum Klappen gebracht. . . . Nur hurtig, Tonin! Sind wir denn noch nicht bald am Ziele?
Sie waren's. Heribert stieg langsam die Treppe hinan, instinktiv noch einmal nach den Banknoten in seiner Brusttasche fühlend und die Anfangsworte überlegend, mit denen er seinem Exeidam gleich von vornherein die Kourage abkaufen wollte.
Daß Robby bettlägerig sei, hatte zwar Emma unter anderem auch vorgebracht, aber so beiläufig nur, oder Heribert hatte es in seiner Wut überhört, jedenfalls hatte er es halb und halb schon wieder vergessen.
So fand er sich doch unliebsam betroffen, als er die von Tonin bezeichnete Thür aufstieß und sich einer blassen, sehr traurig aussehenden barmherzigen Schwester gegenüber befand, einem Tischchen mit Medizinflaschen und einer Bettstelle, aus welcher nur rechts und links ein vorstehender Polsterzipfel sichtbar war.
Der Eintritt brachte Heribert zwar ein wenig aus dem Konzept; aber nur ein ganz klein wenig. Er wußte, was er hier wollte; ob ihm einer im Sitzen oder im Liegen zuhörte, ei nun, das war, genauer betrachtet, ziemlich gleichgiltig!
Gleichgiltig? Ei, was nicht gar! Nun war ja Heribert dem ungesunden Menschen da gegenüber weitaus im Vorteil! Das hatte er alsbald erkannt. Und flugs knöpfte er den letzten Knopf über dem Brustfleck zu. Mit der Brieftasche brauchte er hier nicht zu operieren!
»Wer ist?« sagte der Kranke leise und schien unruhig zu werden.
143 Die Nonne ging dem Besuch sorgsamen Angesichts und mit fragender Verbeugung entgegen. Aber Heribert verstand kein Italienisch und das arme Nönnlein keine andre Sprache. Indessen kehrte sich jener gar nicht an diese, trat dicht ans Bette heran und sagte:
»Ich bin's, Herr Leichtfuß, der armen Emma Vater! Und wenn's gefällig wäre, wollte ich mich mit Ihnen aussprechen.«
»Ich kann nicht viel reden!« hauchte Robert, und ein bitteres Lächeln zog über die verfärbten Lippen, derweilen er der barmherzigen Schwester zuwinkte, sie solle ins Nebenzimmer treten.
Sie gehorchte und Heribert blieb mit dem Kranken allein im Gemach.
Einer Anwandlung von Großmut war er nicht fähig. Robert galt ihm als sein Feind. Einen Feind schonen, galt ihm für Thorheit. Einen Feind kraftlos, wehrlos vor sich hingestreckt zu sehen, war ein Genuß. »Ein Fressen für sein Herz«, wie er sich gewählt ausdrückte.
So hatte er sich ihn lange vor sich liegen zu sehen gewünscht. So wünschte er, Mann für Mann, seine Feinde vor sich liegen zu sehen, daß er nur die Füße heben dürfte, um den Wehrlosen in die verhaßten Gesichter zu treten. Eine tolle Freude, ein frevelhafter Uebermut stieg ihm vom Herzen ins Hirn und vom Hirn auf die Zunge. Seine Kindesliebe gestattete sich eine Orgie des Hasses.
Er überhäufte den Kranken mit einer Flut von Scheltworten, Vorwürfen und Verwünschungen; er sagte ihm, daß er seine Tochter mißhandelt, jawohl, mißhandelt habe, daß er sie unglücklich gemacht, sie zum Aeußersten gebracht habe. Er nannte ihn einen Lumpen, einen Tagedieb, einen Habenichts, einen Undankbaren, der zahllose Wohlthaten durch Rohheit, Rücksichtslosigkeit und anstößiges Betragen vergolten; einen aufgeblasenen Schwindler, den sich Emma in einer verrückten Laune auf einem Opernball aufgelesen habe, und der gerade gut genug gewesen sei, ihr ein paar Jahre die Zeit zu vertreiben, das Dasein zu verleiden und aller Welt zum Gespötte zu dienen. Aber nun sei das Ende dieser albernen Komödie gekommen! Gott sei's gedankt!
Emma habe sich genötigt gesehen, die Gemeinsamkeit mit ihm aufzugeben und sein Haus zu verlassen. Gesegnet und gebenedeit habe Heribert diesen weisen und gerechten Entschluß seiner Tochter, und tausendmal fröhlicher, als damals vor Jahren von Paris nach Berlin, habe er jetzt die Reise von Berlin nach Venedig unternommen, wo es die dumme Ehe 144 zu lösen galt, die damals geschlossen werden sollte. Ob Robert sich denn einbilde, daß Emma je wieder zu ihm zurückkehren werde? Ob er sie jemals wiederzusehen hoffe? . . . Nein! Nie mehr! Und wenn er wie ein Bettler die Nächte vor ihrer Schwelle läge und winselte wie ein Hund im Frost, nicht einen Fingerbreit würde man ihm die Thür öffnen, nicht weiter als eben notwendig wäre, um ihm ein paar Groschen Almosen zuzuschmeißen.
Er solle doch gleich sagen, wieviel er wolle, damit er das Haus Meyer ein für allemal in Ruhe lasse, das er durch Mißhandlung einer Tochter, wie Emma sei, aufs schändlichste gekränkt habe. Er solle doch endlich gerade heraus sagen, was er verlange. Heribert sei bereit, es ihm hier auf den Tisch zu legen. Für die gerichtliche Bereinigung der Sache werde schon gesorgt werden! Oh, sofort nach der Heimkehr! In wenigen Wochen und Tagen! . . .
Heribert schrie, bis er heiser wurde, bis er den Atem verlor.
Robert antwortete nicht. Er lag auf seinem Schmerzenslager wie ein Mann, der vor Ekel sterben soll. Er fragte sich, ob er wieder im hitzigen Fieber träume, daß ihn ein Wahnsinniger beleidige. Und dann mußte er sich gestehen, daß das doch Wirklichkeit sei, was er sah und hörte. Jedes Wort fiel wie ein Schlag in sein Gesicht, und er, der fleckenlos Ehrliche, er, der schnöde Verlassene, der Betrogene und Gekränkte, mußte widerstandslos dulden, daß ein Wütender ihn beschimpfte, ein Gottloser, den die Schwäche des Gegners nur zu immer größerer Ausgelassenheit berauschte.
Roberts Augen gingen hin und her, seine Hand versuchte auszugreifen und die Finger auszuspannen, um irgend etwas zu packen, das er dem Frevler an seiner Ehre auf den Mund werfen könnte, aber die Hand sank alsbald schon ermattet wieder auf die Bettdecke und in ohnmächtigem Groll kratzten die Nägel an dem Laken, ohne etwas zu finden und zu fassen.
Beleidigung auf Beleidigung ergoß sich über ihn. Der schamlose Schurke da vor ihm zappelte vor Wonne mit Armen und Beinen; er tänzelte ordentlich vor der Bettstelle hin und her mit seinem Schmerbauch und seinem kahlen blutroten Kopf, dieser würdige Vater seiner unvergleichlichen Frau, und er überschrie und überschlug sich aus eitel Glückseligkeit, weil er straflos sein Mütchen kühlen durfte.
Und Robert mußte es dulden und konnte sich nicht rühren.
Er hatte ein Gefühl, wie nie zuvor ein ähnliches im Leben. Es war ihm, als löste sich eine Last, die während der letzten Minuten, seit dieser Narr in dieser Stube sein Wesen trieb, 145 geschwollen und gewachsen wäre, als löste sich ein Haufen eitel Bitternis in ihm los und durchströmte alle Adern mit Galle. Unsäglicher Ekel hob ihm das Herz, ein ekler Geschmack trat auf seine Lippen, seine Augen gingen über, und alles, was er vor sich sah, seine Hände, sein Bett und der Peiniger daneben erschien wie mit schmutzigem Schleier überzogen.
War das der Tod? Wie lange sollte er dieser empörenden Mißhandlung ausgesetzt bleiben? Er tastete wieder um sich, als könnte er sich aus all dem gelben gallbitteren Ekel aufraffen. Mit größter Anstrengung gelang es ihm, eine kleine Klingel zu fassen, die von ihm herangeschoben, nun auf der Marmorplatte seines Nachttischchens einen häßlichen schrillen Ton abschliff. Aber dann sank die Hand auch wieder herab, und die Klingel schlug mitsamt der Hand, die sie hielt, gegen die Bettstelle und schellte so nur einmal und ein wenig.
Allein die besorgte Nonne, der die Unterredung, wenn sie auch kein Wort davon verstand, schon des argen Lärmens wegen, nicht für ein Krankenzimmer geeignet schien, hörte doch das Klingeln und ward besorgt davon und fragte hinter der Thüre laut, ob sie eintreten dürfte.
»Ja!« rief Robert, so deutlich er's im stande war.
Aber noch ehe die Thüre sich in ihren Angeln drehte, war der wütende Vater Emmas ganz dicht an das Bett herangetreten, die kurzen Finger zuckten in der Luft, er wollte den Liegenden schlagen . . . da trat die Nonne staunend ein. Heribert erschrak; das letzte Schimpfwort blieb ihm in der fetten Kehle stecken; er packte mit beiden Händen seine Rockschöße und mit einer unsagbaren Gebärde sprang er zur Thüre hinaus und warf dieselbe so heftig ins Schloß, daß man nach dem lauten Knall noch eine Weile den abbröckelnden Mörtel an der Verschalung herunterrieseln hörte. . . .
Die Nonne bekreuzte sich und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Welch' ein Unmensch! . . . Oder war es der Leibhaftige selber?!«
Dann sah sie den ihrer Pflege befohlenen Kranken genauer an und schlug abermals die Hände über der weißen Haube zusammen und bekreuzte sich abermals und fing zu weinen und zu jammern an!
Ein Glück, daß bald darauf der Arzt ins Zimmer trat. Allein auch dieser erschrak sichtlich, da er seines Patienten ansichtig wurde. Und sich mit bitterem Lachen über ihn beugend, rief er aus: »Corpo della madonna! Das also war's! . . . Unglücksmensch, nun hat er auch noch die Gelbsucht!«