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Die Dorth steht an ihrem Giebelfenster und sieht ins Land. Aber sie sieht das Land nicht, das vor ihr liegt – und der Friedhof da unten, der mit seiner weißen Mauer so scharf sich hereindrängt, es ist der Friedhof nicht, den sie sieht. Sie sieht die Gräber bei Laufach, sie sieht das Grab, darin der Jörg-Adam schläft – fremd unter Fremden, nicht daheim unter den Toten. Keiner, der mit ihm gelebt hat, kein Alter, der ihn jung gesehen, und kein Junger, der mit ihm jung war: von den ersten Hosen bis zum Abendmahl und vom Abendmahl bis er groß war, groß und stattlich mit dem Schnurrbart und den festen, sicheren Blicken, mit der Kraft in seinen Bewegungen und dem starken Stolz in all seinem Verhalten – und mit all seinen Fehlern: seinem Zorn, und seiner Raschheit, seiner Unüberlegtheit und Hochfahrigkeit und seinem Starrkopf und noch viel mehr, all dem, wie es zu ihm gehörte im Guten wie im Schlimmen, was sie abgestoßen und geärgert hatte und von dem sie heut nun wußte, daß sie's doch geliebt hatte. Er war eben wie er war, wie jeder Mensch ist, wie er ist, nicht aus Wachs geformt und wie man ihn gern möchte, sondern wie ihn der liebe Herrgott geschaffen hat – und wie sie selbst auch war.
Der Septembertag streute sein Gold aus. Es ist noch einmal, als ob Frühling sei. Alles blinkt, und die Wolken, die am Himmel ziehen, sind hell und eilend. Aber das Grün der Wiesen ist nicht licht, es ist dunkel, und da und dort erscheinen schon die violetten Teppiche, die von den Herbstzeitlosen gebildet werden. Die Weinberge werden braun, die Nußbäume in den Wingerten scheinen schon nicht mehr grün, das Laub in den Obstbäumen ist gelb umrandet und flüstert nicht mehr weich und zart, es ist ein Rascheln in seinem Ton, und dieser Ton ist hart. Im Laub aber hängen die roten Äpfel, 's ist kein Frühling, der Frühling ist Trug, 's ist der Herbst, und der September neigt sich seinem Ende zu. Es ist kein Wachsen und Werden mehr in der Welt: es ist Stillstand, Niedergang. Es ist Reife.
Die Trauben sind in der Zeit, daß das Weichwerden beginnt, und abends kommen die Nebel, die sie drücken und behauchen, und morgens, spät erst – und mit jedem Tag später – ziehen sie wieder davon. Es ist Friede im Land – und man versteht kaum mehr, was geschehen war. Krieg – was hatte man für ein Interesse dabei gehabt, was war er einen angegangen! Nichts. Was hatte er für einen Anlaß gehabt, was für einen Zweck? Man fragte sich. Es war ein nichtsnutziger, ein unnötiger Krieg gewesen – er hätte nicht zu sein brauchen, und man hätte von ihm verschont bleiben können.
Es ist Friede im Land, und die ärgsten Wunden beginnen schon wieder zu heilen. Es sind die ärgsten Wunden, die zuerst damit beginnen, die Wunden, die die größte Trauer verursacht haben. Bald werden die Bäume ihr Laub auf die Gräber streuen – und wie bald wird Allerheiligen sein. Und alles wird wieder winterstill in der Welt, und die Menschen sitzen beisammen in den Stuben.
Die aus dem Krieg heimgekehrt sind, wissen Geschichten zu erzählen, sie sind stolz und brüsten sich – und an den Wirtstischen geht's nicht so lärmend her, die Kartenspielchen setzten ein wenig aus, und alles hört ihnen zu. Heldentaten! Und jeder ist stolz drauf, daß er lebt – und es ist doch nur ein Zufall, daß er lebt.
Die Politik erregt noch die Geister. Ein paar sind, die anfangen, das Neue zu begrüßen, das unbedingte Schimpfen und Absprechen fängt an, den Oberton zu verlieren. Hier und da wagt einer zu sagen: »Bismarck ist ein großer Mann!« – und die andern sitzen stumm und ducken sich ein wenig. Sie haben ja auch nicht recht behalten mit dem Preußischwerden; der Großherzog ist doch geblieben, und das Hessenland ist nicht geschluckt worden. Das hat doch die meisten befriedigt. Hitzköpfe gibt's natürlich immer noch. Aber so auf einmal geht das Alte nicht ins Vergessen. Frankfurt ist nach seiner »Eroberung« preußisch geworden. Man kann nicht mehr so stolz sagen, wie man das früher getan hat: Frankfurt! Die freie Stadt! Und Hessen hat sein »Buchfinkenland« eingebüßt, das schöne »Hinterland« mit Biedenkopf, von dem man Bilder gesehen hat, wie schön's gelegen ist. Mainz aber haben ganz die Preußen besetzt. Preußische Uniformen, preußische Befehle, preußische Musik. Trommeln und Pfeifen. Immer die gleiche eintönige Melodie: »Was backe die Bäcker die Weck so klän«. Die Österreicher mußten abziehen. An allen Toren Preußen: am Gautor, am Neutor, am Binger Tor, am Gonsenheimer Tor, aber wo's einem am meisten leid tut: am Münstertor. Das traditionelle Tor der Österreicher. Man kann sich's nicht denken, daß das anders geworden ist, man kann die Barschheit noch nicht vertragen, wo früher die Gemütlichkeit war. Alte Mainzer Gemütlichkeit – ein Teil von ihr ist mit den lustigen, leichtlebigen Österreichern fortgezogen. In der »Bockshaut«, im »heilig Geist«, im »weißen Rößchen«, in der »Matzenkist« und im »scheppen Eck« – nirgends mehr eine helle österreichische Uniform, nirgends mehr eine Gelegenheit, einen »Zwockel« aufzuziehen. Mittags um zwölf zieht preußische Wache auf der Hauptwache am Liebfrauenplatz auf – das Fischtor hat seine Poesie verloren – auf dem Schillerplatz vor dem Gouvernement spielt eine preußische Kapelle. Mainz ist nicht mehr Mainz – und der Mainzer weiß nicht mehr recht aus sich herauszugehen, es hängt den Leuten etwas an. Sie sind nicht zum Hassen geschaffen – und sie hassen nun auf einmal. Schwarzweiße Fahnen auf den Militärgebäuden, und auf dem Schloßplatz strammer Exerzierdrill. Man ist gespannt auf die nächste Fastnacht.
So geht die Zeit.
Die Dorth ist ganz allein. Sie hat keinen Menschen. Die Annelies – aber was soll sie mit der Annelies noch reden! Was mit der zu reden ist, ist geredet. Der Vater ist knurrig und abstoßend gegen sie. Eine Freundin hat sie nicht. Von Jugend auf außerhalb des Dorfes hier in der »schönen Aussicht«, da haben sich die Freundinnen aus der Schulzeit bald verlaufen. Sie fand nicht zu ihnen ins Dorf, sie fanden nicht zu ihr heraus – oder nur selten, und keine, die ausdauernd gewesen wäre. Die Blume Marie hat sich verheiratet. Es hatte sich gemacht, daß sie am gleichen Tage mit dem Karlinchen Reinhart Hochzeit hatte. Das Karlinchen mußte im schwarzen Kleid und ohne Kranz sich trauen lassen – ihr Zustand war ja dorfbekannt – die Marie trug ein weißes Kleid und den Myrtenkranz mit einem Schleier. Auf dem Kirchplatz hatten sich viele Leute angesammelt, und als ob es eine Verabredung sei: es standen eine Menge Mädchen da mit kleinen Kindern auf dem Arm. Die kleinen Kinder – und das Karlinchen, das fromme Karlinchen in seinem Zustand! Sicher war etwas beabsichtigt – es war ja deutlich – und die Mädchen waren alle voneinander angesteckt: jedes griff ein Kind auf, und wenn's ihr noch so schwer auf dem Arm wurde. Spott – und ein bißchen Volksjustiz! Auf der Kirchentreppe aber standen die Buben mit den Hemmstricken, auf jeder Treppe ein Paar. Die Hochzeitsleute sollten recht lange aufgehalten werden.
Drinnen brauste die Orgel. Der Vetterlein spielte sie mit allen Registern, er hatte dem Döffchen ein tüchtiges Stück ausgesucht.
Drinnen wußten sie noch nicht, was hier außen geplant war. Oder wußten sie's doch, denn alle Bänke waren voll in der Kirche. Es war doch aber auch: der alte Goschel mit der Blume Marie und der Döffchen mit dem Karlinchen, das der Mutter Gottes die Füße abgebetet hatte und nun doch so an den Altar treten mußte – weil sie sich halt den Döffchen hatte einfangen wollen.
Die garstigen Reden gingen schon unter den Wartenden um, und die Aufregung vor dem Streiche tat sich kund. Da stand auf einmal der Bürgermeister Schwarz unter ihnen und sagte: »Ihr sollt euch schämen!« Sonst nichts – er sah nur alle an mit seinen großen Augen.
Ein Kind nach dem andern glitt von den Armen – die Hochzeitspaare wurden auf der Treppe »gehemmt«, und der Goschel ließ sich so wenig lumpen wie der Döffchen: sie teilten beide reichlich die Sechskreuzerstücke aus, mit denen sie sich schon vorgesehen hatten. Der Skandal war vermieden, und der Bürgermeister Schwarz ging an den Paaren vorbei und zog den Hut. Das war ganz so die Art vom Bürgermeister Schwarz, der allen überlegen war: ohne viel Worte.
So war ihnen der Hochzeitstag glücklich vorübergegangen – aber dem Döffchen waren von dem Tage an die »Sprenkel« vergangen, und der Goschel tanzte nicht mehr »auf dem Strich« – die Weiber hatten in beiden Haushalten die Hosen an und führten strenges Regiment. Strenges und gutes, es muß gesagt sein. Das war dem Döffchen gegönnt wie dem Goschel, und es wäre schwer gewesen zu sagen, wem es mehr gegönnt war. In dem Gedanken freilich, daß die arme Blume Marie schließlich doch eine wohlhabende Frau geworden war, entdeckten die Leute doch noch ihre guten Herzen.
Es ging stärker in den Herbst mit jedem Tag. Auf allen Höfen wurden jetzt Fässer und Butten geschwenkt – im »Floß« lief den ganzen Tag das Schwenkwasser, das diesen merkwürdigen Faßgeruch an sich hatte, der so eigen in der Nase prickelt – ähnlich, wie wenn der Neue in den Kellern gärt und sein Duft aus den Kellerlöchern aufsteigt – die Mägde scheuerten jetzt die Kelterteile und stellten sie an die Sonnenseite der Häuser zum Trocknen, der Küferschorsch arbeitete auf der Straße vor seiner Werkstatt, baute Fässer, fügte die Dauben zusammen von solchen, die zusammengefallen waren, klopfte einen so eigentümlichen Takt, wenn er die Reifen antrieb, und wenn er die Fässer pichte, dann brannte sein Feuer so lustig, und das Pech hatte so einen süßen Geruch.
Die Nebel hingen länger in den Wingerten und drückten die Trauben und hüllten die Hügel ein; bald aber umfingen sie das ganze Dorf, daß nur noch der Kirchturm daraus hervorragte, denn unten lagen sie am schwersten und dichtesten.
Da half es der Dorth auch nichts, daß sie am Giebelfenster ausschaute; sie blieb allein. Kamen auch noch so viel Leute in die Wirtsstube, sie war am meisten allein und fühlte es am meisten, wenn recht viele Menschen da waren. Aber jemand zu haben, bei dem sie hätte sprechen und weinen können, auch wenn sie keinen Zuspruch gefunden hätte; aber sich einmal das Herz leicht machen, nicht verlacht, nicht abgestoßen zu werden. Jemand, der auch ein Herz hatte, und der wußte und begreifen konnte, wie wehe das Leidsein tat.
Sie hatte aber niemand – niemand kam zu ihr, zu niemand kam sie.
Da fiel ihr der Vetterlein ein. Hatte sie ihn ganz vergessen, hatte er sie ganz vergessen? Er brauchte ja nichts zu tun, als sich an das Tischchen zu setzen und seinen halben Schoppen zu trinken – und dann und wann einmal drauf zu hören, wenn sie ihm etwas Vertrauliches sagte. Oder wenn es auch nichts Vertrauliches gewesen wäre, wenn sie nur dann und wann einmal ein paar Worte hätte mit ihm sprechen können, die anders waren als die, die sie zu den anderen Leuten sagte, die ihr gleichgültig waren.
Der Vetterlein hatte sich ganz in seine Schullehrerstube zurückgezogen. Er war gewissenhaft in der Vorbereitung für seinen Unterricht. Das besorgte er täglich. Dann, wenn die Dämmerung hereingebrochen war, stellte er sich an das Fenster, das nach dem Schulgarten ging, und lauschte auf den Röhrbrunnen, der hinten an der Mauer lief, oder machte sich seine Gedanken über die alte, hohe Schloßmauer, die aus früherer Zeit her übrig geblieben war und heute keinen Stein mehr sehen ließ, denn der alte Efeu deckte sie völlig und lag auch noch wie ein Hahnenkamm voll oben auf ihr.
War dann die Dämmerung so tief gesunken, daß man nichts mehr unterscheiden konnte und nur das Plätschern des Röhrbrunnens noch hörte, dann zündete er sich seine Pfeife an und machte mit dem Feuer auch gleich Licht. Dann rückte er sich die Truhe vor, öffnete sie langsam, saß ein Weilchen verträumt vor ihr und nahm endlich ein Briefblatt heraus, mit vorsichtigen, feierlichen, genießenden Fingern, wie man kostbaren Schmuck oder seltene Kunstwerke anrührt. Jeden Tag ein Blatt – das füllte seinen Abend – und alle seine Tage waren still vor der Truhe, die ihn in die Vergangenheit führte – der Lärm der Gegenwart – kaum der ärgste Kanonendonner der Schlachten – erreichte ihn dabei.
Jeden Tag ein Blatt – und jedes war ein Herzschlag seiner Mutter – bald ein hoher und froher, bald ein müder und trauriger. Liebe, Leid, und Leid und Liebe im Auf und Nieder – und zuletzt doch immer in dem Einen, Warmen, Seligen: Liebe, auch wo das Leid schon dauernd seine harten Hände um sie geklammert hatte.
Und der Vater – dann und wann ein Brief nur von ihm. Die Mutter hatte wohl befolgt, was er immer wieder gebeten, hatte seine Briefe verbrannt, und nur dann und wann war einer dem Flammentode entgangen. Nie der Name des Vaters – nur der Vorname: Emerich Joseph.
Tag um Tag ein Blatt – immer näher rückte seine eigene Geburt heran. Der Mutter Nöte und Ängste, ihre Tagessorgen, die auf ihr lasteten und ihre Besorgtheit um das Kind unter ihrem Herzen. Wie Tropfen, vereinzelt und versteckt, wie Tränen, die nie aus dem Lid des Auges treten durften, wie Seufzer, die nie die bange Brust verlassen haben, so tief weh in ihrem Verschweigen: ein Stöhnen um ihre Ehre! Aber immer wieder ein Gutsein, ein Frohsein, Zureden und Vertrauen. Eines Weibes Schicksal, einer Mutter Selbstlosigkeit.
Tiefer als das Helle in dieser Liebe fühlte der Vetterlein das Dunkle: ihre Schmerzen.
Dieses ist das Glück, das dem Menschen gegeben: das Leid.
Die Truhe war nun beinahe leer – unten lag ein großer Brief, mit einem schwarzen Band umbunden. Der Vetterlein wagte ihn nicht anzurühren, er war der letzte. Lang waren die Abende, da er vor der Truhe gesessen hatte, ohne den Brief herauszunehmen. Er konnte sich denken, was er enthielte. Nicht umsonst hatte ihn die Mutter mit einem schwarzen Band umbunden – und aus dem Inhalt der Briefe war es zu sehen gewesen, daß sie absichtlich die ältesten zu oberst gelegt hatte. Hatte sie das Freudige nah – das Traurige entfernt haben wollen? Hatte sie das Traurige bedecken wollen mit all dem Frohen ihres Erlebens? Hatte sie sich's selbst schwer machen wollen, zum Schmerzlichen vorzudringen, durch alles Freudige hindurch, indem sie den Anfang zu oberst und den Ausgang zu unterst gelegt hatte? Sie hatte gewiß ihren Grund gehabt. Vielleicht hatte sie das eine vergessen und sich des andern gern erinnern wollen – oder vielleicht hatte sie dem Vater nahbleiben wollen in all dem, was er ihr an Glück gegeben und ihn darin für sich behalten, wie man immer behalten will, was des Glückes ist, und sich entschlagen, was des Kummers. Sie hatte wohl ihren Kummer getragen ihr Leben lang, aber ohne Vorwurf, ohne Bitterkeit und ganz besonders ohne Haß. Denn es war alles Güte gewesen, was sie ausgegossen über ihn, der er doch seines Vaters Kind und seine Schuld war.
Dann nahm der Vetterlein endlich den letzten Brief die Pfeife hatte immer in der Ecke gestanden, wenn er zu lesen angefangen hatte, heute aber war sie nicht einmal angezündet gewesen. Es war ihm schwer und feierlich.
Er las den Brief – es war der Absagebrief – er war nicht hart und schroff, er war bittend, erklärend, bedauernd. Es war noch Liebe in ihm – aber nur, wie ein blinder Glanz, wie altes Gold ihn annimmt – sonst war er voller Vernünftigkeit.
Es waren zwei getrennte Welten gewesen, der vornehme Student der Rechte und die arme kleine Näherin. Die Liebe hatte sie vereinigt – in einem Rausche der Jugend, im baldgewohnten Glück der frühen Jahre – fraglos war ihr Nehmen gewesen, banglos ihr Geben – die Welt trennte sie nun. Das setzte er ruhig, ehrlich, schonend auseinander. Er werde für sie sorgen, für sie und seinen Sohn. Werde der auch seinen Namen nicht tragen können, seine Vornamen trage er doch – sein Teil von ihm, sein Teil von ihr, auch vor der Welt. Dann die Bitte, ihm zu verzeihen. Und dann seinen Namen, den vollen Namen: Emerich Joseph Sartorius.
Der Vetterlein las ihn zum ersten Male – und es war ihm, ein Schwindel befalle ihn. Er wiederholte den Namen: Emerich Joseph Sartorius. Der war sein Vater. Heute war er wohl ein Greis, angesehen, geehrt. Oder vielleicht lebte er auch nicht mehr. Konsul Sartorius gab's in Mainz – eine alte, vornehme Mainzer Familie. Ob er ihn je gesehen hatte? Ob er heute von seiner Existenz wußte?
Die Mutter hatte wohl nie seine Hilfe in Anspruch genommen. Sie hatte ihren Sohn allein erzogen – es sollte ganz allein ihr Sohn sein.
Der Vetterlein reichte im Geiste beiden die Hand. Ja, beiden. Er konnte sie beide verstehen – und er konnte nicht zürnen. Die Menschen sind schwach, aber darum sind sie nicht zu verdammen. Wir sind nicht gesetzt, zu richten – und Schicksal ist nicht Schuld. Mensch ist Mensch.
Er trat vor die Kommode und betrachtet die Silhouette des Vaters, den er nun auch kannte – und er trat an das Fenster und sah ins Dunkel und grüßte seine Mutter in seinen schönsten Erinnerungen, die er von ihr hatte.
So war es ganz still um ihn – und es wurde ganz still in ihm. Eine Weile – eine schöne, selige Weile.
Er trat wieder an die Kommode, auf der die herausgenommenen Briefe aufgestapelt lagen. Er strich darüber mit einem seltsamen Wohlgefühl.
»Das ist die Liebe meiner Mutter gewesen. Sie war eine arme Frau, die viel gelitten hat. Es steht so wunderbar darin – und es ist so wunderbar darin verschwiegen. Briefe und da lagen sie die Jahre all in der Truhe eingeschlossen mit ihren leisen, zarten Worten, die so stark sind. Und doch nicht stark genug sind, die größten Schmerzen zu sagen; denn dafür reichen Worte nicht aus.«
Der Brief mit dem schwarzen Band lag abseits. Er wiegte ihn in der Hand.
»Ich bin ein uneheliches Kind.«
Hatte er das nicht schon immer gewußt? Ja, er hatte es gewußt, ohne es zu wissen – es war ihm nie – aber auch nie – klar und erkenntlich vor Augen getreten. Als er den Brief gelesen hatte, hatte er einen Augenblick gemeint, es werde ihn schwer treffen – war's nun, weil er's im Grunde doch schon immer gewußt hatte – oder war's nicht brutal genug, wie er's hier gelesen hatte – es ging an ihm vorbei. Hatte er ein Zeichen davon – was zählte es schließlich!
Versonnen blickte er in die leere Truhe. Da war's ihm doch auf einmal wie ein Brandmal – die Dorth fiel ihm ein. Alles Wünschen sank in ihm zusammen, und es kam eine sonderbare Stille in ihn, ein totes Schweigen, ein Verstummen. Wie Sommerwinde verstummen in zerfallenem Gemäuer, weil sie nur hell klingen können im blühenden Feld draußen, wo es weit und frei ist, und auf den leuchtenden Hügeln, wo ihre Flügel glänzen.
Es zwang sich, seine Briefe einzuräumen. Er tat es nicht mit der Vorsicht, mit der er sie ausgeräumt hatte. Als er die Truhe schloß, sagte er vor sich hin:
»Es gibt am Ende doch nichts Schöneres, als einem Menschen die Tränen abgenommen zu haben. Das hab ich doch meiner armen Mutter getan, und damit könnte mein Leben schon erfüllt sein.«
So war er nun, wer er war. Langsam sprach er seinen Namen aus: »Emerich Joseph« – seines Vaters Namen, den er trug – und dann: »Vetterlein« – seiner Mutter Namen.
Das war er, daraus bestand er. Und er war Schullehrer hier im Dorfe – er gehörte hierher, wo er fremd war. So lag's aber schon in seinem Namen: Emerich Joseph Vetterlein.
Er war ein Sartorius, ohne einer zu sein. Er mußte über sich selbst hinwegkommen, nicht an sich leiden, sich vielmehr so anerkennen, wie er geboren war.
Nebenan in Kretzers Hof krähten die Hähne. Das Schulhaus hatte diesmal die Nacht versäumt – und nun pochte der Morgen an sein Tor und rief ein hartes Wort: Pflicht!
Dem zu gehorchen war aber der Vetterlein gewohnt.