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Im Hoftheater zu D. wurde »Das Bild,« ein Trauerspiel von Ernst von Houwald aufgeführt. Auf den letzten Bänken im Parterre befanden sich ganze Reihen von Fremden, welche der schöne Herbst auf die Reise, welche der günstige Ruf des Houwaldschen Dramas aus dem Freien ins enge Schauspielhaus gelockt hatte. Sie saßen bunt durcheinander gemischt, wie Zufall oder Willkür sie zusammen geführt. Gäste der ersten teuersten Hotels waren zwischen Bewohner geringer Gasthäuser dritten Ranges gepfercht, und alle plauderten hin und her, nach links und rechts, vor und hinter sich mit ihren Nachbarn und über diese hinweg, so lange der Zwischenakt dauerte. Denn während der Handlung blieb die Aufmerksamkeit ungestört auf das darstellende Personal gerichtet, über dessen Verdienste sich alle Fremde zu einstimmiger Anerkennung verbanden. Weniger harmonisch fügten sich ihre Urteile über die Dichtung. Die widersprechendsten Meinungen thaten sich kund. Der eine rügte sentimentale Weichlichkeit, welche nur bleichsüchtige, alternde Jungfern entzücken könne; der andere dagegen nannte die Grundidee grauenhaft, schauerlich, unästhetisch, galgentümlich; der dritte tadelte die undramatische Conception; der vierte fand die Verse schlecht; niemand jedoch leugnete ab (denn weil sie nicht Recensenten von Beruf, waren sie nicht zu heucheln gezwungen), daß ihn dies Schauspiel im ganzen fessele, und daß ein warmer Lebenshauch darin wehe und walte.
»Und was wollen Sie mehr für Ihre acht guten Groschen, meine Herren!« sprach ein Mann von etwa vierzig Jahren, der mitten unter ihnen saß und sich bis jetzt dadurch ausgezeichnet, daß er nicht ein lautes Wort hören lassen. Sie sahen sich alle nach ihm um ... sie fragten einer den andern ... niemand kannte ihn; niemand wußte zu sagen, wie er heiße, welches Standes er sei, in welchem Gasthofe er wohne! Sein Äußeres war auf den ersten Anblick zurückschreckend. Eine glühend rote Narbe lief von Schädel und Stirn zwischen Auge und Nase über die rechte Wange bis ans Kinn hinab und schien sein Angesicht in zwei ungleiche Hälften zu spalten. Das mußte eine furchtbare Wunde gewesen sein! Der schärfste Säbel mußte sie gehauen, die Faust eines Riesen müßte den Säbel geführt haben. Aus dem entstellten Antlitz lachten zwei wunderbare Augen. Wen ihr mildes Feuer traf, auf wem sie freundlich ruhten, der fühlte sich versöhnt mit dem abstoßenden Anblick der Narbe. Sie stellten beinahe wieder her, was mörderischer Stahl vernichtet: die Schönheit des zerstörten Gesichts, der edlen Züge.
Ihm zunächst saß ein junger Maler, der bis dahin absichtlich vermieden, ein Gespräch anzuknüpfen, weil sein künstlerischer Sinn sich aufgelehnt gegen den scheinbaren Bramarbas, der seinerseits eben auch nichts gethan, in nachbarliche Beziehung zu geraten. Jetzt, nach aufmerksamer Betrachtung, schwand das ungerechte Vorurteil. Eine kollegialische Empfindung erwachte im angehenden Künstler für den vielfach getadelten Poeten; wahrscheinlich gedachte er an manche wegwerfende Kritiken, die über seine eigenen Bilder, seine in Fleiß und Liebe gemalten Erstlingswerke bei der letzten großen Ausstellung erfolgt waren, und deshalb freute er sich, daß der Nachbar mit der Schmarre sich des Schauspieles »Das Bild« annehmen wollte. »Sie haben sehr recht, mein Herr,« sagte er vertraulich, »den wähligen Herren ihre Undankbarkeit vorzuhalten. Das Stück mag große Schwächen haben; ohne inneres Leben kann's doch nicht sein, sonst würd' es auf der Bühne nicht lebendig werden. Kennen Sie vielleicht den Verfasser?«
»Ich höre seinen Namen heute zum erstenmal. Nach fünfjähriger Abwesenheit erst seit wenigen Tagen wieder im Innern Deutschlands, ist mir alles unbekannt, was unterdessen auftauchte.«
»Dann sahen Sie auch wohl die hiesigen Schauspieler vorher nicht?«
»Niemals. Aber Sie?«
»Ich befinde mich bereits länger hier und versäume selten eine interessante Vorstellung. Wünschen Sie etwa über jenen oder diese nähere Auskunft?«
»Sie kommen meiner Bitte zuvor. Wollen Sie mir den älteren Mann nennen, der den Marchesen giebt?«
»Ei, das ist Werdy.«
»Ob ich mir's nicht dachte! Noch einer aus der alten Schule; man hört's aufs erste Wort; man sieht's beim ersten Blick. Und worin liegt das nun? Wär's nur Einbildung?...«
Der Fremde schien den gefälligen Maler neben sich zu vergessen, während er in vergangene Zeiten träumerisch versank. Der Nachbar ehrte sein Schweigen und störte ihn nicht. Erst das Aufrollen des Vorhangs rief ihn zur Gegenwart zurück.
»Diese liebliche Frau,« fing der Maler leise flüsternd wieder an, »welche die Camilla spielt, ist Madame Schirmer, die beliebteste und belobteste der hiesigen Schauspielerinnen.«
»So, so! Und die Vertraute der Camilla?«
»Das ist die ehemalige erste Liebhaberin, zu ihrer Zeit eben so ausgezeichnet durch Gunst und Achtung, wie jetzt noch die Schirmer. Es mag der Madame Hartwig schwer genug ankommen, nun so nebenher zu laufen.«
»Hartwig haben Sie gesagt? Diese alternde kleine Person wäre Madame Hartwig, geborene Werthen? ...« Und er gedachte der Mitteilungen, die Hagemann ihm in Ludwigslust gemacht von ihrer Krankheit, von den Milchbädern, von dem Feste bei ihrer Genesung. . . er verfiel wiederum in düsteres Nachsinnen.
Der Maler betrachtete ihn aufmerksam und dachte wohl: Der Mann hat mit der Theaterwelt in genauer Verbindung gestanden!
»Noch eine Frage,« hob Wulf nach langer Pause an ... denn daß es unser Freund ist, den wir da wieder finden, wissen meine Leser schon; ... »wer ist der Herr, welcher den deutschen Ritter mit sozusagen modern-militärischem Anstande spielt?«
»Sie haben da treffend ausgedrückt, was ich an ihm zu tadeln fand, ohne doch zu wissen, worin es sitze. Modern-militärisch ist das bezeichnende Wort. Daher mag es auch kommen, daß er mir als Tellheim in Lessings Minna so ausnehmend gefiel. In dieser Rolle gedieh zum höchsten Vorzuge, was in anderen Stücken leicht störend werden kann. Er gilt übrigens hier durchweg für einen vortrefflichen Schauspieler. Sein Name ist Julius.«
Wie der Maler sich wenige Minuten nachher wieder mit einer Bemerkung an den Nachbar wenden wollte, hatte dieser sich unbemerkt verloren, vor Abschluß der Tragödie.
Wer ihm hätte nachgehen wollen, würde ihn am kühlen regnichten Abende auf der berühmten Terrasse gefunden haben, wo außer den Schildwachen sonst kein Mensch mehr weilte, und wo er, Wind und Wetter nicht beachtend, lange auf und ab wandelte.
»Julius! Will's wohl glauben, daß der die militärische Haltung auf der Bühne nicht mehr los wird. Mehr Offizier als Schauspieler! Und muß dennoch Lust zur Sache gehabt haben, sonst hätt' er die Uniform nicht zum drittenmal ausgezogen. War schon Rittmeister. Ehrenvolle Stellung! Von den Kameraden geachtet und geliebt, dekoriert, als braver Soldat bekannt. Jetzt wieder Komödiant ... nicht doch; königlicher Hofschauspieler. Da sitzt's! Das klingt denn gleich anders. Er hatte leicht wieder auftreten; fand überall offene Thüren, wo er anklopfte. Ein bißchen verwundet, aber nicht schwerer, nicht tiefer wie gerade nötig, um die Teilnahme schöner Welt zu steigern. Nicht verunstaltet, nicht zur Fratze entstellt, gleich gewissen Leuten, die ... Ob ich ihn aufsuche? Nicht doch! Er müßte denken, ich käme ihn anzubetteln. Ohne Auszeichnung, gemeiner Soldat geblieben, ihm ein Fremder ... nein, kein Fremder! Hat er mich nicht agieren sehen? War er's nicht, der die Achseln gezuckt zu meinen patriotischen Reden? Sein Beispiel ward mir vorgehalten; ihm verdanke ich die einzige Stunde meines Lebens, die es wert war, daß ich überhaupt gelebt habe. Ihm verdanke ich die Narbe, die mein Antlitz in zwei Teile und mich für immer vom Komödienspiele trennt. Für beides hab' ich ihm zu danken. Morgen des Tages such' ich ihn auf!«
Nachdem er diesen Entschluß gefaßt, gab er ferneren Kampf wider Wind und Regen auf. Fröstelnd ging er ins dürftige Gasthaus, wo er im ärmlichsten aller Gemächer eingekehrt war. Er durchzählte seine Barschaft und machte die niederschlagende Entdeckung, daß die letzte der größeren Silbermünzen, die er noch besessen, heute Abend in die Hoftheaterkasse gefallen sei. Was er von kleineren Ausgleichungsmittelchen in der Börse vorfand, genügte kaum für die unentbehrlichsten Bedürfnisse weniger Tage. Er legte sich nieder mit dem Gedanken: »auf diese Weise wird es allerdings ein Bettler sein, der dem Theaterkollegen und Kriegskameraden morgen ins Quartier rückt. Schlimm genug für ihn und noch schlimmer für mich! Doch das soll mich nicht hindern zu schlafen und zu träumen .. geliebt's Gott, von ihr!«
* * *
Es ist eine Erfahrung, die ich häufig gemacht und vielfach bestätigt gefunden habe, daß ehemalige tapfere Krieger, in dm Ruhestand des friedlichen, aber unverheirateten Bürgers zurückgetreten, sich lieber von einer alten Aufwärterin wie von einem männlichen Diener ihren kleinen Haushalt führen lassen. Sie unterwerfen sich den Launen einer solchen Person, die gar bald ihre Gebieterin wird, desto gehorsamer und resignierter, je strenger und gebieterischer sie früher im Dienste sich zeigten, je mehr sie auf Subordination hielten. Ja, hat sich solch' altes Geschöpf erst wanzenartig eingenistet, dann fürchten sie sich wohl vor ihr und lassen sich alles gefallen. Wie viele tüchtige Haudegen hab' ich gekannt, vor denen einst ihre Schwadron gezittert, und die nun vor einem gekrümmten, zahnlosen Mütterchen zitterten, als wär's ein Divisionsgeneral in Weiberkleidern, oder gar der Kommandierende.
Der brave Mann, den unser Wulf zu sprechen verlangte, war schon auf dem besten Wege, künftig ein Sklave seiner Haushälterin zu werden. Diese, einstweilen ihm erst an Jahren überlegen, empfing den Besuch nicht zuvorkommend. Dennoch entschloß sie sich aus Mitleid fürs zerfetzte Gesicht, wie sie vernehmen ließ, ihn einzuführen – »obgleich ihr Herr auf den Prinzen von Homburg studiere und abscheulich fluchen werde, wenn sie ihn unterbreche. Wen hab' ich anzumelden?« fragte sie.
»Den Tod,« entgegnete Wulf.
»Himmlischer Heiland!« kreischte sie auf und prallte vor Entsetzen zurück.
»Ich nenne mich so,« sprach er beschwichtigend. »Sie dürfen darüber nicht erschrecken; es ist eben auch nur ein Name wie Fröhlich, Gutsmuths, Lieberkühn, Rindsmaul, Rittersporn, Amor Thebesius, Hochgeladen, Sauer, Süß, Schön, Krätzig, Niedergesäß, Lutekus, Niesemäuschel. Kirchhof, Rumpel, Humpel, Grumpel, Zumpel, Storch, Zeisig, Fink, Hund, Ziegenhals, Käsemodel, Dreckschmidt, Leutgeriechel, Afffelknab, Saufüssel und andere, die ich allerseits persönlich kenne. Klang' es nicht noch erschrecklicher, wenn ich Sie ersuchte, mich als ›Pförtner von der Hölle‹ zu annoncieren? Und doch giebt es keinen umgänglicheren, liebenswürdigeren Herrn, als denjenigen, dem ich einst in Piastau unter diesem Namen begegnete.«
»Sie sind ein Spaßvogel, merk' ich, samt Ihrer Schmarre,« lachte die Alte.
»O ja, der Tod macht auch seine Spaße. Wer nur Spaß versteht, der steht sich ganz gut mit ihm; besser als mir die Schmarre.«
»Treten Sie hinein,« sprach die Aufwärterin, ihrer Sache sehr ungewiß, nachdem sie ihn drin gemeldet.
Ihr Herr mochte wohl viele Besucher zu empfangen und zu beschenken haben, welche, auf die Jahre dreizehn und fünfzehn sich berufend, nach abgeschlossenem Weltfrieden keinen Abschluß ihres eigenen Krieges mit der Welt gefunden oder ... nicht finden wollten. Er reichte, wie einer der schon in der Übung ist, mit stabiler Formel: »Hier, mein lieber Kamerad!« einen Thaler hin, ohne sonderlich auf den Empfänger zu achten, ohne den Blick ganz von seiner Rolle zu erheben. Erst da Wulf den Thaler nicht nahm und freundlich sagte: »Schönen Dank; ich begehre so eigentlich kein Almosen!« – da schlug Julius die Augen recht auf und rief alsogleich: »Kreuzsakkerment, das ist einer aus dem ff! Wo haben Sie sich den geholt?«
Wulf erzählte das in den bescheidensten Ausdrücken.
Julius reichte ihm die Hand und sagte dann verlegen: »Was führt Sie zu mir? Meine Gabe verschmähten Sie ... kann ich Ihnen sonst dienlich sein? Ich wüßte nicht, daß wir jemals in Beziehungen zu einander gestanden hätten.«
»Doch wohl, wenngleich Sie's nicht wissen,« erwiderte Wulf und erklärte ihm den Zusammenhang.
»An jenen Abend und Ihren Auftritt,« gestand Julius ehrlich, »vermag ich mich durchaus nicht zu erinnern; noch weniger an meine verächtliche Pantomime, deren Sie Erwähnung thun. Doch ich darf nichts bestreiten; darf mich auf mein Gedächtnis nicht verlassen. Ich bin etwas zerstreuter Natur, weshalb ich auch den üblen Ruf habe, daß ich mich häufig verspreche oder sonst Unsinn auf der Bühne rede. Man trägt sich mit verwünschten Geschichten von mir, wie ich höre.«
»O ich weiß,« sagte Wulf lächelnd.
»Sind Ihnen dergleichen bekannt? Dann, bitte, teilen Sie mir einige mit.«
»Sie wollen's nicht übelnehmen?«
»Im Gegenteil, ich will mich daran erlustigen!«
»Nur zwei Pröbchen, die mir gerade einfallen. Der Prinz in Emilia Galotti soll Contis Kunstwert anreden: ›Wer dich auch besäße, schöneres Meisterstück der Natur! Was Sie dafür wollen, ehrliche Mutter! Was du willst, alter Murrkopf! Fordere nur!‹ Herr Julius, an jenem Abend besonders zerstreut, habe den dem Vater geltenden ›Murrkopf‹, behauptet man, zu früh gebracht und ausgerufen: »Was Sie dafür wollen, ehrlicher Murrkopf von Vater!« Dann sei ihm die Mutter (zu spät) durch den Einbläser zugeflüstert worden, und um zu steigern, habe er in der Angst hinzugefügt: »Was du willst, alter Brummbär von Mutter!«
Julius lachte laut auf: »Das ist wahr! Auf Ehre, das ist wahr! Die alte K., eine wahre Hexe von Weib, spielte Claudia und ließ sich nicht ausreden, ich hatte das absichtlich gethan. O noch mehr, Bester! Ich amüsiere mich an mir.«
»Ein andermal gab Herr Julius den Söller in Goethes Mitschuldigen, eine seiner genialsten Lustspielrollen, die er fest inne hatte, und woran ihm nicht eine Silbe fehlte. Die böse Theaterwelt will wissen, an jenem Abend habe sich in der nächsten Loge eine vornehme Dame befunden, welche ihm nicht gleichgültig, und welcher er nichts weniger denn gleichgültig war. Diese Nähe habe ihn irre gemacht, und er habe seiner Sache gewiß voll Zuversicht peroriert:
»Ja, ja, das ist schon was, das ist ein guter Kunde;
Allein Minuten sind erst sechzig eine Stunde,
Und dann weiß Herr Alcest, warum er hier ist! – Wie? –
Ach,
Aprapa Popo! Man sagt mir heute früh,
In Deutschland' ...
und so weiter.«
Diesmal lachte Julius nicht. Er gestand willig ein, daß ihn die Erinnerung an jenen lapsus linguae heute nach Ablauf von beinahe zehn Jahren noch immer mit Ärger und Beschämung erfülle. »Werden Sie glauben,« sagte er, »daß ich mich nachher nicht mehr entschließen konnte, der gewissen Logendame jemals wieder vors Gesicht zu treten? Ich gab lieber den ganzen Handel auf, der doch viel versprach. Eine Resignation, die...«
»Die Ihnen sonst sehr fern liegt,« ergänzte Wulf; »Sie gelten für einen Don Juan.«
»Je nun, ich will nicht leugnen, ich habe mich früher ein wenig auf seinen Fährten herumgetrieben. Doch hat es kein Höllenfeuer gebraucht, mich zu läutern; ich bin aus dem Feuer der Schlachten einigermaßen geläutert hervorgegangen, und es fehlt mir nicht an etlichen Notabenes im sündigen Fleische, wenn ich diese auch nicht zur Schau trage, wie Sie das Ihrige. Und das bringt mich auf meine erste Frage zurück: worin kann ich Ihnen dienlich sein? Die Bühne wieder zu betreten ... diese Idee hegen Sie ja wohl kaum?«
»Einige Fragezeichen spuken bisweilen noch in mir herum, doch der lange Gedankenstrich im Antlitz ruft nein!«
»Und was haben Sie vor?«
»Was hat ein invalider Komödiant vor sich, wenn er nichts hinter sich hat als ein Leben bei herumziehenden Banden, besseren oder schlechteren? Fragen Sie doch, was ein altes lahmes Pferd vor sich hat, dem der letzte Besitzer nicht etwa aus mitleidiger Laune den Gnadenhäcksel schenken will?«
Julius lief mit großen Schritten im Zimmer herum: »Das geht nicht so, das wäre ja entsetzlich!« – Dann wieder machte er Halt und griff nach seiner Rolle: »Sie sind mir heute ungelegen, sehr ungelegen! Ich bin hier an einer höchst schwierigen Aufgabe, die ich nicht zu lösen weiß; und die Teilnahme, die ich Ihnen zuwenden muß, stört mich.«
»Was ist's denn so Schwieriges?« fragte Wulf.
»Aus diesen Blättern werden Sie gar nicht klug; Sie müßten das Stück im ganzen lesen. Und auch dann ... so lange ich beim Handwerk bin, ist mir dergleichen noch nicht untergekommen. Herr Ludwig Tieck findet zwar überschwengliche Schönheiten darin ... was findet solch' ein Dramaturg nicht alles! Er hat gut reden auf seinem Lehnstuhl. Wenn er vorliest, hört jeder andächtig zu. Aber wenn er's vor einem Parterre voller Offiziere darstellen sollte, würde der Wind aus einem andern Loche pfeifen. Ja, ich vernehme die Pfeifen schon! Auch streitet es gegen mein eigen Soldatenblut, einen General zu spielen, der sich vor dem Tode fürchtet wie ein Hase. Und das möchte noch hingehen; das trifft den Dichter, nicht mich. Aber noch schlimmer scheint mir die elegisch-krankhafte Richtung des Helden: da sind einzelne Tiraden, die ich nicht klein kriege; Wendungen, Übergänge, Gedankensprünge, verknüffelte Verse ... nein, ich bringt nicht raus! Der Teufel mag solche Sätze sprechen:
›Nun, o Unsterblichkeit, bist du ganz mein!
Du strahlst mir durch die Binde meiner Augen
Mit Glanz der tausendfachen Sonne zu!
Es wachsen Flügel mir an beiden Schultern,
Durch stille Ätherräume schwebt mein Geist.
Und wie ein Schiff vom Hauch des Winds entführt,
Die muntre Hafenstadt versinken sieht,
So geht mir dämmernd alles Leben unter.
Jetzt unterscheid' ich Farben noch und Formen,
Und jetzt liegt Nebel alles unter mir!‹
Gestehen Sie als ein Mensch, der Bescheid weiß, kann das ein Soldat sprechen auf dem Wege zur Hinrichtung, welche ihm für Insubordination zuerkannt wurde?«
»Ob es charakteristisch und dramatisch wahr, wage ich von einer aus dem Zusammenhang gerissenen Stelle nicht zu beurteilen: daß aber diese Stelle eigentümlich klingt, wie nichts anderes, was ich bisher gehört, gelesen, gelernt, muß ich eingestehen; daß sie sich dennoch zum Vortrage gut eignet, möchte ich behaupten. Freilich darf sie nicht auf dem betretenen Pfade herkömmlicher Recitation und Aktion wandeln; sie muß wie ein lyrischer Hauch durch Mondschein und Blättergrün zittern.«
Julius machte große Augen. Einen reisenden Komödianten sich so ausdrücken zu hören, ging ihm über seine Praxis. »Wie verstehen Sie das?« fragte er.
»Ich weiß es Ihnen nicht besser zu erklären, als wenn ich selbst versuche auszuführen, was ich meine.«
Und Wulf nahm die Rolle zur Hand und las einige Seiten. Es war immer noch jener unbeschreibliche Wohllaut des Tones, erfüllt von Seele, getragen vom Verstande, gebunden von reinster Artikulation, der gehorsame Vermittler geistigen Wollens, der getreue Dolmetsch warmen Gefühls. Und immer noch wohnte dem unbeglückten Menschen jene instinktartige Begabung bei, sich augenblicklich in die Situation zu versetzen, aus einem Bruchstücke der Dichtung schon zu ahnen, was ihren Mittelpunkt bilde.
»Es ist nicht anders möglich,« rief Julius. »Sie haben den Prinzen von Homburg schon gelesen.«
»Ich höre ihn heute zum erstenmal nennen.«
»Und sprechen ihn so! Und haben's in Ihrem Leben nicht weitergebracht? Sie ... Sie?«
»Lassen wir das. Jetzt ist's ja doch vorbei; mit meinem Äußeren darf ich Weiber und Kinder nicht verscheuchen. Möglich doch, daß ich dem deutschen Theater noch nützlich werde! Möglich, daß Sie mir die Bahn dazu brechen. Ich habe Sie heute gestört; ... lassen Sie sich einen Vorschlag thun, den Sie nicht falsch deuten, nicht anmaßend schelten müssen. Sie geben mir die seltsame Dichtung, die Ihnen ein noli me tangere dünkt, mit in meine Kneipe. Wahrend ich mich damit beschäftige, beschäftigen Sie sich mit dem Versuche, mir bei hiesigem Theater ein bescheidenes Plätzchen als Nachleser, Inspizientengehilfe, zweiter Souffleur ... was es sein mag, auszufinden. Es ist nur um den Anfang. Hab' ich erst einen Fuß drin, helf' ich mir langsam weiter. Für Ihren verlorenen Tag bring' ich Ihnen morgen das Ergebnis meines Studiums. Denn Goethe mag immerhin spötteln in seinem berüchtigten Vergleiche zwischen dem ›Studieren‹ der Schauspieler und dem ›Arbeiten‹ der Freimaurer ... auch ein Komödiant kann ernstlich studieren und muß es thun; es kommt nur auf den Gegenstand an. Dieser Kleist ist schon der Mühe wert, sich daran zu setzen. Daß er Ihnen exotisch erscheint, find' ich ganz natürlich. Sie sind ein Meister in Ihrer Gattung. Sie haben die Überlieferungen der alten Schule noch vorgefunden; haben sich als sehr junger Offizier, da Sie zum Theater gingen, nur von einem Exerzierplatz auf den andern begeben; standen auch als Schauspieler noch unter einem bestimmten Reglement. Die letzten Kriege riefen Sie wieder zu den Waffen. Unterdessen hat sich die Welt vollends umgedreht; mit ihr das Theater. Was ein Schröder für Wahnsinn erklärt, hebt sein größter Bewunderer Tieck in den Himmel. In diesen Widersprüchen verlieren Sie den Halt. Major Tellheim soll nun auf einmal zum idealen Schwärmer werden. Das paßt ihm nicht. So seh' ich's an und bitte Sie um Verzeihung, daß ich, der Paria vom Thespiskarren, der Ungenannte, mir derlei Freiheiten herausnehme gegen einen von der höchsten Kaste des Hofbühnentums!«
Julius raffte sich auf. drapierte sich in seinen Schlafrock, und mit überzeugender Lebendigkeit parodierte er: »Regierte Recht, so läg' ich jetzt im Staube vor dir, denn du bist unser König!' Ehrlich gesagt, Herr Tod, wahrscheinlich gestünde ich Ihnen die Königswürde nicht so unbedingt und willig zu, säh' ich in Ihnen noch einen gefährlichen Nebenbuhler! Jeder ist sich selbst der Nächste, und nirgends sind Neid, Eifersucht, ja sogar kleine Kabalen weniger verdammungswert als beim lieben leidigen Theater, wo keiner sicher schlafen geht, daß er nicht, wenn er aufsteht, sich von einem Besseren verdrängt und beiseite geschoben sieht! Wie's nun aber, Gott sei's geklagt, mit Ihnen steht, hat man von Ihnen nichts mehr zu fürchten, und ich will gern von Ihnen lernen. Ihren Vorschlag nehme ich an. Morgen mehr darüber. Für heute jedoch nehmen Sie diese Anweisung auf den Ihnen gebührenden freien Eintritt ins Schauspielhaus und erlauben Sie mir, Ihnen einstweilen ein kleines Darlehen anzubieten.«
»Wovon soll ich's zurückerstatten?«
»Von Ihrer Gage, wofern es mir gelingt, Sie hier unterzubringen. Wo nicht... betrachten Sie's als Honorar für Ihre Bemühungen um den Prinzen von Homburg.«
»Wiedergeben werde ich Ihnen dies Geld nicht; wenigstens hier nicht. Denn Ihre Bemühungen schlagen fehl, das weiß ich schon, und es war Thorheit, Sie erst damit zu belästigen. Ein Honorar verdiene ich nicht und werd' es nicht verdienen. Lassen Sie mich's als Geschenk empfangen, damit wir das Kind beim rechten Namen nennen. Aus Ihrer Hand entehrt mich's nicht.«
Beide hatten Thränen in den Augen, da sie sich trennten.
* * *
Um seinen freien Eintritt zu erlangen, was mit verschiedenen Weitläufigkeiten verbunden war, mußte Wulf sich an den dermaligen Theaterinspektor wenden. Ein kleiner, altmodischer Mann, der ihn geschäftlich abfertigte, über die Unzahl durchreisender Schauspieler klagte und sich besorgt erkundigte, ob Herr Tod vielleicht auch eine »Kollekte« erzielen wolle. Erst nachdem solche Absicht sehr entschieden verleugnet worden, gönnte des Männleins gepuderter Schädel dem Bilde des Fremden einigen Raum in seinen Gedankenkammern, und da war's denn wieder die große Narbe, die das Bedenken hervorrief: »ob man mit dieser wirklich Schauspieler gewesen sei.«
»Für einen, der sein bißchen Futter fünfzehn Jahre hindurch als Liebhaber zu fressen bekam, bester Herr Inspektor, wäre das eine schlechte Spekulation gewesen. Ich habe mehr Weiber und Mädchen pflichtmäßig nach dichterischer (oft sehr prosaisch abgefaßter) Vorschrift in meinen Armen halten müssen, als Sie Haare in Ihrem verehrten, munteren Zopfe tragen; wer hätte so zarten Geschöpfen solchen Anblick zumuten dürfen? Nicht doch! Mein Angesicht war glatt und eben, ehe der französische Höllenhund es mit seinem Säbel zerriß. Was noch mehr: Sie selbst haben es in voller Glorie erblickt, wie ich mich Ihnen und Ihrem verstorbenen Bruder vorstellte, um Engagement zu suchen. Ich kam damals von Mordaxens Truppe und mußte lange weit wandern, bis ich ...«
»Sie heißen nicht Tod,« unterbrach ihn Herr Seconda; »Sie sind der ... der ... ei, wie war doch Ihr Name? Sie sind der berühmte junge schöne Mann ... der Löwe ... nein, Löwe nicht, aber auch ein reißendes Tier ... der Wolf ... der Wulf ... ja, Sie sind's, ich hör's an der Sprache.«
»Tod ist Wulf, Herr Seconda; und Wulf ist tot!«
»Herr, was haben Sie für Unsinn getrieben? Unter die Soldaten sind Sie gelaufen. Na, sehen Sie, das kommt von dem dummen Kriege! Nun haben Sie's, nun sind Sie unglücklich.«
»War ich denn vorher glücklich?«
»Sie waren ein schöner Mann, ein guter Schauspieler.«
»Und mußte mich monatelang umhertreiben, bis ich ein Unterkommen fand! Weshalb behielten Sie mich nicht?«
»Wir waren gerade überfüllt. Es that uns leid genug. Später haben wir uns nach Ihnen umgethan, konnten Sie nicht entdecken. Wären wir wieder mit Ihnen zusammen getroffen, vielleicht säßen Sie jetzt hier fest; alles stünde anders für Sie.«
»Da haben Sie mein Glück. Mir hat's nie gelächelt.«
»Daran mögen Sie wohl selber mit Schuld tragen. Sie sollen, sagte man, ein aufbrausender Sonderling gewesen sein.«
»Ja, ja, so sagte man. Mit solchen ›Sagen‹ ist das große ›man‹ gleich bei der Hand. Ob gerecht ...? Der Schauspieler steht außerhalb der andern Menschheit, kann nicht beurteilt werden wie jene, entzieht sich und sein Geschick jeder Berechnung. Künstler soll er sein! Was ist das für eine elende Kunst, deren Ausübung unmöglich wird durch einen Hieb übers Gesicht! Die nur an ihrem Leibe, mit ihrem Leibe ein Kunstwerk produziert. Als Ackermann, Schröders Stiefvater, ein Bein verlor, fragten die Leute bei Lessings Bruder an, ob jener mit dem Stelzfuß den Wachtmeister in der ›Minna‹ wohl noch werde spielen dürfen. Wurden dieselben Leute, wenn Lessing um einen Fuß, ja wenn er um den rechten Arm gekommen wäre, nötig gehabt haben anzufragen, ob er als Krüppel den ›Nathan‹ vollenden könne? Nein! Denn das Werk des Dichters ist von seinem Körper getrennt, selbständig. Mein Talent blieb, was es gewesen; ward reifer, besonnener, vielseitiger ... diese elende Fratze hindert mich, es auszuüben, zerstört die Kunstwerke, die ich jetzt erst zu liefern vermöchte. Hole der Teufel solche Kunst!«
»Hören Sie, mein Guter, das nämliche könnte auch jeder Maler klagen, der die Hand einbüßte, 's ist eben ein Unglück. Und was denken Sie jetzt zu beginnen?«
»Unterkriechen möcht ich irgendwo, sei's beim Theater als dienstbarer Geist, sei's meinetwegen bei einem Kaufmann als Markthelfer ... ich habe gesunde Glieder und starke Muskeln.«
»Traurig, traurig!« wiederholte Inspektor Seconda unzähligemal. »Und ich sehe kein Mittel, Ihnen unter die Arme zu greifen. Sonst ... ja mein Himmelchen, wie ich noch mit dem seligen Bruder beide Städte bereiste, wie wir von hier nach Leipzig machten, wie wir noch kein rechtes Hoftheater waren ... da hätte sich hier oder dort leichtlich ein Pöstchen erfinden lassen; da waren wir die Herren. Jetzt giebt's so vielerlei Herren bis zur allerhöchsten Herrschaft hinauf ... und Herrinnen! ... Sehen Sie, mein Guter, wenn Sie beim Herrn Generaldirektor eindringen, da werden der Herr Graf ihr Schallrohr ans Ohr setzen und dennoch taub für Sie bleiben; höchstens verweist er Sie an Herrn Sekretär Winkler, an den liebenswürdigen Theodor Hell. Der wird die Scharmantität selbst sein und Sie an löbliche Regie verweisen. Der Herr Regisseur wird die Grobheit selbst sein, vorzüglich sobald er in Ihnen einen Protegé des Herrn Julius wittert, und wird Sie zum Teufel schicken oder, was ihm eben so viel gilt, an die Inspektion. Und sehen Sie, mein Guter, dann sind wir zwei wieder beisammen und so klug wie jetzt. Der Etat, der Etat – das ist bei Hoftheatern der Schlagbaum, über den man tausendmal purzelt; und ehe ein hohes Finanzdepartement in der Kontrolle nur ein Tüpfelchen auf dem i nachsieht, fließt Sie die Elbe ins Riesengebirge retour. Anstellungen außer dem Etat giebt es nicht, wären sie auch noch so nutzbar. Ei ja, ei ja, da lob' ich mir den selbständigen Unternehmer; der thut, was sein Vorteil erheischt, benützt den Augenblick, hat niemandem Rechenschaft abzulegen, und geht er zu Grunde, so weiß er doch warum. – Viel Vergnügen heute Abend! Ich hab' Ihnen die Anweisung auf einen Sitz gestellt, damit Sie wenigstens bequem ansehen können, wie auch bei Hoftheatern mitunter ... bald hätt' ich mich verschnappt. Molto piacere, sagt unser Benincasa; leider hat die italienische Oper jetzt Pause wegen einiger Unpäßlichkeiten. Aber in der deutschen werden Sie morgen Gerstäcker hören, und Karl Maria von Weber dirigiert. Das ist auch schon wert hierher zu kommen!«
Hier wär's denn also entschieden nichts! sagte Wulf nach Beendigung dieses Gesprächs. Der aufrichtige Inspektor hat mir's deutlich dargethan, und ich spüre nicht die geringste Lust, mich von einer Thür zur andern zu betteln. Es wäre auch ein unbescheidenes Verlangen meinerseits, bleiben zu dürfen, wo es mir wohlgefällt. Dazu bin ich nicht geboren. Denkt aber der böse Geist, der mich umhertreibt und mir nirgends eine bleibende Stätte gönnen will, mich dahin zu bringen, daß ich endlich der Sache überdrüssig werde und mein Dasein gewaltsam abkürze, so ist er geprellt. Mich kriegt er nicht unter, ich geb' ihm nicht nach, ich verzweifle nicht an Gott und an mir; ich behaupte mich in meiner Stellung als ein schon Verstorbener, der gleichmütig auf das irdische Durcheinander blickt und aus allem Unheil nur das Lächerliche heraussieht. Nil admirari! Hervor mit dem alten Wahlspruch!. Wir wollen doch sehen, wer's am längsten aushält: der böse Geist oder meine gute Laune? Was kann mir denn Übles geschehen, wenn ich mir fest vorsetze, alles komisch zu finden; auch das übelste, was mir geschieht? Ja, ich will's durchführen! Und bring' ich's nur so weit, mich auch nicht mehr zu ärgern, daß sie oben schlecht Komödie spielen, und daß sie unten und oben Bravo dazu rufen ... ha, dann steh' ich hoch über meinem Schicksal und kann lustig sein wie ein Zaunkönig! Der Himmel beschere nur heute Abend eine recht mittelmäßige Darstellung, damit ich gleich Gelegenheit finde, mich zu zeigen!
Der Himmel erhörte teilweise diesen frommen Wunsch. Das Haus war leer, die Aufführung eines matten Schauspieles ging matt ... aber die Zuschauer blieben kalt. Nur Wulfs nächster Nachbar brachte durch eifriges Beifallklatschen noch einige Aufmunterung in die allgemeine Schläfrigkeit. Er betrachtete den ältlichen, etwas kupfericht rotwangigen Herrn und konnte nicht klar werden, ob dessen Applaudieren aufrichtig gemeint, oder ob es nur die That erzwungener Anstrengung sei! Für einen bezahlten Claqueur sah der Mann zu honorig aus, und der wachthabende Gardeleutnant begrüßte ihn »Herr Hofrat!« Es währte nicht lange, so entspann sich ein Gespräch zwischen den zwei Nachbarn. Einige hingeworfene Bemerkungen Wulfs genügten, den Hofrat aufmerksam zu machen, daß er mit einem Eingeweihten spreche, und Wulf erriet sogleich den Gelehrten von klassischer und antiquarischer Bildung, die wohl oder übel auf moderne Zustände angewendet wurde. Nun wußte er Bescheid. Es war Böttiger, der anerkannte Philologe, der entwickelnde Ästhetiker, der wohlwollende Recensent, der alle lobte und dennoch keiner und keinem zu Danke schrieb. Dem alten theaterkundigen Herrn konnte nicht verborgen bleiben, es sei ein Schauspieler, der neben ihm sitze. Obgleich mit hinreichender Neugier ausgestattet, war er doch zu zartfühlend, persönliche Verhältnisse ausforschen zu wollen. Er beschränkte sich während der Zwischenakte auf allgemeine Betrachtungen über den Schauspielerstand als solchen, über das Verhältnis desselben zur Nation, zur Gesellschaft und beklagte heftig den vorherrschenden Mangel an wahrer, innerlicher Verehrung für die Kunst. Daß es dabei nicht ohne Hinweisung auf »die Alten« abging, daß er seine Ansichten mit Citaten durchspickte, versteht sich bei ihm von selbst. »Wie weit,« sagte er unter anderem, »waren uns die Griechen auch darin voran! Da Nikias, der sich beim Volke durch öffentliche Schauspiele, die er ihm veranstaltete, in Gunst setzen wollte, einstmals eine solche Aufführung gab, erschien einer seiner Sklaven, ein noch unbärtiger schöner Jüngling, als Bacchus und wurde um dieser Schönheit willen mit lange anhaltendem Beifall begrüßt. Da erhob sich Nikias und rief: ›Ich halte es für Frevel, daß ein der göttlichen Kunst geweihter Körper noch länger in Sklaverei bleibe; ich schenke ihm die Freiheit!‹ In unseren Zeiten verhält sich's gerade umgekehrt; wer sich der darstellenden Kunst widmet, tritt gewissermaßen in Sklaverei, und nur wenig Auserwählten ist's vergönnt, nach langen Mühen als Freigelassene umher zu wandeln!«
»Vielleicht,« wendete Wulf ein, »haben diese Freigelassenen, diese ›Libertiner‹ mitunter die Kunst in der allgemeinen Achtung tiefer herabgesetzt als wir arme Sklaven! Und was die bürgerliche Stellung der Komödianten betrifft, die denn doch, wie unsereiner liest, bei den Alten ebenfalls eine schiefe, mehr oder weniger makulierte gewesen sein muß, dünkt mich's eben kein großer Vorteil fürs Ganze, daß sie sich von Jahr zu Jahr scheinbar verbessert. Ich fürchte, was den Personen zu gute kommt, wird der Sache schaden bringen; und wenn es so fortgeht, dürfte die nachfolgende Generation recht viele hochverehrte, teuer bezahlte Hofbühnenkünstler, hingegen kaum noch ein Theater haben.«
Der Hofrat drückte die Augen ein und blinzelte dann unter seinen Brillengläsern den Sprecher an, dessen tief entstellende Verletzung er jetzt erst wahrnahm. Augenblicklich rückte er, so weit es der Raum vergönnte, von ihm weg und wurde einsilbig, dann stumm.
Der hält mich für einen Raufbold, dachte Wulf; für einen Händelsucher und Skandalmacher. Ich will ihn dabei lassen!
Eine Minute hindurch verspürte er einigen Reiz, den gutmütigen Gelehrten zu necken, ihn nach Ludwig Tieck zu fragen, auf den »Gestiefelten Kater« zu sticheln. Doch bald überwand er dies Gelüsten als ein unwürdiges. Wir Söhne der betrübten hoffnungslosen Wirklichkeit, sprach er zu sich selbst, sollen nicht mit groben Fäusten in die zarten Gewebe greifen, die Kunstschwärmer und idealisierende Verehrer des Theaters sich spinnen. Meinen sie's doch ehrlich mit ihrem kindlich reinen Glauben. Wer möchte den alten Kindern ihre Freude stören? – Nach beendigtem Schauspiele wendete er sich zum Hofrat: »Gott erhalte Ihnen Ihre rührende Pietät fürs Schauspielwesen und für die dazu gehörigen Menschen. Das Studierzimmer des Gelehrten kommt mir vor wie ein Eiskeller, worin Eindrücke aus früheren besseren Tagen frisch bleiben und sich wohl konservieren. Uns armen Teufeln vom Handwerk, die wir keinen ähnlichen Zufluchts- und Aufbewahrungsort besitzen; die wir genötigt sind, unsere Begeisterung von ehedem samt anderem Gepäck auf dem Buckel herumzutragen, uns wird's nicht so gut. Dem Wechsel der Witterung preisgegeben, erleidet die süße Last schmähliche Anfechtungen, vielerlei Schmeißfliegen setzen sich darauf. Ach sogar die liebe Sonne, eine Gottheit, die Aas küßt, wie Hamlet sagt, brütet in ihr die scheußlichsten Maden aus, nicht anders, wie wenn jene Begeisterung ein toter Hund wäre. Und dabei kommt man zuletzt selbst auf den Hund mit all' seinen lieblichen Erinnerungen aus der Jugendzeit.«
»Mensch, wer sind Sie?« fragte Böttiger.
»Ein zu Grunde gegangener Komödiant, Herr Hofrat, der auch einmal glaubte an sich und ans Theater, der jetzt ... leben Sie wohl!« – – –
Den Prinzen von Homburg brachte er seinem Inhaber zurück und wechselte manch' gescheites Wort mit dem gescheiten Manne über die verwundersamliche Dichtung. Eins wollte dem Soldaten Julius gar nicht in den Kopf: weshalb Heinrich von Kleist den tapferen General zu einem Somnambulen gemacht habe? »Das Gedicht hat große, wirklich erhabene Scenen,« gestand der ehemalige Offizier; »aber ich kann mir nicht helfen: es ist nicht gesund; es kränkelt.«
»Das geb' ich Ihnen gern zu,« entgegnete Wulf; »auch kann es kaum anders sein. Kranke Väter setzen nie gesunde Kinder ins Leben. Doch wer giebt Ihnen das Recht, gesunde Poeten zu verlangen in einer kranken Zeit? Die ganze Welt fiebert. Der große Aderlaß, an welchem auch wir teilgenommen, hat momentane Ruhe geschafft. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Das dicke Ende kommt nach, lautet ein Sprichwort, wahr, so gemein es ist. Noch gemeiner dünkt's mich, daß ich Sie verlassen muß, ohne bestimmte Aussicht, bis wann ich Ihnen Ihr Darlehn ...«
Julius legte ihm die Hand auf den Mund. »Sie selbst bezeichneten es als ein Geschenk! Leider hab' ich sonst nichts für Sie erwirken können.«
»Ich habe mir's genauer überlegt; ich bin noch nicht elend genug, Almosen zu empfangen.«
»Kollegen von den Brettern, Kameraden vom Schlachtfelde, und Sie können solchen Unsinn schwatzen?«
Dann umarmte er ihn lange und schob ihn hastig zur Thür hinaus.
Erst wie Wulf auf der Postkarre saß, die ihn nach Leipzig bringen sollte, entdeckte er, daß die lange Umarmung benützt worden war, ihm noch eine Handvoll Thalerscheine in die Brusttasche zu schieben.
* * *
In Leipzig blühte eben die Bühne unter Küstners Direktion. Es mag wohl sonst nie und nirgends vorgekommen sein, daß, ein Privatunternehmer – und durch wie viel Jahre! – aus eigenen Mitteln eines der anständigsten Kunstinstitute geführt und mit schweren Opfern erhalten.
Wulf erkannte den dort herrschenden guten Geist, den ordnenden Sinn auf den ersten Blick und fand es, seiner jetzigen skeptischen Stimmung gemäß, nicht allein ganz natürlich, sondern sogar ergötzlich, daß Publikum wie Schauspieler einander förmlich überboten in Undankbarkeit gegen ihren Prinzipal. So muß es sein, lachte er höhnisch auf, da er vielfältig kränkende und feindselige Urteile über den unermüdlich thätigen Mann zu hören bekam. So muß es sein! Sie müssen ihn ärgern und verlästern, bis er endlich einmal zu Verstande gelangen und der unfruchtbaren Mühen satt werden wird. Dann müssen andere eintreten, die meinen Herrn Kollegen die Haut über die Ohren ziehen und dem verehrungswürdigen Publikum den Brotkorb höher hängen. Solche Unternehmer werden dann ebensoviel Geld einsäckeln, als der Küstner zugesetzt hat, doch wird man nicht ärger auf sie schimpfen, wie man gegenwärtig auf ihn schimpft. »Und das war gut,« singt Dorfbarbierers Adam.
Aus Furcht, für einen »Kollektenmacher« gehalten zu werden, meldete er sich gar nicht. Er zog den ganz richtigen Schluß, daß bei einer so wohlorganisierten Verwaltung keine Lücke zu erwarten sei, durch welche er etwa einschlüpfen könne. Die Thalerscheine überzählend, die Julius, der »Taschenschieb« (neu von ihm erfundenes Wort im Gegensatze zu dem altgebräuchlichen »Taschendieb!«) ihm mitgegeben, berechnete er, wie weit sie reichen dürften. Jetzt fragte sich's: Wohin? Nach welcher Himmelsgegend? Vor oder zurück? Rechts oder links?
Er ging bei unbehaglichem Herbstwetter durchs menschenleere Rosenthal, suchte das Dörflein Gohlis und in diesem das einst von Schiller bewohnte Häuschen auf. Während er fröstelnd davor stand, derjenigen dramatischen Schöpfungen des hohen Geistes gedenkend, die auch er nach besten Kräften ins Leben fördern helfen, erwachte in seiner Brust ein längstentbehrtes Gefühl sanfter Wehmut und durchdrang ihn mit angenehmer Wärme. Lebensüberdruß, argwöhnischer Zweifel, bitterer Groll verloren sich auf einige Minuten, um entsagender Milde Raum zu gönnen.
»Wie viel hast du gelitten, unvergeßlicher, hoher Mensch, der du hier gehaust ... und was sind wir gegen dich!« Nachdem er diesen Ausruf gethan, ward ihm leichter ums Herz. Rascheren Schrittes eilte er zur Stadt zurück. Gehend wagte er einen Gedanken zu verfolgen, den er seit fünf Jahren ängstlich von sich gewiesen, vor dem er sich gefürchtet hatte.
»Feigheit! verächtliche, feige Eitelkeit! Weil sie vor meinem Anblick schaudern würde, hab' ich vermieden, mich an dem ihrigen zu laben? Welch' armselige Thorheit! Sie soll mir's eingestehen, daß sie mich nicht mehr lieben kann, soll mir's freundlich sagen ... aber sehen will ich sie! Zu ihr! Zu ihr!«
* * *
Der wackere Professor ist sehr alt geworden. Das letzte Lustrum hat ihn hart mitgenommen. Die Redaktion der Zeitung mußte er aufgeben, weil seine körperliche Berührsamkeit den gesteigerten Ansprüchen der Verleger nicht mehr gewachsen schien. Er lebt eingeschränkt, zurückgezogen, geselligem Verkehr entfremdet. Die Familien, in denen er vor fünf Jahren heimisch war, sind zerstoben. Leben wie Tod haben jene Verbindungen aufgelöst. Neue Bekanntschaften hat er nicht gesucht, er hält sich für zu alt. Seine ältesten Freunde, die Bücher, genügen ihm. Vom Theater hat er sich gänzlich abgewendet. Der Nachruf an Wulf, da dieser in den Krieg zog, war das letzte, was er auf die Bühne bezüglich geschrieben. Seine Wohnung hat er, um den Mietzins zu sparen, in abgelegener Gegend aufgeschlagen. Ihm gilt es gleich, wo er weilt. Selten verirrt sich jemand zu ihm, und seine Spazierwege ... je einsamer, desto lieber sind sie dem Einsamen.
Heute um die Dunkelstunde klopft es an seine Doppelthür. Er fährt verwundert empor, nimmt die Studierlampe vom Schreibtische und schlürft in weiten weichen Pantoffeln der kleinen Kammer zu, welche das Arbeitszimmer vom Vorflur trennt, »Wer da?« fragt er, bevor er öffnet. »Gut Freund!« schallt es herein ... die Stimme zittert, aber sie klingt ihm bekannt. Er will den Namen des »guten Freundes« wissen. Der nennt sich nicht, bittet nur wiederholt um Einlaß, sieht so dringend, in so sanften Tönen, daß der Alte Schloß und Riegel öffnet, sonder Furcht vor böswilligem Überfall. »Mein Gott,« ruft er dem Eintretenden entgegen, »wer sind Sie? Ich kenne Sie nicht, habe Sie niemals gesehen, und dennoch weckt Ihre Sprache mein ganzes Vertrauen.«
»Sie kennen mich nicht, Professor? Glaubt Ihnen gern. Erkenn' ich mich selber kaum. Doch gestatten Sie, daß ich einen Stuhl nehme. Die Füße tragen mich nicht länger, ich bin müde zum Umsinken.«
»Nicht möglich, nicht möglich,« murmelte jener; »er kann's nicht sein. Der ist ja tot.«
» Tod! Ganz recht, so nenn' ich mich. Einst nannten Sie mich anders und haben manch' gutes Wort von mir geredet.«
Als er dies sagte, flössen ihm schwere Thränen übers zerstörte Antlitz.
Unterdessen hatte der Professor ein großes Paket Zeitungen aus einem Bücherschranke gezogen und ein Blatt hervor gesucht, auf welchem etliche Zeilen mit roter Tinte angestrichen waren. Er legte schweigend das Blatt auf den Tisch und wies mit zitterndem Finger nach jenen Zeilen hin. Sie enthielten die Nachricht, daß der Schauspieler Wulf auf dein Felde der Ehren bei Waterloo geblieben sei.
»Lassen wir's dabei vor den Leuten! Ihnen, dem geistreichen, großmütigen Beförderer meiner Bestrebungen will ich in Kürze erzählen, was ich durchlebt habe. Zum Lohne dafür wollen Sie mir dann Auskunft erteilen ... Nein, jetzt noch nicht, ich bitte. Erst hören Sie! Denn ich stehe nicht gut, daß ich noch sprechen kann, wenn Sie gesprochen haben.
»Es war am sechzehnten Juli bei Ligny. Unser rechter Flügel kämpfte bei St. Amand. Wellington wie Bülow ließen vergebens auf sich warten, so nötig wir sie gebraucht hätten. Sie gingen gerade zur selben Stunde auch nicht müßig, waren außer stande uns die ersehnte Hilfe zu bringen. Wir wehrten uns, wie wir konnten, aber es ging auf die Neige. Dem alten Blücher wurde das Pferd unterm Leibe totgeschossen; ich vernahm seinen Angstruf, da er zusammenstürzte: ›Jetzt bin ich verloren!‹ Nostitz stellte sich vor ihn und verteidigte unsern Marschall Vorwärts wie ein Löwe. Ich mit ein paar Genossen hielten zwanzig Schritte davon festen Stand. An einer Minute hing's, Frist zu gewinnen, damit sie den Feldherrn fortbringen mochten. Es gelang. Kaum war's geschehen, traf mich der Pfundhieb, der einen schmücken Komödianten zum Kinderschreck machte. Ich wiederholte Vater Blüchers Schrei: Jetzt bin ich verloren! Schwache Nachahmung das! Da lag ich und mußte lachen in mich hinein, weil mir in den Sinn kam, wie sauber und decent ich stets zu fallen gewußt – Papa Bäcker hatte mir den Vorteil dabei gezeigt – wenn's meine Rolle vorschrieb, und wie ungeschickt ich diesmal hinplumpste ... ein Mehlsack fällt anmutiger und trifft's geschickter. Dann mag ich wohl verzweifelten Narrenkram ausgeheckt haben im dröhnenden Gehirn. Weiß nur noch, daß unser Theatermaler Huyasch um mich hersprang und höhnisch kreischte: Da hast du ihn wieder, den du mir übergezogen, Wulschen, und mit Zinsen will ich hoffen! Ich war wütend, hätte den Trunkenbold so gern fortgeschafft! Nach und nach legte sich die Wut, die Visionen schwanden, was etwa noch Gedanke gewesen war, hörte auf ... die Leichname der Gebliebenen sind in große Gruben geworfen worden, Freund und Feind durcheinander. Auch mancher nur Ohnmächtige mag für einen wirklichen Leichnam gegolten haben; wer nimmt's im Kriege so genau und bei Sommerhitze! Gewiß, jener Bauer hatte gar nicht unrecht, als er beim Vergraben der Gefallenen dem naseweisen Burschen, der sich für lebendig ausgab und über der Erde zu bleiben wünschte, ärgerlich zurief: Ach was, das kann jeder sagen; marsch hinunter! Mich trafs besser. Schlechtes Volk, Marodeure und Ausreißer, Aasgeier und Galgenvögel, die auf Schlachtfeldern umherspüren und plündern, fanden mich und – bei Gott! – sie erbarmten sich meiner. Schleppten mich in eine halbverbrannte Hütte, nachdem sie mir die Uhr genommen und einen Ring ... hätten sie mir lieber den Ring gelassen und sonst kein Erbarmen gehabt. Nun, es ist jetzt nicht mehr zu ändern. In der Hütte lag ein kranker Mann. Die Seinigen hatten ihn fliehend im Stiche gelassen. Nur der jüngste Sohn, ein Kind von zwölf Jahren, schlich sich durch Nacht und Schlacht, brachte dem Vater Labung (schmutzig Wasser!), brachte ihm endlich gar einen Feldscher, den das kindliche Flehen gerührt. Im Kriege will das viel sagen! Dem Sterbenden wußte der Pflasterkasten nicht zu helfen, mich verband er so nebenbei. Ein großer Meister wird er wohl nicht gewesen sein. Die Absicht war löblich; er that, so gut und schlecht er wußte. Meine Nase ist jedenfalls dabei zu kurz gekommen. Wahrscheinlich stammte er von einem Schneider ab; seine Nähnadel führte er sicher und stickte mich zusammen wie einen alten Tornister Etwas windschief' ist die Naht geworden, doch der Verband saß fest. Ich blieb auf Stroh in Kot und Blut liegen; neben mir der tote Landmann; gerochen haben wir nicht besonders; weder ich noch er. Sein kleiner Junge pflegte nun mich, weil's am Vater nichts mehr zu pflegen gab; es war wohl danach, erhielt mich aber doch am Leben. Den zweiten Tag darauf kamen seine Angehörigen zurück. Sie brachten den Toten hinaus und mich wollten sie hinterher werfen. Der Junge bat auf den Knieen für mich. In meinen Wundfiebergluten hielt ich ihn für einen Engel. Ein zerlumpter Engel, der bei himmlischer Gala wenig Staat machen durfte; nach meinem Sinne strahlender geschmückt denn sämtliche Seraphim, Cherubim, Erzengel obenein. Die Weiber salbten und klebten an mir herum, und so lästig, gleichgültig, ja zuwider ich ihnen anfänglich gewesen, jetzt, nachdem sie mich am Leben erhalten, wurde ich ihnen fast lieb. Wie der Mensch denn am Werke seiner Hände zuletzt immer Freude gewinnt, sei's auch noch so schlecht. Mit der Nahrung war's schwach bestellt; sie hatten ja selbst nichts zu essen. Dennoch verstießen sie mich nicht. Die Kerls, die mir Uhr und Ring genommen, hatten auch meinen Tornister mitgehen heißen. Aber ein Goldstück saß im Kragen der Uniform. Darauf besann ich mich, sowie ich ein bißchen zu Verstande kam. Für die zwei Frauenzimmer ein Peru. Sie schnitten's aus dem Tuchfutter heraus, und wir zehrten's in Mehlsuppen auf, als Magenfutter. Meine Wunde heilte langsam, aber fest. Sie war fleißig eingeschmiert worden mit einem simplen Hausmittel. Wie ich mich zum erstenmal im Bruchstücke eines kleinen Spiegelchens wiedersah ... Professor, ich will aufrichtig sein: der erste Schreck hätte meiner Kunst gelten müssen, welcher der französische Reitersäbel einen Strich durch jede mimische Rechnung und Berechnung gemacht. Doch nein, er galt dem weibisch-eitlen Bedauern über eine ehemals glatte Larve, die man hübsch gefunden, die jetzt häßlich war; er galt dem Gedanken: Sie wird dich nicht mehr erkennen; wie soll sie dich noch lieben? Und da beschloß ich keinen Schritt zur Herstellung meiner Ansprüche als Lebendiger zu thun; beschloß, den Schauspieler Wulf für tot gelten zu lassen. Besser sie beweinte mich wie einen Abgeschiedenen, als daß sie sich vor dem Wiederkehrenden entsetzen sollte! Wie ich es durchgeführt habe, mich späteren Nachforschungen zu entziehen, in Brüssel eine Zeitlang mein Dasein zu fristen und endlich eine Reiselegitimation zu erhalten, die meinen ohnehin nicht authentischen Namen Wulf in den selbsterwählten Tod umwandelte ... das gehört nicht hierher, sondern in den Bereich langweiliger Formalitäten. Genug, ich betrat Deutschlands Boden als ›Schauspieler Tod,‹ nachdem ich mich erst ein halbes Jahr lang mit einigen ambulanten Bühnen im Elsaß herumgetrieben, welche, dort auf Durchmärsche unserer Truppen spekulierend, bald zu Grunde gingen. In Aachen bestätigte sich, was sich schon in kleinsten Orten vor nachsichtigsten Zuschauern gezeigt, daß es keine kosmetischen Mittel gebe, meinen Jammerfratz vor den Lampen präsentabel zu machen; daß ich aufhören müsse, zur Schau zu spielen. Da zog ich mich bescheiden in die Dunkelheit des Souffleurkastens zurück; wurde abwechselnd, je nachdem die Umstände verlangten oder gestatteten: Inspizient, Abschreiber, Theaterdiener, wieder Souffleur, und gelangte schließlich zu der Überzeugung, daß letzterer Beruf noch der ›ansprechendste‹ für mich ist. Sie sehen mich auf der Wanderschaft nach einem stabilen Plätzchen bei einem anständigen Theater. Im Leipziger Rosenthale, vor Schillers Wohnung, ergriff mich – Ihnen wird die Ideenverbindung einleuchten! – plötzlich die Sehnsucht, ein paar Stunden hier zu atmen, wo der verstorbene Wulf gelebt, wirklich gelebt hat, und mich nach ... nach seinen Freunden zu erkundigen. Einen davon hab' ich gefunden. Dieser will mir gütig von den andern sagen; und wenn er das gethan ... wenn ich gehört ... wenn ich gesehen habe ... werd' ich wieder scheiden, wie ich kam: unbemerkt, unentdeckt, unbeachtet.«
»Von den anderen?« sprach der Professor gesenkten Kopfes langsam vor sich hin und nickte dazu bedenklich. »Ja, mein armer Freund, da giebt's nicht viel zu berichten. In den ersten Tagen des Jahres achtzehnhundertsechzehn gebar die ... unsere Freundin ein Kind, doch nicht im Haufe des Kommerzienrates. Dieses hatte sie schon mehrere Monate vorher verlassen, weil sie es für unedel hielt, die Wahrheit zu verheimlichen. Die Scheidung war längst eingeleitet; sie bezog mit ihrer Mutter ein dieser stillen Frau gehöriges Haus in der Vorstadt, nicht fern von hier. Dort lebte sie getrennt von den Menschen, losgerissen von ihren Bekannten, nur dem Töchterlein ... und der Erinnerung. Ich habe sie bisweilen gesehen. Sie klagte nie ... sie beweinte lächelnd einen Totgeglaubten ... und liebkoste das Kind. Als ihre Mutter starb, verkaufte sie die kleine Besitzung. Kurz vor ihrer Abreise hab' ich sie noch einmal aufgesucht. Da versicherte sie mich, sie scheide gern von hier und werde nur dreierlei vermissen: der seligen Mutter Grab – mich – den Pavillon am Ende des Gartens, wo sie mit dem Kinde über Sommer gewohnt habe. Der Herr Kommerzienrat hat sich zum drittenmal verheiratet. Ich kenne Julias Nachfolgerin nicht. Wohin jene mit dem Kinde gezogen, vermag ich nicht genau anzugeben; sie war selbst noch unschlüssig, und ich habe vergessen ...«
»Fürchten Sie nicht, daß ich in Sie dringen werde, sich zu erinnern! Ich will's nicht wissen. Hin ist hin und tot sei tot! Hoffentlich leidet sie keinen Mangel?«
»Keineswegs! Sie ist wohlhabend für ihre Bedürfnisse!«
»Dann hab' ich nur eine Verpflichtung: sie bei dem Glauben zu lassen, daß ich eingescharrt bin, und den Frieden ihres Kindes, den ihrigen nicht mehr zu stören. Sie wird die Tochter lehren den verstorbenen Vater lieben. Das ist ja mehr, als er verdient. Haben Sie Dank für den Trost, den Sie mir gaben; ich gehe.«
»Wohin?«
»Weiß ich's?«
»Aber das ist thörichter Trotz. Zugestanden, daß Sie auf der Bühne zu glänzen verhindert sind, deshalb dürfen Sie doch nicht zum darbenden Landstreicher werden. Einem Manne von Ihrer Bildung stehen hundert kleine Ämter auf, und des tapferen Kriegers werden die Behörden sich annehmen!«
»Vergessen Sie nicht, daß er tapfere Krieger nicht viel besser ist wie ein Deserteur! Und gesetzt, dieser Stein des Anstoßes ließe sich beseitigen ... was Sie meinen, ist so leicht nicht zu erringen. Ich hab' es nur bis zum Gemeinen gebracht in meiner kurzen Dienstzeit. Der Ansprüche giebt's gar viele. Aber war' ich Offizier gewesen – bevor ich angestellt würde, müßt' ich eine Prüfung überstehen. Dazu gehört mehr als unsereiner gelernt hat. Mein bißchen Wissen paßt in kein Fach. Ich hörte von einem Leutnant, der früher ebenfalls Schauspieler, ebenfalls verwundet, ebenfalls nicht mehr bühnenfähig, nach dem Feldzuge, mit dringenden Empfehlungen ausgestattet, der Regierung in K., wo ich gerade als Rollenschreiber vegetierte, zur Verwendung überwiesen war, mit der Bestimmung: ›ihn seinen Fähigkeiten und Kenntnissen gemäß anzustellen!‹ Er ward einem Examen unterworfen. Sie können denken, daß wir zum Theater Gehörigen sehr gespannt gewesen sind auf den Erfolg. Eines Tages begegnete ich unter den Fenstern des Regierungsgebäudes dem Amtsboten, der uns gewöhnlich die Censurexemplare zurückbrachte, und den ich, als Kopist, genauer kannte. Wie steht es mit dem Examen des Leutnants? fragte ich. Ach lieber Gott, seufzte der Mann und deutete nach einem Eckfenster des großen Hauses hinauf; sie haben ihn seit gestern vor, aber er will durchaus nichts gestehen! – Das Resultat seiner verstockten Hartnäckigkeit lief darauf hinaus, daß er seinen ›Fähigkeiten und Kenntnissen entsprechend‹ zu einer Chaussee-Einnehmerstelle vorgeschlagen wurde. Das war ein Leutnant! Ich, wenn mich das Glück wider Gewohnheit begünstigte, würde höchstens zum Schlagbaumpfahle befördert und müßte auf einem Flecke am Chausseegraben stehen, bis ich morsch wäre. Besser ich wandere! Alte Komödianten sind zu nichts nütze, als im Chausseegraben zu sterben. Adieu, Professor, Gott segne Sie!«
* * *
Und hier findet nun die beschwerliche, oft undankbare Arbeit des Verfassers für einige Seiten willkommene Unterstützung. Er braucht nicht fortwährend in zerstreuten, oft unvollständigen Schriften zu wühlen, wenn er folgerichtig und zusammenhängend erzählen will; er braucht, ein Weilchen lang, die verschiedenen handelnden Personen nicht redend einzuführen, sich in Gedanken und Gefühle seines Helden zu versenken und dabei tausenderlei Ängste auszustehen, ob er richtig geraten, ob er der Wahrheit die Ehre gegeben hat. Jetzt darf er sich's bequemer machen; darf nur Auszüge liefern aus Wulfs hinterlassenen Papieren. Bis zum Abschlüsse dieses siebenten Buches spricht der Held beider vorangehender Bände in erster Person. Mir bleibt bei dem Reichtum vorhandenen Materials nur die eine Sorge, passende Auswahl zu treffen aus den Blättern:
1.
Gott behüte mich, gewissenhaft ein Tagebuch zu führen! Das mag allerliebst sein für niedliche Pensionärinnen und angehende Staatsbeamte; für Reisende, die wissenschaftliche Zwecke verfolgen; für Schriftsteller, welche anderer ehrlicher Leute Gedanken und Aussprüche zu eigenen Büchern benützen wollen; für vielerlei Menschen! ... Mir sagt's nicht zu. Ich mag mich durchaus nicht mehr binden. Ungebunden wie diese vereinzelten groben Papierbogen, soll mein Wille bleiben. Heute wenig, morgen viel, übermorgen nichts, ich schreibe lediglich, wie ich das Bedürfnis dazu empfinde, und wenn ich mein Herz erleichtern will. Wer niemand mehr hat, dem er sich anvertrauen könnte, mag mit sich selbst sprechen und sich Luft machen, indem er sich ausschreibt. Was man denkend und sinnend im Kopfe behält, kann bald zur Qual werden. Steht's schwarz auf weiß in toten Lettern da, dann ist man's los. Wer bürgt mir dafür, daß ich bei meiner körperlichen Zähigkeit nicht viele Jahre lang noch mich mit dem Dasein herumbalgen muß? Es können Tage kommen, wo ich noch elender bin als heute und dennoch lebe. Dann wird mich's tröstend zerstreuen, dies Geschreibsel zu lesen.
2.
Halle a. d. S., Juni 1822. – Wie Kinder mit ihrer bereitwilligen Phantasie auch leblosen Gegenständen Leben zu verleihen und die abnormsten Dinge in Tiere und Menschen umzuzaubern wissen für ihre Spiele, so bildete ich mir als Junge wirklich ein, Kleidungsstücke besaßen lebendigen Organismus. Und weil die böse Stiefmutter mich mit Schlägen ermahnte, Rock und Hose zu schonen, wähnte ich, Wunden und Schäden, die ich ihnen beigebracht, könnten durch Ruhe von sich selbst ausheilen gleich den Rissen und Schnitten, die ich mir etwa in Haut und Fleisch gemacht. Den Kleiderschrank betrachtete ich für ein Hospital. Dieser alberne Gedanke hat mich noch nicht ganz verlassen. Wenn eine Naht sich zu trennen, ein Knopf zu baumeln beginnt, so hänge ich wohl die Patienten vorsichtig auf, gönne ihnen möglichste Zurückgezogenheit und verwundere mich später gar sehr, daß nicht festwachsen will, was locker und lose war. Da ich gegenwärtig nur einen, und noch dazu sehr abgeschabten Rock besitze, so wird es beinahe unausführbar, diesen zu schonen. Der Souffleurkasten ist eng und niedrig. Reibungen sind unvermeidlich. Es geht nicht länger so. Ich muß um Vorschuß bitten.
3.
Der berufenste von allen Theaterkritikern wäre jedenfalls ein gebildeter Souffleur, der vorher selbst Schauspieler gewesen ist und den Rummel versteht. Er würde zwar der strengste, zugleich auch der gerechteste sein. Was ich alles wahrnehme, wovon sonst kein Zuschauer die entfernteste Ahnung hat, gar nicht haben kann. Es ist wie bei einer Spieluhr. Die anderen Leute hören's wohl, wenn sie stockt und falsche Töne von sich giebt; aber nur wer das innere Werk gründlich kennt, den Mechanismus versteht, vermag zu entdecken, wo es sitzt, und wo manchmal durch ein paar kleine Stiftchen die Melodie herzustellen wäre. Leider daß unsere Truppe so wenig Mitglieder zählt, bei denen es, weil die Grundmelodie nichts taugt! die Mühe lohnen würde, Mängeln in der Mechanik nachzuspüren. Ich fürchte, es wird anderswo auch so sein. Das ganze Wesen kommt schmählich herunter. Alles beginnt sich auf Äußerlichkeiten zu richten. In der großen Residenz streiten sie um Kostümfragen, und die Richtigkeit, die historische Treue der Bekleidung geht ihnen, wie man liest, über die Auffassung der Charaktere. Schneiderwitz! Ich hab's ja vorher gesagt, daß wie die Ansprüche auf glänzende Ausstattung und solche Nebensachen steigen, die Ansprüche auf die Hauptsache sinken müssen. Und lassen erst die gerechten Ansprüche im Parterre nach, dann erschlaffen auf der Bühne Fleiß und Eifer. Es ist eine unbillige Anklage, daß »zu allen Zeiten, wo die Kunst verfiel, sie durch die Künstler verfallen sei.« Allerdings fällt sie zunächst durch diejenigen, die sie ausüben, und mit ihnen; aber wer trägt die Schuld, daß die Künstler sie fallen lassen dürfen? Doch nur jene, welche sich den Verfall gefallen lassen! Ob dies für alle Künste gilt, verstehe ich nicht und kann's nicht sagen. Für die Schauspielkunst, insofern es eine solche giebt, gilt es entschieden. Ausnahmsweise giebt es Menschen, wie es Pferde edelster Rasse giebt, die von innerem Berufe getrieben keiner Anspornung bedürfen. Sie sind selten. Die Mehrzahl ist von Natur faul, mindestens bequem, nachlässig. Wo käme der Posthalter hin, der seine Gäule gehen ließe, wie sie wollen? Kein Postillon mehr würde Stunde halten, und Naglers großes Regenerationswerk geriete gleich wieder ins Stocken. Für die Faulen, Bequemen giebt es Peitschen. Die Schwachen, Kranken, Unfähigen werden ausrangiert. So müßt's auch beim Theater gehalten sein. Sitz' ich doch unten im Kasten samt meinen Fähigkeiten und meinem besten Willen, weil ich mich nicht mehr ms Lampenlicht wage, so wie ich zugerichtet bin. Aber die nichtsnutzigen Tagediebe, die keine Rolle lernen und mir Silbe für Silbe nachplärren, die wagen sich hinauf, und man duldet sie. Skandal! Schmach fürs Publikum. Braucht eure Peitschen! Fort mit allen, die nicht ziehen wollen! Pfeift sie hinunter! Laßt euch nichts bieten, was nach Saumseligkeit, dummdreister Zuversicht, gänzlichem Mangel an Talent, was nach »Verfall« schmeckt! Doch wenn ihr's nicht besser haben wollt, dann klagt euch selber an!
4.
Daß bei all' dem sich noch bisweilen ausgesprochene Talente zeigen! Und aus welchen Schmutzhaufen mitunter sie aufschießen! Da haben wir bei der Bande ein liederliches Weibsstück, als Schauspielerin erbärmlich, als Frau gemein, als Mutter niederträchtig; in jeder Beziehung das schlechteste Vorbild für eine Tochter. Die ihrige ist denn auch geworden, was ein Kind bei solchem Beispiele, bei solchen Lehren werden kann: ein mit siebzehn Jahren vollständig verlorenes Geschöpf. Die arme Lotte! Wer sie spielen sieht und sonst nichts von ihr weiß, muß sie für ein rein unschuldiges Wesen halten. Das silberklare Stimmchen, das jungfräuliche Betragen, die mädchenhafte Schüchternheit, ihre treuherzigen Kinderaugen, und dabei dies naive anspruchslose Spiel! ... Gestern ging ich an den Ufern der Saale spazieren. Drei Studenten, und von den tollsten, hatten einem Halloren seinen Kahn abgemietet und ruderten singend stromauf. Das vierte Ruder befand sich in Lottes Händen. Sie arbeitete mit, sang mit, soff mit; der Flaschenkorb, der im Nachen stand, war fast leer. Ich rief ihr warnend vom Ufer zu: Bedenken Sie die heutige Vorstellung! Käthchen von Heilbronn verträgt einen Puff, lautete ihre Antwort; sie ergriff die letzte Flasche, setzte an, trank und jauchzte: »Schmollis, ihr Jungen!« Mir schauderte die Haut, und ich kehrte um, den Greuel nicht länger zu sehen. Wie ich sie dann des Abends auf den Brettern erblickte, konnte ich mir's nicht möglich denken, daß unser holdseliges Käthchen und die wilde, verwahrloste Lotte eine und dieselbe Person wären. Ich kroch im Zwischenakte hinter die Coulissen, und da fand ich sie, wie sie hustend in einem Winkel stand und Blut spuckte. Nur keine Predigt! lachte sie mir zu und kehrte den Rücken. Ich machte ihr doch Vorstellungen, redete ihr ins Gewissen ... da kam die Mutter, brachte ihr ein Glas Punsch, und das stürzte sie auf einen Zug hinunter. So wirtschaften diese Wahnsinnigen mit dem höchsten Geschenke des Himmels, mit ihrem reichen Talent. Was würde manches anständige, sittsame Mädchen opfern für einen kleinen Teil solch' vergeudeten Reichtums!
Es ist wahrhaftig, als ginge es bei Verteilung dieser edleren Gottesgaben eben so willkürlich zu, wie bei jener von irdischen Glücksgütern! Oder ist's Gottes Wille, daß der Genius oft in unsaubere Hüllen einkehre? Beim Theater wenigstens scheint es manchmal so.
5.
Unser Direktor giebt sich die ersinnlichste Mühe, die Mitglieder zusammenzuhalten und kollegialischen Verkehr zu fördern. Vergeblich! Früherhin mag dergleichen, wie Vater Bäcker noch erzählte, hier und da stattgefunden und dem Ensemble auf der Bühne gute Früchte getragen haben. Jetzt wird's absolut unmöglich. Seitdem die Schauspieler gewissermaßen ehrlich und den übrigen Staatsbürgern mehr oder weniger gleich gemacht worden sind; seitdem sie nicht mehr Komödianten heißen wollen, und die alte aufrichtige Bezeichnung unseres Standes wie ein Schimpfwort verwerfen; seitdem verlaufen sie sich ins Publikum, treiben sich mit Studenten, Offizieren, Beamten umher und weichen sich untereinander aus. Sie kommen mir vor wie die Juden dieses Landes, die der Fürst Staatskanzler (auf Antrieb seines Leibarztes und Magnetiseurs, versichert man, des Dr. Koreff) emancipiert hat. Das ist schön, menschlich und gerecht; aber dadurch wird nach und nach das eigentliche Judentum vernichtet, dessen ans Wunder grenzender, ausdauernder Zusammenhalt hauptsächlich durch Druck von außen bewirkt wurde. Es wird sich verflachen, abschwächen, zerfallen, sobald dieser Druck gänzlich nachläßt. Um das Judentum zu trauern, habe ich keine speciellen Gründe; doch dem Theatervolke, dieser in mancher Beziehung den Juden verwandten Nation, hätte ich gewünscht, es wäre nicht emancipiert worden, die Regenten hätten es sich selbst überlassen, die Schauspieler wären Komödianten geblieben.
6.
Wie die Zeit vergeht! – das ist ein dummer Ausruf, gesteh' ich ein. Dennoch weiß ich kaum einen klügeren aufzubringen, wenn ich berechne, daß ich jetzt schon über ein Jahr Souffleur bei dieser Wirtschaft bin, die mir anfänglich unerträglich dünkte, und die mir jetzt nicht schlechter vorkommt als viele bessere, welche ich sah. Der Mensch befreundet sich auf die Länge mit allem, sogar mit ihm feindseligen Dingen. Außerdem gefällt mir meine untergeordnete Stellung, weil ich Mittel fand, sie zur mächtigsten zu machen. Die ganze Bande hat Respekt vor mir. Wenngleich keiner weiß, wer vor ihm da unten im Kasten sitzt, so fühlt doch jeder mein Übergewicht. Ja, ich hab' es schon so weit gebracht, daß sie aus Furcht vor mir fast lernen. In den Proben komm' ich den Faulen nicht zu Hilfe, lasse sie zappeln, sie müssen sich schämen und holen nach, was nur geht. Auch geb' ich wohl 'mal einen Wink über diese oder jene fragliche Stelle. Da staunt einer den andern an, und mancher schleicht zu mir, ungesehen von den Kollegen mit fremdem Kalbe zu Pflügen – was übrigens eine falsche Übertragung ist und Zugochse heißen müßte. Wären's nur nicht alle mitsammen so nichtige Gesellen! Das einzige Talent, die Lotte, muß fort, weil ihretwegen unaufhörliche Paukereien zwischen Studenten und Offizieren entstehen. Dann wird's gar ledern werden! Der hübsche Satan brachte doch manchmal Geist ins Tagewerk.
7.
Oho, Herr Flegel! So haben wir nicht gewettet. Sie wollen Ihrem Souffleur den Direktor zeigen, begegnen ihm grob, weil er Ihnen das fehlende Wort nicht anschlug? Schelten ihn ungeschickt? Behaupten, er habe die Fassung verloren? Nicht doch! Er wollte Ihnen keinen Beistand leisten; es war seine Absicht, daß Sie sich blamieren sollten. Sind Sie nicht verpflichtet, Ihren Schauspielern mit gutem Beispiele vorzugehen? Und geben ein so schädliches! Trotzen auf meine Abhängigkeit von Ihnen! Kennen mich schlecht.
Das ging nicht länger. Da haben Sie's nun. Sind tüchtig ausgezischt worden; sprachen prachtvollen Unsinn. Und warfen die Schuld auf mich. Drohten mit Entlassung!... Ha, wie er sich verwunderte, da ich sie willig annahm!
Schnüre dein Bündel, Tod!
8.
Köthen, Dessau, Wittenberg – nirgends Theater gefunden. In Dessau sind Ferien, und die Truppe, welche Wittenberg alle Jubeljahre einmal heimsuchte, hat sich in die Elemente aufgelöst. Da blieb nichts übrig, als weiter zu fahren. Zu meinem Glücke fand ich Platz für mich und das bißchen Gepäck in einem nach Berlin leer zurück zaudernden Hauderer, wo ich wie ein großer Herr reiste. Das verwünschte Gepäck! Häuft sich so rasch wieder an. Bücher und Papier fallen gleich schwer ins Gewicht. Hat aber auch sein Gutes. Je schwerer Koffer und Kiste, desto größer das Zutrauen der Direktion.
In Treuenbrietzen Nachtquartier. Ich dachte gleich an das niedliche Lustspiel »Das Posthaus zu Treuenbrietzen,« welches so lange für Kotzebues Werk gegolten und noch dafür gilt und auch mir dafür galt, bis ich in einer belgischen Stadt von französischen Schauspielern les rivaux déux mêmes aufführen sah. Buchstäblich übersetzt, nur statt Paris Berlin und statt Versailles Potsdam! Sie machen sich's mitunter bequem die deutschen Autoren. Wenn sie wenigstens noch so ehrlich wären, die Originale zu nennen.
9.
Als wir in Potsdam eintrafen, lag mir's beängstigend auf der Brust... ich wußte nicht was. Eine Bangigkeit, die mich erdrücken wollte. Erst meinte ich, es sei die Stadt selbst mit ihren toten, menschenleeren Gassen, mit ihrer peinlichen Stille, mit ihren gewaltigen Erinnerungen, die mich einenge und mir den Atem versetze. Konnt' ich denn nur entfernt ahnen, was mir dort bevorstand? Ich habe doch schon viel erlebt und harte Kämpfe gestritten vom Sarge der Mutter bis übers Schlachtfeld zum Professor. Aber gegen den Kampf in Potsdam ist alles Kleinigkeit gewesen, und ich glaube kaum, daß irgend ein Mensch vor mir in derselben Lage war.
In einem Gasthause geringer Gattung hielt mein Hauderer an, um schon Mittag zu machen; so lange hatten die abgemagerten Pferde vom Nachtquartier her gebraucht. Der Kneipe gegenüber stand ein stattliches Gebäude, aus dessen erstem Stock bei offenen Fenstern Gesang und Gläserklang ertönte. Die Stimme kam mir bekannt vor; ein wohltönender, wenngleich etwas umschleierter Sopran. Lustige Liedchen! Dazwischen puffte manchmal ein Champagnerpfropfen. Jetzt hatt' ich's weg: die Sängerin war unsere Lotte. Es währte auch nicht lange, so zeigte sie sich zwischen zwei Offizierchen am Fenster. Erst lachte sie laut über meines Hauderers delabrierte Kutsche, in der ich sitzen geblieben war, um ein Buch aus dem Reisesacke zu suchen. Kaum stahl ich mich heraus, und sie wurde meiner ansichtig, schrie das tolle Mädel wie besessen: Tod, alter Maulwurf, wo führt dich der Henker her? Und winkte mir mit beiden Armen, und redete in die Leutnants hinein, und winkte wieder, und ehe ich noch in die Hausthür des Gasthauses entschlüpfen konnte, riefen die jungen Herren: He, Kamerad, ein Gläschen! Ihr müßt mit uns anstoßen aufs Wohl aller braven Soldaten! Offenbar hatte sie ihnen gesagt, daß ich mitgemacht, und daß meine Narbe kein Bierhieb sei. Wollt' ich gut oder übel, diesem Zurufe mußt' ich Folge leisten. Ich ging. Die Lotte stürzte mir schon auf der Treppe entgegen und küßte mich herzhaft ab. Sie noch hier? sprach ich; meines Erachtens wollten Sie ja nach Berlin? – Bin hier hängen geblieben, Todchen, jubelte sie und hing sich mit beiden Armen an die Hälse der schmucken Gardisten. – Und die Frau Mutter? – Liegt drin auf dem Bette und verschläft ihren Rausch; kann nichts mehr vertragen! – Da mußt' ich denn trinken und Bescheid thun, von der Schlacht erzählen, vom Blücher ... die guten Jungen hatten Thränen in den Augen und wurden ernst. Mitten im Gespräch fand ein Dritter sich ein, noch jünger wie die zwei anderen. – Du schon wieder daheim? riefen sie ihn an; dein Urlaub ist ja noch nicht zu Ende! – Aber mein Geld, sprach er und ließ drei Gläser hintereinander durch die Gurgel rinnen. – Verspielt? – Verspielt bis auf den letzten Goldfritzen. – Mama Gräfin wird bluten müssen. – Und wer hat dir's abgejagt? – Ein nichtswürdiger alter Gauner, der die böhmischen Bäder unsicher macht! Ein Kerl, der sich den vornehmsten Anstrich zu geben versteht. Auf Seele, ich bildete mir ein, ich hätt' es mit einem Kavalier vom alten Schlage zu thun. Die gentilsten Manieren von der Welt. Wie ich ganz gerupft war, hört' ich erst, es sei ein ehemaliger Komödiant, ein mauvais sujet erster Klasse, der vor vierzig Jahren in Berlin allen Weibern die Köpfe verdrehte und von allen Männern gehaßt war. Dutzendweise haben sich Frauen und Mädchen seinetwegen erdolcht und vergiftet. Er muß schier über die sechzig hinaus sein, hält sich aber noch kräftig und stramm. Wär' er von Familie gewesen, hätt' ich ihn fordern lassen oder ihn durch eine Beleidigung gezwungen, mich zu fordern, denn ohne Zweifel hat er falsch gespielt. Mit so 'nem Rotürier kann man sich doch beim besten Willen nicht schlagen? Ich zog im stillen ab, um nicht noch hinterdrein ausgelacht zu werden. Aber Donnerwetter, was habt ihr denn hier für ein Vögelchen gefangen?
Er bemerkte jetzt erst die Lotte und setzte sich zu ihr.
In mir hatte sich, wie er zu reden begonnen, ein Gefühl geregt, von dem ich nicht wußte, ob es angenehme oder peinliche Erinnerungen hervorrufen wollte. Ehe ich mit mir selbst darüber einig werden konnte, hatte mich die Schilderung des alten Spielers überwältigt, in welchem ich voll Entsetzen den schuldbeladenen Mann erkannte, der mir das Dasein gegeben, und nach dessen Namen ich nie geforscht habe. Er lebt also noch! Er treibt noch sein... Gewerbe! Vielleicht war ich auf meinen Irrfahrten schon in seiner Nähe! Habe ihn vielleicht erblickt, ohne für möglich zu achten, daß dies mein Vater sei. Vielleicht hat er mich gar einmal auf den Brettern gesehen, ohne für möglich zu achten, daß dieser Komödiant der leibhaftige Sohn eines anderen Komödianten, eines furchtbaren Tragöden, daß es sein eigener Sohn... Mir grauste. Gern hätt' ich mich weggestohlen. Die Offiziere hielten mich fest. Ich litt entsetzlich. Doch das war noch nichts. Das Gräflein fragte die Lotte nach mir, ob ich zu ihr gehöre. Natürlich, antwortete sie in ihrem Champagner-Übermut; er ist mein Vormund; wir müssen seine Einwilligung haben, wenn wir uns verheiraten wollen, denn meine Mutter ist besoffen. Sie stand auf und führte den jungen Herrn dicht vor mich: Hochgeöhrter, schiefnasichter, querhiebiger Herr Vormund, ein junges flottes Paar flöht um eine Fingerspitze Segen, nur auf ein Stündchen. Ich stelle dir meinen Bräutigam vor, den höchst hoch- und liederlich geborenen Grafen... na, das ist noch schöner, jetzt weiß ich nicht, wie er heißt.
Mein Gesicht mit seiner finstern Narbe mochte nicht eben besonders freundlich dreinschauen; der Graf mochte befürchten, die vormundschaftliche Autorität könne ihn um eine lustige Stunde bringen; er hielt für angemessen, der vermeintlichen Würde, womit die leichtfertige Schöne mich bekleidete, seines Namens Klang imponierend entgegen zu stellen, und er sagte, des Sieges über solchen Vormund gewiß: Constantin Graf Tauern-Kauzburg-Tauern.
Jetzt erkannte ich die Züge seiner Mutter ... die meinigen – den Klang der Sprache... Ludmillas einziger Sohn stand vor mir... mein Sohn!...Und mein Vater hatte seinen Enkel am Spieltische ausgeraubt. ...
Man sollte denken, solch' Zusammentreffen müsse zu Boden schmettern den es trifft? ... Ich hielt mich aufrecht. Ich erwiderte mit der Selbstbeherrschung eines routinierten Akteurs: »Graf? Einst kannte ich den Reichsbaron dieses Namens!« – »Sie? Wo?« – »In Kauzburg selbst!« – »Das war mein Vater; kurz vor seinem Tode wurde er in den Grafenstand erhoben.« –» Erhoben? Der Reichsbaron? Ich wundere mich, daß er acceptierte; ich hätte ihn für stolzer gehalten, meinen Kauzburger Erinnerungen gemäß, den Neffen und Schwiegersohn des seligen Ägydius!«
Diese Äußerung frappierte den jungen Mann. »Ah so,« sagte er bedeutungsvoll, »mein Großvater mütterlicherseits ist es gewesen, den Sie gekannt haben wollen? Wann haben Sie den gesehen?« – »Vor länger denn zwanzig Jahren!« – »Und was führte Sie damals nach Kauzburg?« – »Als Schauspieler kam ich dahin!« – –
Constantin wechselte die Farbe. Er setzte mehrmals zu neuen Fragen an, fand jedoch keine Worte mehr. Seine Verlegenheit wuchs, je schärfer wir uns gegenseitig betrachteten. Die Kameraden erzählten ihm, trinkend und mit Lotte lärmend, was ich ihnen von mir erzählt. Das benützte ich, Lebewohl zu sagen. Sie ließen mich nun ungehindert ziehen.
Wie ich nach Berlin gekommen bin, weiß ich nicht mehr: doch muß es gestern noch geschehen sein; denn heute find' ich mich hier.
10
Es ist keine Frage, Ludmillas Sohn ist mehr oder weniger unterrichtet von den Beziehungen, in welchen diese Dame vor seiner Geburt zum Theater gestanden hat. Wahrscheinlich sind nur unbestimmte Gerüchte, verschollenen Sagen gleich, an ihn gedrungen; Dienstbotengeschwätz, von denen er als kleiner Knabe einzelne Andeutungen aufgefaßt: über dessen Sinn er neugierig die Mutter ausgefragt und definitiv abgewiesen worden. Er hat später gefürchtet, auf Entdeckungen zu stoßen, die der Ehrerbietung für seine Eltern schaden könnten, und er ist, wie er heranwuchs, von weiterem Nachforschen völlig abgestanden. Er will den Gedanken nicht in sich aufkommen lassen, seine Mutter könne sich Vorwürfe zu machen haben, und er könne ein Recht haben, an ihr zu zweifeln. Er will das nicht. Und das gefallt mir von ihm! Er gefällt mir überhaupt. Wenn ich doch Mittel und Wege wüßte, mich ihm zu nähern; mit ihm umzugehen! Wie aber wäre das möglich, ohne irgend einen Argwohn zu erwecken? Er ... und ein brotloser Theatersouffleur!
Hier ist nichts für mich zu hoffen. Beim Königlichen Theater anzukommen scheint mir ohne besondere Rekommandation ganz unmöglich. Der Jüngere von den beiden Männern, welche dort soufflieren, und der daneben verbotenen Kleinhandel mit heimlich abgeschriebenen Manuskripten treibt, ist mir nicht unbekannt. Er war noch vor wenig Jahren Faktotum des theaterwütigen Grafen Hahn, und hat, glaub' ich, redlich mitgeholfen, den vormals reichen Herrn ruinieren. Er heißt faßt eben so wie ich mich nannte, da ich noch Komödiant war: nur o statt u. Dabei fällt mir ein, daß mein Freund, der Lederhändler, nachdem er sich erst einigermaßen über den Ritz durch mein Gesichtsleder beruhigt, angeraten hat, mich dem Hofschauspieler Wolff zu nähern, der beim Generalintendanten alles gilt. Den Versuch will ich noch machen. Der Lederhändler meinte freilich, das Sicherste wäre, mich als schwerverwundeter, für seine Kunst unbrauchbar gewordener Invalide zu melden. Das will ich nicht. Es bleibt dabei: Wulf ist Tod! Vollends jetzt, wo der junge – Graf so nahe, seine Mutter gewiß nicht weit ist. Bin ihr ja schon einmal beschwerlich geworden hier ... Nein, ich melde mich nicht.
11
Das hat lange Mühe gekostet, bis ich bei Herrn Regisseur Wolff eingelassen wurde. Zwei hübsche Mädchen, die sich Marianne und Karoline riefen, schossen hin und her, und es gab große Bedenklichkeiten in den Räumen zur linken Seite des kleinen Vorzimmers, bis die Thür zu der rechts gelegenen Arbeitsstube des liebenswürdigen Mannes mir sich aufthat.
Also das ist ein berühmter Hofschauspieler! Einer der berühmtesten und geachtetsten in ganz Deutschland! Ein Künstler, was man so recht »Künstler« nennt, in Weimar ausgebildet, ein Liebling Goethes, ein Zögling der erhabenen Musterschule, deren Eleven so glücklich waren, sich an den Werken der größten deutschen Dichter zu üben, unter dem Schutze und in der Lehre der ersten vornehmsten Geister unserer Nation heranzuwachsen! Von dort auch sollte das eigentliche deutsche Nationaltheater in seiner Neugestaltung hervorgehen!
Inwiefern das durch die Poesie erreicht worden, unterstehe ich mich nicht zu beurteilen. Die Schauspielerei hat wenig Nutzen davon gezogen. Dem Komödiantentume im alten Sinne ist zwar der Rest gegeben, alles hat einen »nobleren Anstrich« bekommen, dawider streit' ich nicht. Nur scheint mir der Anstrich zu dick aufgetragen; er wird zum einengenden Überzuge und hemmt die freie Bewegung.
Wolff ist jedenfalls ein ausgezeichneter Mensch, ein edler Geist, ein inspirierter Schauspieler; es kann nicht fehlen: er muß ein großer sein ... so weit seine Kräfte reichen! Aber wie weit reichen diese? Der arme Mann ist schwächlich, leidend, vorsichtig, besorgt. Von entfesselter Leidenschaft, vom Sturme der Begeisterung, die Spieler und Zuschauer gewaltsam fortrissen, kann da nicht die Rede sein. Gemessen, wohl erwogen, berechnet, jeder Ton vorher bedacht. Die künstlerischste Wirksamkeit! Vortrefflich! Wo bleibt die Natur? Wo bleibt die aus ihr hervorgehende, unbewußte Schöpfung des Momentes?
Was er mir von Goethes Bühnenführung in seiner anmutigen, unbeschreiblich gewinnenden Eigentümlichkeit gütig erzählte, ließ mir jene Anstalt wie eine große Schachtel erscheinen, aus welcher Deutschlands größter Dichter die Personen zu jeder einzelnen Repräsentation herausnahm, ordnete, stellte, mit seinem Hauche belebte, sie agieren ließ auf sein Geheiß, in seinem Geist und Sinne, und sie nach beendigter Darstellung vorsorglich mit Baumwolle umwickelt, wieder einpackte. Wolff, der noch die Spuren dieser Emballage nicht abstreifen kann, von der Berliner Generalintendanz liebevoll gehegt und gepflegt, geschont, in jeglichem Wunsche unterstützt, vom Hofe anerkannt, von allen gebildeten Menschen verehrt und geliebt, ist ein vortrefflicher Hofschauspieler ... er war' ein unbrauchbarer Komödiant. Binnen vier Wochen, sollt' er unser Dasein führen, läg' er auf der Bahre.
Wir sprachen auch von Ludwig Devrient, und daß ich diesen noch als Anfänger gekannt. Wolff redete mit großer Würdigung von dessen Genie, nur beklagend, daß er jetzt durch körperliche Zerrüttung schon gehemmt werde. Ich, meinem Charakter als Souffleur getreu, wagte wider Devrients Weltruhm die Einwendung zu machen, man sage ihm nach, daß er selten vollkommen Herr sei über den Text seiner Rolle. Wolff konnte das, wie sehr er ihn auch sonst verteidigte, nicht ableugnen. Das führte uns denn auf Iffland zurück, der allerdings vieles gekonnt, was dem Devrient versagt blieb, wogegen dieser wieder manches vermöge, was jenem unerreichbar gewesen wäre. Ich schilderte meinen Breslauer Abend mit ihm, und Wolff beschrieb dagegen sein erstes Gastspiel in Berlin, erzählend, wie wunderlich Iffland sich dabei benommen. Er war während der Vorstellung weggegangen und hatte am folgenden Morgen nachstehende Zeilen überschickt, die ich für mich abzuschreiben Erlaubnis empfing: »Ich wünsche, daß Sie nach herrlicher Arbeit wohl geruht haben mögen. Aus dem ersten Akte, den ich sah, konnte ich wissen, was ich verlor, da eine ernste Arbeit mich wegforderte. Ich freue mich an der allgemeinen Freude, die Ihr schönes Talent gewährt hat, und bitte Sie, meine herzliche Achtung anzunehmen. Iffland.« – Ja, dies Benehmen ist wunderlich, in der That!
Was kann ein Theaterdirektor Wichtigeres vorhaben, als dem Gast- und Probespiel des fremden Künstlers beizuwohnen? Aber noch wunderlicher dünkt mich der Stil dieser Zeilen. Wie mag es zugehen, daß alles, was ich aus Ifflands Feder, auch gedruckte Aufsätze, irgend las, wo er in seiner Individualität spricht, geschraubt, unbeholfen und dabei doch »zierig« erscheint? Während er ein Meister im dramatischen Dialoge, wie kein anderer befähigt ist, die Menschen seiner Schauspiele ihrem Charakter, ihrem Range, ihrer Bildung gemäß redend einzuführen? Da sieht man, was produzierendes Talent vermag und zugleich, welche Grenzen ihm gesetzt sind.
Wolff zeigte sich, wie wir erst warm geworden, recht teilnehmend. Ich machte ihm kein Hehl aus meiner Vergangenheit (ohne auf nähere Bezeichnungen und persönliche Nachweise einzugehen), und er verhehlte keineswegs, daß er für mich nichts zu thun wisse. Doch verwies er mich auf ein in der Residenz neu zu errichtendes Theater, welches jedoch erst erbaut werden soll! So lange kann ich nicht warten. Das sah Wolff herzlich lachend ein. Seiner beredten Fürsprache verdanke ich eine reiche Unterstützung durch die Generalintendanz. (Wenn ich dies ausländische Wort schreibe, muß ich immer an Gottliebe denken.) Jene Unterstützung aus einer Königlichen Kasse anzunehmen, untersagt kein sogenanntes point d'honneur. Bin ich doch einigermaßen zu Ansprüchen dieser Art berechtigt als »Invalide.«
12
Auch Breslau hat sich auffallend verändert.
Nur sein altes Theatergebäude nicht, dessen Eingang immer noch, wie Marschall Vorwärts behauptete, einem ......häuschen ähnlich sieht. Und doch liegt in den kleinen Räumen der Vorzug, welcher die hiesige Bühne vor anderen ausgezeichnet und sie erhält. Sobald sie hier einen großen »Musentempel« aufführen, ist's vorbei.
Herrn Schall zu besuchen konnte ich mich nicht entschließen. Beim Regisseur sprach ich vor, um zu hören, ob vielleicht ein Souffleur gebraucht werde. Sie besitzen deren zwei Stück. Doch wer trat mir entgegen, dies zu verkünden: Wer? ... Friederikens Gatte! Derselbe Mann, der mich in Rostock ausgestochen. Natürlich erkannte er mich nicht, und ich wollte für ihn der Souffleur Tod bleiben. Er gewährte mir freien Eintritt. Ich sah seine Gattin als »Zauberin Sidonia.« (O Zschokke! o Mecklenburg! o Hagemann! Letzterer war vor wenigen Jahren hier engagiert, ist jetzt verschwunden. Wo modert der alte Komödiant?) Sie ist noch eine schöne Frau, Tant mieux pour elle. Ich bin kein schöner Mann mehr; das muß mir der Neid lassen, Tant pis pour moi... um mit unserem seligen Reichsbaron zu sprechen.
Im Parterre wurde mir gesagt, die Anstalt habe einen unersetzlichen Verlust erlitten durch Herrn Anschütz, welcher nach Wien berufen worden. Im übrigen fand ich die Gesellschaft noch recht gut. Stavinsky ist ein sehr geschickter Regisseur. Was in dem beschränkten Raume des engen Hauses nur zu leisten ist, bringt er zustande. Ja, eigentlich noch mehr! Ein Ritterschauspiel, »Das Turnier zu Kronstein,« war pompös ausgestattet. Nach dreitägigem Aufenthalte, der mich nichts gekostet, weil Stavinsky mich freihielt, fand sich ein reisender Provinzunternehmer, der die Seele des Geschäfts, den Einbläser suchte. Stavinsky schleuderte mich ihm in die Arme, und wir rumpelten im kleinsten aller Einspänner dem Städtlein zu, wo seine Truppe ihn erwartete. Unterwegs ergab sich, daß besagter Prinzipal Anschützens Schwager ist.
13.
Ich muß noch einen tragikomischen Auftritt diesen Blättern einverleiben, der am Abend vor unserer Abreise von Breslau sich zutrug, und durch den ich, im Angedenken längst entwichener, halbvergessener Stunden, zu seltsamen Vergleichungen aufgefordert wurde.
Unweit der Kasse, wo die Eintrittskarten gelöst werden, steht ein Mann, der das Amt eines Controleurs versieht, und dem die Vorübergehenden ihre Billets vorzuzeigen haben, bevor sie sich ins Innere der Zuschauerräume begeben. Dieser Mann war mir, da ich ihn mit verschiedenen Personen reden hörte, auffällig geworden durch seine höchst kuriose Art zu sprechen; durch ein Ziehen, Dehnen, Zerren des Tones aus tiefem Grundbasse zu dünnem Falsett; durch sein tänzermäßiges Gebaren; durch seine schäbige Perücke und durch die lächelnde Gleichgültigkeit, womit er hinnahm, daß jedweder, der ein Wort mit ihm wechselte, ihn verhöhnte, indem er sich bemühte, ihm nachzuspotten, zu singen wie er und ihm seinen stabilen Gruß: »Guten Abend amice!« als Echo wiederzugeben. Auf meine Erkundigung erfuhr ich, dieser Mann, der, hier in der zweifachen Funktion eines Ballettmeisters(!!) und Controleurs angestellt, allerlei komische Nebenröllchen spiele, auch unsichtbare Orakelstimmen mache und sein »Murney sterbe!« mit Virtuosität erdröhnen lasse – sei erstens ein blutsaugerischer, junge Schauspieler betrügender Wucherer; – zweitens ein heuchlerischer Pietist; – drittens aber ein furchtbarer Schwütier« (so lautete meines Gewährsmannes Ausdruck), der jetzt hoch bei Jahren noch allen Schürzen nachlaufe, der aber als junger Tänzer eine Gräfin entführt habe. Selbige Gräfin sei Sängerin geworden und werde nun hier, nachdem sie längst die Stimme verloren, in bösen Weibern und karikierten Koketten zur Aushilfe benutzt. .. regelmäßig ausgelacht. Seiner wucherischen und frömmelnden Eigenschaften unerachtet gewann » amice« für mich große Bedeutung der entführten Komtesse halber, die denn doch, mochte sie noch so wenig getaugt haben, bei ihrem Entführer ausgehalten hatte und mit ihm durch Dick und Dünn, durch Oper und Ballett bis in gegenwärtige niedrige Existenz gewandert war. Ein Kind besaßen sie nicht; dieses Band fehlte ... und dennoch! Zu welch' erschütternden Rückblicken auf eigene Vergangenheit forderte dieses Paares Verhältnis mich auf!
Ich näherte mich dem Herrn Controleur, opferte zwei Akte der »Sidonia« sonder Beschwerde, in der Absicht, mir sein Vertrauen und dadurch vielleicht einen Blick in die Familie zu gewinnen, aus deren Schoß er Madame gerissen! Doch der alte Fuchs zeigte sich schlauer denn ich. Er gab über alles mögliche erbetene Auskunft, nur über die Art und Weise nicht, wie er zu Frau Gemahlin, wie sie zu ihm gekommen. Da er mich außerdem mit religiös-mystischen Schwärmereien bombardierte und mir von einem Geheimrat O. Wahrscheinlich Oswald, der Vater eines vortrefflichen Mannes, welch' letzterer als Appellationsgerichts-Präsident in Glogau starb, und welchem das deutsche Lustspiel einige vorzügliche Kleinigkeiten, z. B. die meisterhafte Umarbeitung (nicht Übersetzung) von Molières » impromtu de Versailles,« verdankt. Ich habe sein Grab im Herbst 1861 auf dem schönen Glogauer Friedhofe besucht. H. (bekannt aus der Berliner Wöllnerschen Religions-Ediktmacherei) vorfabelte, der mit dem Heilande persönliche Zusammenkünfte auf den Morgenauer Dämmen halte ... so zog ich mich unverrichteter Sache von ihm zurück und entsagte dem Wunsche, seine Gattin – er nannte sie » Elisius« – kennen zu lernen.
Doch sollte ich die Stadt nicht verlassen, ohne ihre Bekanntschaft wenigstens aus der Entfernung zu machen, und zwar in überraschender Art.
Am Abend vor meiner Abreise harrte ich beim Ausgange von der Bühne auf Stavinsky, dem ich noch Lebewohl und Dank sagen wollte. Es war schon Nacht, doch erhellten mattbrennende Laternen die mit Bäumen bepflanzte Gasse. Da hörte ich schwere Schläge, die wuchtig auf einen breiten Buckel fielen, nach sicherem Taktmaße – es waren musikalische Schläge – und dazwischen erklangen Exklamationen wie folgende: »Meinen Elisius? ... Unverschämter! ... Verfluchter Kerl, ruiniert mir meine Chanteuse! ... Nichtswürdiger Chorist! ...« . Amices Stimme war unverkennbar. Rhythmisch in richtigen Intervallen folgten sich Vorwürfe und Prügel. Beide, der Züchtiger wie der Gezüchtigte, hielten gleichen gemessenen Schritt. Jener als »Arzt seiner Ehre« behauptete die Würde eines Tanzmeisters. Dieser bot seinen, wie schon erwähnt, breiten Rücken mit stoischer Fassung den wohlverdienten Hieben dar, die er kaum zu empfinden schien. Wie sie sich mir genugsam genähert, erkannte ich im Geschlagenen einen dicken Chorsänger, dessen dumm lächelndes Vollmondgesicht mir von der Bühne herab auffällig gewesen war, und der auch jetzt in seiner mißlichen Lage recht behaglich drein sah. Erst als durch meine Frage: was es doch gäbe, ein Stillstand eintrat, benützte er denselben seinerseits, raschere Schritte zu machen. Amice hielt sich nicht lange mit mir auf. Er entdeckte mir nur vorübergehend, daß er den Verbrecher im Finstern bei seiner »Chanteuse,« seinem »Elisius« überrascht habe, und folgte ihm dann, ebenfalls rascheren Schrittes, um das ersprießliche durch meine Dazwischenkunft unterbrochene Geschäft wieder aufzunehmen. Ich hörte noch um die Ecke gelungene Hiebe führen.
Da wunderte ich mich nicht mehr, daß Madame zu den Ihrigen heimzukehren unterlassen hatte, und war los und ledig der quälenden Vergleiche zwischen Amices und meinem Geschick.
14.
Dies Schlesien ist doch ein eigen Ländchen! So reich, so schön, so bevölkert, und dabei noch so streng abgeschlossen in manchen Dingen, wie wenn's außerhalb der Welt läge. Dennoch findet man selten so viel gebildete Leute beisammen. Die Stadt (um nicht Städtchen zu schreiben!), wohin Herr Butenop, alte Theaterfamilie, mich brachte, heißt Frankenstein und bildet auf dem Übergange aus fruchtbarstem flachen Lande gewissermaßen die Hauptstation ins Glatzer Gebirge. Reiche Umgegend. Hübsche Einnahmen. Will aber doch nicht reichen. Ich fürchte, mein Direktor verspielt, was die Truppe ihm erspielt. Dieses Kartenspiel ... Hu! ... Ich hab', ich weiß nicht wo, gelesen, die Spielkarten wären erfunden worden, um einem französischen Könige, der den Verstand verlor, zerstreuende Unterhaltung zu gewähren. Für diesen Zweck scheinen sie mir recht passend. Kinder und Wahnsinnige mögen sich damit ergötzen. Wie aber denkende Menschen ... Ja, was hilft's? Hat doch der größten Denker einer, hat doch Lessing leidenschaftlich gespielt. Die Welt besteht aus so vielen Rätseln und Widersprüchen, als Menschen in ihr herumlaufen. Ist's denn nicht auch ein Widerspruch und ein unauflösbares Rätsel, daß ich vor vierundzwanzig Jahren lieber das Leben als die Schauspielkunst aufgegeben hätte, ja daß ich noch vor zehn Jahren nichts darüber kannte ... und daß ich mich jetzt, wenn ich im Loche sitze und das Treiben vor mir betrachte, alles Ernstes frage: wie können vernünftige Wesen sich einer Kunst widmen wollen, worin einer allein gar nichts zu leisten vermag; wo er fast mehr von anderen abhängt wie von sich; wo jeder Pfuscher ihm verderben kann, was er mit Fleiß und Mühe in sich erschuf? Und dies nun gar in einer Zeit, die keinen Gehorsam, keine zünftige Folgsamkeit mehr kennen will! Einer Gewerbescheinzeit! Die Bewilligungen werden von seiten der Regierungen verteilt ohne die geringste Rücksicht auf artistischen Beruf. Wer einigermaßen verbürgen kann, daß er ein »solider Mann ist,« will sagen, daß er die erforderliche Abgabe pünktlich entrichten wird, darf Theaterdirektor werden. Die neuen Entreprisen mehren sich wie Blattläuse, und ein Prinzipal frißt dem andern das Brot vom Munde weg, wie die Blattläuse, einer der anderen, den Saft vom Steiß.
15.
Da befinden wir uns in Reichenbach, der Stadt der Kongresse. – Wir gaben vor einigen Tagen Kotzebues »Rehbock,« das Lustspiel, welches ja, denk' ich, auch figuriert auf dem Sündenregister, um dessentwillen Herr Studiosus Sand, der Gottesgelahrte, dem Komödienschreiber das Messer deutscher Tugend in den Leib stieß? Fiat justitia und pereat die Komödie!
Besagter »Rehbock« ist und bleibt das beste deutsche Original-Intriguenlustspiel. Unanständig? Unsittlich? Was denn? wie denn? warum denn? »Die schuldlosen Schuldbewußten« lautet sein zweiter Titel. Es ist eben nur eine Variation auf das alte geheiligte Thema: »Wir sind allzumal arme Sünder.« Dabei aber eine so lustig-lebendige, geistvolle, versöhnliche, belehrende, daß ich gar nichts Besseres weiß. Herrn von Kotzebues giftigen, bissigen, neidischen Charakter beiseite ... wenn nur zur Hälfte wahr ist, was man davon spricht und schreibt, so war er ein Voltaire im kleinen, und ich fühle mich keineswegs, geneigt, ihm Seele und Gemüt zuzuwenden. Was jedoch sein Geschick für Lustspiel und feinere Posse betrifft, seine glücklichen Einfälle, seine Beherrschung der Scene, da weiß ich nicht, wer ihn überträfe. Unschicklich? unanständig? Das ist ein philisterhafter Tadel, der oft auch die Werke anerkannter Meister trifft. Kotzebue, sagen sie, soll unsittlich sein. Da steckt's! Wer zieht die Scheidewand zwischen unanständigen und unsittlichen Bühnenspielen? Wer klassifiziert die bloß unschicklichen und die entschieden unsittlichen Auftritte? Wer lehrt uns, wo sie ineinander schmelzen? Leichter gesagt denn gethan!
Schiller gilt für den sittlichsten aller Poeten. Es ist nicht schwierig, Unanständigkeiten in seinen Stücken, besonders in den drei ersteren, aufzufinden, welche schon unsittlich genannt werden dürften. Aber ich mache mich auch anheischig, wirkliche Unsittlichkeiten bei ihm nachzuweisen, die in zartfühlendsten, poetischreinen Formen auftreten. Dahin rechne ich den Vorschlag, den Fürstin Mutter von Messina ihrem Sohne Cäsar macht, um der Geliebten (seiner Schwester) willen am Leben zu bleiben und es mit ihr zu genießen; dahin rechne ich Wallensteins Thekla, die einer unglücklichen, vereinsamten Mutter im fürchterlichsten Augenblicke lieblos unkindlich davonläuft, den zerstampften Leichnam des Piccolomini aufzusuchen. Solche Unsittlichkeiten erscheinen mir weit verletzender, weil sie hohe Tugend verkündigen und in erhabenen Sentenzen reden. Hätte Thekla ihrem Blute und dessen Wallungen nachgebend sich mit Max, da er lebte, vergessen, so würden die Damen Zeter schreien. Daß sie aber, da er tot ist, seinen blutigen Körper höher stellt als ihre Tochterpflicht, findet man sublim. So verschieden sind die Ansichten.
Doch hat Schiller selbst sehr wohl gefühlt, daß die Poesie mit diesen tugendsamen Einschränkungen und Gesetzen eigentlich gar nichts zu teilen habe, denn er war es, der Goethe alles Ernstes den Vorschlag that, wöchentlich wenigstens eine theatralische Aufführung zu veranstalten, zu welcher nur männliche Zuschauer Eintritt erhielten. Eben um kleinlichen Rücksichten auf sogenannte Decenz enthoben zu sein. Heinrich von Kleist ging noch weiter, da er behauptete, es solle überhaupt nur für Männer gedichtet und gespielt werden. Das führt gewissermaßen ins klassische Altertum zurück und wäre mit unsern Bräuchen und Einrichtungen wohl unverträglich.
Bei Altertum fällt mir ein, daß sie in Berlin, und zwar mit glücklichstem Erfolge, den Weimarischen Versuch nachgeahmt haben, ein römisches Lustspiel ganz nach jenem Zuschnitt, folglich auch mit Masken darzustellen.
Wenn das Wurzel faßte und ich meinen Fratz vermaskerieren dürfte, dann blühte noch einmal mein Weizen, und ich brauchte nicht länger zu soufflieren.
16.
Während ich müßig in Breslau umherstrich, hatte ich mir, zur Erinnerung an den Iffland-Abend, auch das Haus betrachten wollen, in welchem der große Fleck geboren ward, und vermeinte mit der mir eigenen frommen oder dummen Einfalt, ich müsse es ohne weiteren Nachweis auffinden, wenn mir nur die Gasse, in welcher es steht, bekannt sei. Ich durchstiefelte diese, die Schweidnitzer genannt, etlichemal, vergebens nach einer nun endlich gestifteten Denktafel forschend. Wie fromm! wie dumm! Als ob ernsthafte Staatsbürger und verordnete Väter der Stadt an einen längst verstorbenen Komödianten und dessen Nachruhm zu denken hätten? Ihre Herren Söhne, wenn sie sonst auf dem Flecke sind, werden wohl die Handvoll Gold nicht nachzählen, sobald es gilt, eine partie fine mit liederlichen Theatermenschen und Menschern zu machen; aber für ein Denkmal des schleichen Landsmannes Fleck, der die Fahne der tragischen Muse zu so vielen Siegen vorantrug, hätten sie nichts übrig, und sie würden jedem, der etwa dafür zu sammeln käme, ins Gesicht lachen. Das begreift sich. Nur ich begriff es nicht und suchte wie ein Narr. Bis mich Stavinsky endlich belehrte und mir das unscheinbare, drei Fenster breite Gebäude schrägüber vom alten städtischen Marstall zeigte. Ich sah mit Vergnügen einige davor stehende Bäume und versuchte mir einzubilden, der Knabe Fleck habe auf diese Bäume geblickt, da sie noch klein gewesen; habe sich ihres Wachstums wie des seinigen gefreut.
Sein Name ruft immer einen gewissen wehmütigen Stolz in meiner Seele wach, weil ich mich erinnere, daß Iffland und Schall durch meine Recitation an ihn gemahnt wurden. Deshalb vermeid' ich auch möglichst seiner zu denken. Denn Wulf soll ja tot sein, und Tod soll ihn tot sein lassen um der lieben Ruhe willen. Dieser Tage halfen mir die besten Vorsätze nicht; wider Willen hab' ich mich in Gedanken viel mit ihm beschäftigen müssen.
Es wurde in einem Wochenblättchen Klage geführt, daß unser Veteran Großmann den schlesischen Dialekt häufig vorklingen lasse. In frühern Jahren, hieß es, habe er's nicht gethan! Sehr natürlich. Greise sprechen vor Ablauf ihres Lebens gern, wie sie als unerzogene Jungen gesprochen, wenn ihnen das Herz warm wird und jugendliche Empfindungen in ihnen erwachen. Dabei fiel mir ein, daß Professor Meyer von Bramstedt, wie er in jenen unvergeßlichen Stunden bei Schröder über Fleck redete, unter anderem erwähnte, dieser habe, wo es ihm passend geschienen, nicht selten seine heimische Volkssprache (auch auf der Berliner Bühne) geltend gemacht. Gewiß nur um der Natürlichkeit ungehindert freien Lauf zu gestatten und um recht lebenswahr zu sein, indem er sich so gehen lassen durfte. Auch gewiß nur in schlicht bürgerlichen Charakteren. In hoch tragischen wird's ihm nicht eingefallen sein. Hohes, edles Pathos verträgt einen bescheidenen Grad von ästhetischem Zwang, für welchen begeisterter Aufschwung leicht entschädigt. Im gewöhnlichen Leben jedoch hab' ich's gern, wenn aus beredtem Munde leise Mahnungen erklingen an den Dialekt der Heimat. Wer immer, auch da, wo der Augenblick ihn billig fortreißen sollte, darauf sinnt, das reinste Hochdeutsch von sich zu geben, erweckt mir den Verdacht der Ziererei. Wie ich denn auch nie sonderlichen Wert gelegt habe auf das Lob: Dieser oder jener spricht eine fremde Sprache wie ein wirklicher Ausländer. Solches Lob zu erwerben ist ein hoher Grad von Geckerei nötig. Man soll, wenigstens wenn man ein Deutscher sein will, Französisch, Italienisch, Englisch u.s.w. – mag man es noch so gründlich erlernt haben – nicht anders aussprechen wollen, als daß der Franzose, der Italiener, der Engländer u.s.w. immer noch den Deutschen zu erkennen vermag. Sonst ist man ein Zieraffe. Man darf, auch als ganz gebildeter Mann, im vertraulichen Verkehr den provinziellen Grundton seiner Geburtsgegend anschlagen, wohlverstanden ohne in jene grammatikalischen Schnitzer und in unlogische Anwendung korrumpierter Wörter zu geraten, welche das Attribut der Unwissenden sind und welche leider am häufigsten denen zur Last fallen, die ausnehmend schön zu parlieren ... beabsichtigen.
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Seit sechs Monaten keine Zeile geschrieben. Verdrießlich, theatermüde, lebenssatt! Wie könnt' es anders sein? Nichts was das Herz erquickt, den Geist erfrischt. Der echte, rechte, schlechte Bühnenschlendrian. Befände sich noch mindestens unter dem vielerlei Gesindel, was jetzt zu den Banden läuft, ein ausgeprägtes Talent! Etwa wie die Lotte war. Möcht' es der größte Lumpenhund, möcht' es die tollste Dirne sein! Aber nichts!
Werden keine Schauspieler mehr geboren?
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Länger hätt' ich's bei B. doch nicht ausgehalten. So bildete ich mir wenigstens ein. Thorheiten! Madame Leitner zahlt mir nicht mehr, und meine Lage hat sich in gar nichts verbessert. Doch nein, ich will mich keiner Undankbarkeit schuldig machen. Einen Vorteil hab' ich durch den Wechsel errungen. Liegnitz, wo wir uns jetzt aufhalten, ist eine hübsche Stadt, und in dieser Stadt hab' ich einen Mann gefunden, dessen Umgang mir doch wieder eine belebende Stunde gewährt. Er lebt als Lehrer an der hiesigen Ritterakademie, bewohnt den mittelalterlichen Turm eines Stadtthores, pflegt eine Menge bunter Singvögel, ist ein gebildeter Litterarhistoriker und heißt Franke. Unsere Bekanntschaft machte sich zufällig. Das kleine, etwas gezierte Männchen wich mir anfänglich aus. Ich aber, Belehrung und eine reiche schönwissenschaftliche Bibliothek bei ihm witternd, ließ nicht locker und zwang ihm meine Begleitung zu einem Spaziergange auf. Nach Ablauf einer halben Stunde war er mein, und seitdem machen wir tagtäglich unsere Promenade, zum Erstaunen der Leute, die den sonst sehr exklusiven Docenten vertraulich mit dem Theatersouffleur sprechen sehen. Er giebt mir gute Bücher zu lesen, ich gebe ihm dafür Erzählungen aus meiner Schauspielerzeit, die ihn sehr vergnügen. Mehrmals schon hat er mich aufmuntern wollen, ich solle die interessanteren Erlebnisse zusammenstellen und ein Büchlein daraus machen. Als ob das nur so ginge! Dazu gehört wohl mehr. Nicht genug, daß ein Autor Welt, Menschen, Zeit, kurz das Leben kennen soll... das giebt sich zu allererst, denn das Leben lernt man ja kennen, indem man lebt – er soll zweitens gelernt haben, es zu schildern. Auch das würde ich notdürftig vermögen, weil ich genug davon sah; und aufmerksam sehen ist ja eigentlich schon malen! – Drittens aber, und das scheint die Hauptsache, soll man denken können, bevor man schreibt: und denken lernt man erst, indem man leidet. Nun hab' ich zwar schon viel gelitten und geduldet, doch recht klar zu denken hab' ich noch nicht erlernt. Und da ich die Ahnung in mir trage, als wär' ich mit meinen Leiden noch lange nicht fertig und würde noch viel zu dulden haben, so will ich warten mit dem Buche; will vorher noch fleißig in die Schule laufen, um ein klarer Denker zu werden.
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Ohne es zu wissen und zu wollen bin ich »mit Sachtem,« wie sie hier zu Lande sagen, vom Souffleur zum Ratgeber unserer Frau Direktrice gestiegen. Es mußte so kommen. Der offizielle Regisseur ist natürlich ein Ochse, und eine Witwe, mag sie noch so resolut sein, bedarf in hundert Fällen männlicher Unterstützung. Klüger hätt' ich freilich gethan, ruhig aus meinem Kasten allen Skandälen zuzusehen, nur zu reden, was im Buche steht, und mich in die oft so jämmerlichen Händel nicht einzumischen. Aber wenn's zu arg wird, mag der Henker still bleiben, und wenn die Dummheit sich gar zu breit macht, fährt man ihr endlich doch übers Maul, trotz den besten Vorsätzen, das eigene zu halten. Wir probierten »Die Räuber auf Maria-Kulm.« Zufälligerweise hatte ich die Rollen nicht ausgeschrieben; oder vielleicht auch war's kein Zufall gewesen, sondern der Herr Regisseur hatte absichtlich einem städtischen Kopisten die Arbeit anvertraut, weil er sich vor meinen Randglossen fürchtete. Geborgt ist nicht geschenkt. Gleich in den ersten Scenen erkannte ich den Vogel an seinen Federn und platzte zu verschiedenen Malen mit lautem Gelächter heraus über den Wahnsinn. Der Regisseur stellte mich zur Rede und hieß mich meiner Pflicht nachkommen. Das machte mich grätig. Und ich erklärte, daß kein Mensch auf Erden verpflichtet werden könne, solches Zeug zu verdauen. »Wir wissen auch ohne Sie,« schrie der grobe Flegel, »daß dies Werk nicht ein Meisterwerk ist, doch es wird auf allen Bühnen gegeben, weil es dankbare Rollen enthält und Effekt macht.« – »Mag es gegeben werden, wo es will, und mag es überall Beifall finden,« schrie ich zurück, »das beweist höchstens die Erbärmlichkeit unserer Theater und den Unverstand der Menge. Schlechte Stücke können recht gut sein, bis auf einen gewissen Punkt, und ich souffliere deren oft genug sonder Murren; verlange mir gar keine Meisterwerke von Ihnen dargestellt. Aber es giebt eine Grenze zwischen leichter Ware ohne tieferen Wert, und zwischen dem Galimathias, wie ihn etwa ein besoffener Viehtreiber zusammenstoppeln könnte. Es ist mir vieles zuwider, was ich denn doch verdaue, weil ich einsehe, daß es nicht anders geht, und daß wir nehmen müssen, was auf den Mark kommt. Die Räuber auf Maria-Kulm zu verdauen, so weit reicht meine ›Kraft des Glaubens‹ nicht. Ich speie sie von mir. Und wenn Herr Regisseur darauf bestehen, Ihren Räuber zum Schauder aller vernünftigen Menschen herunter zu reißen, so thun Sie's gefälligst ohne mich!«
Unterdessen war Madame Leitner dazu getreten und redete mir gütlich zu. »Nein,« wiederholte ich, »schicken Sie mich aus dem Engagement, mir ist's ganz gelegen. Junker Katzengrün und Jungfrau Bibiana und Herrn Räuberhauptmann Kust bediene ich unter keiner Bedingung. Schröder und Iffland müßten sich in ihren Gräbern umdrehen, wenn ich's thäte!« – »Aber lieber Tod,« sprach die verlegene Direktrice, »sogar die große Schröder, die Sophie Schröder, ist als Bibiana aufgetreten; ich habe sie selbst darin gesehen.« – »Desto schlimmer für Sophie Schröder, Madame; ich bleibe bei meiner Weigerung. Wie gesagt, es giebt für alles eine Grenze, sogar für die Geduld eines sich selbst verleugnenden Souffleurs. Bis zu Herrn Clauren hat die meinige gereicht; bis zu Herrn Kuno reicht sie nicht. Entlassen Sie mich!«
»Nun wohl,« sagte die gute Frau, rasch entschlossen, »so will ich Sie für heute beurlauben; Sie haben einen Abend zum Ausruhen redlich verdient, waren sehr angestrengt. Erholen Sie sich. Die Räuber auf Maria-Kulm will ich soufflieren.«
Seitdem thut Madame Leitner nichts Wichtiges, ohne sich vorher mit mir darüber zu besprechen, und Herr Regisseur möchten mich umbringen. Weil er jedoch keine Courage hat und weil er vernommen, daß ich meine Schmarre auf dem Schlachtfelde geholt habe, geht er mir knurrend aus dem Wege.
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Jedes Ding währt seine Zeit. Da sind wir nach einem hübschen und langen Waffenstillstand nun doch auseinander, meine Direktion und ich. Und wie unerwartet.
Ich bin ganz gern abgegangen. War des leeren Geredes, was in derlei Verhältnissen doch zu keinem genügenden Erfolge führen kann, herzlich müde und habe die lästige Würde eines Dramaturgen freudvoll, nicht leidvoll niedergelegt.
Die Ursache unseres letzten Zwistes will ich niederschreiben. Sie ist lehrreich.
Es fand sich ein etwas verschwiemelter Tischlergeselle am Orte ein, der sich in Gasthäusern umhertrieb und lustige Gesellschaften durch allerlei Späße unterhielt. Professor Franke sprach mir von ihm mit großer Bedeutung und pries sein Geschick, welches sich vorzüglich in glücklicher Nachahmung bekannter Breslauer Akteurs geltend machen sollte. Ich ließ mich beschwatzen, eines Abends nach dem Schauspiel mitzugehen. Die Anwesenden erkannten mich gleich, wie wir eintraten, und weil ich für eine Autorität gelte, trotz meiner gebückten Positur im Kasten, verriet man einige Spannung, wie ich die dargebotenen Kunststücke aufnehmen würde. Nun will ich gestehen, daß dieser Mensch mich frappierte. Nicht bloß seine Kopien waren täuschend ähnlich, so daß man die nachgeahmten Schauspieler wirklich sprechen zu hören vermeinte ... auch andere selbsterfundene kleine Scenen, die er in verschiedenen leicht gewechselten Verkleidungen aufführte, waren belustigend. Franke zeigte sich ganz verblendet von seiner Virtuosität und stellte beim Nachhausegehen die Behauptung auf, dies sei ein theatralisches Genie. Nicht allein, daß ich darin widersprechen mußte, ich konnte nicht umhin, die Nichtigkeit ähnlicher Schwänke im allgemeinen anzuklagen. »Sie sind recht brauchbar,« sagte ich, »um eine lachlustige Versammlung in der Schenkstube zu kurzweilen, aber sie beweisen nicht das geringste für den Schauspielerberuf dessen, der sie produziert. Es ist mir im Gegenteil sehr wahrscheinlich, daß dieser Tischler, hätte er die kleinste Rolle vorzutragen, wie ein ungehobelter Geselle dastehen und seine wenigen Worte albern herstottern würde. Gäb' es noch eine improvisierte Komödie, deren mein verstorbener Pflegevater bisweilen Erwähnung that, wenn er von den Eindrücken seiner Kindheit erzählte, dann wär' es vielleicht möglich, solchen Spaßmacher für possenhafte Einschiebsel zu verwenden, wo er schwatzen dürfte, was ihm gerade in den Sinn kommt. Für dergleichen Extempores mag er einige Begabung besitzen, obwohl völlige Unbildung aus ihm spricht. Mit schlichtem Verstande passend herzusagen, was der Autor ihnen vorschreibt, sind solche Faxenmacher ein für allemal unfähig. Und von nur erträglicher Durchführung eines Charakters kann bei denen nie die Rede sein, welche Routine erworben haben, zehn Personnagen hintereinander übertrieben zu karikieren. Sie verhalten sich zu wirklichen Schauspielern, wie die Affen zu anderen tüchtigen selbständigen Geschöpfen.«
Mein Begleiter schalt mich einen mit Vorurteilen behafteten, in veraltetem Zunfteigensinne befangenen Komödianten. Ich versicherte ihn, daß er mir gar keine größere Schmeichelei sagen könne. Das verdroß ihn. Er gab mir zu verstehen, meine Abneigung gegen diese Geschicklichkeiten, die doch auch ihre Berechtigung hätten, müsse tiefer sitzen und rühre wahrscheinlich noch aus meiner Schauspielerzeit von der Bosannschen Truppe her; sei mehr gegen einen jetzt hochberühmten Namen, als gegen den unschuldigen Tischler gerichtet. Das verdroß mich! Wir trennten uns verstimmt. – Es ist so schwierig, über Dinge, die man genau versteht, mit Personen zu streiten, welche nichts davon verstehen, uns übrigens aber an Wissen überlegen sind. Deshalb macht mich jede Diskussion übers Theater scharf und bitter. Deshalb hatte ich bisher vermieden, mit Franke tiefer ins eigentliche Schauspielwesen einzugehen; und ich bedauerte sehr, gerade ihm manches aus meiner Komödienzeit anvertraut zu haben.
Nun war's geschehen, und er zeigte sich gekränkt. Kluge, gelehrte Männer, wenn sie zugleich eitel, folglich empfindlich-reizbar, sind selten klug genug, zuzugeben und einzugestehen, daß nicht alles mit Theorien erschöpft wird, und daß Praxis und Erfahrung auch ihre Rechte haben. Er wollte meine Ansicht thatsächlich widerlegen. Er langte sich unsern Tischler und setzte diesem ein Schubladenstückchen zusammen, aus dessen wirksamsten Chargen, in der Manier des »Schauspieler wider Willen.« Die Frau Direktorin, von vielen Seiten ermuntert, nahm es willig an. Der Regisseur, aus Opposition gegen mich, fand sich bereit, die undankbare Nebenrolle zu übernehmen. Vergeblich blieben meine Gegeneinwendungen. Ich wurde laut des mißgünstigsten Neides beschuldigt. Alles war gegen mich. Sogar Philister, die sich sonst niemals ums Theater bekümmert hatten, nahmen Partei und klagten mich an. Ich gab auf der Probe in Gegenwart der ganzen Truppe die Erklärung ab, daß der Versuch übel ablaufen müsse, daß er ein Schandfleck für die bisher ganz anständig gehaltene Unternehmung sei, und daß ich nichts mehr mit letzterer zu schaffen haben wolle! Dann verkroch ich mich in mein Dachstübchen, um es vor nächstem Morgen nicht zu verlassen. Die Nacht brachte ich mit Einpacken zu und war reisefertig, wie die Sonne aufging. – Unterwegs erfuhr ich von einem Augenzeugen, daß der Debütant schon in der dritten Scene den Unwillen der Versammlung durch niedrige Übertreibungen erregte; daß sein Betragen gemein und ekelhaft ausartete; daß dieselben Personen, die ihn in der Kneipe für ein Genie ausgeschrieen sich stillschweigend beschämt aus dem Schauspielhause verloren; daß die Farce nicht zu Ende gespielt werden konnte.
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Die Grochesche Gesellschaft gehört zu den ältesten der Provinz und hat passable Kräfte. Neiße ist eine Militärstadt. Offiziere geben den Ton an. Ich sitze fester denn je in meinem Kasten und fühle mich sicher darin. Es behagt mir, keinen Teil mehr zu haben an der »Führung des Geschäfts.«
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Was zieht mich doch nach Wien? Ich fühle eine förmlich schmerzhafte Sehnsucht dahin und kann mir nicht erklären, woraus sie entsteht. So lange ich vielleicht hätte noch hoffen dürfen, mir auf den Brettern der Kaiserstadt Geltung zu verschaffen, that ich nichts mehr dafür, und nachdem damals mein erstes Bemühen mißlungen, quälte mich ferner keine Anfechtung mehr. Und jetzt, wo mir auch dort nichts Besseres winkt, als was ich überall habe: der Kasten des Souffleurs; die Feder des Kopisten ... jetzt schmachte ich nach Wien! Was soll das heißen? Ist's nicht völlig gleich, ob ich in der kleinsten Stadt Deutschlands vegetiere oder in der größten?
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Entweder ich bin ein Narr, oder ich bin ein Prophet! Vielleicht beides! Der Drang nach Wien nimmt stündlich zu. Mit ihm auch die auf gar keinen haltbaren Grund gestützte Zuversicht, daß ich dort etwas Wichtiges erleben werde! Kindisch genug; als ob man nicht überall etwas erlebte, und als ob nicht jedes Erlebnis, auch das unscheinbarste, von Wichtigkeit wäre!? Dennoch bin ich entschlossen nachzugeben. Nur bessere Jahreszeit will ich abwarten, dann brech' ich auf. Ich muß doch erfahren, ob ich unter die kleinen Propheten gehöre, ob ins Irrenhaus?
24
Führen nicht alle Wege nach Rom? weshalb sollte der Weg über Prag nicht nach Wien führen? Ein von dort weggelaufener, braunrot angelaufener Schnapsbruder, auch ein »Priester Thalias,« der hier Kollekte machte, um unsere kupferichten Silbergroschen auf ferneren Kupferbeschlag seines Gesichtserkers zu verwenden, schwor – oder schreibt man »schwur?« – Stein und Bein, daß daselbst ein Souffleur, ein vorzüglicher nämlich, gewünscht werde. Die Schwüre solches Herumtreibers sind zwar nicht immer glaubwürdig; indessen wer kann mir's untersagen, wenn ich daran glauben will? In Prag hatte, wie ich seitdem mit Bestimmtheit erfahren, der alte Mann sein Standquartier, dem ich das Dasein ... verdanke. Seit der Zusammenkunft mit Grafen Constantin, der mir das seinige verdankt, und dem sein Großvater inkognito die Goldfedern ausrupfte, regt sich gleich einer Otter im Nest in meiner Brust der furchtbare Wunsch, mich jenem vielberufenen Schau- und Kartenspieler, jenem Bankhalter zu nähern. Ich habe einst gefolgert: »Er sei mir ein Toter, weil mir Ludmilla eine Tote ist!« Das war ein großer Irrtum. Ach, beide sind mir sehr, sehr lebendig! Ich will ihn kennen, ohne daß er mich erkenne! Es ist eben auch ein Spiel, welches ich versuche; ein keckes, vielleicht gefährliches? Va banque!
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Herr Franz von Holbein leitet sein Prager Theater wie einen technischen Apparat als solider Mechaniker, der er ist. Ich sah auf dem Schreibtisch vor ihm kleine wundersam konstruierte Gebäude aufgestellt, mit Fächern und Schiebern versehen; Tage, Zahlen, Namen, Titel, sauber auf Blech gemalt, werden in musterhafter Ordnung aneinander gereiht, und wer vor solchem Dinge sitzt, braucht nur die Finger zu rühren, um der ganzen »Kunstanstalt« eine zweckmäßige Organisation beizubringen. An Erfindungen, was Maschinerien betrifft, scheint er reich zu sein. Blitz und Donner stehen ihm zu Gebote, wie wenn sie direkt aus der Wolkenfabrik, Firma »Jupiter tonans« verschrieben wären. Seine Luna fordert sämtliche sentimentale Hunde zu heulen auf; und er soll auch vortrefflichen Wind machen.
So viel ist gewiß: einen Einbläser braucht er nicht; mein kupfernasichter Kollektenmacher hat gelogen, und ich habe Zeit in Prag spazieren zu gehen, was ungleich angenehmer ist als soufflieren.
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Ja, meine Toten stehen auf! Ich weiß jetzt den Namen des Mannes genau, den Vater Bäcker mir nicht nennen wollte, und daß er hier weilt. Alles trifft zu. Er lebt, wie man mir sagt, von dem, was er zusammen ... gespart. Das Bankhalten soll er aufgegeben haben. Wahrscheinlich sind die Goldstücke seines Enkels der letzte Raub gewesen. Vor dreizehn Jahren ist er, als die verstorbene Bethmann hier Gastrollen gab, noch einmal als Odoardo in Lessings Emilia aufgetreten. Der alte Komödiant hat sich noch einmal in ihm geregt. Er zählt jetzt Vierundsechzig. Ich Vierundvierzig. Graf Constantin Vierundzwanzig... wofern ich mich nicht hier und da um ein Jährchen verrechne, denn ich bin ein schwacher Arithmetiker.
Achtundsechzig – Vierundvierzig – Vierundzwanzig! – Ein hübsches Verhältnis, ganz richtige Proportionen! Und leicht möglich, daß die Genealogie der Bastarde sich noch weiter verfolgen ließe bis in die Gegenwart? Weshalb sollte ich nicht schon einen Enkel von vier Jahren haben? Keiner ahnt die Verwandtschaft des Blutes außer mir! ... Es geht nichts über innige Familienbande.
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Wovor und wofür hab' ich mich nun so fürchterlich geängstigt? Ganz gut ist alles abgelaufen, und ich nehme eine wohlthätige Beruhigung mit mir. Gesegnet sei der Eintritt in diese altehrwürdige Stadt!
Um jeder Möglichkeit von Entdeckung meines Ursprungs vorzubeugen, ließ ich mich als Schriftsteller anmelden, der die Absicht hegt, Biographien berühmter Akteurs herauszugeben, und für diesen Zweck sichere Daten zu sammeln umher reist. Ich wurde von dem alten Herrn artig und kalt empfangen. Er betrug sich wie ein vornehmer Mann, der mit der Welt abgeschlossen hat, dem es vollständig gleichgültig ward, was über seine Vergangenheit geschrieben und gedruckt werden möchte. Mit gefälliger Nonchalance ging er auf mein Gesuch ein und erstattete oberflächlichen Bericht von seiner Wirksamkeit auf der Bühne, wobei denn auch einige Hinweisungen auf Ereignisse außerhalb derselben nicht unterbleiben konnten. Er sprach von sich, von seiner wilden Jugend, von mannigfachen Verwicklungen, in die er geraten sei, aufrichtig, einfach, zum Erstaunen unbefangen. Durchaus nicht wie ein Mensch, der seinen eigenen Lebenslauf erzählt, vielmehr wie der unparteiische Beobachter fremder Schicksale. Auch von der »Passion zum Kartenspiele« war die Rede, die er als etwas ganz Natürliches voraussetzte und mit wahrhaft sophistischer Beredsamkeit rechtfertigte, indem er den Satz aufstellte und verfocht, daß jedweder das Recht, sogar die Pflicht habe, anderer Leute Thorheit zu eigenem Vorteile zu benutzen. Dabei behielt sein Angesicht den Ausdruck innersten Friedens mit sich selbst, den auch nicht der Schatten eines Vorwurfs trübte.
Meine peinigendste Besorgnis war gewesen, ich würde einem von Qualen schlechten Gewissens zerstörten, lebensmatten, kranken Greise gegenüber stehen und nicht an mich halten können; würde mich an seine Brust werfen und aufschreien müssen: Vater, dein Sohn kam, dir Verzeihung zu bieten, dich mit dir selbst auszusöhnen! –
Damit wär' ich übel angekommen! Er machte mir's leicht, die Rolle des fremden Schriftstellers zu behaupten. Ich schied als solcher, und er entließ mich eben so verbindlich kalt, wie er mich empfangen.
Ja, nun bin ich abgefunden. Nun hab' ich wirklich keinen Vater gehabt.
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Herr Ludwig Löwe hat hier gespielt. Er ist, wenn ich nicht irre, jetzt in Kassel angestellt? Unter Liebich war er ein Liebling der Prager, und als vollendeten jugendlichen Meister haben sie ihn jetzt begrüßt. Ich hab' ihn zweimal gesehen: Jaromir in Grillparzers Ahnfrau, Correggio von Oehlenschläger. Beide nach meiner Zeit auf die Bühnen gelangt. Wie traurig haben mich Löwes herrliche Darstellungen gemacht! Einmal, weil ich mich, wie ich einst gewesen, mit diesem lebensreichen Ludwig verglich und mir mehrfach sagte: so etwa magst du dich ausgenommen haben? wenn auch nicht so abgeschliffen und vollkommen, doch so lyrisch warm, so drastisch wahr, so naturgetreu, so ganz bei der Sache! Dann, weil er sehr allein stand. Weil ich mich ernsthaften Betrachtungen über den Zustand der deutschen Theater hingab. Wie kommt eins nach dem andern herunter! Und worin liegt's denn? Wenn man liest und hört, was die Prager Bühne zu Liebichs Zeiten gewesen ... wenn man sieht, was sie jetzt ist! Es wandeln wohl noch einige Leute aus besseren Tagen auf diesen Brettern ... doch keine gewaltige Hand hält sie zusammen, kein schaffender Geist inspiriert sie mehr, kein großes Vorbild, wie Liebich eins war, erregt ihren Eifer. Sie arbeiten und tagwerkern für die trockene Geschäftsmechanik ihres Direktors.
Finde ich im Wiener Burgtheater nicht endlich noch, was ich suche, was ich brauche, um den Gedanken an ein deutsches Theater in der Idee aufrecht zu erhalten ... dann gute Nacht!
Der einzige Schauspieler, von dem ich mich hier aufrichtig angezogen fühle – wohl zu bemerken, nicht durch seine Darstellungen, sondern durch seine Persönlichkeit – ist der Sohn oder Neffe des verstorbenen Emanuel Schikaneder. So muß Papageno in Civilkleidern ausgesehen haben, da er Kuchen fraß, Wein soff, mit den Fingern voll Tinte sich den Schweiß von der Stirn wischte, große Papierstreifen in Prosa und Reimen ankleckste und wenn er eine Seite beschrieben hatte, seinen eintretenden Regisseur, Herrn Flet, befragte: »Sie, so sagt man doch?« Denn der Schöpfer des oft verspotteten, im Detail häufig kindisch albernen, im ganzen unerreichten Textes zur Zauberflöte war seiner Sache ewig unsicher, wußte selbst, daß er nicht Deutsch verstand, und fühlte sich dennoch ein Dichter! Und war auch einer!
Ich sehe seinen Namensvetter nicht an, ohne den Namen Mozart auszusprechen.
Was für Bilder durch meinen Kopf ziehen!
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Grob kann er sein, das muß man ihm lassen, diesem Herrn Hoftheatralsekretär Schreyvogel, genannt West. Aber seinem Posten ist er gewachsen. Die schrecklich langweilige Fahrt von Prag nach Wien, auf dem überladenen und vollgepfropften Wagen eines Lohnkutschers, Hügel auf, Hügel ab, von Staube fast erstickt, beinahe eine Woche unterwegs ... sie reut mich nicht, wie schauderhaft und nebenbei für meine Mittel kostspielig sie immer gewesen sein mag! Auch daß Schreyvogel, da ich mich zum Souffleur beim Burgtheater ihm antrug, mir entgegen brummte, ob ich nicht gescheit wäre, und mir die Thüre wies! Daß ich zunächst keine andere Aussicht habe, wie mitten unter Backhähndeln, kälbernen Schnitzeln, Kaiserfleisch, Nockerln, Speckknedln, Milchrahmstrudeln, Rostbrateln, Hirnbofesen, Kipfeln und tausend Schmarrn zu verhungern, wenn mir nicht baldigst Manna vom Himmel in den Mund oder in die Tasche Einlösungsscheine fallen, damit ich mich auslösen kann!... auch das stört mich nicht in meiner Freude.
Wulf, nun magst du befriedigt das Zeitliche gesegnen; du hast vor deinem Ende noch gesehen, was du zu sehen trachtetest und zu finden schon verzweifeltest. Du kannst in der Überzeugung hinübergehen, daß es mit dem deutschen Theater noch nicht gar aus ist!
Die vor zwanzig Jahren, bei unserem ersten Aufenthalte trübseligen Angedenkens, auf diesen Brettern in Ernst und Scherz walteten, sind alle dahin bis auf Koch, der selten zu spielen scheint, doch wenn er auftritt, immer noch der alte ist. Würdige Künstler stehen ihm zur Seite, von denen wohl Krüger, als charakteristisch feiner Komiker, und Anschütz, als rhetorisch vollendeter Tragöde, die hervorragendsten sein mögen. Sophie Schröder behauptet anerkanntermaßen den Rang einer ersten tragischen Heldin. Sophie Müller vereinigt in holder Weiblichkeit alle Vorzüge, die sonst, an mehrere verteilt, einzelne reich genug schmücken würden. Ihr gab der Himmel zu zarter Anmut leidenschaftliche Gewalt; er gab ihr Seele und Gemüt, Verstand und Geist, Fleiß und Willen, Zuversicht und Bescheidenheit, jungfräuliche Scham und künstlerischen Mut; gab ihr die innere Anschauung und die äußere Darstellungskraft; gab Adel und Maß der Bewegung, mimische Klarheit, Umfang der Stimme, reinen, vollen Ton und jene heilig ruhige Würde, die uns überzeugt, daß sie an ihre Sendung glaubt! Ich verdanke ihr meinen wieder befestigten Glauben an die Schauspielkunst! – Ihr und dem artistischen Direktor des Burgtheaters, dem edlen Schreyvogel! Er hat mich garstig angeschnauzt, ich will's nicht leugnen, und ich ging grollend aus seinem Bureau. Doch daß er mir auf mein schriftliches Gesuch freien Eintritt gewährte; daß er mir zu sehen und zu hören gab, woran ich Abend für Abend zehre; daß ich mich laben darf an der Herrlichkeit eines durch nichts gestörten Zusammenspieles, welches meine kühnsten Ideale verwirklicht und mich mit dem deutschen Theater aussöhnt ... das lohne ihm Gott! Ich weiß es jetzt: ich bin kein träumerischer Narr gewesen, weil ich das für möglich gehalten habe, für erreichbar. Es ist, es lebt, es geschieht vor meinen Sinnen. Es giebt ein deutsches Theater ... und es giebt sogar noch ein Publikum. Diese Bezeichnung, die mir bisher sehr unbezeichnend erschien, sie gewinnt Bedeutung durch das Wechselwirken in diesem Hause, welches Hofburgtheater heißt. Logen, Parterre und Galerien gehören mit ins Ensemble. Was auf den Brettern vorgeht, findet Anklang im Auditorium; was die Hörer empfinden und äußern, dringt wieder auf die Bühne zurück; beide haben sich gegenseitig ausgebildet im Geben und Empfangen; nichts geht verloren.
Ob und wie lange das so bleiben wird? ... Wer mag's wissen in unserer Zeit? ...
Jetzt ist's noch so; und wie glücklich wär' ich, hier bleiben zu dürfen; aus meinem Kasten teil zu nehmen am Gelingen des großen Ganzen!
Aber ich und Glück?
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In Genüssen, wie sich mir darbieten, zu schwelgen, ist schön, und so lange ich mit Kennerblick und jung erwachtem Kunsteifer dieser Leute Darstellungen verfolge, sogar durchs Entdecken mancher hervortretenden Mängel befriedigt, weil sie mich vergleichen lehren ... so lange vergesse ich gern, daß der Mensch auch Nahrung zu sich nehmen muß, will er nicht verhungern. Es kommen jedoch Stunden, wo sich's nicht ignorieren läßt. Deshalb such' ich nach einer Krippe, in der ich, Strick oder Kette um den Hals, mein bißchen Speise finden könnte. Fürs Operntheater taug' ich nicht; dafür besitz' ich zu wenig musikalische Kenntnisse. Beim Theater an der Wien zeigte sich einige Aussicht. Wie ich aber durch Baron Biedenfeld vernahm, daß er mich dem Grafen Ferdinand P. vorstellen müsse, verging mir die Lust. Ich dachte an Preßburg, an Pest, und fürchtete, trotz meiner »Maske« erkannt zu werden oder mich selbst zu verraten. – Falsche Scham! Ich gesteh' es ein. Viel werd' ich dadurch nicht verloren haben, die ganze Geschichte scheint auf schwachen Füßen zu stehen und kann nicht dauern. Es blieb also noch die Wahl zwischen den Josephstädter und Leopoldstädter »Volksbühnen!« Die erstere bringt fast nichts als degenerierte Geschwisterkinder von den Donauweibchens, Sternenköniginnen und ähnlichen Luft- oder Wasserwesen; diesen Lebensluft einblasen zu müssen, würde mir bald mein Stümpfchen Lebenslicht ausblasen. Und in der Leopoldstadt hab' ich keine Vakanz zu hoffen. Gleichwohl stellte ich mich den dortigen Regisseuren vor; nicht in Erwartung aufgenommen zu werden; nur um eine Viertelstunde mit ihnen zu verplaudern. Ignatz Schuster und Ferdinand Raimund, heute dieser, morgen jener beherrschen die Scene, auf der einst Hanswurst agierte, mit ihren Jokusstäben, die sie gleich Marschallstäben schwingen. Den dritten führt – den Taktstab – der unerschöpfliche Kompositeur, Wenzel Müller, der geniale Bierfiedler, der Mozart der Trivialität, der Verschwender, welcher Melodien in Hülle und Fülle leichtsinnig aus dem Ärmel schüttelt, wie oben auf der dritten Galerie »Selchwürstel, brennhaße« aus dem Kessel kommen, und dabei doch Singspiele in Musik gesetzt hat, die sich durch Fülle der Gedanken, durch dramatische Charakteristik zu Meisterwerken ihrer Gattung erheben. Die Sterbescene im »Lustigen Beilager«, die Finales der ersteren Akte im »Neuen Sonntagskind« und in den »Schwestern von Prag« werden unerreicht bleiben.
Ferdinand Raimund, seines Publikums Götze, ist noch nicht fertig. Er ist für jetzt ein Spaßmacher wider Willen. (Erinnert mich manchmal an jene Abende, wo ich es auch sein mußte – leider ohne seinen Humor!) Der Poet in ihm lehnt sich gegen die Schwänke auf, die zu treiben er kontraktlich noch gezwungen wird. Gleichs und Meisls Zauberpossen genügen diesem Romantiker nicht, der ganz andere Phantasien mit sich herumträgt. Bäuerle hat in der allerliebsten Parodie, »Aline, Königin von Golkonda«, schon besser den Zustand getroffen, der diesem etwas krankhaften Genius eigentümlich ist. Aber seine ganze volle Bedeutung wird Ferdinand Raimund wahrscheinlich erst gewinnen, wenn er in den Dramen auftritt, deren Keime jetzt schon in ihm liegen, und von deren Blüte, als von etwas bald Eintretendem, er gern redet. Ignatz Schuster dagegen ist ein in seiner Weise vollendeter Künstler, der kein höheres Ziel kennt und verfolgt, als den Ansprüchen zu genügen, welche die für ihn geschriebenen Rollen an ihn machen. Herr Bäuerle ist sein Haupt-Autor. Und wo dieser mit gewandtem Talente und großer Lokalkenntnis ausgestattete Schriftsteller in fleißiger Durchführung und gediegener Ausarbeitung zurückbleibt, weiß ihn Schuster durch wahrhaft psychologische Konsequenz ergänzend zu verbessern. So zwar, daß seine Darstellungen zu wirklich dramatischen Studien für den Kenner werden, ohne doch an komischer Gewalt und belustigender Frische das Geringste einzubüßen.
Beide Herren empfingen mich freundlich, verschafften mir auch in ihr Schauspielhaus freien Eintritt. Ich kann also jetzt das Burgtheater an manchen Abenden mit dem Leopoldstädter vertauschen, was mir wohl bekommt. Herzlich lachen hat sein Gutes für einen armen Teufel und vertreibt nicht nur Grillen, sondern auch den Hunger.
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Das war wider die Abrede, Herr Adolf Bäuerle! Sie versprechen mir einen überlustigen Schwank und geben mir ein Trauerspiel? Während alle Menschen um mich her sich vor Lachen ausschütten wollen, möcht ich blutige Thränen weinen? ... Ich will gerecht sein; es war weder Bäuerles, noch Schusters Schuld. Der »Fiaker als Marquis« ist eine vortreffliche Farce, und Ignatz führt die Titelrolle als großer Künstler durch. Was können die beiden dafür, daß ich den Spaß für Ernst nahm? Daß ich den im Stalle unter den Pferden aufgewachsenen Lohnkutscherknecht eine Viertelstunde lang wirklich für den Sohn einer vornehmen unglücklichen Mutter hielt? Und daß dadurch Gedanken in mir wach wurden – Bilder aufstiegen, die mir den Gegensatz dieses Spieles zeigten: einen auf seine hohe Geburt stolzen Grafen, dessen Vater reisender Komödiant war und jetzt vacierender Souffleur ist? Gedanken an Julia und ihr ... unser Kind, Gedanken, Bilder, Träume, Nebel ... Wie sich das kreuzte, ineinander verwirrte, und Schuster mit seinem Höcker dazwischen, auf dem er eine Last von trockenen humoristischen Scherzen trägt, wie das Kamel die Säcke voll Datteln und Feigen! Ich meinte überzuschnappen, und ich war nahe daran, mitten unter den verdächtigen Mädeln, denen die Verwaltung des Leopoldstädter Theaters Plätze schenkt, gleich dem Vogelsteller, wenn er Lockvögel anbringt; ... ja, ich wäre verrückt geworden, hätte mich nicht der plötzlich aufsteigende Wunsch gerettet: ich mochte Preßburg und Eisenstadt besuchen! Daran klammerte ich mich fest, und das zog mich aus der Verwirrung der Ideen, weil es mich zwang zu berechnen, wie viel Geld ich an Ausführung des Wunsches zu wenden hätte. Kein besseres Mittel giebt es für einen Kandidaten des Tollhauses, als seine Kasse zu überzählen und sich einzugestehen: sie reicht nicht aus! Das ist wirksamer wie kalte Duschen und Sturzbäder.
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Und ich thu's doch! Für diesen Zweck konnte ich sogar betteln. Erst war ich bei Schuster. »Sie haben's veranlaßt,« sagte ich zu ihm; »helfen Sie mir, daß ich eine kleine Reise mache. Eine Wallfahrt zur Stätte, die mir eine heilige ist durch Jugenderinnerungen!« Er gestand, daß er in Schulden stecke und ohne Geld sei. Ein kokettes Weib, die stadtbekannte Gräfin D., zur Zeit des Kongresses die teuer bezahlte Maitresse eines Staatsmannes, läßt den betrogenen Ignatz nicht aus ihren Netzen und verschlingt seine Gagen samt Benefizeinnahmen, wie sie des Geheimen Staatsrates Diäten verschlang. Dieser hatte seine Klumpfüße mit Banknoten zu verhüllen, und Schuster muß den Buckel dahinter verstecken. Das kostet viel Papier! Er gab mir doch, mit Freundlichkeit und verwies mich an Raimund, der »immer gut rangiert sei!« Bei dem hatt' ich leichtes Spiel. Ich lüftete nur ein Zipfelchen des Vorhanges, der meine Vergangenheit bedeckt, deutete nur entfernt an, um was es sich handle ... und augenblicklich war er dafür gewonnen. »Hören S', hinter Ihnen steckt was!« rief er lebhaft; »Ihnen hab' ich's gleich angeschaut, daß Sie kein ordinärer Souffleur sind!« – Und er gab mit vollen Händen.
Morgen geht's nach Preßburg. Und von dort ...
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Ach, hätt' ich's lieber nicht gethan!
Schon auf dem halben Wege von Wien nach Preßburg in Fischamend, oder wie der Ort heißt, wo die Fuhrleute Mittagrast halten, überfiel mich eine Angst, wie ich sie jedesmal spüre, wenn die Luft nicht rein ist und bange Stunden drin hängen, die mir drohen. Es war aber nicht jene Angst, die Furcht erweckt und umkehren heißt vor irgend einer gewöhnlichen Gefahr. Es war vielmehr der dumpfe schwüle Drang, neuem Schmerz entgegen zu schreiten, ihn aufzusuchen, vielleicht darin umzukommen! Die Sehnsucht nach Leiden möcht' ich's nennen. In der Jugend gilt's für Begierde und steckt die Flagge der Liebe auf. Hat der Mensch die größere Hälfte des Daseins hinter sich; wächst er, wie ich, ins hohe Alter hinein, da wird's ihm unbewußt ein Trieb, sich selbst zu entfliehen. Er ist bekannter Leiden müde, er trachtet nach unbekannten; er ist eben so thöricht, wie er als Jüngling war. Er überhört die Warnungsstimme, die ihm zuflüstert: Sei auf der Hut!
Preßburg fand ich sehr verändert. Nicht ein bekanntes Menschengesicht ließ sich erblicken. Das Haus, worin ich vor mehr als zwanzig Jahren gewohnt, ist längst verschwunden, um einem größeren Raum zu machen. Rings herum war mir alles unkenntlich. Ich irrte in der Fremde. Die Donau strömt wie damals. Ich hab' den Platz aufgesucht, wo ich aus der Fähre sprang, um in die Winternacht hinein zu rennen ... Was ist doch der Mensch für ein unbegreifliches Gemisch von Verstand und Wahnsinn! Wollt' ich mich nicht überreden, das wär' ein seliger Abend gewesen? Streng' ich aber mein Gedächtnis an, mach' ich mir die Empfindungen jener Nacht deutlich, so muß ich mir eingestehen, daß ich damals unbeschreiblich elend, daß ich der Verzweiflung nahe war. Und dennoch hoffte ich. Ja ich hoffte, Ludmilla zu sehen, von ihr liebevoll empfangen zu werden! Und heute hoff' ich auf nichts mehr. Darin liegt der Unterschied zwischen sonst und jetzt. Es fragt sich nur: ist das Ersterben jeglicher Hoffnung ein Unglück, ist's ein Glück? Wer giebt Antwort auf diese Frage?
Heute vermag ich nicht weiter zu schreiben. Die Gedanken treiben willkürlich ihr Spiel. Sie lassen sich nicht halten, nicht ordnen. Heute verrückt zu werden, würde mir keine sonderliche Mühe machen.
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Das Eisenstädter Haus steht noch, wie es war. Kaum daß es abgeputzt und frisch übertüncht scheint. Im Innern ist alles geblieben wie zu unserer Zeit. Die Besitzer haben es aus dritter Hand. Von meinen Wirtsleuten wissen sie nichts. Sie nahmen mich, wo nicht unfreundlich, doch auch nicht ermunternd auf. Die Zimmer, welche ... wir bewohnt haben, warm noch nicht zu sehen. Sie wären so zeitig am Morgen unaufgeräumt, sagte die hübsche verschlafene Frau. Meine Bitte, später, in einigen Stunden noch einmal wiederkommen zu dürfen, wurde zwar gewährt, doch nicht ohne mißtrauisches Befremden. Ich versicherte wiederholt, daß ich keine bösen Absichten hätte, daß ich hier weder betteln, noch stehlen, noch Feuer anlegen, noch sonst Übles thun, daß ich nur die Räume betrachten wollte, in denen ich heimisch gewesen; ich ... und eine mir teure Person, setzte ich hinzu; denn »ich war auch einmal jung!« Es mag wohl in dieser Versicherung etwas Rührendes vorgeklungen haben; die Frau sah mich mitleidig an und nickte mir zu.
Dann lief ich hin und her, glotzte das Schloß an, suchte die Wohnungen meiner Gönner ... und starrte hinauf. Nichts von dem ehemaligen Treiben und Leben, nichts vom Geräusche einer fürstlichen Residenz; ... Stille, Öde, Langeweile schwimmt in der Luft, Gras wächst in den Gassen ... Nur wenn der Wind die matten Flügel hebt und über menschenleere Plätze zieht, ist's wie der Hauch einer hinsterbenden Melodie vom seligen Haydn. Oder auch Mozarts Lied vom Veilchen? »Und sterb' ich gleich, so sterb' ich doch durch sie, zu ihren Füßen« ...
Am Portale des Palastes bemerkte ich etliche Mann der mir wohlbekannten Schloßwache, die, wenn auch nicht so glänzend wie in den Tagen des allgemeinen Glanzes, doch einen nicht zu verkennenden festlichen Anstrich hatten. Ich erkundigte mich im Gasthause nach der Ursache und erfuhr: Fürstin L. sei gestern Abend unerwartet mit mehreren Damen angelangt, nur »auf ein paar Stündel,« denn sie reise gleich wieder ab.
Auf die »Baronin,« welche so entschieden in mein Geschick eingegriffen, weiß sich niemand mehr zu besinnen. Es lebt schon eine neue Generation.
Aller Wahrscheinlichkeit nach konnten nun die kleinen Stuben, die ich einst bewohnt habe, hinreichend aufgeräumt sein, und ich trat zum zweitenmal die kurze Pilgerfahrt nach dieser Grabstätte meiner ersten Liebe an. Ich machte dabei eine Beobachtung über mich, die mich in Erstaunen setzte. Meine Gedanken, meine Erinnerungen richteten sich ausschließlich auf Ludmilla, auf mein Zusammenleben mit ihr, auf die Täuschungen und Enttäuschungen jener Tage, auf die letzten Stunden des Glücks ... und trotzdem vermochte ich nicht, ihr Bild festzuhalten. Es schwebte matt verschwommen vor mir, zerfloß in formlose Farben, und wider mein Wissen und Wollen erblickte ich immer nur Julie! Sie, der ich treu geblieben bin, die mich längst vermodert wähnt, die mich noch beweint... wenn sie lebt! Sie stand deutlich vor mir. In ihrem lieben Antlitz las ich die Frage: Was suchst du hier? Bist du nicht mein? – Und ich entgegnete ihr: Ja, ich bin dein!
Dennoch verfolgte ich meinen Weg, wie von geheimnisvollen Mächten angezogen. Da ich über die schmale Treppe stieg, vernahm ich mehrere weibliche Stimmen. Es wurde oben laut geredet. Mich überlief's eiskalt. Ich wollte umkehren ... ich konnte nicht; ich mußte vordringen. Die Thüren standen auf. »Da ist der Fremde!« sprach die Frau, die mich vorhin weggeschickt. Zwei andere Frauen drehten sich nach mir um. Eine war Ludmilla. Sie betrachtete mich forschend. Ich sah zu Boden, dann wieder hob ich verstohlen den Blick nach ihr. Ein schwaches Zittern bewegte ihre Glieder. Zweimal wollte sie zu sprechen beginnen; beide Male blieb sie stumm. Ich fühlte, daß sie mich erraten habe. Ich schwieg wie sie. Das währte etliche Minuten. Endlich raffte sie sich zusammen und bat die Hausfrau, ihr das Geleite zu geben. Ich war allein. Was ich von wehmütig sanften Gefühlen mitgebracht, hatte sich jetzt in Grimm umgesetzt, der mich erstarren machte. Unbeweglich, trotzig fand mich die zurückkehrende Frau auf derselben Stelle, wo sie mich vor einer Viertelstunde verlassen. »Haben Sie den Starrkrampf?« sagte sie. Das erweckte mich. Ich riß die Augen auf und staunte sie an. – »Gott steh' mir bei,« rief sie. »Ihre große Narbe ist purpurrot geworden.« – »Es ist das Blut,« lachte ich auf; »weil's im Herzen nicht Platz hat, steigt's in die Höh'.« – »Kommen Sie zu sich und hören Sie mich ruhig an; ich habe einen Auftrag für Sie übernommen. Die Damen, die Sie gesehen, fanden sich hier ein, nicht lange nachdem Sie mich verlassen hatten, und verlangten ebenfalls meine Wohnung in Augenschein zu nehmen. Ich war über dem Ausfegen und sagte, es wär' doch erstaunlich, daß gerade heute zwei Parteien den nämlichen ›Gusto‹ hätten, denn soeben wär' ein Herr bei mir gewesen, und ich möchte nur wissen, was an diesem ganz gewöhnlichen Logis sehenswert ist. Darauf hat mich eine von den Zweien ausgefragt, was das für ein Herr war, und was er geredet, und wie er ausschaut, und alles mögliche! Und wie sie hörte, er würde noch einmal wieder kommen, ging sie mir nicht mehr vom Flecke, und ich merkte schon, daß sie ihn erwarten wollte. Sie war mir zwar sehr ungelegen, denn ich habe vollauf zu thun, aber weit sie doch vom Schlosse kam und mit der Durchlaucht gereist ist, konnte ich nicht unhöflich sein, so kurios mir auch die ganze Geschichte war. Sie wurde gar nicht müde, jeden Winkel in meinen Stuben zu betrachten, und weinte wie ein kleines Kind. Dazwischen erkundigte sie sich immer wieder nach dem Herrn, und wo er so lange bliebe. Nun dacht' ich, Sie hätte mit Ihnen zu sprechen. Weil sie aber alle beide jetzt den Mund nicht aufgemacht und auch gar nicht dergleichen gethan haben, als ob Sie sich kennten, dacht' ich auf die Letzt', sie wird sich geirrt haben, und das ist gar nicht der Rechte! Es muß aber doch so was sein, denn jetzt beim Weggehen hat sie mir den goldenen Reifen hier geschenkt, den sie von ihrem eigenen Arme abstreifte, und hat mich ersucht, ich soll Ihnen dieses Zettelchen einhändigen. Sie hat lange darüber nachgedacht, ehe sie den Bleistift ansetzte und schrieb.«
Die Frau starb vor Neugierde zu verfahren, was auf dem in einen Knoten verschlungenen Blatte stand, oder vielmehr was es bedeute. Denn geöffnet hatte sie es sicher, das sah man. Doch die flüchtigen Züge waren kaum erkennbar. Ich las mit Mühe: »L. Gr. T. K. T. dankt für bewiesene discrétion in P. dem Gr. C. vis-à-vis und ersucht Hrn. W. um genaue Adr., damit alte wie neue Schulden erkenntlich getilgt werden können. Ausführlicher Bericht über Vergangenheit und Gegenwart wäre willkommen und würde durch das Wirtschaftsamt in K. pünktlich befördert werden. L.«
* * *
Das war's! Abfinden will sie mich; gänzlich abfinden! Mit Gelde!
Ich zerriß das Papier in hundert kleine Fäserchen und ließ sie durchs Fenster hinaus flattern.
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Geweint hat sie! Das ändert freilich die Sache. Doch vor mir hat sie nicht geweint. Da hat sie edlere menschliche Regungen mit Gewalt unterdrückt und ihre schroffe alberne Würde zu behaupten gewußt. Konnte sie nicht mir zuflüstern: Wulf, ich erkenne dich trotz der Entstellung; ich denke oft an dich! Nur die Erinnerung an unsere letzte gute Stunde führte mich hierher. Es freut mich, daß wir uns begegnen! – Konnte sie das nicht sagen? Es wäre mehr gewesen, als die goldenen Anerbietungen, die hinter ihren vorsichtig abgefaßten Zeilen sich verbergen. Glaubt sie wohl ... hält sie wohl für möglich, daß ich davon Gebrauch mache? Es ist kaum denkbar! ... Zwar ich kann immer in Elend und Mangel sinken; ich kann den Bissen Brot an der Straße zu erbetteln gezwungen werden!... Wie Gott will! Bei ihr nicht! Und bei meinem Herrn Sohne auch nicht.
Wozu die Bitterkeit? Ich thue den Leuten unrecht. Sie können ja nicht anders in ihrer Lage. Er weiß ja gar nicht, daß ich sein Vater bin, und sie darf's ihm doch wahrhaftig nicht sagen.
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Mildere Gefühle, durch vorurteilsfreie Erwägung der Umstände erzeugt, beschwichtigen meinen Groll und ich befinde mich besser dabei. Gestern sah ich sie nach dem Prater fahren. Ich nickte ein wenig mit dem Kopfe und bewegte schwach die Hand zum Gruße. Sie hat's bemerkt und den Gruß zu erwidern versucht. Oder bild' ich mir das nur ein? ... Sei's! Ich will's für gewiß annehmen und festhalten an diesem Zeichen der Versöhnung. Keinen Groll mehr gegen Ludmilla und Constantin!
Morgen verlaß ich Wien.
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»Morgen verlaß ich Wien.« Das waren die letzten Worte, die ich vor drei Wochen schrieb. – Ich sehe sie jetzt an wie eine freche Äußerung. Der Mensch soll niemals bestimmt sagen: ich werde und will das oder jenes thun, ohne beizufügen: so Gott will! Was ist der Mensch mit seinem Willen?
Ich habe krank danieder gelegen. Der Arzt fand keinen wissenschaftlichen Titel für die Krankheit. Er meinte, es dürfe mehr ein Seelenleiden sein. Nicht so dumm, lieber Doktor!
Ich habe Wien nicht verlassen, und Wien mich nicht. Meine Wirtsleute waren lieb und gut. Raimund, Schuster nahmen sich meiner an. Auch beim Burgtheater haben die Anschütz und die Schröder gesammelt, »für einen kranken Souffleur.« – Der Reisepfennig drückt mich. Dennoch nehm ich lieber von ehemaligen Kollegen, als von ihr! . .. Sie ist fort. Es hätte ein Schreiben nach Kauzburg gekostet, und ich zählte so viel Dukaten, wie ich jetzt Kreuzer habe! ... Nein, so ist's besser.
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Vom Burgtheater und vom Leopoldstädter hab' ich tiefgerührten Abschied genommen. Jedes in seiner Art einzig! Dort saßen die älteren Herren auf dem »Theaterbankel,« wie ich während einer Probe um die Eingangsthür herum schlich. Draußen in der Jägerzeile standen Korntheuer, Sartori, Bäuerle vor dem Hausthore und trieben ihre Späße! – Leb' wohl, Wien!
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Bis Brünn hätte meine Kasse glücklich ausgereicht. Nachdem der Lohnkutscher sechs Gulden empfangen für das Plätzchen, welches ich neben ihm auf seinem Throne eingenommen, bleiben mir etwa drei Gulden übrig. Mit denen sitze ich im kleinsten dunkelsten Zimmerchen des Gasthofes »Zu den drei Hahnen.« Kommt auf jeden Hahn ein Gulden. Wie lange wird's reichen, hat ein jeder seinen Gulden aufgepickt, und wenn dann nicht beim Theater sich etwas wie ein Ämtchen für mich gefunden, so werd' ich aus der Hahnengrube (siehe Shakespeare, K. Heinrich V.) hinausgeworfen auf den – Tummelplatz der lebendigen Hähne gleich andern Herumtreibern! Die Aussichten sind duster für einen kaum Genesenen.
Der hiesige Theaterpächter soll ein »sehr genauer« Mann sein, der den Zwanziger zwanzigmal umdreht, eh' er ihn weg giebt. Sein Name ist Schmidt. Was für Erinnerungen ruft mir dieser Name wach! Soll man denn gar nie mehr zum Frieden gelangen in sich selbst? Wär's nicht schon genug Unruhe, die Welt durchstreifen, kaum haben wo man sein Haupt niederlegt? Muß auch noch, wenn man für ein paar Nächte Lager gefunden und sich müde gequält hat, es zu benützen ... muß einem da auch noch ein solcher Name ins Ohr geschrien werden, der alles Inwendige im alten Menschen aufrührt, damit er nur ja nicht schlafen könne, sondern fortwährend murmele: »Sonderbar! Wenn das unser Eisenstädter Schmidt wäre?« Und das surrt und summt mir unausgesetzt im Kopfe und hält mich wach. Um nichts und wieder nichts! Wie sollte der dazu gekommen sein, das hiesige Theater zu übernehmen? – Binnen einer Stunde werd' ich wissen, woran ich bin. Ich geh' und klopfe an seine Thür.
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»Wer sind Sie? Was wollen Sie?«
»Ich bin der vacierende Souffleur Tod und suche eine Anstellung unter oder über der Erde. Als Kopist ... als irgend etwas.«
»Wenn Ihre Gesichtszüge mir nicht fremd wären, würd' ich glauben, wir hätten uns schon getroffen?«
»Und wären Ihre Haare nicht grau, so möcht' ich sie für denselben Schmidt halten, der bei Haydn ...«
»Wulf! Sie sind's! Jetzt erkenn' ich die Augen! Was ist mit Ihnen? Sind Sie ein Säufer geworden? Wie kamen Sie so herab? Sie, mit Ihren Anlagen? ...«
Er schielte nach einem Paar Körbchen mit Silbergeld, die in einem geöffneten Fache des Schreibtisches standen; der Schauspieler, den ich gehen sah, als ich kam, hatte sich einen kleinen Vorschuß geholt, und da waren die Münzen sichtbar geblieben. »Ich will wetten,« sprach ich, »daß ich Ihre Gedanken errate.« – »Wie so? Welche Gedanken?« – »Sie überschlugen in diesem Augenblicke, wie viele von den blanken Zwanzigern es Sie kosten wird, mich auf gute Manier los zu werden?« – Er schwieg und errötete. – »Ich nehm' es Ihnen nicht übel,« fuhr ich fort. »Ihrer Meinung nach steht ein liederlicher, verlumpter Kerl vor Ihnen, ein Säufer, ein Händelmacher und Stänkerer, dem in irgend einer Schlägerei das Wappen seines Gewerbes mit Feuerzangen und zerschlagenen Flaschen ins Gesicht gezeichnet wurde, und der heute die alte Bekanntschaft ausbeuten will, um sich Geld zu neuen Ausschweifungen zu verschaffen? Beruhigen Sie sich! Können Sie mich nicht verwenden zum Nutzen Ihrer Anstalt, so geh' ich wie ich kam, ohne die geringsten Ansprüche. Schauspieler wollte, durfte ich nicht bleiben; ich konnte mich nicht entschließen, den Zuschauern länger solchen Anblick aufzudrängen. Aber zu schämen habe ich mich der Entstellung auch nicht.«
»Hatten Sie eine Ehrensache durchzufechten?«
»Wenn Sie's so nennen wollen – ja! Nur ein bißchen im Großen. Es war die Ehrensache Deutschlands, die wir ausfochten, und das Rendezvous Belle-Alliance.«
»O verzeihen Sie mir, Freund Wulf!« Und er umarmte mich und hieß mich sitzen.
»Wulf ist tot. Ich bin der Souffleur Tod; so nenn' ich mich. Und wiederhole meinen Antrag: können Sie mich gebrauchen? Nutzlos würd' ich Ihnen nicht sein.«
»Darüber läßt sich jetzt und hier nichts bestimmen. Eh' ich mich entscheide, will ich hören, was Sie durchlebten, welchen Gang ihre künstlerische und menschliche Fortbildung nahm seit unserer Trennung. Bin ich doch mit in Ihre Schicksale verflochten gewesen. Dies ist mein Amtslokal; auf ein ungestörtes Gespräch ist hier nicht zu rechnen. Besuchen Sie mich heute Nachmittag! Brauchen Sie für den Moment ...«
Er griff nach den bewußten Geldschwingen. Ich dankte verneinend und versprach, um vier Uhr bei ihm zu sein.
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Wir saßen bis in die Nacht hinein. Mir that es wohl, alles von der Seele zu sprechen, was sie einengte. In dem Grade, wie mein Vertrauen wuchs und sich ausbreitete, stieg sein Anteil. Er folgte meinem Lebenslaufe mit einer Wärme, die nichts zu wünschen übrig ließ. Ja er ging auf alles, was ich Unbedachtsamkeit, Leichtsinn, Thorheit nannte, mit freundschaftlicher Nachsicht ein, entschuldigte mich vor mir, widerlegte meine Selbstanklagen. Wo ich mich tadelte, lobte er mich. Nur als wir an die letzten Ereignisse in Eisenstadt, an mein Zusammentreffen mit Ludmilla, an ihre Anerbietungen und mein Verschmähen derselben kamen, wurd' er unwillig. »Wie kann man,« rief er mit komischem Zorne, »ein solcher Narr sein? Ist sie Ihnen nicht Ersatz schuldig? War sie es nicht, die Sie dreimal aus Ihrer Bahn gerissen hat? Vielleicht, ja höchst wahrscheinlich stünden Sie heute auf dem Platze, der Ihnen gebührt, wäre jene Entführung nicht erfolgt. In Ihrer Schilderung nimmt sie sich romantisch aus. In der Wirklichkeit erscheint sie als ein unbändiger Kinderstreich, der leider sehr traurige Folgen für Sie hatte. Daß die vom ersten Taumel Erwachte Sie im Stiche ließ und sich vor Thores Zuschluß noch mit den Ihrigen versöhnte, nahm ich ihr nicht übel, obgleich Sie mich dauerten. Daß sie Ihnen Ihre Berliner Aussichten verderben half, läßt sich auch entschuldigen, wenn man sich auf den Standpunkt der Dame stellt. Wenn Sie aber jetzt in großmütigem Stolze die Entschädigung zurückweisen, welche Sie mit Recht zu fordern haben, welche der Geberin nicht schwer fallen, deren Sie aufs Dringendste bedürftig sind ... Dann, mein bester Herr Wulf, sind Sie nicht zu entschuldigen, dann sind Sie Ihr eigener Feind, und niemand mehr kann Mitleid haben für Ihre traurige Lage.«
»Das verlang' ich ja nicht. Mitleid zu erregen gehörte nie unter meine Wünsche.«
»Und dennoch machen Sie Anspruch auf das meinige, suchen und begehren Hilfe bei mir?«
»Sie irren, Herr Schmidt! Ich kam, Sie zu fragen, ob Sie mir Beschäftigung geben, ob Sie mich mein Brot bei Ihnen verdienen lassen wollen?«
»Sie sollen aber nicht geisttötende Arbeit verrichten um einen Bissen Brot! Dafür sind Sie zu gut, stehen mir zu hoch! Sie sollen nicht eigensinnig sein. Sie sollen sich eine runde Summe sichern lassen, von deren Ertrage Sie selbständig, frei existieren. Blitz noch einmal, wär' ich so skrupulös gewesen, ich hätte auch wie ein Bettler davon gehen können und säße jetzt nicht hier als Direktor.«
»Ich kenne Ihre Verhältnisse nicht so genau. Doch wer sagt Ihnen, daß die Stellung eines Theaterunternehmers weniger geisttötend sei, als die seines Souffleurs? Wie nun, wenn mir die jetzige Wirtschaft bei Bühnen dritten und zweiten Ranges entschieden mißfällt? Wenn ich um keinen Preis mit Ihnen tauschen möchte? Wenn ich die Existenz im kleinen Kasten und deren stillbescheidene Unverantwortlichkeit höher stelle als Ihren Sitz auf der sella curulis des gebietenden Direktors? Wenn ich vorziehe, unbemerkt, unbeneidet, unangefochten zu bleiben? Mein geistiges Dasein wird deshalb nicht zu kurz kommen. Und wer hindert Sie, es nähren zu helfen? Wer hindert Sie, Gespräche mit mir zu führen, in denen wir unsere Ideen von Welt und Kunst austauschen und uns erholen miteinander, Sie vom Dirigieren, ich vom Soufflieren? Mich dünkt, wir stehen beide über unserer Stellung. Von Ihnen weiß ich's gewiß. Von mir bin ich so eitel, es zu hoffen. Ihr Souffleur ist schlecht, wie ich höre. Sie wollten ihn ohnehin entlassen. Nehmen Sie mich ... und wir bleiben beisammen!«
Er sprang vom Fauteuil empor und stieg ein Weilchen im geräumigen Zimmer auf und ab. – »Vielleicht haben Sie recht,« sprach er. »Seit langer Zeit such' ich einen Schreiber für meine dramatischen Dichtungen, deren ich großen Vorrat besitze. Mir fehlt ein Mensch von Verstand und Gemüt, ein Kenner, dessen Urteil mir Achtung einflößt; der mir Andeutungen zu geben vermag, woran es diesen Stücken gebricht, daß sie trotz all' meiner Bemühungen nirgends Aufnahme finden. Ein praktischer Kritikus, ein aufrichtiger Freund. Hier steh' ich ziemlich allein. Wir wollen's versuchen! Meine Gagen find gering. Ich prosperiere durch peinliche Sparsamkeit. Was ich dem Souffleur zahlen kann, wird Sie zur Not ernähren. Was Sie als abschreibender Beurteiler an Zuschuß erwerben, wird dann genügen. Sie haben mir vertraut, ich vertraue Ihnen. Mein Schweigen über Sie verbürge mir das Ihrige. Niemand darf ahnen, wie wir miteinander stehen! Sie sind mein Souffleur, mein Kopist, ich bin Ihr Direktor vor der Stadt, vor dem Personale – vor den Meinigen! Was wir uns sind, bleibt unser Geheimnis.«
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Ich wohne in einer fast ländlichen Gasse unterm Franzensberge. Einfach, eng, ärmlich, doch sauber und rein. Wie ich mir's wünsche. Schmidt besitzt viele gute Bücher. An Zeit fehlt mir's nicht. Ich bin recht zufrieden. Dreimal in der Woche schließen wir uns ein und sprechen uns aus. Er gehört zu den seltenen Menschen, die eben so gut hören als reden; die eben so gern lernen als lehren. Verständig hören ist eine große, eine edle Kunst. Sie wird leider so wenig geübt. Auch mir ist sie eigen. Wir beide haben viel erlebt, von innen wie von außen. Wir ergänzen uns in unseren Mitteilungen. – Aber seine Poesien, so weit ich bis jetzt Kenntnis davon erlangte, sind schwach bestellt. Nicht daß es ihnen an Gehalt fehlte ... mit der Form sieht's traurig aus. Welch' ein unergründliches Geheimnis liegt doch darin! Zwar Goethe, der alles gesagt, was groß und erhaben, hat auch das ausgesprochen: »Den Gehalt in deinem Busen und die Form in deinem Geist!« ...
Schmidt ist einer der liebenswürdigsten Menschen, die ich noch kannte.
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»Wer hätte gedacht,« sagte ich neulich bei einer unserer heimlichen Sitzungen zu ihm, »daß sich mit Ihnen so traulich leben ließe? Man hat mir viel Schlimmes von Ihnen gesagt« – »Begreiflich,« erwiderte er lächelnd; »ich hab' unzählige Feinde.« – »Woher kommt es,« fragte ich weiter, »daß man Feinde hat, denen man niemals den geringsten Anlaß gab, es zu werden? Nicht nur, daß man ihnen nichts zuleide that, man kennt sie oftmals nicht, weiß nicht, daß sie leben, und vernimmt dann mit Erstaunen von ihren gehässigsten Umtrieben. So etwas muß doch tieferliegende Gründe haben! Diese müssen sich nachweisen lassen.« – Zuverlässig. Jede feiner ausgebildete Persönlichkeit, jeder Mensch von edlerem Stoffe ist dem niedrig Geborenen (auch den niedrig geborenen Vornehmen, und diesen zumeist!) ein Dorn im Auge. Sie ahnen den Abstand, wenn sie ihn auch nicht begreifen: ihre eigene Erbärmlichkeit sagt es ihnen. Und dagegen giebt es keine Hilfe. Je mehr Mühe man verschwendet, solchem Gesindel freundlich entgegenzutreten, desto mehr stößt man es ab. Je milder und humaner man ihnen begegnet, desto giftiger schwillt der Neid, den bessere Qualitäten in ihnen erregen. Sie können nichts dafür. Ebensowenig als der bissige Hund dafür kann, daß er bissig und ein Hund ist. Sie sind Hunde, als solche mögen sie laufen!«
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»Und ein Jahr hat er's getragen, trägt's nicht länger mehr!« – Mir geht's wie dem schmachtenden Ritter Toggenburg. Ich werde kein Schiff besteigen, das »nach Joppes Strande die Segel bläht;« wohl aber eine Lohnkutscherkarre, die mich von dannen trägt, gleichviel wohin!
Wie betrübt und betrübend, daß auch die besten klügsten Menschen nicht frei sind von irgend einer Schrulle, die sie und andere quält! Der Mann, dem ich ein angenehmes Dasein verdanke – wahrlich so angenehm, wie mir's auf Erden überhaupt noch werden konnte – ist gemartert von einem unbesieglichen Bedürfnisse, sich als dramatischer Dichter geltend zu machen, und seine unerschöpfliche Fruchtbarkeit ermattet nicht, den aller Orten als »nicht darstellbar« zurückgewiesenen Dramen neue und wieder neue folgen zu lassen. Es liegt partieller Wahnsinn darin; mein armer Henne war nicht toller. Im Gegenteil: der vermeinte ja nur den Hahn in sich zu tragen, dachte aber nicht daran, ihn von sich zu geben. Der vermeintliche Autorberuf ist so genügsam nicht; der will heraus! Ja, es ist eine Art von Verrücktheit.
Bin ich minder verrückt? ...? Könnte ich nicht billigen, loben, schön finden, was mir zum Abschreiben vorgelegt wird? Könnte ich mich dadurch nicht immer fester in meines Gönners Gunst setzen, anstatt jedesmal vorher zu krächzen: Freund, das wird wieder nichts.
Ja, ich könnte wohl, doch ich will nicht. Ich ehre und liebe ihn viel zu sehr, um den Heuchler zu spielen. Deshalb hab' ich vorgezogen, ihn mit meiner Aufrichtigkeit kalt und kälter gegen mich zu stimmen. Er entläßt mich sonder Bedauern. Ich scheide in Wehmut und werde nicht aufhören, ihm dankbar zu sein, ihn zu achten, erstens wegen der Vorzüge seines Geistes und Herzens, wegen seiner wahrhaft humanen und geselligen Bildung; dann auch wegen der anerkennenswerten Bescheidenheit, die ihn abhält, sein eigenes Theaterpublikum mit Aufführung selbstverfaßter Stücke auf die Probe zu stellen. Er hat eine Bühne zur Disposition und wagt nicht seine Arbeiten darauf spielen zu lassen. Er macht ihr Schicksal von dem Urteil anderer Direktionen abhängig. Das ist eine große Enthaltsamkeit, die alles Lob verdient.
Ich muß dabei eines Unternehmers gedenken, mit dem ich mich kurz nach meiner Rückkehr aus dem Elsaß vereinigt hatte. Der Mann – Schußler hieß er – war der fleißigste Skribent, so je geboren worden. Jeden Monat fing er eine neue Komödie an, und kaum war sie fertig, mußte sie gespielt werden und fiel regelmäßig durch; denn sogar den bescheidensten Ansprüchen unserer kleinen Nester war das Zeug zu schlecht. Das erfüllte den närrischen Menschen mit ingrimmiger Wut gegen alle lebenden Schriftsteller, deren Werke gern gesehen waren. Bei jeder ersten Aufführung eines neuen Schauspieles mietete er eine Horde von Zischern, die auf jede Weise Störung hervorbringen und den günstigen Erfolg hindern mußte. Dann sagte er: »Ihr seht, das geht auch nicht; es ist überhaupt mit dem deutschen Publikum nichts mehr anzufangen, seitdem es den Napoleon besiegt hat!«
Auf diese Weise suchte er sich über sein Autormißgeschick zu trösten und richtete sich als Entrepreneur zu Grunde. Das zu thun hat mein hiesiger Freund keine Neigung. Er arbeitet fleißig auf den reichen Mann. Mög' er's werden, und mög' es ihm wohlgehn!
Mein Segen über ihn!