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Dieses Buch hieß ursprünglich »Der Narrenbaedeker«. Es ist 1925 erschienen und hat, harmlos und unbeanstandet, vier Auflagen erlebt. Niemand hat daran Anstoß genommen, daß der Name Baedeker im Titel stand, bis plötzlich der Verlag Karl Baedeker in Leipzig durch seinen Rechtsvertreter dem offenkundigen Unfug steuerte – was ich ihm weiter nicht verübeln darf, denn der Name Baedeker ist sein unbestreitbares Eigentum.

Ich könnte mir zwar als Krönung und Apotheose meiner literarischen und kulturellen Lebensarbeit keinen höheren Ruhm ausdenken als den, daß ein Buch erschiene, auf dessen Titel mein irdisch-sterblicher Familienname »Holitscher« in einer Weise und einem Sinne und einem Zusammenhang verwendet wäre, wie etwa die unsterblichen Namen Baedeker, Reclam, Marconi oder Diesel genannt und verwendet werden können, Namen, die bereits jenseits ihrer zufälligen Vokale und Konsonanten, jenseits des Familienerbstücks Standard-Bezeichnungen für unvergeßliche Dienste an der Menschheit, unvergleichliche Vollendung und Einmaligkeit der Leistung geworden sind.

Indes, es sind gewiß auch engere Auffassungen zu respektieren. –

Die vielen hundert amerikanischen Zeitungen, die die »Associated Press of America« umfaßt, haben zu diesem Falle, nämlich zu dem Protest und der juristischen Verfügung des Verlags Karl Baedeker in Leipzig gegen den »Mißbrauch« des Namens Baedeker durch mich, eine ausführliche Notiz veröffentlicht. Sie fügten der obigen Liste die Namen »Zeppelin« und »Shrapnel« bei, die nach ihrer Meinung ebenfalls »household words« der Kulturmenschheit geworden sind. Meine Liste war, dem Charakter meines Buches entsprechend, pazifistischer. Auch europäische Zeitungen brachten Betrachtungen über diesen Fall. Die Russen z. B., die mein Buch unter dem Titel »Bedeker Naisnanku« übersetzt und im Moskauer Staatsverlag herausgegeben haben, kündigen jetzt einen »Sowjetbaedeker« an, den die Regierung in vier Sprachen drucken läßt...

Um mein gutes und mir und etlichen anderen Menschen liebgewordenes Buch vor dem Schicksal zu bewahren, daß es auf juristischem Wege eingestampft, von der Oberfläche des Erdbodens verschwinde, taufe ich es, wie der Umschlag beweist, um – und nehme zugleich zur Kenntnis, daß die Krönung irdischen Verdienstes nicht die Unsterblichkeit eines Namens als Gattungsbegriff ist, sondern der patentamtliche Markenschutz.

Berlin, Januar 1927
Arthur Holitscher

 

Einleitung, Reiseziel, Geld usw.

Du bist in den Jahren seit dem Krieg ausgiebig im Osten herumgefahren; dreimal Leningrad, dreimal Moskau; einmal Kasan, Marxstadt, Saratow, Zaryzin, Astrachan, Cairo, Jerusalem; du hast es verdient, nach dem Westen zu reisen, dem kultivierten Westen.

Hierzu ist ein Verleger vonnöten, der dir die Reise bezahlt.

Unter besonderen Umständen wie: Verlängerung der Reisedauer u. ähnl., unter allen Umständen empfiehlt es sich, die Anzahl zu verdoppeln.

 

Reisezeit

Man wähle für die Reise nach den westlichen Ländern, besonders deren Hauptstädten, eine Zeit, in der die Regierenden dieser Länder über die Völker des unkultivierten Ostens zu Gericht sitzen, politische und ökonomische Maßregeln aushecken, vorbereiten und oktroyieren. In solchen Zeiten sonnen sich die Länder und Städte, die man besuchen will, im Gefühl ihrer Macht.

Das Wetter ist zumeist exzellent.

 

Wo wohnt man in Paris?

Ich sitze im kleinen engen Hof, auf der alten Bank unter dem Oleanderstock, an den ich mich noch gut erinnere.

»Mais entrez donc, Monsieur, montez donc, visitez votre chambre!« Madame ist die gegenwärtige Besitzerin des alten Studentenhotels de Médici in der alten Straße in meinem alten Quartier Latin; eine freundliche alte Dame. Aber ich schaue nur hinauf in den vierten Stock. Dort oben wohnte ich!! Ich hatte damals in meiner Bücherkiste fünfzig Bücher mit und schrieb mein erstes. Wollte ich heute einziehen, so könnte ich nur zwanzig von anderen verfaßte mitbringen, denn meine eigenen dreißig müßte ich doch mitnehmen, und für mehr als fünfzig ist in der Stube kein Raum!

Ich wohne jetzt, nicht sehr weit von hier, auf dem Platz vor der Sorbonne, etwas bequemer. Mein Zimmer drüben ist um zwei Schritte breiter als dieses hier oben, auch zwei Schritte länger. Alles andere aber ist geblieben, wie es damals war. Armut, Traurigkeit, Einsamkeit, alles ist geblieben.

 

Orientierungsfahrt

Die Seine teilt Paris in zwei Teile. Rechts von der Seine liegt das rechte Ufer, links la Rive Gauche.

Von der Madeleine bis zur Bastille erstrecken sich die großen Boulevards. (Die Bastille ist an einem 14. Juli gefallen [Nationalfeiertag]; die Börse aber steht noch; es ist viel Geschrei um sie.)

Von der Madeleine bis ans Ende des Boulevard des Italiens kann man in drei Minuten gehen, im Autotaxi dauert die Fahrt eine halbe Stunde. Dieser Umstand besagt, daß das Schicksal der großen Städte besiegelt ist. –

Das XX. Jahrhundert ist das Jahrhundert des Speed; die Entwicklung bewegte sich von der Postkutsche sehr rasch zum Aeroplan vorwärts; ich möchte wissen, was von unserer Zivilisation übrigbliebe, wollten wir die Schnelligkeit, mit der wir von einem Ort zum andern gelangen können, zugleich mit Jazz und Taylorsystem, Gasbomben und anderen Beschleunigungsmitteln, aus unserer Zivilisation wegdenken, abziehen oder streichen.

Die große Stadt ist ein einziges Verkehrshindernis. Sie ist unter die Räder der Entwicklung geraten, erledigt, muß verschwinden. Die große Stadt leidet in den Hauptverkehrsadern, besonders um die Stunde der Verdauung, an Kongestionen; sie wird bald an Apoplexie sterben.

Man hat sie unterbohrt; die Klistierspritzen der Metro-Untergrundzüge erleichtern sie indes nur ungenügend; an den Straßenecken stauen sich alle zehn Schritte weit Autokolonnen, Omnibusparks; lebende Semaphoren in Schutzmannstracht lenken sie mit Signalen: halt, vorwärts, zurück; nützt alles nichts, die Stadt, ein lebendes Wesen, unterliegt den Gesetzen des Kreislaufs; Embolien wirken auf die Dauer tödlich auf sie wie auf den Menschen.

Im Bois de Boulogne – rasch, rasch, aneinander vorüber. Keiner sieht mehr den andern. Ehemals – im Vorüberfahren – ein Nicken, Erkennen, Lächeln; heute die kinematographisch verwischte Silhouette der vorüberschießenden Limousine, Auge vorwärts, Blick auf Lenkkurbel und Rückwand des vorne laufenden Wagens; das einzige Menschenantlitz das des Polizisten, der die Wagenreihe aufhält.

Hinter der Madeleine entdecke ich eine Pferdedroschke. Sie ist auflackiert und wiederauflackiert; dem alten Kutscher hat man seinen greisen Gaul gelassen, schlafend hängt der Mensch über dem Roß, sein Bart ist ihm durch den Kutschbock gewachsen, Rip van Winkle: er wird noch à la course und à l'heure bezahlt, das Rad seiner alten Karosse ist an keinen mechanischen Zählapparat angeschlossen, Kutsche, Mensch und Tier entschwinden rückwärts gleitend in den Nebeln des vormechanistischen Zeitalters.

 

Statue im Tuileriengarten

Die große Stadt!

Ihr droht ihr Schicksal auf der Erdoberfläche, tief unten im dröhnenden Untergrund; noch lauter aber hört sie, wie wohl im Unterbewußtsein, ihr Ende von oben nahen, näher und näher ertönen.

Aus Marmor gemeißelt, von Bartholome, dem alten Meister des »Totendenkmals«, angefertigt, »Paris 1914-1918« benannt, steht eine elegante, oben entblößte Dame auf dem herrlichen, weiten, freien Platz vor dem Louvre. Sie hat aus Marmor eine Watteau-Falte im Rücken; ein Schwert hält sie waagrecht in den Händen, leicht und ungezwungen wie einen Sonnenschirm; auf dem Kopf sitzt ihr, aus Marmor, eine Sturmhaube, mit dem Bügel in der Mitte, den die Mode bereits für Damenhüte verwertet hat; sie schaut, nicht ungraziös, fast kokett, wenn auch der Situation entsprechend leidlich ernst, ein bißchen schmollend, in die Luft hinauf. Die Figur wurde vom »Petit Journal« gestiftet und soll daran erinnern, daß Paris im großen Krieg Luftangriffe erfolgreich abgewehrt hat.

Auf dem herrlichen, weiten, freien Platz ist diese Figur eine Figur. Wie wäre es, wolltet ihr sie im engen, dichtbevölkerten Marais aufstellen? Oder im Faubourg St. Denis, wo noch mehr Menschen noch dichter bei-, mit-, neben-, über- und untereinander hausen? Dort wäre die Figur schon etwas mehr als eine Figur, und sie sollte doch auch wahrlich als etwas mehr gelten als ein (mittelmäßiges) Kunstwerk.

*

Im Faubourg St. Denis müßte sich die Rückenfalte automatisch zu einem bauschigen Unterrock herumdrehen, unter dem, wie unter den Flügeln der Mutterhenne bei einem Gewitter, die große Stadt ihre wehrlosen Kinder vor den drohenden Bombenabwürfen versteckte.

Über den Marais, den Faubourg St. Denis, das Landsberger Viertel, die Köpenicker, Prenzlauer, Elsasser Straße, über Islington, die Minories, Shoreditch und Lambeth, über Trastevere, Via Roma, über die Bowery, Allen, Delancey Street, über den Loop und Michigan Avenue lohnt es, auf Flügeln durch den Äther die leichten Tuben herbeizuführen, weil man hier recht viele Menschen treffen kann, bis man dann in anmutiger Kurve davonfliegt, ein Pünktchen im Sonnenglanz, im Mondenschein, zwischen dem Wolkengetümmel, kaum wahrnehmbar, während unten der Tod die Stadt bei ihrem Herzen anpackt, wilde Panik das Volk zersprengt, seine Gesetze zerreißt, Abgründe öffnet und aufrührt, daß man die Untergrundschienen im Tageslicht gewahrt, das Eingeweide des Fortschritts der Welt und des Jahrhunderts offensichtlich zu Tage liegt ...

Hippokratisches Gesicht der großen Stadt! Donnernd rollen die Omnibusse rechts und links an der anmutigen Marmordame vorüber, die, mit Zügen der Pariserin ausgestattet, den Typus der germanischen Rasse doch nicht ganz verleugnet. Man begegnet diesem Typus ziemlich häufig in der Bevölkerung von Paris und überhaupt in dieser nördlichen Hälfte Frankreichs. Er hat, unbeschadet seiner koketten gallischen Anmut, einen ziemlich kriegerischen Ausdruck angenommen, den ich an ihm eigentlich erst jetzt, seit dem Kriege zum erstenmal, wahrnehme, aber das mag eine Täuschung sein.

 

Faubourg St. Denis

Ich erinnere mich an dieses Erlebnis. In meiner Vaterstadt, Jahre vor dem Krieg. Ich war nach langer Abwesenheit zurückgekehrt, auf der Donaupromenade tummelte sich eine Generation, die ich nicht heranwachsen gesehen hatte, die mir unbekannt war. Zwanzigjährige, zwanzig Jahre jünger als ich. Da hatte ich eine Vision. Ein Gefühl ergriff mich – solche Augenblicke des Schauens, des Erschauerns überfallen mich zuweilen –, ich hatte eine Vision, in den Adern fühlte ich: ihr werdet nicht leben! Es war sechs Jahre vor dem Krieg.

Grau rinnt es durch meine Adern, wenn ich heute durch die übervölkerten Straßen der großen Städte gehe, jetzt, im sechsten Jahr nach dem Krieg: diese Strassen werden nicht leben.

*

Die große Stadt organisiert die Massen, und sie desorganisiert das Individuum. Sie erzieht das Volk und korrumpiert die Seelen. William Morris hat in seinem utopischen Roman Gras auf Trafalgar Square wachsen lassen, Schafe weiden, wo einst Trafalgar Square war. Glücklichere Menschen läßt er in kleinen Siedlungen rund im Lande wohnen, jede Siedlung ihre eigene Autonomie besitzen, eine Kette, Netz, Gewebe, Nebeneinander unzähliger kleiner glücklicher Menschengruppen erstehen, das Ideal der anarchistischen Gesellschaft, einer von der Vernunft regierten, unausdenkbar seligen Friedensära der Menschheit.

*

Die kleine Siedlung, das Dorf, den Weiler, die Farm aus der Luft herunter zu vergasen, zu sprengen, zu vernichten lohnt sich schon heute nicht; die dichte Stadt, der vollgestopfte Wohnbezirk wird das Ziel des beflügelten Todes sein, dessen Schwingenrauschen einige bereits vernehmen, des Pünktchens im Sonnenglanz, dieses kreisenden, schwirrenden, irrlichterierenden Funkens in der Höhe, der einigen bereits die Augen aussticht, die Tränendrüsen fließen macht.

Mechanisch, monoton, unmenschlich bellen die Autohupen von den Boulevards her, dem Boulevard St. Denis, dem Boulevard de Strasbourg, in das Stimmengetöse des engen Faubourg herein.

 

Musée Cernuschi und der Strahl

Am Eingang zum Park Monceau ist in einem kleinen Palast ein Museum chinesischer Altertümer untergebracht.

Jahrtausende vor Christi Geburt haben unerhörte, lange verschollene, verschüttete, zermalmte Kulturepochen Meisterwerke der Kunst hervorgebracht, die einzige Kunde von jener dem Menschheitsverhängnis erlegenen Zeit vermitteln. Von feindlichen Nachbarstämmen heimgesuchte, ausgerottete, schließlich vom Flugsand des zerstörten Landes verschluckte Riesenstädte des sagenhaften China, des Götterkontinents Tibet – der Atem vergeht dir vor einer ernsten sitzenden Priesterstatue, einem Tier aus Nephrit, einem Schwertgriff aus Erz und Obsidian.

Jahrtausende, erblüht, eine Kultur erkämpft, zerstört, untergegangen, ausgegraben – Kunde in drei kleinen Sälen eines versteckten Museums, das von wenigen besucht wird.

*

Lieblich tönen mir am frühen Morgen die Rufe von Paris in mein stilles Zimmer an der Sorbonne herauf:

»Mouron pour les petits oiseaux!«

»Merlans, frais! Merlans à frire!«

»Habiiiits! Chand d'habits!«

»Vlà le vitrier qui passe!«

... der Dudelsack des Basken, der Rohrstühle ausbessert, quiekt fröhlich seinen Morgengesang – Menschenlaute am hellen Morgen... auf einmal erbraust die Stadt von fern; mechanische Geräusche, schweres Räderrollen, Hupensignale des Verkehrs ertöten, verschlingen, begraben den Laut des Menschen. Betäubt versinkt die Seele in verspäteten schweren Morgenschlummer.

*

Große Lettern am Kopfe der Tageszeitungen: Grindell Matthews – die Todesstrahlen, die, aus sicherem Versteck entsandt, in riesigem Umkreis alles vernichten, was auf ihrem Wege liegt. Der Strom kann verstärkt, Distanz und Wirkung nach Belieben vervielfacht werden.

Der Todesstrahl: er sitzt der Menschheit wie ein Floh im Ohr!

G. M., der Erfinder, Matter-of-fact-Mensch und Phantast, Menschheitswohltäter und Charlatan, fliegt seit Wochen zwischen London und Paris hin und her. Mögen sich andre, philanthropische, schizophrene Tröpfe ihre Erfindungen stehlen oder für ein Butterbrot abjagen lassen und dann zusehen, wie die großen Taschen der Industrie sich mit dem Ertrag füllen – G. M. weiß: obzwar seine Erfindung noch unvollkommen, vage, zweifelhaft ist: die Gedanken der Menschheit sind unterhöhlt vom Militarismus, der Sucht, zu zerstören. – G. M. wartet. Er hört seine Zeit heranschwirren. Er kennt seinen Wert, den Preis, den der Erfinder von neuen, immer vollkommeneren Werkzeugen der Zerstörung fordern darf.

An der Straßenecke: Trommeln, Hufgeklapper, Wehen roter Helmbüsche. G. M. trommelt ruhig an die Fensterscheibe. Warte nur, balde ...

*

Diese Zivilisation ist zu groß, zu stark geworden, aufgedunsen, in ihren Geweben zersetzt vom Gift des Militarismus. Sie ist organisch krank, todkrank, man kann ihr das Gift nicht mehr entziehen, sie würde an dieser Roßkur krepieren. Laßt sie doch krepieren. Eine Prise Lewisite, und sela!!

Die nächste wird ohne das Gift im Leibe zur Welt kommen und, wenn ihre Zeit da sein wird, eines natürlichen Todes sterben.

(Nachschrift zu Grindell Matthews)

Zwei Monate später sehe ich in London den Film:

Der Todesstrahl.

Programm: Der Erfinder; der Apparat; die Bände voll Zeitungsausschnitten. (Musikbegleitung: Jazz, amerikanische Synkopen.) Der Strahl in Aktion: in einer Glasröhre wird auf zehn Meter Distanz ein Funke entzündet; in einer Pfanne explodiert Schießpulver; ein Motorrad in voller Fahrt stoppt; fällt um. – Zweite Abteilung: eine Ratte wird in einem Käfig hereingebracht, der Strahl auf sie eingestellt, die Ratte fliegt auf den Rücken. (Musikbegleitung: Isoldens Liebestod.) – Dritte Abteilung: Hügel bei Nacht; aus einem Panzerturm dirigieren abenteuerliche Ledergestalten den Strahl auf ein Feld heranschleichender Feldgrauer, sie fallen reihenweis um; Strahl fliegt in die Höhe: Aeroplane plumpsen brennend durch die Luft herunter. (Musikbegleitung: Nothung, Nothung, neidliches Schwert!)

 

Licht, Ton, Bewegung dieses Zeitalters

Mechanisch, mit metallischem Geklapper schiebt sich diese Zeit in ihr Grab. Tanzt sie, so tut sie's zu einer Musik, wie wenn ein Kran einen Stapel Wellblech von einem Lager aufs andere hinüber wirft. Der Rhythmus ihrer Lustigkeit ist knarrender, stampfender, kubistischer, mit Hupen, farbig rieselnden Lichtreklamen, Gliederverrenken, Geschlechtsteil an Geschlechtsteil reibender, Bauch an Bauch voreinander pressender, geiler Totentanz. Die Nüstern dieser Zeit stehen weit gespannt offen, als röchen sie aus dem Houbigant, dem Schweiß, dem sauren Aufstoßen in den Bars schon den fatalen prickelnden Odeur der sich rasch ausbreitenden absinthfarbigen Wolke heraus!

 

Stillsitzend vor dem Café

London lernst du am besten vom Omnibusdach herab, Paris aber am Tischchen eines Boulevardcafés sitzend kennen. Setze dich und sperre Augen und Ohren auf, falls du solche in deinem Kopf hast.

Einen Schritt weit vor dir zieht die Menge bunt und quellend vorüber, drüben aber, hinter ihr, auf der anderen Seite der Straße erhebt sich ein Zaun vor einem Baugerüst, und auf diesem Zaun kleben Plakate. Optische Täuschung: zuweilen erscheint der Zaun mit den Plakaten ganz deutlich – die vorüberziehende Menge scheint transparent geworden, weht wie Luft daher – dann wieder ist es die Menge, jeder einzelne in der Menge, der, wie mit der Zeitlupe in einem zu langsamen Film aufgenommen, mit allen Einzelheiten peinlich sichtbar dahergeschlichen kommt, während der Zaun mit den Plakaten zauberhaft schnell von dannen schießt, Wandeldekoration, Schattenflächen, Schattenbuchstaben, ins Ungewisse forthuschend hinter der allzu phlegmatisch sich vorwärtsbewegenden Menschheit.

*

Der Zaun, die Plakate: Wahlaufrufe, Danksagungen, Manifeste.

Der elfte Mai mit dem Sieg des Linken Kartells ist eben vorüber. Friedlich kleben alle Parteien nebeneinander; von rechts nach links zu lesen: Léon Daudets Partei, Herriots Partei, Cachins Partei. Quer darüber eine riesige frische Affiche: Dank der republikanischen Union, Spitzenkandidat Fabry, an ihre Wähler; Dank und Gelöbnis.

(Wo aber blieben die Durchgefallenen? Sind sie etwa ihren Wählern keinen Dank schuldig? Stumm. Dürfen sich bei dem französischen Wahlsystem bedanken, das seine Tücken hat.) Allgemeine Verblüffung: dieser Linksruck bei den Wahlen Frankreichs, Englands; sicherlich vom Impuls des proletarischen Sieges Sowjetrußlands hervorgerufen, wie eine Wellenbewegung von Ost nach West über die Menschheit der Erde, die Völker der Kulturstaaten Europas – vorerst nur das Staunen, die Überraschung: sollte das Weltgewissen erwacht sein?

Die Zeit, sich zu erweisen, ist noch nicht gekommen. Skepsis links, Zuversicht in der Mitte, lauernde Erwartung rechts.

*

Das Volk! Die Völker verstehen sich immer noch nicht. Ententen, Allianzen sind grell an die Oberfläche gepinselte Fetischbilder von gemeinsamen Interessen der Oberen. Darunter: ein Volk fremd dem andern. Nicht feind, nur fremd. Es ist lediglich Schuld der Oberen. Wo zwischen diesen und dem niederen Volk keine Isolierschicht besteht, dringt das Symbol der Gemeinschaft, die Zeichnung des Fetischs tiefer ins Fleisch. (Der Muschik in Marxstadt, in Samara, in Iwanowo-Wosnessensk weiß mehr vom Ruhr-Arbeiter als der Durchschnittsengländer in Dover vom Durchschnittsfranzosen in Calais. Ja sogar mehr als der Teetrinker im kosmopolitischen Pazifistensalon von seinem Nachbarn, der ihm den Zucker herüberreicht. Vielleicht wird sich das bald ändern.) Immerhin hat der Franzose das Nachbarvolk zu spüren bekommen. Eine Stunde weit von der Gare de l'Est finden sich Spuren der Bekanntschaft.

Wir haben den Krieg geführt. Wir! sagt der Franzose. Und wir haben ihn gewonnen. Der Englishman? Der Amerikaner? Haha!! –

Kein Haß gegen den Deutschen. Eher ein wenig Mitleid, mit Ironie gefärbt, weil dem Nachbar ja doch alles nicht genützt hat.

In den sehr lehrreichen Pariser Vorstadtvarietés spielt der Deutsche auf der Bühne eine komische Rolle, der Engländer aber ist (wie vor dem Kriege!) Zielscheibe aggressiver Bosheiten. Die Niederlage (des anderen) scheint etwas Kläglich-Lächerliches an sich zu haben. Der Bloc National z. B. muß tüchtig herhalten. Clémenceaus mächtiger Protegé Georges Mandel heißt seit seinem Durchfall in der Gironde plötzlich Jerobeam Rothschild. So irgendwie verhält es sich mit dem »Boche« (um den man sich, mitsamt seinen inneren und äußeren Schmerzen, Nöten und Kalamitäten, seit er keine Wehrmacht besitzt, weniger kümmert, als der in der Psychose seines Zustandes befangene Deutsche das annimmt).

*

Paris ist die Stadt, in der im allgemeinen das Gegenteil geschieht. Der trockene Amerikaner schwitzt Alkohol aus allen Poren; dem steifen Engländer sind alle Scharniere geölt; der Deutsche verbrüdert sich; der Franzose ist ernst, arbeitsam, dezent und läßt dem Fremden seinen bunten Wahn, daß diese Stadt noch immer das »gai Paris« von 1900 ist!

Das alte Quartier Latin! Wo sind die p'tites femmes, die Verkäufer von allerhand Kinkerlitzchen vor den Café-Terrassen, die Monômes, die »Conspuez«-Schreier? Ja, sogar die Apéritifs auf den Tischchen sind rarer geworden. Der Konsum der Pernods, Dubonnets, Byrrhs ist gesunken, Sport hat den Alkohol verjagt, das Geld sitzt nicht locker, das Leben ist teurer geworden, der Student studiert. In Diskutierklubs der Intellektuellen, der Sozialisten, Anarchisten, der aufgerüttelten Bourgeoisie hat die Rhetorik zu Gunsten der Sachkenntnis, der Sachlichkeit an Wirkung etwas eingebüßt.

( Notiz: in einem dieser Klubs hörte ich aus dem Munde eines alten Kämpfers für den Weltfrieden folgende Äußerung: »Die Deutschen, wie haben sie's gut! Während unsere armen Jungen in den Kasernen ihre Dienstzeit abbüßen, sitzt der vom Militärzwang befreite deutsche Jüngling in den Laboratorien seiner Hochschulen, bildet sich in den Wissenschaften aus, um uns im nächsten Weltkrieg um so vernichtender zu schlagen! Nieder mit der Wehrpflicht!«)

Zwischen den Menschen, die an mir vorüberziehen, und den plakatbeklebten Zäunen, die stillestehen, schießt der betäubende Verkehr der Taxis, der Lastfuhrwerke, der Autobusse ratternd und stampfend dahin. Altes Quartier Latin – da bist du ja auch wieder, lieber Omnibus der Jugendzeit: Batignolles – Clichy – Odéon, oder, wie wir dich liebevoll nannten: Batigny – Clichon – Odéolles!

Neben mir sprechen zwei junge Menschen über die Vorteile des Listenwahlsystems zum deutschen Reichstag gegen das absurde Kompensationssystem zum Palais Bourbon. Die Wirklichkeit!

Was will der langsame Trott der politischen Evolution, wie soll er Schritt halten mit dem vorwärts stürzenden Drängen der ratternden Wissenschaft, der Maschine, des von den Interessen der Oberen getriebenen Apparats?

Die Evolution!!

 

Unter den Rädern

Zuweilen, in der Menge – ein bekanntes Gesicht! Von damals – von 1895, von 1900, von 1910 – ein bekanntes Gesicht, wenn auch gealtert, wenn auch verwittert; ein Quartiergesicht, ein Gesicht vom Boulevard St. Michel – wie sollte ich mich ihrer nicht erinnern, dieser vagen, verschwimmenden Larven meiner Jugendzeit!

Bettler! Ihr Langsamen, Demütigen! Stoiker, Weise, mit euren runzligen, grauen, wirrbärtigen Gesichtern, Diogenese, denen die Mitwelt Tonne und Laterne genommen und nur einen alten Stock gelassen hat, mit dem ihr unter den Tischen nach Tabakstummeln stochert!

Zigarren sind rar geworden, nicht wahr, Freund? und auch die Zigarettenstümpfchen fast bis ans Ende geraucht. Hier, unter meinem Tisch, liegt eine, sie ist noch leidlich ganz. Geh nicht vorüber, Freund, Schicksalsgenosse – hebe sie auf, sie ist ja noch fast ganz, das Papier nur wenig beschmutzt.

Einst waren wir jung, nicht? hier in diesem selben Quartier. Den Krieg haben wir überstanden! Langsam kriechen wir über diese Erde – aber oben! oben! Die anderen, die Jungen, die Frischen, die Starken, sie liegen unten! unten liegen sie still!

Immer leben wir noch, wollen leben, trotz allem, trotz Enttäuschungen, Not, Armut, Krankheit, die Frau zur Dirne geworden, der Freund zum Verräter, und trotzdem, trotz allem, immer noch leben wollen, leben!

Was ist das nun, Genosse, Freund aus der Jugendzeit, noch mehr des Alters – diese Gier der Seele? die noch zunimmt mit den Jahren?

Alles sehen, erleben, fühlen, mitfühlen wollen; alles aufnehmen, aufheben, in den Mund stecken wollen; leben, leben! Also dies ist Altwerden? Dies?!

Das Leben kann mit dem Tod nicht aufhören. Krieg, Mord, Not, Verzweiflung tötet diese ungestüme, diese ungeheure Kraft in uns nicht ab. Das ist ein Ergebnis.

Verändertes Leben, veränderte Zeit; Gefährten, Freunde, ihr Säumenden, von Tisch zu Tisch mit gesenktem Blick Schleichenden – immerhin in dieser Stadt, in der jede Straße zu einem Stern führt!

 

Herrenmoden

Man trägt in diesem Jahr keine Prothesen mehr, sondern leere Ärmel, mit Nadeln dort aufgesteckt, wo einst die Schulter gesessen hat.

Krücken sind unter den Achseln gepolstert und münden auf dem Pflaster in Gummi.

Fehlen beide Arme, so hält man bei patriotischen Anlässen, Parade, Präsidentenwahl, Olympischen Spielen, die Fähnchen mit den Farben der Nation zwischen den Zähnen. Fehlt der Unterkiefer, zwischen Nase und Oberlippe. –

 

Femmes

Diese Regierung gibt euch das Wahlrecht! Geduld! Bald sitzt ihr im Palais Bourbon!

Darnach müßte sich der Aspekt der französischen Frau in der Gesellschaft, die auf Männerrecht, Männervorrecht beruht, wesentlich geändert haben.

Im Krieg waren sie nicht aktiv, haben alle Leidenschaften in sich hineingefressen, Wut, Blutrausch, Angst, Hoffnung. Bei der einen hat es sich auf die Nieren gelagert, mächtiger Aufschwung des Kirchenglaubens, bei der anderen aber schlägt's an die Oberfläche, in wahnwitziger Bemalung, die an Südsee-Idole, aus ägyptischen Gräbern auferstandene Pharaonenkebse oder an primitiv angestrichene Jahrmarkts-Holzpuppen erinnert.

Kirschrotes rundes Leckmäulchen im ockergelb geschminkten Angesicht. Talergroße kreisrunde Zinnoberflecken auf den Bäckchen. Bunte enge Hemden den schmalen Körper entlang. Eckige, große, laszive Hände, nackt und schamlos mit dem priapförmigen Schirmgriff spielend.

In den Theatern, die auf Fremdenbesuch eingerichtet sind – zwei Drittel führen das appetitreizende »Nu« im Schild –, zieht die weibliche Komparserie splitternackt, mattbemalt und gepudert wie Gummipuppen unwirklich auf; auf der Straße, in den Salons, den Logen, überall, wo die Eleganz zu Hause ist, der Reichtum sich vergnügt, das Behagen sich überkugelt, starre Götzenbilder, Menetekel, Kultdämonen des Verfalls, der bevorstehenden Auflösung.

Wie soll die Frau das Wahlrecht erhalten, wo sie, als Geschlechtstier halb verachtet, sich zur anderen Hälfte in den Händen des Klerus befindet?

 

Jardin du Luxembourg

Vom pazifistischen Professor kommend, ins Luxembourg.

An den Mauern riesige Plakate, seit den Wahlen neu. Rechts ein deutsches Riesenbaby, an seiner Pfote lutschend, links der kümmerliche französische Säugling, ängstlich nach dem großen Napfkuchen hinter sich schielend – darunter Zahlen. 1922 wurden geboren: 760 000 französ. Kinder 1922 wurden geboren: 1 450 000 deutsche Kinder.

Aufruf: Mehr Kinder. An die gegenwärtigen Wähler, die künftigen Wählerinnen, dieser Notschrei. (Wird man ihnen das Wahlrecht geben, diesen Geschlechtstieren, Luxusweibchen, Frühmesseläuferinnen, Gebärmaschinen?)

Der Ton des Aufrufs klingt jedenfalls kläglicher als des alten Tigers Clémenceau Schlachtgeheul: zwanzig Millionen Deutsche zuviel!

*

Der pazifistische Professor sagt: das Volk, das große Reservoir, aus dem die französischen Genies herkommen – das französische Proletariat muß aufgefüllt werden! Er beginnt, herzuzählen: Pasteur – aber schon bei Renan stockt er. Der stammt nicht aus dem Proletariat! Das große Reservoir!

*

Ihr lieblichen Blumenbeete, Baumwege, Alleen des Luxembourg, wieder unter euch! Sieh da eine neue Stele, ein Denkmal, das ich noch nicht kenne: Madame de Ségur, née Rostopchine – oh, Bibliothèque Rose, ihr seligen Bücher der Kindheit!

Es war gut und schön, » c'était bien français!«, der Dichterin der Bibliotheque Rose ein Denkmal zu setzen, hier im Park, der bis zum Abend von Kinderlärm, Spiel und Jauchzen widerhallt!

Heute besonders ist er voll von Nounous mit ihren Pfleglingen, Bonnen und Müttern mit zarten, hold daherzwitschernden Engelchen.

Da: ein Rundtanz, Reigen, beaufsichtigt von zwei Frauen in Nonnentracht. Kleine Wesen in dunklen Kapuzenkittelchen, einer Art Uniform, tanzen Ringelreih.

Ich erkundige mich: es sind Waisenkinder, Kriegswaisen.

Sie halten sich bei den Händchen, drehn sich rasch im Kreise, lachen und singen:

»Malbrouck s'en va-t-en guerre,
Mironton, Mironton, Mirontaine ...«

und dann:

»Ne sait, qu'en reviendra...«

Das große Reservoir! Der große Napfkuchen!

 

Schatten

 

1.

Sie stammt aus der Zeit zwischen zwei Kriegen, aus den friedlichen, genußsüchtig heiteren, nur ein wenig panamistisch und dreyfusistisch angekränkelten Jahren 1892-98 der dritten Republik.

Man hat sie ausgegraben. –

Allabendlich singt sie in den Elysäischen Gefilden, in den »Ambassadeurs« ihr altes Repertoire. Sie ist recht dick geworden, hat aber ihre roten Haare, ihr grünes Kleid, ihre langen schwarzen Handschuhe beibehalten. Sie schiebt, während sie die Pointe herausarbeitet, ihr Kinn zur spitzen Nase hinauf, wie Toulouse-Lautrec, der Zwerg, sie für ewige Zeiten gemalt, radiert, gekritzelt hat. Sie ist noch immer die Einzige, die Diva, die von keiner Erreichte, sie steht da, singt:

»Un fiacre roulait, trottinant,
Cahin, cahant, hédia hoplà!«

sie singt des weiteren »la glu«:

»... t'as tu fait mal, mon enfant??« sie singt mit ihrem tonlosen, fistelnden Näseln, daß dir alle Jahre deines Lebens aufsteigen, seit du sie zum erstenmal gehört, erlebt hast: Yvette Guilbert!

*

Einst, so erzählt sie, hat der Konkurrent von nebenan in den Champs, die »Horloge«, um zehn Uhr dreißig, wenn sie ihre Couplets zu singen anfing, acht Trompeter und eine bellende Hundemeute losgelassen – die »Ambassadeurs« sind ja unter freiem Himmel, von der Straße nur durch eine Leinwand getrennt –, es hat ihrem Ruhm keinen Abbruch getan.

Jetzt ist er, durch die Autohupen der Zeit, leicht entmaterialisiert. Die »Ambass« nicht gerade überfüllt. Draußen rast auch zu dieser nächtlichen Stunde der Verkehr in seinen geräuschvollen Bahnen dahin. Yvette steht da, braucht Geld, schiebt das Kinn in die Höhe, näselt, aber sie ist, immer, immer noch, wie damals in den »Elysées Montmarte« – die Einzige, Niewiederkehrende, Genius und Geißel der Bourgeoisie – Yvette! –

 

II.

Nicht weit vom Palais Bourbon, an der Kreuzung des Boulevard St. Germain, steht auf niederem Sockel, fast auf dem Straßenniveau, knapp lebensgroß und aus Erz gegossen, einer, der so gut wie tot ist – obzwar es kaum ein Menschenalter her ist, daß man ihn zu Grabe trug; obzwar er ein braver, demokratischer Verkünder der kleinbürgerlichen Anständigkeit war – dieses Ideals, das hierzulande der nationale Standard ist, an dem hundert Schritte weiter die Männer des siegreichen Linksblocks im Palais Bourbon gemessen werden und das die Tugend der III. Republik bestimmt.

»Il était un petit épicier de Montrouge...« Er war ein braver Bürger und Mensch; die Vorzugsschüler der Lyzeen erhielten nach der Prüfung seine Werke in Saffianband eingehändigt; er half Verlaine, daß er am Leben bleibe; er tat Gutes; junge Dichter kamen mit ihren Versen zu ihm, alte schiffbrüchige, mit ihrem Hute voran ...

François Coppée. Wer denkt noch an ihn? Ja – wie schreibt er sich – mit é, mit ée? Man wird auf dem Sockel nachsehen müssen ...

Und war doch, kaum ist's ein Menschenalter her, der geliebteste, der Sänger des kleinen Mannes, des Volkes, der Bescheidenen, Bedrückten, der »Humbles« ...

 

III.

Schmale, schiefe Säule, ungeschickt verfertigt und aufgestellt in der Ecke beim Odéontor des Luxembourg. Verwitterter Bronzekopf oben aufgestülpt oder angeschraubt ... ich liebe sie sehr, beide, Kopf und Säule, denn sie tragen die Jahreszahl 1895, und ich war bei ihrer Enthüllung dabei.

Murger! wie bist du verwittert, alter Bettler!

Der Baum über dir ist ja mächtig in die Breite gewachsen, höre mal! Ein Ast über deinem kahlen Schädel, der auch dann unsterblich wäre, hätte er nicht die »Vie de Bohême«, sondern nur den Wahlspruch ausgeheckt:

»II y a des années, ou l'on n'est pas en train!« – ein Ast beschattet und verdeckt dich ganz. Vögel zwitschern auf ihm, und die Tränen, hell auf deinem verwitterten Gesicht, fließen nicht aus deinen Augen, sondern beginnen schon höher, von deinem liederlichen Scheitel herunter zu rinnen.

 

IV.

Rue des Beaux Arts, Hôtel d' Alsace.

In seinen guten Tagen, in der Tite Street, in Chelsea, da wollte er sein Leben auf solche Weise in die Höhe leben, daß es seines blauen chinesischen Porzellans würdig werde. Dann fiel er tief, purzelte durch die irdische Hölle in das Profunde hinab, in dem er seiner Ballade begegnete, C.3.3. wurde unter den anderen Verdammten.

Jetzt hat ein amerikanischer Snob seine beiden Schmerzensstuben, Sterbekammern, mit billigen »ägyptischen« Wandteppichen, wie sie die Straßenverkäufer vor den Kaffeehausterrassen Alexandriens für ein paar Piaster den Fremden aufschwatzen, behängt und tapeziert. Gewiß sitzt er, mit grünen Tränken reichlich vollgesogen, in dem inneren, engen Kabinett, durch dessen Fenster der bei lebendigem Leib Verfaulende einst auf dieselben Bäume im engen Hof hinterm Haus hinausblickte, und verfertigt billige, schlechte Verse, die sich zu denen des ehemaligen Bewohners verhalten wie diese ägyptischen Teppiche überm Bett zu den Figuren von Sakkara. Gewiß auch gibt er ästhetischen Misses an Empfangsnachmittagen Tee und Toast und parfümierte Zigaretten, während er langsam und genießerisch seine Gedichte auf der Zunge zergehen läßt ...

Was zum Teufel stochere ich in all diesen vermoderten Winkeln herum? Bin doch noch ziemlich lebendig! Ja, und damit ich's nicht vergesse –

 

V.

auch die Morgue ist nicht mehr da; die permanente Ausstellung der graugrünlichen Makkabäer hinter dicken angelaufenen Spiegelscheiben, sie ist zu.

Vor Jahren begegneten wir uns zuweilen in dem sinistren Häuschen hinter Notre Dame, Alfred Jarry, der Dichter des »Ubu Roy«, und ich.

Jarry wohnte damals in einem verfallenen Haus der St.-Louis-Insel, er kam jeden Morgen herüber, um vor den Wasserleichen sein Frühstücksbrötchen zu verzehren. Er behauptete, es fördere den Appetit, »de manger son petit pain à la face des morts!«

 

Louvre

Vor der Venus von Milo.

Zwei wunderschöne Frauen, Engländerinnen, eine weißhaarige, eine ganz junge, blonde; beide in hellen zarten Kleidern. Zwischen ihnen ein junger Mann, dessen Arme die Frauen unterfaßt halten. Er hat einen kleinen bunten Streifen im Knopfloch.

Die junge Frau liest. Sie liest laut aus dem Reiseführer, was dort über die Venus steht. Der junge Mann hört mit leisem Lächeln zu. Er ist blind.

Er sieht die Statue; er sieht Venus.

Die beiden Frauen sind bei ihm.

Der Sinn ist wach.

 

Luxembourg-Museum

Hier, im zweiten Saal, links hinter der Galerie der Skulpturen, hing einst das Bild eines nicht mehr jungen, augenscheinlich früh gealterten Mannes, schmales, byzantinisch langes Gesicht, graue Fäden im Bart, bläuliche Töne der Erschöpfung über den versteinten Zügen. In der blassen, von der Ausschweifung und dem Tod verzehrten Hand eine blühende Distel, blau und grau.

Wie Vorjahren gehe ich durch die Säle gerade auf dieses Bild zu. Finde es nicht. L'homme au chardon ...

Verschwunden. Ich werde den Wächter fragen.

Ringsum hängen Bilder, sind da; und sind mir doch, ich weiß nicht wie, trist und, gleichmütig fühle ich's, abhanden gekommen. Für immer.

Moreau, Carrière, Fantin-Latour und dieser Le Sidaner, den ich einst liebte wie den jungen, verschleierten Maeterlinck! Zwei unbekannte Bilder des frühen Degas: »Les malheurs de la Ville d'Orleans« und »Semiramis baut eine Stadt« – überraschend, wie Puvis und dieser, der der Entwicklung vorausgelaufen ist, von Piero della Francesca und dem Sienesen Simone Martini herkommen, Zeitgenossen der englischen Präraffaeliten, die mir auch schon zu verstauben beginnen! – was ist das nur: ist eine Scheibe blind im innern Glaspalast? Spinnweb? Kalk?

Ein kühles Quaibild aus Rouen, von Marquet – und dann; die beiden van Goghs, das dunkle: »La guinguette« und das helle »Restaurant zur Sirene« – seit Manet hat es in der Malerei nichts Größeres gegeben! Der arme Tölpel schlägt mit seinen abgeschnittenen Eselsohren ringsum alles zu Scherben!

*

Aber wo, wo, wo ist der Mann mit der Distel? Ich suche, suche, zweimal, dreimal, frage den alten Wächter – –

Wie hieß doch der Maler?

Mein altes Paris – –

Verschwunden. Wohin? Warum?

 

Die heilige Wand

Am fünfundzwanzigsten Mai ziehen Hunderttausend an der Mauer des Père Lachaise vorüber, von der die roten Kränze im Winde schwanken.

Ein paar uralte Leutchen haben sich vor der Mauer postiert, an ihnen zieht die Menge vorüber. Der prächtige, rotbäckige, weißbärtige Camélinat, Direktor der Münze in der Kommune, hält seinen Schlapphut hoch in der emporgereckten Rechten:

»Mort à la bourgeoisie!«

»Mort!« antwortet die Menge.

Der Alte breitet die Arme weit aus, drückt den Hut an die Brust, wie um die Hunderttausend zu umarmen.

»La Commune! La Commune! Vive la Commune!«

Den Blick gebannt auf die Wand, vor der die Föderierten unter den Kugeln der Versailler starben, ziehen die Massen vorüber. Es sind Kommunisten.

Von der Mauer her, als dröhne die Mauer selber das Wort:

»Lenin!«

Der Hügel, gegenüber, antwortet:

»Vive la Russie!«

Die Alten vor der Mauer recken die weißen Köpfe:

»La Russie! La Russie!«

Aus einer Gruppe, irgendwoher, schrill und böse, vielstimmig ein kurzer Schrei: »Vivent nos frères au Solowjetzki!« Es sind Sozialdemokraten, Menschewisten, Anarchosyndikalisten. Kurz und hart, Getümmel, dann wieder Ordnung.

»La Commune! La Commune!«

Der Regen peitscht die roten Fahnen, die Schleifen der Kränze, die weißen Haare der alten Kommunarden. In endloser Reihe zieht das Proletariat Frankreichs, der Welt, an der heiligen Wand vorüber, unter Regenstürmen, Blitz und Donner.

 

Ein Grab

Unter dem Scheitelpunkt der Triumphpforte, am Etoile, dem Stern, der alle Straßen dieser wunderbaren Stadt auszustrahlen scheint, ist eine Marmorplatte in den Boden gemauert. Blühende Blumen umrahmen sie, oft erneut. Immer stehen Menschen, knien Menschen um dieses Grab. Alte Frauen weinen, kleine Kinder schmiegen sich an ihre betenden Mütter und haben die Händchen gefaltet. Hie und da steht eine der Knienden auf, bekreuzigt sich, geht ans Kopfende der Grabplatte, wo aus dem Boden meterhoch eine Flamme emporschlägt, streckt die Hände gegen die Flamme aus und bekreuzigt sich abermals, mit einem glühenden Kreuz.

*

Fünf Uhr nachmittags. Riesige Touristenwagen halten vor der Pforte, speien Cook-Amerikaner aus, die sich um ihren Führer drängen. Dieser, ein kurzbeiniger Italiener, mit dem Akzent des Mulberry-Dagos aus dem New Yorker Ostviertel, erklärt: in fünf Särgen hatte man fünf unkenntliche zerrissene Leichen gebettet. Ein Kind wurde vor die Särge geführt, wies mit dem Finger auf einen; der liegt nun unter der Platte. Ein unbekannter französischer Soldat – denn die Uniform war zu erkennen! – mort pour la Patrie. Hier, Ladies and Gentlemen, sehen Sie die ewige Flamme brennen, sie steigt aus einem Kanonenrohr empor. – Wenden Sie bitte Ihre Blicke nach links: Sie sehen dort drüben das Hotel Astoria? Im Sommer 1914 ließ the Kaiser die Frontzimmer für sich reservieren, um dem Einzug seiner siegreichen Truppen durch den Arc de Triomphe zuzuschauen.

Gelehrig drehen die amerikanischen »Kautschukhälse« die Köpfe nach links, rechts, in die Höhe, zur Platte herunter.

Es ist sehr heiß, der Führer wischt sich das triefende Haar, den schwitzenden Hals. Eine alte Dame fragt:

»What's the idea of this fire?«

Der Führer erklärt: es ist ein Symbol, Madam, Pietät, eine ganze Nation ... Vierschrötig schiebt sich einer an die Flamme heran, zeigt mit dem Finger: »What do they burn? Oil?« – – –

 

Olympiade

Mitten aus ihren Kämpfen schickten die hadernden Städte Sparta und Athen alle vier Jahre die Blüte ihrer Jugend zu den friedlichen Spielen der Kraft und Geschicklichkeit nach Olympia.

Das Stadium in der Vorstadt Colombes ist überfüllt, denn heute kämpft die noch unbesiegte Fußballmannschaft Uruguays gegen Frankreich.

(In einem anderen Stadium, am andern Ende der Stadt, boxt der französische Champion vor überfüllten Tribünen mit dem englischen. Am gleichen Tag tritt, ziemlich unbemerkt, Herriots Regierung ihre Herrschaft über die Geschicke des französischen Volkes an.) Der Ball fliegt!

Die Uruguayer sind allen Nationen überlegen. Der Tag, an dem sie die Schweiz besiegt haben, wurde in Montevideo zum Nationalfeiertag erklärt (in Bern zum Trauertag). Heute ist Uruguay ein wenig befangen, denn letzten Sonntag wurde die amerikanische Mannschaft, als sie nach ihrem Siege über Frankreich das Stadium mit wehenden Fahnen verließ, von der ungehaltenen Menge durchgeprügelt, von Stars and Stripes blieben nur Stripes übrig ...

Neben mir spielt ein kleiner, schwitzender, olivbrauner Indianermischling aufgeregt mit seinem weißen und blauen Fähnchen herum – da: das kluge Uruguay hat seine Gegner das erste Tor gewinnen lassen!!

Das Stadium ist auf den Beinen, alle Trikoloren sind in Bewegung. Nachher wird Frankreich fünfmal geschlagen, aber zum Schluß trägt die Menge Uruguay auf den Schultern zum Stadium hinaus.

Im Lexikon Larousse schlage ich nach: »Heer: 8 Bataillone und 9 Kompagnien Infanterie, 2 Feldartillerie-Regimenter, 1 Mitrailleusen-Kompagnie, 1 Geniepark etc. etc., Friedensstärke 667 Offiziere, 7580 Mann; Polizeitruppen 5000 etc. etc.; Flotte: 12 Fahrzeuge, Bewaffnung (1908) Mausergewehr 7 mm.« Einfach lächerlich. – Vive l'Uruguay!!

 

Ausflug in die Provinz

Im strahlenden Sommersonnenschein: die Kathedrale von Chartres!

Wer sie nur aus Büchern kennt, und sei es Huysmans' Hymne, wer sie nur aus Bildern kennt, wer sie nur von außen gesehen hat, weiß nichts von ihr, nichts von der Gotik, nichts vom Mittelalter, »dem enormen, dem zarten«. Im magisch beleuchteten Schiff mit dem Rücken gegen den Altar sitzend (»ce n'est pas convenable, Monsieur! voyons!!«), in anbetende Betrachtung ihrer bunten Fenster, ihrer Wimperge versunken, erlebst du deine Versöhnung mit dem Leben, den Menschen, dem Zeitalter und Gott.

Aus himmelblauen Glassplittern, die das Paradies verkünden, in einem Blau, das nur der Selige, in die Ewigkeit Eingegangene, der Verklärte zu fühlen weiß, aus honiggelben und erdbraunen glühen kleine Gestalten purpurn hervor. Kleine Geister der wildsüßen, dumpfen, von Blut und Weihrauch dampfenden Jahrhunderte, schwebend in der überirdischen Transparenz des Himmelslichts, gefangen nur und festgehalten von bleiern starr umzirkeltem Gesetz. Viele tausend kleine Gestalten, kniende, emporgereckte Heilige, Märtyrer, brennende Sünder, Stadtväter, Bischöfe, Mönche, Soldaten. Schließlich ist es nur noch dieses Blau, diese eine Farbe, der Himmel! –

Bei der Table d'hôte im kleinen Gasthaus am Marktplatz sitzt neben mir ein alter freundlicher Bauer, Cultivateur aus der Dordogne. Er erzählt mir seine Geschichte, die an ihm herumzubohren scheint: wieso und auf Grund welcher Machenschaften er aus seinem Ehrenamt verdrängt worden ist; zehn Jahre lang war er Maire seines Dorfes, und jetzt ist's ein anderer! So, so. Ja, es ist überall dasselbe. »L'impudence des jeunes, Monsieur, le mérite, ça ne compte plus!« Ich frage ihn nach der neuen Politik seines Landes und was er von ihr hält; Poincaré erledigt, Herriot im Aufstieg. Der Alte schiebt ein Stück Roquefort mit dem Messer in den Mund, kaut und spricht: »Ah, eher Monsieur! le Cartel des Gauches, le Bloc National – c'est kifkif: le Boche ne payera pas!«

*

Rasch noch einmal, ehe der Zug pfeift, zurück zur Kathedrale. Der Engel mit der breiten Sonnenuhr im Arm ist wie aus gesponnenem Glas, rieselnd und immateriell; ein leiser Schatten, schräg über dem Stein, zeigt an, daß es schon Abend wird. Drin aber, auf dem himmelfarbenen Fenster, glühen noch die winzigen, inbrünstigen Purpurfiguren der Beter, kleine Kreaturen voll ungebrochener Instinkte, trotz Höllenstrafenfurcht, Fegfeuer, irdischer Heimsuchung und ewiger Pein, im Aufblick zur göttlichen Glorie, dem schwärmerischen Blau vor der sinkenden Sonne!

 

Utrillo und Montmatre

Bei Bernheim, dann in der Rue de la Boëtie bei Guilleaume: der Maler Utrillo.

*

Utrillo, vierzigjährig, arm, krank, im Hospital, delirium tremens, erledigt – nie habe ich vor den elenden, rissigen, mit nackten Feuermauern auf unbebaute, plankenumzäunte Schutthaufen starrenden Vorstadthäusern, diesen verfallenen, stinkenden, muffigen Mietsbaracken, so innig die Gewißheit gehabt: daß Menschen in ihnen wohnten. Nie so gerührt, mit ein wenig feuchtem Lächeln des Wiedererkennens die zarte, süße, von Sorgen zerquälte Physiognomie eines alten, verhutzelten Häusleins in einer krummen, bedrückten Vorstadtgasse, in der Arme wohnen, mit einer Kirche am Ende, in der es nach Abwasser riecht, entdeckt.

Utrillo, armer, verhungerter, mit schlechtem Fusel vollgepumpter Maler, krank und erledigt – wer hat je so süße Rosamauern, rosa wie arabische Zauberpaläste! schief, naiv, quadratisch genau auf eine Leinwand gepinselt wie dieser! Vielleicht noch der alte Pinsel Rousseau, der Douanier! Wie ein Kind, das den Scharlach hat, fiebernd im Bett einen Ausschneidebogen ungeschickt zusammenklebt, aufstellt und mit fliegenden Fingern streichelt, so malt er seine süßen, kahlen, armseligen, krummen, verträumten Montmartregassen. Er malt auch kleine Figuren hinein; zwischen seinen Häuschen mit den verliebten Farben Hellrosa, Grünlich und Zeisiggelb schieben sich immer wieder dieselben dunklen, grotesken menschlichen Kegel vorüber: dicke Vorstadtweiber, immer dieselben, von hinten gesehen, enorme, ausladende Brüste, enge Taille, enormer Podex – es ist bekannt: je hungriger der Maler, um so dicker seine Weiber –, aber die Erotik des armen Kranken, arm, krank und unvergänglich wie van Gogh, ist ganz in den zarten, liebenden, holden Farben, womit er seine Häuschen bestreicht, und in den naiven, graden Strichen, mit denen er Mauer, Dachfirst, Giebel und Kirchturm gegen die Atmosphäre abgrenzt, gegen die Luft, das Licht, das seine Bilder durch und durchzieht, belebend und beglückend.

Vielleicht müßte ich noch herschreiben, wieviel Herr Guilleaume für »einen Utrillo« verlangt. Ich würde es tun, wäre ich einer von jenen rührigen Kunstschreibern, die Maler loben, nachdem sie ihnen ihre Bilder abgeluchst haben. Nie, nie werde ich einen Utrillo besitzen! Aber es ist gar nicht nötig: sein süßes Rosa, Grün, Kanariengelb sitzt mir im Schädel fest, eine ganze Galerie von Utrillos, dauerhaft und unentwendbar.

*

Von Willette bis Utrillo – wie lieben sie ihn alle, diesen Berg, diesen seltsamen, lieblichen, naiven, verrotteten Haufen von Gäßchen, Kathedralen, Schuttlagern, Tanzmühlen, Klöstern und Bordellen. Seine Maler hat der Montmartre, aber seinen Sänger noch nicht gefunden. Kläglich ist es um das Volkslied dieser Stadt bestellt, in diesem Land, in dem ja doch nach dem Sprichwort »alles mit einem Lied enden« soll! Der populäre Rundgesang, die Ballade, die auf den Vorstadtsquares nach Fabrikschluß die Straßensänger dem Arbeiter, der Arbeiterin vorsingen, um etliche Sous gedruckt verkaufen – sie sind billige, schlechte, nachgeahmte Apachenromantik. Als gäbe es keine andere. Als hätte das Großstadtproletariat nicht das seine. Das Lied der Butte – Bruant, der alte, rotbehemdete Sanskülott, hat es der Welt vorgesungen, und damals war etwas vom zerrenden, sich ausspeienden Haß der Enterbten, des vierten Standes, der Verdreckten, Ausgesogenen, der Rächer, Messerstecher, Zuhälter und Einbrecher darin, der Gehetzten, denen die klappernden Stiefel der Flies schon auf den Fersen sind, oben um das weiße Sacré Cœur –, aber daraus ist eine schundige, auf Fremdenfang ausgehende Fassadenblutrünstigkeit geworden, falsch und schrill zum Erbrechen; nichts enthält sie von der Seele des heiligen Berges; die ist rosafarbig, kanarigelb, von innen glühend wie das arme ruinierte Hirn des liebenden Utrillo.

Frans Masereel wohnt oben auf der höchsten Spitze des Berges; unter seinem Fenster stürzt in festgefügten Kaskaden das Armeleuteviertel der nördlichen Vorstadt zu Tal.

Sonderbar ist diese Stadt! Sie wiegt sich in billigem Wohlbehagen, sie schwemmt sich mit leichtem Verdienst die Not der vergangenen Bedrängnis aus den Eingeweiden, sie läßt sich treiben in bescheidener Lebenslust, die gegen das Zentrum hin an Intensität, an Überhitztheit zunimmt, es quirlt nichts aus dem Urschlamm herauf, wie das etwa in Berlin der Fall ist, sie hört das Verhängnis nicht nahen, ein Fremder muß es ihr in die Ohren trompeten.

Mit Masereel, dem in seine Arbeit verbissenen, hageren, ernsten Flamen, Mönch und Handwerker des wilden Ujlenspiegel-Zeitalters, spreche ich oft über dieses unerklärliche Phänomen: sechs Jahre nach dem Krieg, sieben und sechs und vier und zwei nach den Revolutionen, die Europa erschüttert haben, gibt es wieder ausgebeutete, zynisch unterdrückte, verelendete, ihren Untergang, als wär's Schicksal, passiv erleidende Künstler, Dichter, Phantasiemenschen, junge Männer und Frauen, die ihr versiegendes Dasein resigniert dahinschleppen, und nebenan praßt der Parasit!

Daß ihre Revolte aus ihrem Winkel nicht emporschlägt! dem tödlichen Gas zuvorkommt, das diese Gesellschaftsordnung vernichten wird!

Daß ihre Revolte, im besten Fall, begrenzt bleibt im Ästhetischen! Daß ein Zustrom von schlagender Rebellion nicht die schwerfällige, versagende des übermüdeten Proletariats und seiner lahmen Führer vorwärtsstößt!

(Dafür: der allgemeine, internationale Klageruf des gelehrten Professors: mein Portier verdient mehr als ich! das Gekeif, das mit dem Schnabel Lospicken des Intellektuellen auf den Mitintellektuellen, statt gemeinsamen Losgehens gegen den Bedränger, den Ausbeuter, den Nutznießer geistiger und körperlicher Arbeit!)

 

Shopping oder was bringe ich mit nach Hause?

Eine Feststellung: die Lust an der Habe ist fort, weggefegt.

Freilich: das Heim ist beschmutzt, zerstört, gestohlen. Aber das ist es nicht allein. – Es ist keine Freude mehr an dem Auswählen, Mitnehmen, Vorgenuß des Aufsteilens, Einreihens des schönen Gegenstandes, an der Bereicherung. Die Axt, die an diese Kulturperiode gelegt ist, hat ihren ersten Hieb an das wohlumfriedete bürgerliche Behagen des Heims getan. Das übelriechende dunstige Weltgericht wird die Kontur der äußeren Existenzform der Familie, des Individuums zerblasen.

Hierdurch: verändertes Spazierengehen durch die Stadt. Aus den Schaufenstern blicken dir nicht die kostbaren Dinge, die sich dort zu deiner Lust anhäufen, entgegen – die Scheibe schlägt dir den Reflex der Gasmaske, des grünlichen Totenschädels ins Gesicht zurück.

Wie wirkt Lewisite auf Ledereinband, Halbleinen, Pappband? Auf Kaiserlich Japan, Bütten, holzfreies, holzhaltiges Papier?

Über seine Wirkung auf animalisches Gewebe, Fleisch, Muskeln, Knochen, bin ich hinlänglich unterrichtet.

 

Blick über Paris

Vor dem Chevalier de la Barre. – Die Kirche hat ihn getötet, darum setzte ihm Paris, darum setzten ihm die Freidenker Frankreichs sein Denkmal vor das Sacré Cœur. Da steht er nun, der junge Märtyrer am Pfahl, als Wahrzeichen dessen, daß das Gewissen lebt, daß es einen Fortschritt gibt, daß die Welt nicht verloren ist ...

Heute haben sie in der Grenelle-Vorstadt das Denkmal Zolas enthüllt. Pathos wälzte sich über das Standbild, die Erzfiguren Meuniers, als die Leinwand herunter war.

Staunend berichten die Zeitungen: an wie vielen Stellen heute in Paris, um Paris getanzt, gesungen, in historischen Kostümen aufmarschiert wird, Feste gefeiert werden.

Hier oben, wo ich stehe, ist es mir, als zische, züngle aus allen Straßen, Plätzen, Höfen von Paris Musik, Musik herauf. Endlos, von farbigen Floren umweht, von magischen Lichtern umflirrt, im zweideutigen Schein seiner magnetischen Atmosphäre sich badend, erstreckt sich dort unten Paris. Nach den bewaldeten Hügeln seiner Umgebung streckt es lange, graue, verschwimmende Fühler aus. In Wirklichkeit aber langt es über die ganze zivilisierte Welt, diesen Erdball, aus dessen verstecktesten, entlegensten Winkeln ihm heute Scharen zugelaufen sind, Hunderttausende, ja man spricht von Millionen – Lebensgieriger, Lustsüchtiger, die, unbewußt, gedrängt von dem Taumel der rasch zu Ende rollenden Epoche, ergriffen werden, mitgewirbelt sein wollen.

Träumend, wie betäubt, gehen zwei Schwarze in der menschenleeren Straße an mir vorüber, bleiben stehen, blicken auf die Stadt hinunter, strecken ihre melancholischen, sanften Köpfe dem Monstrum entgegen, das ihre Blicke an sich saugt, nicht mehr losläßt ...

*

Aus den Kashbas, den Wüstenstädten, aus den verschütteten Riesenstädten Asiens, des sagenhaften Chinas, des Götterlandes Tibet, aus den Nomadenhorden der Mongolei, dem Busch, den unerforschten Tiefen des australischen Kontinents, aus den Inseln des Archipels, den Dschungeln des Amazonas, dem Chaco, den Tafelbergen Feuerlands – herbei!!

Gestern noch flirrte die Stadt mit rieselnden Lichtreklamen, tobte das Barbarenbacchanal der zivilisierten Menschheit im Jazztakt wild durch die Straßen, die Squares, die Höfe; – heute liegt die Wolke, grünlich, schwer, und sinkt und dehnt sich aus über die Stadt, als wollte sie sie begatten. Sie sinkt, breitet sich aus, folgt den Lichtscheuen, den Maulwürfen, den Hamstern, den Dunkelmännern, den Goldschleppern, den gepuderten, geschminkten Puppen, den Lautsprechern und Rhetoren in die geheimsten, unterirdischen Gänge, Verästelungen, Schlupfwinkel der Katakomben nach, erreicht sie, schnürt ihnen die Gurgel zu, zerpflückt methodisch die animalischen Gewebe, Muskeln, Knochen ...

*

Hier oben aber ragt die weiße Kathedrale, das Heilige Herz hoch über den Schwaden der vernichteten Stadt, in gereinigter Atmosphäre, in unirdische Himmelsbläue empor.

Was von denen dort unten, der zivilisierten Menschheit, übriggeblieben vor den Gasen sich retten konnte, von den hereinbrechenden Horden nicht zerstampft worden ist, liegt auf dem Bauch, über den Fliesen der weißen Kirche, den Bergabhang hinunter bis zum Chevalier de la Barre. Winselnd, nach Luft schnappend, Gebete hervorgurgelnd, den eignen Schweiß schluckend, der über ihr erstarrtes Gesicht zum Munde hineinläuft, liegen sie da, die Überlebenden.

Mit brüllendem Gedröhne schwingt das mächtige Glockenpaar in den Türmen über dem Gewimmer im Kirchenschiff der Berglehne hin und her. Es tönt nicht zum Preis der immer noch unbegriffenen Gottheit. Dies irae reißt an den Strängen, zuckend und blasphemisch.

Ein Kerl, wild und mit blauen Augen aus dem bärtigen Gesicht, sitzt an der Orgel. Er hat ein Messer zwischen den Zähnen und sitzt gebückt da, hat alle Register gezogen. Mit ungeübter Hand, mit einem Finger haut er auf die Klaviatur los, buchstabiert sich nach dem Gehör eine Melodie, einen Volksgesang, eine Hymne mühselig auf den Tasten vor. Die Hymne hat er daheim erlernt, er hat sie wohl tausendmal stehend mitgesungen, um ihn standen Menschen, Freunde, Genossen, die sie in allen Sprachen der Welt zugleich mit ihm sangen – die Melodie aber war die gleiche, eine Melodie, in Frankreich erdacht, jetzt nach Frankreich, in ihre Heimat zurückgekehrt.

Die Orgel übertönt das Glockengetöse, so mächtig tritt der Bursche mit seinen Baststiefeln auf den Bälgen herum. Alle Tore sind aufgerissen. Die Töne, einzeln, schlagen in immer breiteren Strömen wie Signale in die Welt ein. Über dem Tod, der mit seinem giftigen Hauch die Epoche vernichtet hat, sind, hier oben, die Verdammten dieser Erde endlich aufgewacht.

 

Battlefield Tours

An zwölf Straßenecken der Stadt drücken Anreißer den Passanten Zettel in die Hand:

The Somme Battles ... (ein Tag) ... ... 325 Francs
The Marne Battles ... (zwei Tage) ... ... 230 Francs
Château Thierry ... (ein Tag) ... ... 240 Francs
The Champagne, Argonne and Verdun Forts ... (zwei Tage) ... ... 475 Francs

Am sichersten fährst du mit Cook. Er ist sozusagen der Generalpächter der Schlachtfelder des großen Krieges. Konkurrenten mögen wohlfeilere Tarife haben, bei Cook bist du gut aufgehoben, alles funktioniert vorzüglich, auch befindest du dich in bester Gesellschaft.

Va pour Rheims!!

Am Bahnhof der tragischen Stadt, des vielbesuchten Fremdenortes, nimmt Cook dich in Empfang. Du hast einen Eckplatz in dem Riesenauto belegt und bist der einzige Nichtamerikaner unter den dreißig Mitfahrenden.

Bei der Kathedrale beginnt die Tour; hier tritt das Megaphon in Aktion:

»Auf diesem Fleck – Sie sehen dort die Ecke, Ladies and Gentlemen –, sind die zurückgelassenen deutschen Schwerverwundeten verkohlt aufgefunden worden, nachdem das Dach, durch einen Volltreffer in Flammen gesetzt, brennend und mit geschmolzenem Blei auf das Strohlager herunterstürzte.«

Kurze Besichtigung des Winkels.

Megaphon: » Rockefeller« – stürmisch drängen die Hörer sich näher um den Erklärer –, »heute, gerade heute stand es in den Zeitungen zu lesen: der große John D. stiftet der französischen Regierung eine Million Dollar zur Wiederherstellung der zerstörten Kunstschätze Frankreichs. Das Dach, Ladies and Gentlemen« – dreißig Köpfe drehen sich nach oben – »Rockefeller schenkt der Kathedrale ihr neues Dach. Wir fahren jetzt zum Lunch.«

*

Die amerikanische Fußballmannschaft, gestern durch Uruguay besiegt, stimmt zwischen Hors-d'œuvre und Suppe: »Tipperary« an, zwischen Braten und Cremespeise, offenbar mit Beziehung auf die gestrige Niederlage, einen Chorgesang mit dem Refrain:

*

» Smile! Smile! Smile!«

*

Im wohligen Zustand der Verdauung läßt man sich vom mächtigen Auto durch die grauenhaft zerstörte Stadt fahren. Durch den Halbschlummer tönt die Botschaft des Megaphons: von den 14 000 Häusern der Stadt sind nur 17 heil geblieben. Allmählich wachwerdend bemerkst du, daß Fabriken bereits allerorten wieder hergestellt sind, Häuser aber, bis auf einige Hotels, Restaurants, Waren und Andenken feilhaltende, nur in ganz geringer Zahl; daß außerdem das Theater in Trümmern daliegt, dafür aber Varietes in großer Menge bestehen – wie das bei zerschossenen Wäldern vorzukommen pflegt: die Stämme sind tot, das Unkraut wuchert wild.

*

»Hier«, so verkündet vom Chauffeurplatz der Erklärer: »hier sehen Sie, Ladies and Gentlemen, die weltberühmten Champagnerkellereien von Mumm – auf dem Rückweg unsere letzte Station.« (Die trockenen Amerikaner zwinkern sich zu.) »In diesen Kellereien, die sich 18 Kilometer lang unter der Erde erstrecken, lebten Tausende von Rheimser Bürgern, Männer, Frauen, Greise und Kinder, vier Jahre lang. Hier wurden Menschen geboren, hier starben Menschen. Kirche, Lazarett, Schulen, Wohnräume waren in diesen Kellern eingerichtet, die heute Eigentum der Société Vinicole bilden, da Mumm Boche war. Jetzt aber machen wir uns auf den Weg nach Berry au Bac, zur Höhe 108. Es ist eine schnurgerade Straße. Sie werden sehen.«

*

Berry au Bac. Vor einem kleinen Wirtshaus am Fuße der Höhe 108 machen wir halt. Die Höhe, um die die Aisne und der Aisne-Kanal herumfließen, ist ein Kreidekrater, unter dem, immer wieder verschüttet, immer wieder zum Himmel hinaufgeschleudert, seit 1918 in Frieden ausruhend, ungezählte Menschenskelette aller Nationen liegen.

Ich gehe allein den steilen Hügel hinauf, den weißen, hohen Rand des Kraters entlang. Zum erstenmal sehe ich aus den Augen meiner Fahrtgenossen Blitze zu mir herüberschießen. Ich gehe allein. Schuldig!!

Ein Stückchen Erde hebe ich vom Boden auf, für meine Steinesammlung daheim. Es zerbröckelt fast zwischen den Fingern. Im Anfassen fühlt es sich an wie jenes andere Stückchen, das ich vor dritthalb Jahren in Jerusalem vor der Damaskuspforte aufhob, jedoch war jenes Stückchen vom Hügel Golgatha gelblicher. (Ob jener Hügel in der Tat Golgatha war, ist strittig. Die Höhe 108 aber ist authentisch.)

Auch Blumen wachsen im Geröll! Amerikanerinnen legen welche in ihr Reisebuch. Es sind von der Sonne gedörrte Pflänzchen, sie haben im kreidigen Boden Wurzeln gefaßt!

Unten im Estaminet kauft die Reisegesellschaft Postkarten ein, trinkt Limonade, Landwein. Auf einem primitiven Holzgestell ausgestreckt liegt der alte Wirt, mit khakifarbenem Militärrock angetan, den ein paar regenbogenfarbige Streifen sprenkeln. Seine Tochter (oder was sie sonst sein mag!) schenkt aus, verkauft, nimmt Geld ein. Der Adlerblick des Alten folgt jeder Bewegung des Mädchens. Wenn ein größerer Schein zu wechseln ist, zehn oder auch nur fünf Francs, dann steht der Alte ächzend und schnaufend auf, humpelt an den Schanktisch heran, schließt ein Fach auf, zu dem er den Schlüssel in der Tasche verwahrt hat, gibt Kleingeld heraus, versperrt den Schein und begibt sich ächzend und stöhnend zu seiner Liegestatt zurück.

Auf dem Weg zum Chemin des Dames wende ich mich noch einmal nach dem weißen Trichter dort hinten um. Die Mitfahrenden im Wagen haben sich rasch gefaßt. Wie gut, daß mein Platz ein Eckplatz ist, so habe ich nur einen Nachbarn. Sie fühlen sich nicht schuldig, diese neunundzwanzig. Warum ich? Weil sie mich so anblickten? Scham, Feindseligkeit, Haß – hinunter in den Trichter, in die Tiefe, zu den Leichen! –

*

An beiden Seiten des aufsteigenden Weges braunrote Vegetation; Stacheldrahtgras in wirren Büscheln über den Straßengraben. Wir fahren langsamer: ein Friedhof breitet sich vor uns aus, riesenhaft, unabsehbar. Kreuze, Kreuze, weiße und schwarze. Vor dem Eingang hält ein Militärauto, dem ein paar elegante Offiziere entsteigen; Franzosen, Amerikaner, ein Engländer.

Auch wir halten einen Augenblick, und ich lese die Namen von den Kreuzen der ersten Reihe ab: Caillet. Walsh. Dann: Frantz. Kieselwetter. Die deutschen Kreuze sind schwarz. Die der Alliierten weiß.

Im Weiterfahren, an einer Wegkreuzung, steht ein Denkmal für die Pioniere der neuen noch wenig erprobten Waffe, des Tanks. Sie fielen, denn die Waffe war noch nicht in dem Maße perfektioniert, wie sie das später geworden ist. Es ist eine sehr lange Liste von Namen auf einer Bronzeplatte.

Und hier sind wir bei der Hindenburglinie angelangt. Ausgestiegen!

Megaphon-Erklärung: Von der Schweiz bis Flandern reichte sie – dann aber kamen die Tanks, schon vervollkommnet und der Sieg!

Wir steigen tief ins Erdinnere hinunter. Haben das Menschen gebaut? Oder Urwesen? Etwa Zeitgenossen des Cro-Magnon-Menschen, des Aurignac-Menschen? Zyklopische Mauern aus Beton stützen die niedere Hügeldecke. Tiefe Schächte tun sich auf, Gänge, weit in den Hügel gebohrt. Ein in Achsen sich drehendes, ungeheures, ungeschlachtes Betontor verschließt, plump, aber minutiös und luftdicht, den Eingang, wie die Stahlkammer einer Bank.

»Hier, Ladies and Gentlemen, hat man sie gefaßt!« flüstert der Mann, der sein Megaphon im Wagen gelassen hat. »Bajonett und Handgranaten. Keiner kam lebend heraus!« Ich sehe mich, allein gehend, im niederen Zyklopenverlies um. Auf einen der Betonquerbalken hat ein Besucher mit Kreide geschrieben:

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Akron, Ohio, is the prettiest city of U.S.A.

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Hut ab, Hut ab, ihr Menschen, vor der Allbezwingerin, der obersten Göttin, der die Welt Untertan ist, der ewigen, unbesieglichen menschlichen Dummheit!

Berry, Craonne, dann ein winziger, namenloser Fleck inmitten der entlegenen waldigen Wildnis am Damenweg. Es sind spärliche, bis auf den letzten Stein zusammengeschossene Hütten in einer zerstörten Gegend, und sie werden neu aufgebaut. Nur ein paar Häuschen, Ställe, Schuppen, Hütten sind's gewesen: Craonne, dann dieser Flecken am Chemin – aber hier war Heimat, und sie wird deshalb neu aufgerichtet. Dieser kleine, namenlose Flecken mitten in der hügeligen Wildnis, im tiefsten Frieden war er sicherlich eine harte Heimat, armselig und beschwerlichen Lebens voll. Und er wird zu neuem, sicherlich ungleich härterem, weit beschwerlicherem Leben aufgebaut, weil er Heimat war!

Der Nationalismus aber ...

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Am Abend landet das Automobil bei der letzten Etappe, dem Mumm-Keller, den unterirdischen 18 Kilometern, die jetzt wieder ihrer ursprünglichen Bestimmung wiedergegeben sind.

»Auf den Korken, Ladies and Gentlemen, können sie noch den eingebrannten Namen Mumm lesen; die Kapseln aber tragen bereits die Firma Société Vinicole aufgeprägt.«

»Dry, Extra Dry ou Goût Américain?« fragt der junge, smarte Manager, der uns geführt hat, die Gesellschaft.

» Goût américain, of course!« antworten die Amerikaner im Chor. Dann bringen die Küfer Flaschen und Gläser herbei. »Wie ist das«, erkundige ich mich beim Manager, »hat der Konsum nicht sehr nachgelassen, seit die Staaten trockengelegt sind?« – »Ach nein«, antwortet er mir. »Im Gegenteil. Die Bootleggers sind ja weitaus rühriger, als unser bester Agent es war. Auf die Gesellschaftsschicht, die Champagner trinkt, hat ja das Gesetz keine Anwendung.«

Bald ist der Staub der Straße, die Kreide der Höhe 108, durch die Kehlen abwärts in den Krater der Erinnerung gespült. Munter und mit vielen angeregten Reden, heiter und leicht angeheitert, wird die Cook-Gesellschaft zum Bahnhof zurückbefördert.

Ich habe mein Billett dritter Klasse nach Paris in der Tasche!

Adieu, Mitmenschen, hol euch der Teufel.


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