Arthur Holitscher
Der Narrenbaedeker
Arthur Holitscher

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Shopping oder Was bringe ich mit nach Hause?

Eine Feststellung: die Lust an der Habe ist fort, weggefegt.

Freilich: das Heim ist beschmutzt, zerstört, gestohlen. Aber das ist es nicht allein. – Es ist keine Freude mehr an dem Auswählen, Mitnehmen, Vorgenuß des Aufstellens, Einreihens des schönen Gegenstandes, an der Bereicherung. Die Axt, die an diese Kulturperiode gelegt ist, hat ihren ersten Hieb an das wohlumfriedete bürgerliche Behagen des Heims getan. Das übelriechende dunstige Weltgericht wird die Kontur der äußeren Existenzform der Familie, des Individuums zerblasen.

Hierdurch: verändertes Spazierengehen durch die Stadt. Aus den Schaufenstern blicken dir nicht die kostbaren Dinge, die sich dort zu deiner Lust anhäufen, entgegen – die Scheibe schlägt dir den Reflex der Gasmaske, des grünlichen Totenschädels ins Gesicht zurück.

Wie wirkt Lewisite auf Ledereinband, Halbleinen, Pappband? Auf Kaiserlich 64 Japan, Bütten, holzfreies, holzhaltiges Papier?

Über seine Wirkung auf animalisches Gewebe, Fleisch, Muskeln, Knochen, bin ich hinlänglich unterrichtet.

 

Blick über Paris

Vor dem Chevalier de la Barre. – Die Kirche hat ihn getötet, darum setzte ihm Paris, darum setzten ihm die Freidenker Frankreichs sein Denkmal vor das Sacré Coeur. Da steht er nun, der junge Märtyrer am Pfahl, als Wahrzeichen dessen, daß das Gewissen lebt, daß es einen Fortschritt gibt, daß die Welt nicht verloren ist . . .

Heute haben sie in der Grenelle-Vorstadt das Denkmal Zolas enthüllt. Pathos wälzte sich über das Standbild, die Erzfiguren Meuniers, als die Leinwand herunter war.

Staunend berichten die Zeitungen: an wie vielen Stellen heute in Paris, um Paris getanzt, gesungen, in historischen Kostümen aufmarschiert wird, Feste gefeiert werden.

65 Hier oben, wo ich stehe, ist es mir, als zische, züngle aus allen Straßen, Plätzen, Höfen von Paris Musik, Musik herauf. Endlos, von farbigen Flören umweht, von magischen Lichtern umflirrt, im zweideutigen Schein seiner magnetischen Atmosphäre sich badend, erstreckt sich dort unten Paris. Nach 66 den bewaldeten Hügeln seiner Umgebung streckt es lange, graue, verschwimmende Fühler aus. In Wirklichkeit aber langt es über die ganze zivilisierte Welt, diesen Erdball, aus dessen verstecktesten, entlegensten Winkeln ihm heute Scharen zugelaufen sind, Hunderttausende, ja man spricht von Millionen – Lebensgieriger, Lustsüchtiger, die, unbewußt, gedrängt von dem Taumel der rasch zu Ende rollenden Epoche, ergriffen werden, mitgewirbelt sein wollen.

Träumend, wie betäubt, gehen zwei Schwarze in der menschenleeren Straße an mir vorüber, bleiben stehen, blicken auf die Stadt hinunter, strecken ihre melancholischen, sanften Köpfe dem Monstrum entgegen, das ihre Blicke an sich saugt, nicht mehr losläßt. . . .

 

Aus den Kashbas, den Wüstenstädten, aus den verschütteten Riesenstädten Asiens, des sagenhaften Chinas, des Götterlandes Tibet, aus den Nomadenhorden der Mongolei, dem Busch, den 67 unerforschten Tiefen des australischen Kontinents, aus den Inseln des Archipels, den Dschungeln des Amazonas, dem Chaco, den Tafelbergen Feuerlands – herbei!!

Gestern noch flirrte die Stadt mit rieselnden Lichtreklamen, tobte das Barbarenbacchanal der zivilisierten Menschheit im Jazztakt wild durch die Straßen, die Squares, die Höfe; – heute liegt die Wolke, grünlich, schwer, und sinkt und dehnt breit sich aus über die Stadt, als wollte sie sie begatten. Sie sinkt, breitet sich aus, folgt den Lichtscheuen, den Maulwürfen, den Hamstern, den Dunkelmännern, den Goldschleppern, den gepuderten, geschminkten Puppen, den Lautsprechern und Rhetoren in die geheimsten, unterirdischen Gänge, Verästelungen, Schlupfwinkel der Katakomben nach, erreicht sie, schnürt ihnen die Gurgel zu, zerpflückt methodisch die animalischen Gewebe, Muskeln, Knochen . . .

 

Hier oben aber ragt die weiße 68 Kathedrale, das Heilige Herz hoch über den Schwaden der vernichteten Stadt, in gereinigter Atmosphäre, in unirdische Himmelsbläue empor.

Was von denen dort unten, der zivilisierten Menschheit, übriggeblieben vor den Gasen sich retten konnte, von den hereinbrechenden Horden nicht zerstampft worden ist, liegt auf dem Bauch, über den Fliesen der weißen Kirche, den Bergabhang hinunter bis zum Chevalier de la Barre. Winselnd, nach Luft schnappend, Gebete hervorgurgelnd, den eignen Schweiß schluckend, der über ihr erstarrtes Gesicht zum Munde hineinläuft, liegen sie da, die Überlebenden.

Mit brüllendem Gedröhne schwingt das mächtige Glockenpaar in den Türmen über dem Gewimmer im Kirchenschiff der Berglehne hin und her. Es tönt nicht zum Preis der immer noch unbegriffenen Gottheit. Dies irae reißt an den Strängen, zuckend und blasphemisch.

Ein Kerl, wild und mit blauen Augen 69 aus dem bärtigen Gesicht, sitzt an der Orgel. Er hat ein Messer zwischen den Zähnen und sitzt gebückt da, hat alle Register gezogen. Mit ungeübter Hand, mit einem Finger haut er auf die Klaviatur los, buchstabiert sich nach dem Gehör eine Melodie, einen Volksgesang, eine Hymne mühselig auf den Tasten vor. Die Hymne hat er daheim erlernt, er hat sie wohl tausendmal stehend mitgesungen, um ihn standen Menschen, Freunde, Genossen, die sie in allen Sprachen der Welt zugleich mit ihm sangen – die Melodie aber war die gleiche, eine Melodie, in Frankreich erdacht, jetzt nach Frankreich, in ihre Heimat zurückgekehrt.

Die Orgel übertönt das Glockengetöse, so mächtig tritt der Bursche mit seinen Baststiefeln auf den Bälgen herum. Alle Tore sind aufgerissen, Die Töne, einzeln, unregelmäßig übereinander kollernd, schlagen in immer breiteren Strömen wie Signale in die Welt ein. Über dem Tod, der mit seinem giftigen Hauch die Epoche vernichtet hat, sind, hier 70 oben, die Verdammten dieser Erde endlich aufgewacht.

 

Battlefields Tours

An zwölf Straßenecken der Stadt drücken Anreißer den Passanten Zettel in die Hand:

The Somme Battles (ein Tag) 230 Francs
The Marne Battles (zwei Tage) 325 Francs
Château Thierry (ein Tag) 240 Francs
Rheims and the Hindenburg Line (ein Tag) 175 Francs
The Champagne, Argonne and Verdun Forts (zwei Tage) 475 Frs.

Am sichersten fährst du mit Cook. Er ist sozusagen der Generalpächter der Schlachtfelder des großen Krieges. Konkurrenten mögen wohlfeilere Tarife haben, bei Cook bist du gut aufgehoben, alles funktioniert vorzüglich, auch befindest du dich in bester Gesellschaft. Va pour Rheims!!

71 Am Bahnhof der tragischen Stadt, des vielbesuchten Fremdenortes, nimmt Cook dich in Empfang. Du hast einen Eckplatz in dem Riesenauto belegt und bist der einzige Nichtamerikaner unter den dreißig Mitfahrenden.

Bei der Kathedrale beginnt die Tour; hier tritt das Megaphon in Aktion:

72 »Auf diesem Fleck – Sie sehen dort die Ecke, Ladies and Gentlemen –, sind die zurückgelassenen deutschen Schwerverwundeten verkohlt aufgefunden worden, nachdem das Dach, durch einen Volltreffer in Flammen gesetzt, brennend und mit geschmolzenem Blei auf das Strohlager herunterstürzte.«

Kurze Besichtigung des Winkels.

Megaphon: »Rockefeller« – stürmisch drängen die Hörer sich näher um den Erklärer –, »heute, gerade heute stand es in den Zeitungen zu lesen: der große John D. stiftet der französischen Regierung eine Million Dollar zur Wiederherstellung der zerstörten Kunstschätze Frankreichs. Das Dach, Ladies and Gentlemen« – dreißig Köpfe drehen sich nach oben – »Rockefeller schenkt der Kathedrale ihr neues Dach. Wir fahren jetzt zum Lunch.«

 

Die amerikanische Fußballmannschaft, gestern durch Uruguay besiegt, stimmt zwischen Hors-d'oeuvre und Suppe: »Tipperary« an, zwischen Braten und 73 Cremespeise, offenbar mit Beziehung auf die gestrige Niederlage, einen Chorgesang mit dem Refrain:

»Smile! Smile! Smile!«

Im wohligen Zustand der Verdauung läßt man sich vom mächtigen Auto durch die grauenhaft zerstörte Stadt fahren. Durch den Halbschlummer tönt die Botschaft des Megaphons: von den 14000 Häusern der Stadt sind nur 17 heil geblieben. Allmählich wachwerdend bemerkst du, daß Fabriken bereits allerorten wieder hergestellt sind, Häuser aber, bis auf einige Hotels, Restaurants, Waren und Andenken feilhaltende, nur in ganz geringer Zahl; daß außerdem das Theater in Trümmern daliegt, dafür aber Varietés in großer Menge bestehen – wie das bei zerschossenen Wäldern vorzukommen pflegt: die Stämme sind tot, das Unkraut wuchert wild.

»Hier«, so verkündet vom Chauffeurplatz der Erklärer: »hier sehen Sie, Ladies and Gentlemen, die weltberühmten 74 Champagnerkellereien von Mumm – auf dem Rückweg unsere letzte Station.« (Die trockenen Amerikaner zwinkern sich zu.) »In diesen Kellereien, die sich 18 Kilometer lang unter der Erde erstrecken, lebten Tausende von Rheimser Bürgern, Männer, Frauen, Greise und Kinder, vier Jahre lang. Hier wurden Menschen geboren, hier starben Menschen. Kirche, Lazarett, Schulen, Wohnräume waren in diesen Kellern eingerichtet, die heute Eigentum der Société Vinicole bilden, da Mumm Boche war. Jetzt aber machen wir uns auf den Weg nach Berry au Bac, zur Höhe 108. Es ist eine schnurgerade Straße. Sie werden sehen.«

 

Berry au Bac. Vor einem kleinen Wirtshaus am Fuße der Höhe 108 machen wir Halt.

Die Höhe, um die die Aisne und der Aisne-Kanal herumfließen, ist ein Kreidekrater, unter dem, immer wieder verschüttet, immer wieder zum Himmel hinaufgeschleudert, seit 1918 in 75 Frieden ausruhend, ungezählte Menschenskelette aller Nationen liegen.

Ich gehe allein den steilen Hügel hinauf, den weißen, hohen Rand des Kraters entlang. Zum erstenmal sehe ich aus den Augen meiner Fahrtgenossen Blitze zu mir herüberschießen. Ich gehe allein. Schuldig!!

Ein Stückchen Erde hebe ich vom Boden auf, für meine Steinesammlung daheim. Es zerbröckelt fast zwischen den Fingern. Im Anfassen fühlt es sich an wie jenes andere Stückchen, das ich vor dritthalb Jahren in Jerusalem vor der Damaskuspforte aufhob, jedoch war jenes Stückchen vom Hügel Golgatha gelblicher. (Ob jener Hügel in der Tat Golgatha war, ist strittig. Die Höhe 108 aber ist authentisch.)

Auch Blumen wachsen im Geröll! Amerikanerinnen legen welche in ihr Reisebuch. Es sind von der Sonne gedörrte Pflänzchen, sie haben im kreidigen Boden Wurzeln gefaßt!

Unten im Estaminet kauft die Reisegesellschaft Postkarten ein, trinkt 76 Limonade, Landwein. Auf einem primitiven Holzgestell ausgestreckt liegt der alte Wirt, mit khakifarbenem Militärrock angetan, den ein paar regenbogenfarbige Streifen sprenkeln. Seine Tochter (oder was sie sonst sein mag!) schenkt aus, verkauft, nimmt Geld ein. Der Adlerblick des Alten folgt jeder Bewegung des Mädchens. Wenn ein größerer Schein zu wechseln ist, zehn oder auch nur fünf Francs, dann steht der Alte ächzend und schnaufend auf, humpelt an den Schanktisch heran, schließt ein Fach auf, zu dem er den Schlüssel in der Tasche verwahrt hat, gibt Kleingeld heraus, versperrt den Schein und begibt sich ächzend und stöhnend zu seiner Liegestatt zurück.

Auf dem Weg zum Chemin des Dames wende ich mich noch einmal nach dem weißen Trichter dort hinten um. Die Mitfahrenden im Wagen haben sich rasch gefaßt. Wie gut, daß mein Platz ein Eckplatz ist, so habe ich nur einen Nachbarn. Sie fühlen sich nicht schuldig, diese neunundzwanzig. Warum 77 ich? Weil sie mich so anblickten? Scham, Feindseligkeit, Haß – hinunter in den Trichter, in die Tiefe, zu den Leichen! –

 

An beiden Seiten des aufsteigenden Weges braunrote Vegetation; Stacheldrahtgras in wirren Büscheln über den Straßengraben. Wir fahren langsamer: ein Friedhof breitet sich vor uns aus, riesenhaft, unabsehbar. Kreuze, Kreuze, weiße und schwarze. Vor dem Eingang hält ein Militärauto, dem ein paar elegante Offiziere entsteigen; Franzosen, Amerikaner, ein Engländer.

Auch wir halten einen Augenblick, und ich lese die Namen von den Kreuzen der ersten Reihe ab: Caillet. Walsh. Dann: Frantz. Kieselwetter. Die deutschen Kreuze sind schwarz. Die der Alliierten weiß.

Im Weiterfahren, an einer Wegkreuzung, steht ein Denkmal für die Pioniere der neuen noch wenig erprobten Waffe, des Tanks. Sie fielen, denn die Waffe war noch nicht in dem Maße 78 perfektioniert, wie sie das später geworden ist. Es ist eine sehr lange Liste von Namen auf einer Bronzeplatte.

 

Und hier sind wir bei der Hindenburglinie angelangt. Ausgestiegen!

Megaphon-Erklärung: Von der Schweiz bis Flandern reichte sie – dann aber kamen die Tanks, schon vervollkommnet und der Sieg!

Wir steigen tief ins Erdinnere hinunter. Haben das Menschen gebaut? Oder Urwesen? Etwa Zeitgenossen des Cro-Magnon-Menschen, des Aurignac-Menschen? Zyklopische Mauern aus Beton stützen die niedere Hügeldecke. Tiefe Schächte tun sich auf, Gänge, weit in den Hügel gebohrt. Ein in Achsen sich drehendes, ungeheures, ungeschlachtes Betontor verschließt, plump, aber minutiös und luftdicht, den Eingang, wie die Stahlkammer einer Bank.

»Hier, Ladies and Gentlemen, hat man sie gefaßt!« flüstert der Mann, der sein Megaphon im Wagen gelassen hat. 79 »Bajonett und Handgranaten. Keiner kam lebend heraus!« Ich sehe mich, allein gehend, im niederen Zyklopenverlies um. Auf einen der Betonquerbalken hat ein Besucher mit Kreide geschrieben:

Akron, Ohio, is the
prettiest city of U.S.A.

Hut ab, Hut ab, ihr Menschen, vor der Allbezwingerin, der obersten Göttin, der die Welt untertan ist, der ewigen, unbesieglichen menschlichen Dummheit!

 

Berry, Craonne, dann ein winziger, namenloser Fleck inmitten der entlegenen waldigen Wildnis am Damenweg. Es sind spärliche, bis auf den letzten Stein zusammengeschossene Hütten in einer zerstörten Gegend, und sie werden neu aufgebaut. Nur ein paar Häuschen, Ställe, Schuppen, Hütten sind's gewesen: Craonne, dann dieser Flecken am Chemin – aber hier war Heimat, und sie wird deshalb neu aufgerichtet. Dieser kleine, namenlose Flecken mitten in der hügeligen Wildnis, 80 im tiefsten Frieden war er sicherlich eine harte Heimat, armselig und beschwerlichen Lebens voll. Und er wird zu neuem, sicherlich ungleich härterem, weit beschwerlicherem Leben aufgebaut, weil er Heimat war! Der Nationalismus aber . . .

 

Am Abend landet das Automobil bei der letzten Etappe, dem Mumm-Keller, den unterirdischen 18 Kilometern, die jetzt wieder ihrer ursprünglichen Bestimmung wiedergegeben sind.

»Auf den Korken, Ladies and Gentlemen, können sie noch den eingebrannten Namen Mumm lesen; die Kapseln aber tragen bereits die Firma Société Vinicole aufgeprägt.«

»Dry, Extra Dry ou Goût Americain?« fragt der junge, smarte Manager, der uns geführt hat, die Gesellschaft.

»Goût americain, of course!« antworten die Amerikaner im Chor. Dann bringen die Küfer Flaschen und Gläser herbei. »Wie ist das«, erkundige ich mich beim Manager, »hat der Konsum 81 nicht sehr nachgelassen, seit die Staaten trockengelegt sind?« – »Ach nein«, antwortet er mir. »Im Gegenteil. Die Bootleggers sind ja weitaus rühriger als unser bester Agent es war. Auf die Gesellschaftsschicht, die Champagner trinkt, hat ja das Gesetz keine Anwendung.«

Bald ist der Staub der Straße, die Kreide der Höhe 108, durch die Kehlen abwärts in den Krater der Erinnerung gespült. Munter und mit vielen angeregten Reden, heiter und leicht angeheitert, wird die Cook-Gesellschaft zum Bahnhof zurückbefördert.

Ich habe mein Billett dritter Klasse nach Paris in der Tasche!

Adieu, Mitmenschen, hol euch der Teufel.

 


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