Arthur Holitscher
Geschichten aus zwei Welten
Arthur Holitscher

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Landsend

Kleiner roter Stein auf meinem Tisch, kleiner viereckiger roter Stein, du hast ja einen grünen Bart!

Draußen zieht Gewölk, weiß und leicht wie Schaum über den Himmel weg, Windsbraut treibt es schwadenweis vor sich her, daß es nur so herunterpfeift durch den Kamin zu mir in die Stube. Da zuckt der Federkiel, da steht die Federspitze nach dem Stein wie eine Kompaßnadel, da muß ich an das rote Land überm Meer denken, an das winddurchwehte Frühjahr und an die Menschen, so schwankend im Sturm, so fest in der Erinnerung, gar nicht zu verrücken.

Die Möwen schrien dort Tag und Nacht. Wie dicke Spindeln, ganz umwickelt mit schneeweißer Wolle, waren ihre feisten Leiber, die planenden unbewegten Flügel trugen sie durch die Luft. Auf einmal – hinunter auf die Wollen und fort! Sie leben unter dem Wasser so gut wie unter den Sternen. Sie kämpfen und hacken in das undichte Fleisch der Fische, die in die weißen Rümpfe mit ihren scharfen Flossen blutige Kerben schneiden, sie bohren ihre Schnäbel tief in die Augen des Fisches hinein und heben die zappelnde Beute mit sich in den Sonnenglanz hinauf. Dort brüsten sie sich vor ihren Weibern mit ihrer Kraft und ihrem Futter, aber sie lassen 206 den erkämpften Fisch lieber aus der Höhe zurück ins Wasser fallen, als daß es ihnen einfiele, stumm zu bleiben inmitten des Gekreisches, das die tausend klappernden Schnäbel in der Luft vollführen.

Auf Enis Dodman sitzt das Möwenvolk zu hundertmal Hunderten beisammen; sie haben den flachen Rücken des Felsens über und über beschmutzt und angestrichen. Klatschend fahren die Wellen von allen Seiten den Felsen hinauf, der mitten im Wasser steht, sie fahren durch das Felsenloch, das wie ein Tor ist zur Zeit der Ebbe und wie ein Fenster zur Zeit der Flut, sie quirlen und stoßen sich rund um den roten Felsen herum und manchmal bei Sturm, da hat eine Welle gleich aus Labrador herüber, ein rollender Berg des Atlantik oben über Enis Dodmans Felsendach weggeschürft, wohin sonst nur das schale Wasser des Regens und Schnees hinkommt.

Was kreischen die dort oben? Was treibt den schrillen Schrei unaufhörlich aus ihren Kehlen heraus? Vielleicht sitzt der Dämon Tregeagle mitten unter ihnen und erzählt ihnen Geschichten? Vielleicht wohnen in den Spindeln die Seelen der Ertrunkenen und sie, tierisch und dumpf auf der Wanderung begriffen, haben unten in der Tiefe vom verwesten Fleisch ihrer eigenen verlassenen Menschenleiber 207 gegessen und scheuchen jetzt mit Geschrei den salzigen Geschmack des Fleisches von ihren entsetzten Schnäbeln.

Die Möwen!

Gewiß sehen sie mehr, als wir Menschen auf dem Festland sehen. Sie wissen Tieferes vom Meer, von den Felsen und den Winden über beiden, und sie schwätzen und schwätzen sich ihre Geheimnisse in die befiederten Ohren hinein. Wenn's auf Sturm geht und die Nebelkobolde führen ihren Tanz auf, wenn's Unglück geben soll und die Leuchttürme auf dem Longship und dem Wolfsfelsen ihre Feuer im Kreise herumjagen, da segeln die boshaften Tiere den Schiffen entgegen und kreischen um den zerbrechenden Mast, damit der Kapitän die Signale der Sirene und der Nebelhörner nicht hören soll. Dann schießt das gute hölzerne Haus schwank und schnell auf die Zickzackklippe zu, die die Schiffer die Irische Lady nennen – die Schiffer schrein: seht! seht! und bekreuzen sich, denn sie haben auf der Spitze der Klippe die Lady in eigener Person sitzen sehn – ihr schwarzes Haar fiel ihr zu beiden Seiten auf die Hüften herunter, ihre Augen waren grau und sie hatte eine rote Rose im Mund, den Stengel einer roten Rose zwischen den Zähnen – der Tod.

Nachher scheint die Sonne wieder. Das Land, ganz rotgebacken von Feuern in der Urzeit, liegt 208 glühend da unter seiner schütteren Moosdecke, und der Wind ist sanft geworden um die Steine. Nur im Innern der Erde, wo das Zinn und das Kupfer wächst, rumort es tückisch weiter.

Ein Kind, ein Wiegenkind schreit in einem Haus. Seine Mutter ist in die Küche gegangen, um nach dem Brot im Ofen zu sehen. Diesen Augenblick hat der Riese Bolster benutzt, um durch das Fenster in die Stube hereinzugucken und das Wickelkind zu erschrecken. Es wird aufwachsen, mit namenlosem Schrecken in seiner Kindesseele, denn es hat ja den Riesen Bolster gesehen, wie er von Carn Bria nach dem Schreienden Hügel hinüberschritt, einen Schritt tat über die siebzehn Meilen weg. Und das Kind wird ein Dichter in seinem Herzen sein, bis der harte Daseinskampf es zwingen wird, ein Tagfronknecht zu sein, da wird es den Riesen Bolster über dem Riesen Leben vergessen. Die Gespenster haben es schwer im Lande Cornwall heutzutag!

 

Im »Ersten und Letzten Wirtshaus von England«, das dicht hingebaut ist an den abschüssigen Rand vom Landsend, da wohne ich mit vielen Büchern und vielem Papier. Ich habe eine Lupe auf meinem Tisch liegen und in einer Schachtel kleine Fetzen von Moos, Kräutern, Flechten und auch 209 Algensträhnen, die nach Salz riechen. Es ist früh im Jahr, März, und wenn die Sonne dir nicht grade über dem Scheitel steht, so kann es kalt sein wie um Silvester. Im Haus leben nur wenige Menschen, wir sind vier im ganzen: ich, der Wirt ein alter Mann, seine alte Frau, die meine Kleider bürstet und für mich und den andern Gast, der auf demselben Flur wie ich haust, das Essen kocht. Vier Menschen am Landsend, jeder für sich; die Möwen sind geselliger.

Ich bin jung und leide darunter, daß keiner mit mir spricht. Einmal war ich eine halbe Stunde weit in einer kleinen weißen Hütte, wo man Whisky und Eierlikör trinken kann, aber die Augen der Wirtstochter haben mir nicht gefallen und ich bin nicht wieder hingegangen.

Der Mann auf meinem Korridor, er geht jeden Tag hin. Wenn ich nach der Mahlzeit, die wir im langen Speisesaal am selben Tisch einnehmen – er sitzt am westlichen Ende, ich am östlichen, wir sehen uns kaum, so lang ist der Tisch – wenn ich so um Zwei herum meinen Spaziergang nach Pordennack Point, zur schönen grünen Tellerflechte mache, da sehe ich ihn, weit weg, auf der Landstraße zur Whiskyhütte gehen. Und wenn ich um Sonnenuntergang heimkehre, da ist er auch schon 210 zurück: er hat getrunken und ist nicht sicher auf seinen Füßen – er steht auf einem Felsenvorsprung hart am Rand, zuweilen liegt er auch dort, lange, sein Körper schwankt, aber sein Blick ist starr und grade auf das Meer hinaus gerichtet und auf den Logan Rock, der fein und unnahbar, wie ein riesiger Pilz abenteuerlich anzuschaun sich vom Abendhimmel abhebt.

Logan Rock – was ist das?

Die den Riesen Bolster nie gesehen haben, die sagen, es ist ein Spiel der Natur. Die Natur hat zwei aufeinander liegende Felsblöcke so geformt, daß der obere breit auf dem unteren, wie ein Kegel zulaufenden, liegt, schaukelnd, schwingend vom Windshauch, unverrückbar durch die Kraft von Menschenmuskeln. Sie sagen: die Natur . . .

Die den Riesen Bolster gesehen haben, die sagen, er hat in der Wut einen Felsen ringsherum angeknabbert wie eine Mohrrübe, und ihn dann, dumm und täppisch wie er nun einmal ist, mit der Spitze nach oben hingestellt, dann ist er weg und hat vom Schreienden Hügel her meilenweit ein Steinchen, einen Kiesel, der gut und recht seine neunzig Zentner wiegen mag, nächtlicher Weile auf die Rübe hinübergeworfen, da schaukelt er seither: logging schaukelnd, rock Felsen, probiers, ob du ihn wegrücken kannst.

211 Dann gibt's welche, sie haben den Riesen Bolster gesehen und nicht gesehen, sie sitzen, die Nase in der Luft, im Britischen Museum in London unter dem Glasdom der Bibliothek, die sie vermehren – die haben herausgebracht: die Loganrocks im Land Cornwall sind Wahrzeichen, Grabmäler, Denkzeichen aus der Zeit, in der Recke, Priester und Skalde noch eins waren, und sind hingepflanzt worden auf gefährliche Klippen, damit der Mensch nicht vergessen soll, daß er ein rätselvolles, schaukelndes Gebilde ist am Rand des flutenden Nichts, jeden Augenblick erschwankend, vom Fall bedroht, von einer Kraft im Gleichgewicht gehalten, die er nicht kennt, nach der er nicht forschen darf, denn nur der Feste darf kennen und forschen, der schaukelt darf es nicht.

Was soll man nun glauben? Wen soll man befragen? Die Wirtsleute sind dumpf und schläfrig, mein Nachbar ist stumm zu mir und hat mich noch nicht angesehen all die Zeit. Komm, kleine Lupe, treue Freundin, und zeige mir die Wunder der Algen und Flechten, die hier am Landsend wunderbar wachsen, so wie nirgends sonst im weiten Europa!

 

Halt – die drei könnte ich nach dem Geheimnis des Loganrock fragen, die drei, die ich gestern über den Kamm gehen gesehen habe. Es waren 212 zwei Frauen und ein kleiner blinder Knabe. Es waren die beiden Walküren, die alte und die junge, und zwischen ihnen ging Johnny. Genauer gesagt, es war Susan, die Besitzerin der Whiskyhütte, mit ihrer Tochter Cherry, deren Augen ich nicht liebe, und ihrem kleinen Sohn, dessen Augen die Glut des Landsend nimmer sehen werden.

Cherrys Augen hasse ich, sie sind grau wie die von Unserer lieben Frau vom Schiffbruch, der mit der Rose zwischen den Zähnen, und wenn sie mit ihren Augen einen Mann ansieht, dann gibt's Sturm um die Klippe! Schreckliche Dinge werden von Cherry erzählt. Sieben betrunkene Grubenarbeiter aus Gwithian sind in einer Nacht bei Mutter Treworn eingekehrt, haben Cherry auf die Wiese gelockt und ihr einen Knebel in den Mund gesteckt. Als aber der Hahn krähte, da stand Cherry vom Boden auf, riß lachend den Knebel aus dem Mund und band sich, rosig und mit funkelnden Augen, das Haar auf. Und die sieben Sünder schlichen grau und sich in einem fort bekreuzend heim über den Berg. Cherry Treworn ist die Männerhexe. –

Mit flatterndem Haar geht sie über den Grat, sie hat weiße Strümpfe und Schnallenschuhe an und einen kurzen roten Rock, rot wie das Land. Wenn ein Mann sich ihr nähert und Cherry sieht seine 213 Lippen zittern, da wirft sie den Kopf zurück und spricht: erst gib Geld! Ich bin sicher vor ihr und ihrer windverbrannten Haut – denn ich denke dein, Henriette! – aber wie steht's um meinen Nachbarn?

Neulich hat sie Johnny zu ihm hergeschickt, den blinden Knaben. Er findet seinen Weg, der Blinde, er hält sich an die Landstraße, und wenn er das »Erste und Letzte Haus« erreicht hat, dann stellt er sich in die Mauerecke hinten beim Wagenschuppen und lauscht und lauscht, denn dorten kann man das Brausen und Rauschen so sonderbar scharf hören, jede kleine Welle für sich, und Johnny hört und kennt jede. Er weiß, die schlägt an Enis Dodman, die kommt vom Longship her, die vom Geharnischten Ritter, die zerschellt jetzt an der Irischen Lady. Jede kleine Welle singt ihre eigene Stimme im Chor mit und alle zusammen singen für Johnny bei der Mauer.

Johnny liebt den Penny nicht, er wirft ihn von sich wie Schmutz, einmal hab ich ihm meine kleine Bergkristallkugel geschenkt, seither jauchzt er, wenn er von weitem meinen Schritt hört.

Er kommt oft auf Botengang zu uns, die Wirtsleute müssen seiner Mutter oft mit Biskuit und Gewürzen aushelfen, hie und da bringt er ein Papier von Cherry an Herrn Donegan mit. Herr Donegan ist mein Flurnachbar, der Gast am andern Ende des Tisches.

214 Was treibt er hier? Was sucht er am Landsend um diese frühe Zeit des Jahres. Ist er ein Pilger? Oder ein Flüchtling? Oder ein Sklave Cherrys bloß?

Heute sah ich beide auf der Landstraße in verschiedenen Richtungen aneinander vorübergehen. Sie blieben nicht stehen. Er sah sie nicht an, sie sah ihn nicht an. Sein Gesicht war ganz zerstückelt wie verwitterter Stein, ganz Gram, ihr Gesicht glänzte und funkelte wie Sonne, ganz Spott, und wie ich die beiden sah, da fuhren mir Gram und Spott wie zwei blitzscharfe Messerchen rasch durch das Herz.

Sie schickt ihm Briefe. Sie sahen sich nicht an. Es ist also aus zwischen ihnen? Oder ich irre mich vielleicht und es hat noch nichts zwischen ihnen gegeben? Aber was kümmert's mich denn, ich bin ein Kindskopf, wahrhaftig.

Am Abend, ich bin spät heimgekommen (dies schreib ich bei offenem Fenster nachts, bei Vollmond), am Abend sah ich Herrn Donegan. Er hatte seinen Mantel auf dem Wiesenabhang gelassen. Das Herz stand mir still . . . er war über die steilen Felsen, den schwindligen Schrund zum Loganstein hinübergeklettert, er kam zurückgeklettert, zog auf der Wiese seinen Mantel wieder an und ging fort. 215 Er brauchte sich nicht gewaltsam gerade zu halten, er ging gerade, er war nüchtern. –

Herr Donegan stellt mich im Korridor vor meiner Tür. Er richtet einige absurde Fragen an mich. Zum erstenmal kann ich ihm voll ins Gesicht sehen, zum erstenmal höre ich seine Stimme richtig zu meinem Ohr sprechen. Sein Gesicht ist beschattet und seine Augen blicken kraus; seine Stimme ist nicht schön, sie klingt wie zerbrochen und nicht einmal wie zerbrochenes Metall. Er sagt zu mir: »Was ist los mit uns? Die anderen Leute leben alle weit weg, nur grad wir beide sind hier am Landsend! Sie sind ein junger Mann, man hat mir gesagt, eine Universität hat Sie hergeschickt, damit Sie ein Buch über Moos und Algen schreiben. Sie schreiben über so etwas wie Algen? Zu welchem Zweck lebt man denn eigentlich? Glauben Sie, so etwas wie Algen beschreiben ist vielleicht Schicksal? Werden Sie eines Tags alt genug geworden sein, um nicht mehr einem Zweck zu gehorchen, sondern dem Schicksal?« Spricht's, wartet gar nicht auf Antwort, sondern geht rasch in sein Zimmer zurück, der Kauz! Seither haben wir bei Tische ein paar Worte miteinander gewechselt. Er ist lange in Indien gewesen, jahrelang ganz allein in den Bergen um Darjeeling, Regierungsbeamter. Die 216 Wirtsleute wissen auch nicht, was er hier tut. Sie lassen ihn in Frieden, die Alten. Den halben Tag verschlafen sie in ihrer rauchigen Küche und sammeln Kräfte für den Sommer, wenn die vielen Leute kommen, »the rush«.

 

Natürlich hat's etwas zwischen Donegan und Cherry gegeben. Heute früh vor dem Haus, sie war mit einem Korb am Arm da, Donegan kommt aus dem Haus, will an ihr vorüber, sie schlägt den Deckel des Korbs herunter und schreit ihm ein Wort ins Gesicht. Die Wirtsleute standen im Fenster, ich war ein paar Schritte weit weg, auf der Wiese. Herr Donegan hob die Faust auf, ganz hoch über seinen Kopf, wie einen Hammer. Aber das flinke Mädchen entwischte ihm und hat ihm das Wort dann noch einmal nachgeschrien.

Die Wirtsleute blicken spöttisch hinter ihm drein seither, ins Gesicht zu zeigen trauen sie sich doch nicht. Sie haben mir das Wort erklärt, es ist schwer zu übersetzen, es ist ein altes cornisches Wort, man könnte es so übersetzen: du abgeschiedener Geist, du Memme, du Irrwisch! Es ist ein tödliches Schimpfwort hierzulande, wo die Weiber viele Kinder kriegen. – 217

 

Ich habe jetzt segeln gelernt und steuere mein Boot geschickt zwischen der Lady und dem Wolf an Enis Dodman und der Klippenküste vorbei. Neulich, die See war still, da habe ich die Segel eingezogen und das feine Schifflein mit dem Ruder durch Enis Dodmans Torweg durchgetrieben. Mitten im Tor erblickte ich plötzlich Herrn Donegan, hoch oben auf dem Felsen des Sagensteins. Ich sah zwei emporgereckte Hemdsärmel unter dem Stein, den Stein stemmen, wie es mir scheinen wollte. Was suchte dieser Mensch dort? Wozu war er wieder hinübergeklettert zum Schwingenden? Was trieb er, was für ein Zweck, was für ein Schicksal trieb ihn, an den beiden übereinander liegenden Steinen zu rütteln?

Auf einmal rufe ich das cornische Wort, das Schimpfwort. Enis Dodman rollt es zwischen seinen Felsenwänden, unter seinem Felsendach hin und her, es rollt wie Donner in einem Dom, das Meer hallt ringsherum wider davon.

Wie ich wieder auf dem Meer draußen bin, da ist die Gestalt oben hinter dem Logan verschwunden. Er hat mich gehört und versteckt sich hinter dem Stein. Unsinnig – was war das mit mir – jetzt hab ich diesen Menschen gekränkt. Wer hatte mir denn eingegeben – Mir war bös zu 218 Mut, ich fuhr weit hinaus, ich schämte mich und wollte zur Ruhe kommen mit mir selber. Das vergrämte Gesicht war mir so gegenwärtig, daß ich es in den Wolken zu sehen glaubte, die sich zusammenzogen im Südwesten. Ganz genau! Was waren das für Phantasien! Ich war zu lange schon einsam, zu lange am Landsend!

Plötzlich strich der Wind dicht über die Wellen weg, dem Land zu. Das Boot legte sich auf die Seite. Ich machte, daß ich heimkam. Es war an der Zeit. Ich langte ganz durchnäßt im Gasthaus an, über Dodman stand bereits der Sturmhund und bellte. –

Furchtbar hauste das Märzgewitter über dem Land. Man konnte nicht aus dem Fenster sehen. Die Möwen waren fort, die Winde knatterten und bissen um sich, in das rote Felsgestein des Landsend hinein. Meine armen Moose, der Sturm harkte ihre grünen und grauen Krusten mit dem schütteren Erdreich von den Steinen weg, der Guß schwemmte sie über die Abhänge hinunter, aber Algen wird das Meer aus der Tiefe heraufreißen – Geduld!

Einmal lief ich zum kleinen Hafenplatz hinunter, um nach dem Boot zu sehen. Mitten in den Regenströmen, die so dicht niederfielen, daß man 219 auf zwei Schritte nichts mehr unterscheiden konnte, kreuzte eine langsam daherwandernde Gestalt meinen Weg. Unter der Kapuze sah ich einen Moment lang Donegans Augen. – Die Pupillen weiteten sich, dann tauchte der Blick unter – im nächsten Augenblick hatte der Regen alles verschlungen.

Das Schiff im Schuppen war voll Wasser. In meinen undichten Schuhen arbeitete ich zwei Stunden lang mit einer Schöpfkelle, bis ich es umstülpen konnte. Als ich ins Gasthaus zurückkam, hatte ich Fieber. Ich lag zehn Tage, die Wirtsleute pflegten mich mürrisch, sonst kam niemand, mich zu besuchen.

 

Jetzt schreiben wir April. Der Arzt aus Penzance war hier und hat mir erlaubt, vors Haus zu gehen und ein bißchen in der Sonne zu sitzen.

Der Arzt hat im Korridor mit den Wirtsleuten gesprochen, ich habe kein Wort verstanden, aber ich weiß, es war nicht von mir die Rede.

Wieder kreischen die Möwen ums Haus. Aber es rumort hier herum noch von anderen Dingen. Es kommen Leute in Scharen nach dem Landsend, obzwar es noch früh im Jahr ist. Als ich heute zum erstenmal wieder auf der Bank vor dem Hause saß, sah ich vieles Volk draußen auf den 220 Klippen stehen, in Gruppen, und zu zweit, dritt, und tuscheln, nicht laut. Aus den Wirtsleuten ist nichts herauszukriegen, sie blicken zur Seite, wenn ich sie frage, zerbeißen ein paar Worte und ziehen die Tür zu hinter sich. Sie haben ein Dienstmädchen aus Gwithian aufgenommen, das hilft beim Kochen und Bedienen. Es sind jetzt oft zehn, oft zwanzig bei Tische zu Mittag. Herrn Donegans Platz ist besetzt, also er ist fort! Die Leute reden leise unter sich, einige unter ihnen, es sind Ehrwürdige, Alte, aber auch Junge, mit irgendeiner Seltsamkeit in der Tracht, reden ein fremdartiges Idiom, Altcornisch wahrscheinlich. Zu mir redet keiner, aber ich bin ja ein Fremder. Und es handelt sich um eine Angelegenheit des Landes, das habe ich schon heraus. –

Die Luft betäubt mich noch recht sehr. Aber ich will heute meinen Stock nehmen und nach dem Loganrock marschieren. Um den Loganrock handelt es sich! Ich sehe die Leute dort um die Klippen kreisen, von denen man zum Logan hinüber kann, wenn man Mut dazu hat, wie jener! Ich gehe hin – erstaune – man hat einen Steg hinübergeschlagen, über den Abhang, ein paar Stämme, Bretter, von Eisenhaken zusammengehalten – Leute sind um den Stein, sie strecken die Arme, 221 rühren an den oberen, kommen mit starren Gesichtern wieder auf das Land herüber. Was ist's mit dem Loganrock? –

Wie die Nacht kommt, es ist kein Mensch mehr da, gehe ich über den Steg und berühre mit meiner Hand zum erstenmal den schaukelnden Stein. Ich strenge mich an, stemme und versuche zu heben, ist's meine Schwäche noch? – er rührt sich nicht.

Man kann sehen, es ist etwas mit ihm geschehen, irgendeine Kraft hat sich an seinem heiligen Gleichgewicht gemessen, vermessen, welche Kraft aber? und zu welchem Zweck? um welchen Schicksals willen?

Ich bin ein Fremder in diesem Land, meine Vorfahren haben es nicht von ihren Vätern überliefert und ich habe es nicht meinen Enkeln weiterzugeben, was es mit dem Loganrock auf sich hat, auch glaube ich als Mann der Wissenschaft nicht an die Riesen und Dämonen Cornwalls, und doch, ich fühle, wie mir's kalt wird um Stirn und Augen. Der Logan schaukelt nicht mehr. Wie hingewachsen und tot liegt er schwer auf seinem Postament. Loganrock nicht mehr . . .

Es ist schon ganz dunkel, wie ich aufs Land zurückgehe. Der Stein schaukelt nicht mehr! Vielleicht hat es einen krank gemacht, daß er wußte, 222 es ist Leben in dem Stein, und er hat ihn ins Meer hinunterstoßen wollen und der Stein hat sich zur Wehr gesetzt. Der Stein schaukelt nicht, der Loganstein schaukelt nicht mehr!

Hundert Schritte vor dem Haus kommt etwas aus dem dunkeln Himmel zu mir herab. Eine Möwe kreist mit Geschrei um meinen Kopf, sie schwebt nicht sehr hoch, sie schlägt mit den Flügeln, ich bleibe stehen! Es ist ein junger Vogel, grau noch, wie ich sehe. Ich gehe durch das Tor in das beleuchtete Haus. Die Möwe bleibt draußen, schlägt mit den Flügeln an die Mauer, einmal, zweimal. Dann steigt sie in die Luft empor und fliegt den Weg zurück, den ich gegangen bin, zum Meer zurück. –

Es ist Ostern, die Wagen bringen Leute nach dem Landsend. Aus St. Just, St. Ives, vom Lizard, aus Penzance, ja aus dem fernen Truro kommen Männer und Frauen Cornwalls herbei, um den Loganrock zu sehen, der gestorben ist. Sie kommen nicht aus Neugierde, sondern um den Stein zu beweinen. Um Ostern kommen diese Christen daher und weinen um ihren heidnischen Gott. Stumm und traurig gehen sie, einzeln, über den Steg zum Stein hinüber. Vom Festland schauen die andern zu, wie der eine, immer 223 ein anderer, die unbewegliche Masse mit der Wange und der Stirn berührt (wenn's eine Frau ist), oder ihn mit kräftigen Armen zu rücken, zu schütteln versucht (wenn an einem Mann die Reihe ist). Einzeln gehen sie den Weg zurück und mischen sich stumm und traurig unter die anderen, an jeden kommt die Reihe. –

Es ist schönes Wetter und mein kleines Boot fährt heute zum letztenmal mit dem Winde. Ich wage meinen Hals und fahre zum Abschied in einem großen Bogen um den Longship-Leuchtturm hinaus, gerate in Sehweite der Scilly-Inseln, und sehe auf der andern Seite all das Rote, Pordennack, Cap Cornwall und Dodman blasser werden, sich auflösen, erlöschen. Da wende ich, erschrocken über solche Kühnheit, das Schiffchen herum und fliege mit prallem Segel über Hügel und Täler heim nach dem Landsend.

Auf den Klippen stehen die schwarzen Menschen, auf Enis Dodman sitzt das feindliche Möwenvolk, schlohweiß und mit Geschrei beisammen. Die Sonne gleitet herab zum Wasser. Jetzt sehe ich: niemand geht mehr über den Steg, alle waren schon dort, einsam liegt der Logan mit all den verschwendeten Muskelkräften und Gebeten an seinen Rändern; einsam der Stein, der lebendig 224 war, als ich kam, und tot ist, da ich von dannen gehe. Algenbüschel werfen sich um meinen Schiffsschnabel. Ich hole mit der Hand das grüne schleimige Gezeug, werfe es zurück. Mein Bericht ist fertig, ich brauche bloß die Bogen in den Umschlag zu stecken, Siegel drauf, und morgen gehe ich fort von Landsend. Jetzt löse ich die Schnüre – und das lebende Segel, eben lebend noch im Winde, fällt schwer herunter ins Boot und ist nur mehr ein grober Sack. Rotes Land! unermeßlicher Ozean!

Plötzlich stehen meine Ruder wagrecht – still. Was gibt's? Geschrei auf den Klippen. Eine Welle trägt mich dem Lande näher; ich schaue hinauf, hinauf: alle Menschen im Lauf zum Logan. Eine kleine Gestalt, die Gestalt eines Kindes steht mit emporgereckten Ärmchen unter dem Stein. Es hat sich auf die Zehenspitzen erhoben, und es kann auch so nur mit den Fingerspitzen den Stein erreichen. Die Menschen schreien, zum erstenmal höre ich am Landsend Menschenstimmen den Möwenlärm überschreien. Es ist, als lauschten die Weißen auf dem Enis, ich höre sie nicht mehr.

Das Land ist von Purpur, weiße Wölkchen liegen über dem geröteten Himmel darüber, ich sehe es deutlich – der Loganstein schaukelt, der 225 Loganstein schwebt sanft und gelehrig, von den kleinen Fingern eines Kindes gelenkt. »Johnny!« schreie ich vom Wasser hinauf, so laut ich kann. »Johnny!«

Der Blinde hört mich nicht. Die Menschen stehen, eine schwarze Schnur, oben am Saum des Abhangs und rufen.

»Johnny!« Ich bin im Boot aufgesprungen und habe, wie trunken vor Entzücken das Segel gepackt, als könnte ich es wie eine Fahne über meinem Kopf schwenken. Die Bewegung reißt mich fast um, mitsamt dem Boot. Ein Ruder gleitet weg und schwimmt mir davon. Ich muß mich leicht machen, halte mich an dem Mast fest, liege da, mit ausgreifender Hand über den Rand gebückt . . . Da hebt eine Welle das Boot in die Höhe und aus dem tiefen Wasser schaut mich etwas an, es ist Herrn Donegans Gesicht mit offenen Augen, Schatten um den schwankenden Blick, Algen um das Kinn, auf Stirn und Wangen den roten Widerschein von den Felsen Landsends.

 


 


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