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Die Vertagungsfrist war um, die Verhandlungen nahmen mit der Vernehmung der Zeugen ihren Fortgang. Vorsitzender des Gerichtshofes war der ehrwürdige Sir Archie Millbanks, ein wegen seines Gerechtigkeitssinnes und seiner Menschenfreundlichkeit in den Vereinigten Königreichen 345 geliebter und geschätzter Richter. Der Staatsanwalt Hargrave hatte mit Mr. Parker de Vries bei der Vernehmung von Signor Pantellari einen Zusammenstoß zu bestehen gehabt.
Signor Pantellari, der alte Zauberkünstler, ein schwarzgefärbter Greis in Lackschuhen und mit Brillantringen an den Fingern, gefiel sich in einer ganz unzulänglichen Art seiner Aussagen. Wie man gleich bemerkte, kam es ihm weniger auf die Wahrheit an, als darauf, das seit seinem Abgang von der Bühne erloschene Interesse für seine Person durch den Prozeß wieder zu erwecken. Als ein Sklave seiner Eitelkeit verstrickte er sich in die Erklärungen über seine Beziehungen zu Belle Garrat, geriet immer tiefer in Widersprüche und wußte kaum mehr aus noch ein, als der Staatsanwalt, in der Absicht, Garrat als stillschweigenden Mitwisser des Ehebruches zu belasten, Mr. Parker aber, der im Gegenteil die ganze Schuld Belles Verworfenheit zuzuschreiben sich bemühte, jeden seiner Aussprüche zum Ausgangspunkt eines Zweikampfes benutzten, der mit amüsanten Einzelheiten das trübe Geplänkel des Beweisverfahrens unterbrach.
Schon waren die Damen aus Garrats Bureau, Miß March und Miß Milligan, sowie Agenten jener Neuyorker und Chikagoer Händler vernommen worden und hatten ihre für die Kenntnis der Charaktereigenschaften Garrats nicht sehr belangreichen Aussagen getan. Es war bekannt, daß sich Garrat trotz seines unredlichen Geschäftsgebarens in stetigen finanziellen Nöten befand. Das hatte er ja selber zugegeben. Aber die beiden Bureaudamen waren doch genau am Ersten und Fünfzehnten jeden Monats entlohnt worden, und die Lieferanten Garrats waren selber hinlänglich übel beleumundet, so daß die Schuld Garrats durch diese Verbindung eher gemildert als erhöht erscheinen konnte.
Das Dienstmädchen Frances Powells machte Angaben über Belles Persönlichkeit, aus denen der Charakter der 346 Ermordeten deutlich hervortrat. Die Intimität Belles und des Mädchens, denn beide pflegten sich ihre Abenteuer zu erzählen, empörte den Gerichtshof, die Geschworenen, deren Obmann, der Fabrikbesitzer Wills, ein bekanntes Mitglied der Quäkergemeinde war, sowie die öffentliche Meinung überhaupt aufs tiefste.
Aus dem Haufen kleiner Notizbücher, der in der Villa im Morton-Crescent aufgefunden worden war, wie auch aus den Aussagen des Dienstmädchens ergab sich die Tatsache, daß Garrat sich seit ungefähr einem Jahre mit Fluchtplänen und Selbstmordabsichten getragen hatte. Dr. O'Gorman wußte in ähnlichem Sinne Zeugnis für Garrat abzulegen. Er erzählte sein Gespräch mit Garrat, das nach dem schauerlichen Selbstmord des Kollegen aus dem Ärzteklub stattgefunden hatte und in dem Garrat eingehend auf das Problem des freiwilligen Todes eingegangen war. Der Zeuge fügte hinzu, er habe damals den Eindruck nicht loswerden können, daß jemand, der in solcher Weise vom Selbstmord sprach, sich selbst aus irgendeinem tiefen und schwer eingestehlichen Grunde mit der Absicht tragen müsse, seinem Leben ein Ziel zu setzen.
Der Gerichtsarzt hatte, von Dr. Wilfried Mason, dem Gerichtschemiker, unterstützt, eine ausführliche Darstellung des Leichenbefundes gegeben. Diese Darstellung nahm einen vollen Gerichtstag in Anspruch und führte zum Ergebnis, das ja schon seit Auffindung der Leiche feststand: daß der Tod durch subkutane Injektion von Gift erfolgt sei, nachdem das Opfer durch einen in Chloroform getauchten Wattebausch betäubt worden war.
Die volle Aufmerksamkeit wandte sich nunmehr Dr. Waterton zu, der mit seiner kränklichen, zarten Frau vor den Schranken erschien. Er gab ohne weiteres zu, daß er bis in die letzte Zeit heimliche Zusammenkünfte mit der Ermordeten gehabt habe. Frau Waterton hörte diese 347 Ausführungen mit gesenktem Kopf und tränenüberströmten Wangen an. Das Alibi Watertons war vollkommen geglückt. In jenem leerstehenden Hause hatte er mit Belle überhaupt keine Zusammenkunft gehabt, sondern hatte sie an einem dritten Ort getroffen. In den Tagen, die der Gerichtsarzt und der Chemiker als die vermutlichen Tage der Tat bezeichneten, war er mit Frau und Kindern bei seinen Schwiegereltern in Cornwall gewesen, und der Bürgermeister des kleinen St. Just, in dem die Villa der Schwiegereltern stand, sagte aus, daß er zwei Wochen lang Abend für Abend mit dem Ehepaar beisammen gewesen sei. Der Täter mußte also ein Unbekannter sein, der in Watertons Abwesenheit Belle in dem leerstehenden Haus treffen mochte.
Die Persönlichkeit dieses Unbekannten hatte die Untersuchung nicht an den Tag gebracht. Es war für sie auch kein Anhaltspunkt in den Aussagen der Zeugen zu finden. Waterton wußte nichts von einem solchen Dritten. Er wußte indes, daß Belle, seit sie Garrats Frau geworden und Signor Pantellari den Abschied gegeben hatte, noch auf manchem Abweg betroffen werden konnte.
Alles sprach für die Schuld Garrats: das Gift, das aus dem Laboratorium stammte, darin Dr. Oldports System präpariert worden war, die Fußspuren im Kies, in denen untrüglich die Abdrücke von Garrats Stiefeln festgestellt werden konnten – da ereignete sich ein bemerkenswerter Zwischenfall, der die ganze Verhandlung über den Haufen zu werfen drohte.
Cora Strattons Mutter hatte in ihrer Aussage für Garrat gesprochen und damit einen gewichtigen Beitrag zur Entlastung des Angeklagten geliefert. Garrat war wohl schuldig an dem Unglück ihrer Tochter – aber er hatte sich all die Zeit doch als ein sorgender und auch freigiebiger Wohltäter des Mädchens erwiesen. Es war Mutter Stratton, die von Cora wußte, welche finanziellen Nöte den Doktor 348 bedrängten, wiederholt aufgefallen, daß Garrat Cora immerhin bedeutende Summen schenkte, die sie dann ihrer alten Mutter nach Hause bringen durfte. Woher nahm er diese Summen? Darauf war die Antwort leicht zu finden. Er lebte in den Tag hinein, ließ seine Angelegenheiten gehen, wie sie mochten, verwaltete sein Hab und Gut mit einer Leichtfertigkeit, die lebenslustigen Menschen ebenso eignet wie lebensmüden, und war im großen ganzen nicht sehr empört darüber, daß andere Leute sich an seinem Eigentum vergriffen. Cora hatte einmal erzählt, sie wisse genau, Garrat habe Kenntnis davon, daß das Mädchen Frances ihn bestehle. Er aber tue, als sähe er es nicht. Frances habe einen Stallburschen aus Newmarket zum Verehrer, und dahin wandere manches Garderobestück aus seinem Besitz. Ein Pyjama, seidene Taschentücher, sogar ein Paar oder mehrere Paar Stiefel.
Die alte Frau Stratton wünschte diese Aussage zu machen, nachdem sie schon verhört worden und auf ihre Bank zurückgekehrt war. Ihr schien es wichtig, dies ihrer Aussage hinzuzufügen. Sie dachte, die Leichtfertigkeit und Gutmütigkeit sei aus dieser Tatsache erwiesen. Das Dienstmädchen Powells saß mit rotem Kopf da und versuchte aus Leibeskräften zu leugnen. Immerhin erwies es sich als notwendig, den Stallburschen und seine Kameraden zu vernehmen, um feststellen zu können, ob die Stiefel Garrats noch von andern Leuten als von ihm selber getragen worden seien und welche Ursachen die plötzliche Entlassung oder Beurlaubung des Dienstmädchens um die mutmaßliche Zeit des Mordes gehabt haben mochten?
Verteidiger Parker legte entschieden größtes Gewicht auf diese Vernehmung, sowie auf ein Kreuzverhör des Burschen, aus dem erhellen sollte, ob er etwa Belle Garrat gekannt habe? Ob er ihr in größerer Intimität begegnet sei, als dies zwischen dem Besucher der Mädchenkammer und 349 der Herrin des Hauses üblich sein mochte? Ob er die Stiefel Garrats behalten oder verkauft habe? Und welche Form seine eigenen Stiefel haben mochten?
All diese neuen Wendungen des Beweisverfahrens erforderten eine abermalige Vertagung der Verhandlungen. Das Gericht beschloß, die Zeit bis zur Vernehmung des Stallburschen mit andern Vernehmungen auszufüllen, unter denen die des Ehepaars Palmer, der Besitzer der Nachbarvilla im Morton-Crescent, die größte Aufmerksamkeit hervorrief.
Palmers gaben Kunde von den erregten Auftritten zwischen den Ehegatten. Der letzte dieser Auftritte hatte sich an einem Tage ereignet, dessen Datum ungefähr mit dem des Mordes zusammenfiel, und dieser Tag war auch derselbe, an dem das Dienstmädchen entlassen worden war.
Bis zur Abreise Garrats und seiner verschleierten Gefährtin war in der Villa jenseits der Mauer Ruhe gewesen.
Auch diese Zeugen bestätigten die Aussagen der andern, die einstimmig die Ermordete und ihre Eigenschaften als Ehegattin und Dame ins übelste Licht stellten. Garrats Schwäche, das Unglück seines häuslichen Lebens, seiner verfehlten Existenz trat kraß zutage und erfüllte die Zuhörer mit Mitgefühl.
Mr. Macreary, Mitglied der Besuchskommission der Gefängnisse, meldete sich freiwillig zur Aussage. Er berichtete ausführlich über seine Wahrnehmungen an Garrat in der Zelle. Daß Garrat über seine Frau Äußerungen des Verständnisses und des Bedauerns getan hatte, die einen versöhnlichen Charakter trugen und sich in erstaunlichem Gegensatz zu den übereinstimmenden Aussagen und Anschauungen der vernommenen Zeugen in bezug auf Belle befanden – das gab dem Staatsanwalt Anlaß, Garrat als einen abgefeimten Komödianten hinzustellen, der die Sympathien auf diese Weise durch Sentimentalität zu gewinnen trachte. 350 Allein es erwies sich, daß die Stimmung im Auditorium, unter den Geschworenen und auch draußen in den breiten Massen der Bevölkerung dieser Auffassung widersprach. Der Vorsitzende, Sir Millbanks sogar sah sich veranlaßt, in einer kleinen ruhigen Zwischenbemerkung zu erklären, daß das Menschliche in dem verhärtetsten Verbrecher zu berücksichtigen sei und daß es der Auffassung des Briten im allgemeinen widerstrebe, einen noch nicht überführten Angeklagten zu brandmarken, seine Regungen zu verdächtigen, statt sie in der Wagschale der Gerechtigkeit abzuwägen.
Die Erklärung Macrearys, daß Garrat in seinem Gespräch mit dem Besucher bemüht gewesen sei, aus Belles Charakter die guten Züge hervorzuholen und zu unterstreichen, verstärkte die günstige Strömung, die sich in steigendem Maße für Garrat geltend machte, seit es sich als notwendig erwiesen hatte, der unerwarteten Spur einer fremden Schuld nachzuforschen.
Nunmehr sollten die Verhandlungen, die eine Woche gedauert hatten, vertagt werden, da der Bursche Bingham mit Pferden seines Herrn, des Lords X. zu den Herbstrennen nach Baden-Baden gefahren war.
*
Die Angelegenheit, die Ochoroff am Sonntag morgen zu Adela geführt hatte, war: es mußte für die Frau und drei kleine, hilflose Kinder Karl Weymanns, eines Deutschrussen, der im Laufe des Sommers auf der Reise von Kiew nach Warschau verschollen war, irgendwo, an einem versteckten Platz Quartier gemacht werden. Karl Weymann war mit falschem Paß gereist und die Regierungen dreier Länder waren hinter ihm her. Frau Agathe und ihre Kleinen waren durch die Vermittlung von Freunden heil nach England herübergekommen, aber es hatte den Anschein, als sollte die Familie den Vater nicht mehr wiedersehn.
351 Am Dienstag morgen kam die Frau mit ihren drei kleinen, blassen und verschüchterten Blondköpfen in Mrs. Newalls Haus an. Sie brachten nur wenig und gar armseliges Gepäck mit. Adela räumte ihnen das große Zimmer ein und zog sich mit Sheila in das kleine zurück.
Die arme Frau und die drei kleinen Kinder bewegten sich lautlos und ängstlich in der großen, sonderbaren Stube mit den fleckigen Blumentapeten. Die Kinder hatten Angst. Die vier Menschen flüsterten miteinander. Adela wußte kaum, ob sie nebenan waren oder nicht – am Abend trat sie ins Zimmer ein, da saß die Frau, vor Müdigkeit eingeschlafen, im großen Lehnstuhl und ihr zu Füßen kauerten, stumm und mit großen Augen, die drei Mägdlein und blickten die Eintretende an.
Sheila brachte den Kindern Biskuits, Konfekt und ihre Puppen. Die drei Kleinem fingen zu weinen an, als sie der grotesken Spielgefährten ansichtig wurden. Sie ängstigten sich vor Golly, vor dem Kamel und der Skelettpuppe und die hellen Tränen standen ihnen noch in den Augen, als Sheila sie vor ihnen verborgen und in Sicherheit gebracht hatte.
Als die Kinder zu Bett gebracht waren, setzte sich Adela zur Frau des Flüchtlings und sprach mit ihr.
»Wir sind Bettler,« sagte die Frau und blickte auf ihre Hände nieder, die von Nadelarbeit zerstochen, wie die Hände der Armen, müde und aufwärtsgekrümmt auf ihrem Schoße lagen. »Ja, bettelarm,« wiederholte sie in ihrem gebrochenen Englisch und schwieg.
Adela saß da und streifte, wie's ihre Gewohnheit war, ihre Ringe von der rechten Hand ab auf die Finger der linken, von der Linken auf die Finger der Rechten zurück. Plötzlich behielt sie zwei der kostbarsten Ringe, einen mit vier kleinen Perlen, den andern, der eine doppelte Reihe von Diamanten und Saphiren darstellte, zwischen den Fingern 352 ihrer beiden Hände, hielt sie einen Augenblick lang so und streifte sie dann auf den dünnen weißen Ringfinger der linken Hand Frau Agathens.
Frau Agathe blickte Adela erstaunt ins Gesicht, sie lächelte wie über einen Scherz.
Aber Adela stand auf und ging in die Ecke des Zimmers. Sie hob ihre Hände wie in Abwehr gegen Frau Agathe auf.
Frau Agathe hatte die Kostbarkeiten von ihren Fingern gestreift, hielt sie Adela hin.
»Nein, Ihres!« rief Adela leidenschaftlich aus. »Nehmen Sie sie. Ich kann Ihnen nichts anderes . . .« Bald darauf standen die beiden Frauen in der Ecke des Zimmers und weinten heiß und lange, aneinandergepreßt. –
Mit dem Eintritt der kühlen Jahreszeit war Herr Hanslow, der »Professor« im Erdgeschoß ernstlich erkrankt. Nachts schreckte Adela aus ihrem Halbschlaf empor und hörte das furchtbare Husten, das im großen kahlen gläsernen Atelier dröhnte.
Sie ging hinunter und sah, wie der Professor hauste. Er lag in einer Ecke des weißbestaubten Raumes auf einem eisernen Feldbett und hatte auf die Bettdecke alles, was er an Kleidungsstücken besaß, gelegt, um es wärmer zu haben. Das Öfchen in der Mitte des Ateliers war ganz rostbraun gebrannt, aber Hanslow erklärte, er beginne alljährlich mit dem Kalendertag 4. November, dem Tag des Parlament-Attenäters Guy Fawkes, zu heizen; bis dahin sei nicht daran zu denken. In das große, scheunenähnliche Atelier zog der Wind durch Ritzen und Fugen; kleine Regenbäche hatten unterhalb des Schiebefensters schwarze Rinnen in den Gipsstaub an den Wänden und auf dem Fußboden gemalt.
Hanslow betrachtete mißtrauisch die Frau, die in seinem Heim herumging, sich um seinen Spirituskocher zu schaffen machte, treppauf treppab lief und ihm Beeftea, Marmelade 353 brachte und einen milden Sirup zubereitete. Er ließ es sich aber stillschweigend gefallen und Mrs. Newall, die Adela auf dem Flur begegnete, drückte ihr Erstaunen darüber aus, daß der Professor Handreichungen Adelas duldete, die er sonst in schroffer Form abzulehnen pflegte, wenn sie von ihr kamen. Ja, es lasse auf eine fast unbegreifliche Wandlung des Professors schließen, bemerkte Mrs. Newall, daß er sich überhaupt herbeiließ, einen Fremden in seinem Gipsmagazin zu dulden!
Adela saß an des Professors Bette und er ließ sich von ihr pflegen wie ein Kind.
»Geben Sie mir meine Pantoffel!« sagte er und sie reichte ihm die Mokassins.
»Wohin wollen Sie?«
»Meine Skizzen will ich Ihnen zeigen. Sie sollen sich ein Blatt daraus aussuchen. Oben für Ihre Zimmerwand.«
»Ich kann ja das Buch selbst bringen.«
»Sie finden es nicht.«
Er schlüpfte in seinen fadenscheinigen Schlafrock, kramte in den Ecken, fand den verstaubten Band.
»Dies ist schön!« sagte Adela und wies auf den Akt einer jungen Frau. Hanslow sah sie eine Weile an, riß das Blatt heraus und reichte es Adela.
»Sie haben es erraten, bei Gott!« sagte er und griff nach der Medizin. »Sie haben es gut erraten.«
Adela betrachtete das Blatt.
»Ich läge nicht so hier, ich meine, so allein, wenn diese da . . . well, das ist alles Unsinn. Heften Sie das Blatt an Ihre Wand. Es ist nicht schlecht. Sehen Sie . . . dort!«
Adela gewahrte eine Gipsstatue, in halber Lebensgröße, einen Torso, die Arme fehlten, der Kopf hatte die gleiche Neigung wie der Kopf der Skizze. Es war die junge Frau. Hanslow nahm die Medizin wie ein braves Kind und schlief 354 ein oder tat, als schlafe er. Adela verließ auf Zehenspitzen das Atelier. –
Miß Alvanley kam gegen Abend. Sie entsetzte sich, als sie Adela in ihrer kleinen Stube, umringt von den Kindern der Flüchtlingsfrau, wiedersah. Adela hatte das Jüngste auf dem Schoß, ein bleiches, schwindsüchtiges Wesen von sieben Jahren und lehrte es, die Bilder aus einem Bilderbuch Sheilas auf englisch zu nennen.
»Dies ist eine Fliege – a fly!«
»Dies ist Appletree!«
Die Kleine sprach die Worte artig nach.
Sheila war mit Serena und Natascha, den älteren Mädchen, im Zimmer nebenan. Die Kinder saßen auf dem Boden und Sheila sprach leise mit ihnen; sie dehnte jedes Wort in die Länge, damit die Kinder sie besser verstehen möchten. Adela setzte das Kind auf den Boden nieder und bat Miß Alvanley, Platz zu nehmen. Miß Alvanley blickte Adela lange an, ehe sie die Worte fand, die sie auf dem Herweg memoriert hatte. Hundert Schritte vor dem Gartentor hielt der Wagen Miß Falkoners, dort wartete Florence auf das verabredete Zeichen. Sie trug Bedenken, zu Adela zu kommen. Sie fühlte sich gekränkt. Sie hatte bisher sämtlichen Verhandlungstagen in Bowstreet beigewohnt und hegte die Hoffnung, daß Adela mit ihr zur Hauptverhandlung gehn und sie beide aus dem Zuschauerraum der Verteidigung Garrats beiwohnen würden.
Miß Alvanley hatte sich eine umständliche Vorbereitung für diesen, sie ungemein beklemmenden Auftrag zurechtgelegt. Adelas neue Umgebung verschlug ihr vollends die Rede. Sie starrte das Kind Sophie an, wandte dann ihren Blick zu Adela, die sie in erschrecklicher Weise verändert fand und brachte kein Wort heraus. Adela erzählte, was es mit der Flüchtlingsfamilie für Bewandtnis habe.
»L . . . liebe, beste F . . . Frau Adela, und da haben Sie 355 Ihre W . . . Wohnung mit diesen Leuten geteilt!« Miß Alvanley blickte Adela entgeistert an. Adelas Gesicht war gerötet, ihre Augen flackerten unruhig und ihre Hände verkrampften sich in einer fast ekstatischen Gebärde des Betens, als sie von der Armut ihrer Hausgenossen sprach. »Und nun ist er verschollen. Wahrscheinlich haben sie ihn ermordet. Nein – haben Sie keine Angst, die Kleine versteht kein Wort unsrer Sprache!«
Aber das Kind begann, als ahne es, wovon die Rede sei, bitterlich zu weinen. Adela hob es auf ihren Schoß, streichelte es, zwang sich zur Ruhe und lächelte sogar. Gleich lächelte das Kind auch.
Dann verfielen Adelas Züge jählings. Sie blickte erschlafft, müde und alt vor sich hin, als erblicke sie die Trostlosigkeit des Daseins vor sich, im Winkel ihrer Stube, auf den ihre Blicke fielen.
Miß Alvanley hatte ihre Hand ergriffen und küßte sie stumm. Adela sprach: »Sie brauchen keine Angst um mich zu haben. Es ist nur immer so mit mir zur Zeit des abnehmenden Mondes. Es wird wieder bergaufgehen, sicherlich.«
Aber Miß Alvanley warf sich nieder vor Adela, versteckte den Kopf in ihrem Schoß. »Liebe, beste Adela . . . wie müssen Sie leiden! Ich weiß ja alles, ich w . . . weiß ja, warum Sie leiden und t . . . traurig sind!«
Adela sah sie an. »Was wissen Sie? Es gibt nichts zu wissen, nichts ist da. Wer hat denn über mich gesprochen?«
Sie änderte gleich ihren Ton und fing von gleichgültigen Dingen zu reden an. Miß Alvanley schlug die Augen nieder.
»Ich möchte gern über das Stück im Lyzeum erfahren. Waren Sie da, liebe Miß Alvanley? Es sollen ja so schöne Kostüme aus der Jane Austen-Zeit zu sehn sein! Immer war's mein Traum gewesen, als junges Mädchen schon 356 hatte ich mich mit meinen Freundinnen verabredet, wir wollten uns Brautkleider im Stil der Jane Austen-Zeit anfertigen lassen, die Braut und die Brautjungfern auch. In dem Stück soll eine Hochzeit vorkommen? Das möchte ich sehn! Ich hatte es damals Mr. Malone gesagt: ich wollte es so gern! Aber weder er, noch seine Familie war dafür zu haben. Meine teure Mutter hatte schon eingewilligt, aber Malone behielt trotz allem recht, und von uns Freundinnen hat es nur Nancy Grimmings durchgesetzt – bei ihrer Hochzeit trug sie und trugen ihre Jungfern diese schönen duftigen Röcke und Taillen und auch die Frisuren, geradeso, wie sie Pamela Potter trug!«
Miß Alvanley hörte Adela zu und lächelte wieder. Adelas Züge verjüngten sich, sie lebte auf. Miß Alvanley preßte ihre Hand zwischen den ihren und sprach zu ihr. Sie merkte gar nicht, daß sie viel weniger stotterte, als sie es bei ihrem Kommen getan hatte. Als sie fort war, führte Adela das Kind ins andre Zimmer, schloß sich dann ein und verfiel bald darauf in den tiefen Schlaf der Erschöpfung.
Professor Hanslow kanzelte Mrs. Newall ab – ob sie es denn nicht sehen könne, wie krank die barmherzige Dame aus dem Stockwerk sei! Könnte er sich bewegen, er würde unverzüglich nach Brentford hinüber, zu Foundling.
»Was wollen Sie denn von dem?« frug Mrs. Newall, die, so gut es ging, im Atelier aufzuräumen suchte. »Sie haben ihn doch selber tausendmal Kurpfuscher und Quacksalber und Ignorant genannt!«
Der Professor brummte etwas in seinen Bart und bekam darauf einen heftigen Hustenanfall. Er warf sich mit dem Gesicht gegen die Wand und war nicht mehr zu sprechen.
Miß Alvanley pochte an die Ateliertür. Mrs. Newall kam zu ihr hinaus. Alvanley gab ihrer Bestürzung über Adelas Befinden und Aussehen Ausdruck. Sie eilte zur 357 Equipage zurück und fuhr mit Florence Falkoner zu Dr. Foundling, dann, als sie ihn nicht zu Hause antrafen, zu Dr. Maunders Littleton, den Leibarzt der Königin, der im Rufe stand, der tüchtigste Diagnostiker für Herzleiden zu sein.
Littleton ließ Adela seinen Besuch für nächsten Vormittag melden. Als er im Hause vor Kew-Gardens vorsprach, war Adela mit Sheila schon lange fortgegangen. Sie war in die Stadt gefahren, für die Kleinen Sachen kaufen; Mrs. Newall wußte nicht zu sagen, wann sie wiederkehren würde. Den Abend zuvor hatte Adela der alten Frau gesagt: »Mein Herz braucht keinen Arzt. Gott allein könnte mein Herz heilen, wäre es seine Absicht. Ich will nicht, daß ein Arzt mein Herz heile. Ist die Zeit da, wird's schon allein gesund.«
Dr. Littleton fuhr unverrichteter Dinge ab. Mrs. Newall kam ganz aufgeregt zum Professor. »Der Leibarzt der Königin!« Hanslow schlürfte bereits wieder in seinem Atelier herum und knetete an einem hundertmal unterbrochenen Modell für einen Wandbrunnen.
»Richtig. So muß man sie behandeln. Die besten Ärzte sind die, die selber krank sind. Rufen Sie es dem aufgeblasenen Charlatan nach! Er soll erst selber wissen, wie Kranksein tut, dann will ich mich von ihm kurieren lassen.«
Gegen ihre Gewohnheit ging Mrs. Newall nicht mit giftigem Gebrumm über die Narrheit ihres Mieters, sondern mit nachdenklicher Miene aus dem Atelier. Es war schon etwas Wahres in dem, was der Professor gesagt hatte.
Oben in dem großen Zimmer wartete Frau Weymann auf die Rückkehr Adelas.
*
»Mammy ist beim Professor,« sagte Sheila Herrn Lucas. Die ganze Zeit schon hatte sie unverwandt ins Antlitz des andern Besuchers gestarrt, auf einen Fleck zwischen den 358 Augenbrauen Sir Purna Mahidhars, den Herr Lucas mit zu Adela gebracht hatte. Der Fleck zwischen seinen kohlschwarzen feingeschwungenen Brauen sah sich wie ein Stern an aus blauen Strahlen.
Schweigend mit ernstem Lächeln saß der junge Inder da und hörte zu. Sheila und Herr Lucas hatten sich viel zu sagen.
»Feuer hat uns verlassen;« sagte Sheila, »aber ich habe Gespielinnen bekommen, drei, sie heißen Natascha, Serenka und die Kleinste Sophie. Ich spiele mit ihnen. Ich kann mit ihnen nur spielen, nicht sprechen, sie verstehen nicht englisch. Aber ich lehre sie eines und das andre Wort und bald werden wir uns verstehn.«
»Liebst du die Kleinen?« frug Herr Lucas. »Du bist ja nicht so leicht zur Freundschaft zu bewegen, Kind! Hast du die Kleinen gleich in dein Herz geschlossen?«
»Sie sind so hilflos, Freund!« sagte Sheila. »Sie liefen in die Ecke, als sie meine Puppen sahen und Baby Sophie schrie ganz laut vor Angst.« Sie lachte. »Wollen Sie meine Puppen sehn?« frug sie den Inder.
Sir Mahidhar wechselte einige Worte mit Herrn Lucas, in einer Sheila unverständlichen Sprache, als er der Puppen ansichtig geworden war.
»Hat er dir etwas Trauriges über mich gesagt?« fragte Sheila Herrn Lucas. »Sag' ihm, wenn er das meint, was ich mir denke, so kann es nur traurig für die andern sein! Nein – die andern können es gar nicht verstehn. Ich aber werde froh sein darüber.« Sie zog Herrn Lucas' Kopf zu sich herunter und flüsterte ihm ins Ohr: »Sagte er, ich werde sterben? So jung, wie Miggy?« Herr Lucas verneinte. »Er sagte: eine böse Fee habe dir die Liebe zu häßlichen Dingen geschenkt.«
Sheila sah den Inder an, schüttelte den Kopf und drückte Joan an ihr Herz. Sir Mahidhar behielt sein Lächeln und er und Sheila sahen sich an.
359 »Ich bin Abschied nehmen gekommen!« sagte Herr Lucas plötzlich und schwieg dann beklommen.
Sheila ließ Joan sinken und sah zu Herrn Lucas auf: »Für immer?« »Ja.« »Wohin gehst du, Freund?« fragte Sheila. »In seine Heimat?« »Ja.« »So weit? Aber dann werden wir uns ja wiedersehn – denn wir fahren ja an dem Lande vorüber, wo du wohnen wirst, Freund, wenn wir nach Australien heimreisen.« Ihre Augen standen schon voll Wasser. Plötzlich warf sie die Puppe weg und lief ins Zimmer hinein. »Nein, nein, nie wieder!«
Sie schluchzte noch, als ihre Mutter eintrat. Adela lief zu ihr, drückte sie an sich. »Was ist, Baby! Was ist geschehn?«
Aber Sheila sprach nicht mehr. Den Nachmittag und Abend kam kein Wort mehr über ihre Lippen, sie sagte der Mutter nicht gute Nacht, das Nachtgebet blieb in ihrer Kinderseele stumm begraben, auch ihr Schluchzen tönte nur noch nach innen. Es war, als kehre sie in sich zurück. Seit Monaten hatte Adela dies mit dem Kinde nicht mehr erlebt.
Herr Lucas stellte seinen Freund vor. Im Nu begriff Adela. Sie behielt Lucas' Hand ein wenig länger als zu einem Händedruck in der ihren und da wußte sie erst recht: es war vorbei und nie wird sie ihn wiedersehn.
Sir Mahidhar sprach über seine Heimat. Er stammte aus Madras und wollte dahin zurückkehren. Seine Familie besaß Höfe in einem Ort am Fuße der Blauen Berge. Herr Lucas sollte ihn begleiten. Sir Mahidhar erzählte von den Blauen Bergen und ihren Bewohnern, den sonderbaren Stämmen, die jenseits des Wasserfalles lebten.
Herr Lucas blickte zu Boden, um Adelas Blicken nicht zu begegnen, die deutlich fragten: »Warum?« und »Warum gerade jetzt?«
Als Sir Mahidhar sich in seiner Erzählung unterbrach, begann Herr Lucas: »Ich habe meinen Rundgang durch die Stadt beendet. Ich war an all den Orten, die ich 360 gekannt und durchwandert habe und bin inne geworden, daß all mein Suchen vergeblich gewesen ist. Alles, was mir in den Weg getreten, war ja nur Abbild und Spiegelung meines sinnlosen Gefühls. Dies ist nicht das Königreich am Meere, so wie das Mädchen, das ich an den Seven Dials erblickt und in St. Johns Wood verloren habe, nicht Annabel Lee gewesen sein kann, der ich nachgejagt bin durch alle Phantome des täglichen Lebens. Aber ich bin doch auf dieser Jagd Wirklichkeiten begegnet und habe gesehen, was hinter dem täglichen Leben ist – und das ist so gut wie eine Illusion.«
Adela nickte: »Das Haus auf den Pfählen, im Wasser, im Schärenmeer . . .«
Herr Lucas sagte: »Das Haus meine ich nicht, sondern das andre – in Whitechapel, mit den rauchigen Fenstern . . .«
Nach einer Weile sprach er weiter: »Ja, dieses Menschenheim, mit verbrannten Bewohnern. Und dann – den Einen! und die barfüßige Jüdin damals am Themsekai. Und die kleine Kirchenstraße im nördlichen Vorort, und auch die beleuchteten Spitzbogenfenster im Parlament, in einer Nebelnacht. Der Strom bei Woolwich mit bunten Lichtern auf den Schiffen, die nach fremden Weltteilen fahren; und alles, diese ganze Stadt. Aber ich will andres erproben, ich will sehen, wenn möglich, mich selbst . . . in mir . . . darum gehe ich mit ihm fort. Zum erstenmal. In die Heimat.« Er sagte nicht: in seine. Er sagte: in die Heimat. Adela sandte einen Blick zu Herrn Lucas. Aber seine Augen waren erhoben, er blickte durchs Fenster hinaus auf den dunkelbewölkten Himmel. Nach einem Schweigen schloß er, mit stiller Stimme: »Dorthin, woher wir ja alle kommen.«
»Können Sie mir sagen, Sir,« fragte Adela, »ob es eine Erklärung gibt dafür, daß die einen in reiner Freude und Heiterkeit hinleben und die andern von Qual zu Qual vorwärtstaumeln müssen – und beide ohne Schuld, ohne ihre 361 eigne Schuld! O, ich drücke nur schlecht aus, was ich sage« – sie preßte die Hände an ihre schmerzenden Schläfen – »verzeihen Sie: ich meine, wir alle sind ja schuldig und nichtschuldig, aber die Glücklichen müssen einstehn für die Schuld derer, die verdammt sind.«
»Sie kranken,« sagte Sir Mahidhar, »an Ihrem Begriffe von der Liebe Gottes. Wir erachten die Leiden, die eine Seele in ihrem bewußten gegenwärtigen Leben befallen, als Sühne für Vergehen, die sie in ihrem nicht mehr bewußten, das heißt vergangenen verübt hat. Sie aber fassen die Leiden des gegenwärtigen Lebens zu bewußt als Liebe Gottes zu seinen Geschöpfen auf, die er durch diese Leiden für ein zukünftiges Leben läutern und erziehen will. Dafür haben Sie eine Hölle mit ewigwährenden Strafen erfunden. Die Hölle unsrer Religion dagegen sieht nur begrenzte Strafen vor, Strafen in uns bekanntem Zeitausmaß. So gleicht sich die scheinbare Ungerechtigkeit für die Sühne vergangener Vergehen aus.«
»Wir kennen das Fegefeuer,« sagte Adela.
»Es ist das gegenwärtige Dasein,« sagte Sir Mahidhar.
»Besitzen Sie die Sicherheit dafür?«
»Jawohl,« sagte der Inder. »Sie kommt uns von den Wiedergeborenen.«
»Werden Sie das Leben ertragen, Herr Lucas, das Sie dort erwartet?«
Herr Lucas schloß die Augen und lächelte, wie sein Begleiter es zu tun pflegte.
»In den Blauen Bergen,« fuhr Sir Mahidhar fort, dort wo er unterbrochen worden war, »wohnen Stämme, gar sehr voneinander verschieden. Der höchste unter ihnen ist ein Stamm sehr hellhäutiger Menschen, sie sind groß gewachsen, es sind Heilige: die Todas. Ein andrer Stamm, tierisch und nieder, mit furchtbarer Zauberkraft begabt, lebt neben ihnen, es sind die Zwerge, die im Dorngebüsch hausen, 362 verworfen und sündhaft. Ein dritter Stamm aber von Brahminen, jenen Wiedergeborenen, die im Besitze der dreifach geschlungenen Schnur sind, dient den Todas, er ist ein stolzer, erlauchter Stamm, näher dem Urwesen als alle andern Stämme, doch er erniedrigt sich vor den Todas, indem er sich zu ihren ergebenen Sklaven macht, Arbeiten für sie verrichtet, die die Zwerge ablehnen würden. Es ist ein Rätsel, warum jener Brahminenstamm solches tut. Niemand, der die Gesetze der Brahminenkaste kennt, vermag es zu lösen. Sie dienen, demütigen sich vor den Hohen, den Fastweißen, den Heiligen Genannten, gerade so wie die Dornzwerge, gleichen ihnen an Unterwürfigkeit . . . und sind doch Wiedergeborene!«
»Hoffen sie auf Lohn im künftigen Dasein?«
Der Inder schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Zudem kennen sie ja die Entfernung, da sie die Wiedergeborenen sind.«
»Die Entfernung ihrer beiden Leben?«
»Ihrer vielen.«
»Was wir im Traum undeutlich fühlen?«
»Das kennen und wissen sie.«
»Und doch erniedrigen sie sich.«
»Es ist wohl das Geheimnis.«
»Die Todas nehmen es als Tribut hin?«
»Sie sind nicht hoffärtig, Sie fordern und erkennen keinen Tribut an.«
»Wie vergelten sie es den Brahminen?«
»Sie sind.«
»Wie?«
»Sie sind,« sagte Sir Mahidhar.
Adela sagte: »Ich habe, zumal letzter Zeit, Ähnliches empfunden, aber nicht auszusprechen vermocht. Ich bin sehr beschäftigt mit dem Gedanken, wie man dienen kann und warum man es muß. Ich wollte, jene Brahminen demütigten sich vor den tierischen Dornzwergen! Einem höhern 363 Stamme zu dienen, erachte ich nicht als die höchste Pflicht. Ich möchte auch hören, ob und welche Götter die Todas verehren?«
»Sie glauben an die Existenz der Dewas, erweisen ihnen aber keine Verehrung, weil sie selber Dewas sind.«
»Haben Sie Ihrem Freund davon gesprochen, was Sie erfahren haben . . . ich meine, wovon Sie jüngst bei mir gesprochen haben?« fragte Adela Herrn Lucas.
Dieser schien zu erwachen. Er schüttelte den Kopf.
»Aber Sie besinnen sich darauf?«
»Ja. War es nicht der Verurteilte?«
»Nicht verurteilt!« rief Adela heftig aus und wurde dunkelrot. »Das ist es ja. Er soll's nicht werden!«
Sheila blickte die Mutter an und preßte ihre kleinen Hände, so stark sie konnte, an den Leib der Mutter. »Nein . . . ich wußte nicht . . .« sagte Herr Lucas. »Es wird wohl so sein, ich hatte es so in der Erinnerung.«
Plötzlich sagte er, mit einem Blick auf Adelas Hände: »Sie haben Ihre Ringe verloren? Fortgegeben?«
Adela bedeckte ihre Rechte mit der linken Hand. In dieser Gebärde drückte sich für Herrn Lucas die Gewißheit aus, daß sie aufgehört hatte, ihn als ihren Freund zu betrachten. Ein Blick in ihr Gesicht bekräftigte ihn in diesem Verdacht. Sir Mahidhars Augen gingen vom einen zum andern.
Aber der Besuch war nicht beendet. Adela war es, die nach einer qualvollen Pause zu sprechen begann. Sie erzählte von dem Hause, das sie nun bewohnte, berichtete über Ochoroff, seine Gesundheit, über die Geschichte seiner Schützlinge, sie vermied es fortan, über sich selbst und auch über Herrn Lucas' beabsichtigte Reise zu sprechen, und kam zuletzt auf Feuer, die Katze, die seit einer Woche verschwunden war. Das letztemal war sie völlig verwildert und zerschunden, auf einem Bein hinkend, die blutige Pfote nachschleifend, 364 zurückgeschlichen, nach einer Abwesenheit von vier Tagen und Nächten, in denen sie ein ganz andres Tier geworden war als vor dieser Eskapade.
»Verwehren Sie diesem Tier die Rückkehr!« rief Herr Lucas. »Es ist gefährlich! Ich ahnte es schon immer! Es bringt schlechte Kräfte ins Haus. Sie müssen sich schützen!«
Aber Adela blickte den Erregten nur mit einem traurigen Lächeln an und sagte, daß sie sich nicht fürchte.
»Es gibt Tiere, die sich aus Haustieren in wilde zurückbilden,« sagte der Inder, »wir haben es auf unserm Hofe einmal erlebt. Es war da eine Katze, sie war reines Bengalzuchtprodukt, wir hatten ihre Eltern und Ureltern wie Hausgenossen, Hausgeister in unsrer Familie gehabt, und sie war uns treu geblieben und scheute den Wald und die Straße. Aber eines Abends biß sie im Walde unsern ältesten Knecht, der sie im Dickicht wiedererkannte und an sich locken wollte, weil er sie als sanftes Geschöpf gesehen hatte. Einen Monat lang fürchteten wir für unsres Knechtes Leben. Als wir einmal beim Morgengrauen das Kind meiner Schwester furchtbar schreien hörten, fanden wir die Katze im Flur vor der Tür des Kinderzimmers. Wir mußten sie erdrosseln. Die Mägde begruben sie und taten es unter Beobachtung von Bräuchen, die man anwendet, um böse Geister zu bannen.«
»Das hat keine Not!« sagte Adela. »Hier in Kew verirrt sich das Tier nicht, wie im Dschungel, eines Tages ist es wieder da.«
Sie verstummte, wurde unruhig. Ihr war's, als habe sie plötzlich den schrillen, rollenden Kehllaut des Tieres, der wie Menschenschrei anhub und wie ein leis aufschnarchender Seufzer abschwoll, vernommen. Aber das konnte ja nur ein Spiel ihrer aufgeregten Sinne sein; niemand unter den Anwesenden schien es gehört zu haben. Sheila blieb ruhig an ihrer Seite.
365 Daß die beiden, Herr Lucas und der Inder, in diesem Augenblick an das Tier dachten, sah sie. Herr Lucas mied, Schrecken im Gesicht, ihren Blick, der Inder aber hatte den seinen mit gespannter Aufmerksamkeit auf ihr ruhen.
Sie dachte fliegend an alles, seit dem Schrei auf der Fahrt zu Mme d'Endore bis heute. Plötzlich horchte sie auf.
Ihr war's, als habe jemand die Worte: »In der Todesstunde . . .« gesprochen. Aber es war kein Wort gefallen.
Als die Besucher schon lange fort und Sheila nach Stunden beharrlichen Stillschweigens in ihrem Bettchen eingeschlafen war, tönte das Wort noch in ihrem Bewußtsein nach . . . »in der Todesstunde wird es ins Haus zurückgeschlichen kommen, das besessene Tier . . .«
*
Miß Alvanley hatte Adela überrascht; eines Morgens brachte man ein Piano in die Stube Adelas. Bald darauf war das junge Mädchen erschienen, hatte sich an das Instrument gesetzt und spielte Adela vor. Adela lag auf der Chaiselongue und horchte mit geschlossenen Augen.
Mrs. Newall, Sheila und die Flüchtlingsfamilie saßen dabei und hörten zu. Als Miß Alvanley das Stück (es war Schumanns »Aufschwung«) beendet hatte, bemerkten die Anwesenden, daß Adela eingeschlummert war. Fast eine Stunde lang rührte sich niemand im Raum, um den Schlaf der Ermatteten nicht zu stören.
Alle sahen voll Staunen, wie schön Adela geworden war. Ihr Gesicht hatte rosige Färbung gewonnen, die nie an ihr beobachtet worden war; die Lippen rot, trotz der Krankheit, die in ihr lauerte. Adelas Augen, die ein wenig aus dem Schädel traten, lagen jetzt tiefer zurückgewichen; die Leidenszüge um Mund und Nase waren entspannt. Das Sonderbarste aber für die Betrachter der Schläferin war, daß Adelas Haar, das gelockt und eigenwillig kraus um Stirn 366 und Schläfen stand, jetzt glatter geworden zu sein schien. Kein weißes Haar schimmerte in der Fülle, nur ein eigentümlicher schüchterner Glanz, wie vor dem Ergrauen, ein Schein tiefer Versunkenheit umschwebte den Kopf der Ruhenden.
Beim Erwachen Adelas kniete Alvanley vor der Chaiselongue nieder und küßte Adelas Hände. Adela blickte um sich, als habe sie eben noch inmitten einer Landschaft, eines bewegten Vorganges oder Traumgespinstes geweilt und müsse sich dies in die Winde Zerflatternde rasch zusammensuchen, um sich zurechtzufinden.
»Ich glaube,« sagte Adela, »teure Maud, ich glaube, mein Herz zerreißt bald. Es ist ja unausdenklich – er wird leugnen und sie werden ihm das Genick brechen, nein, in einem schwarzen Leinwandsack – Gott, ich kann nicht mehr!«
»Was ist Ihnen, Teuerste!« rief das Mädchen erschrocken, »welche Phantasien! Sie haben die Zeitungen gelesen, Sie sind vergiftet, kommen Sie zu sich! Soll ich die Kleine rufen? Soll ich Ihnen Essen bereiten? Spielen?«
Adela sprang auf. In einer ihrer plötzlichen, krampfartigen Ekstasen begann sie Mantel, Tuch, ihren Stock, auf den sie sich seit einiger Zeit zu stützen pflegte, zusammenzusuchen, warf das Tuch um ihre Schultern, nahm Alvanleys Arm und stieß sie zur Tür vorwärts. Unten im Garten mußte sie nachsehen, was der Nachtfrost aus ihrem neugeformten runden Beet gemacht habe. Sie fand die Georginen in Blüte, die Astern zum Teil erfroren, welk und geknickt. Sie begann mit dem Stock im Erdreich zu wühlen, dann wollte sie plötzlich zum Professor, den sie seit drei Tagen nicht gesehen hatte.
Die wenigen Schritte in der Herbstluft raubten ihr den Atem. Sie blieb stehen und sagte: »Es ist nichts; man muß dagegen ankämpfen.« Hanslow war zu Hause. Er öffnete, zog sich aber, da er Alvanleys unbekanntes Gesicht sah, 367 sofort scheu in seine staubige Höhle zurück. »Sie ist es, die gespielt hat. Wollen Sie nicht hinaufkommen, wenn sie wieder spielt? Sie spielt wunderbar, ist es nicht so?« Sie küßte die Errötende. »Es wäre besser, Sie lägen zu Bette, als sich im Herbstnebel herumzutreiben,« brummte der Professor. »Miß, bringen Sie sie hinauf, kochen Sie ihr ein warmes Getränk, sie ist ja stocksteif.«
»Unsinn!« rief Adela. »Mir ist wohler als seit langem. Und heute nachmittag fahren wir in die Stadt.«
»Sieh da, was Neues. Das lassen Sie bleiben, wissen Sie! Die Gartentür absperren und den Schlüssel verbergen müßte man vor solch tollen Geschöpfen!«
Aber Adela führte ihren Plan aus. Alvanley blieb zum Lunch, dann besorgte sie einen Wagen, und Adela fuhr mit ihr zu Mme d'Endore. Alvanley sollte sich wahrsagen lassen. Im Wagen wollte derweil Adela verschleiert und vermummt warten.
Sie fuhren durch Chelsea, Westminster, über Kings Croß nach dem Norden der Stadt hinauf. Die alte Bonne öffnete das Gittertor des Häuschens, das im aufsteigenden Nebel des kleinen Wiesenplatzes verschwunden war.
Eine halbe Stunde später kam Miß Alvanley ganz verstört zu Adela zurück. Es war unmöglich – die Dinge, die ihr die Hellseherin gesagt hatte, konnten sich unmöglich auf sie beziehen. Sie hatte sich auch des öftern unterbrochen und von einer Gestalt geredet, die sie neben dem jungen Mädchen stehen sah, auch von einem Manne, der mit dieser weiblichen Gestalt verwachsen oder verschmolzen zu sein schien. Die Hellseherin mußte einmal von ihm, das andremal von ihr sprechen, je nachdem die eine oder die andre Gestalt im Vordergrund stand. Schließlich vermochte Alvanley vor Erregung nur mit halbem Ohr zuzuhören. Es war sicherlich ihre erste und letzte Sitzung mit einer Wahrsagerin.
368 Adela wollte ausführlich alles erfahren. Alvanley aber konnte immer wieder nur sagen, d'Endore sei bestürzt gewesen und habe ausgerufen: »c'est merveillex, merveilleux!« Es sei dasselbe Schicksal, und doch seien es zwei verschiedene Wesen, aber doch nur eine und dieselbe Linie: nun, enfin! »la petite« möge sich nicht ängstigen, es betreffe nicht sie selbst, eher eine nahe Verwandte, Schwester oder Freundin, eine etwas ältere Dame mit dunklem Haar, das gewellt sei, aber doch nicht wellig, die Dame habe sich wohl die Haare gewaschen, denn sie seien glatt, immerhin sehe man es ihnen an, daß sie gewellt gewesen seien. Auch eine Geste, die Adela beim Schreiben mache, die Hand unters Kinn gelegt, Finger gegen das Ohr, zu den Lippen gespreizt, habe d'Endore nachgeahmt – es sei erstaunlich gewesen – unheimlich.
Adela hörte unter ihrem Schleier Alvanleys krausem Berichte zu. Sie war todmüde.
In diesen Nachmittagsstunden hatte sie ihr Leben wieder durchgedacht. Mit all den Erinnerungen, die die Fahrt in ihr aufgeweckt hatte, den Monaten, die verflossen waren, seit sie zum erstenmal hierher in den Norden heraufgefahren war, war das Bild ihres ganzen Lebens an ihr niedergerollt. Jetzt war's zu Ende. Was Alvanley ihr über die Linie des Lebens berichtete, überraschte sie keineswegs. Nachdem das junge Mädchen, verstört und ganz atemlos, wieder stotternd, wie schon seit einer Woche nicht mehr, ihren Bericht vollendet hatte, sprach Adela plötzlich, zum erstenmal, über ihre Krankheit. Man dürfe dem Leiden nicht böse sein, sagte sie, es sei keine Last, sondern eine Mahnung zur Milde. Denn die Leiden der Mitwelt werden dem offenbar, der selber Leiden erduldet. Er würde sonst fühllos an ihnen vorübergehen. Es ist fast, als müsse der, der andrer Menschen Leiden, die seelischen so gut wie die körperlichen, lindern will, seine eignen zu steigern suchen. So allein sei 369 das Maß der Opfer zu erreichen. Ja, Leiden seien die einzige Art der Befreiung!
Und fast ohne Übergang fing sie dann von Herrn Lucas zu reden an, über dessen Abreise aus West-House Miß Alvanley ihr berichtet hatte: er sei in der vergangenen Nacht mit dem P. and O.-Dampfer »Mandalay« aus den Indien-Docks abgefahren. Ein junger Inder, der seit geraumer Zeit Adelas Zimmer in West-House bewohnt hatte, sei sein Begleiter gewesen. Nach welcher Gegend Indiens die Fahrt ginge, habe keiner der beiden verraten, nicht einmal dem alten Kapitän Rogers, der doch Interesse an der Reise nahm, da er an die sechs Jahre seines Lebens in den Kalkutta-Kasernen verbracht hatte.
Adela behauptete, sie sähe Herrn Lucas. Es war nur eine Hoffnung, wohlgemerkt. Sie hoffte, Herrn Lucas dort, wo er sich bald befinden sollte, zu sehen, und diese Hoffnung allein genügte ihr, um sein Bild in voller Leibhaftigkeit vor sie hinzuzaubern. Sie sprach dies Miß Alvanley aus.
Miß Alvanley schrieb diese Phantasien der Krankheit Adelas zu, die in ein entscheidendes Stadium eingetreten war. Es bereitete sich offenbar eine Krise vor, und ihr Vorbote war dieses visionäre Empfinden der Wünsche und Ängstigungen, die in erschütterndem Empor und Hinab die Seele der Kranken mit sich rissen!
*
Dr. Foundling saß in Adelas Zimmer, als sie heimkehrte. Er empfing sie ohne Vorwürfe, mit einer milden Ermahnung nur, sich willkürlichen Erregungen nicht ohne Not auszusetzen.
Er hatte eine Stunde lang bei Sheila gesessen und sich vom Kinde erzählen lassen, daß die Mutter sich um einen »Verurteilten« gräme. Daß sie öfters des Nachts aufsitze, 370 Licht mache und die Hände ausstrecke, so, als griffe sie in die Luft, hoch hinauf nach unsichtbaren Händen, die sich ihr entgegenreckten, von oben nach ihr hinunterlangten. Aber Sheila fügte hinzu: es habe gar nicht den Anschein, als sei ihre Mutter wach, sie tue es im schweren Schlaf. Es sei nicht Mammys Stimme und es seien auch nicht Mammys Gebärden! »Wie kannst du denn das beurteilen, mein Baby?« hatte Dr. Foundling gefragt. »Und woher weißt du denn, daß deine Mutter sich um einen Verurteilten grämt, wenn sie nachts die Hände über sich streckt? Kleine Kinder sehen und hören Dinge im Traum, so wird es sich mit dir wohl auch verhalten!« Darauf hatte ihn Sheila lange angesehen, die Nelke in seiner Krawatte, seine Weste und Seidenschnur, und Dr. Foundling hatte den Eindruck, als verspotte ihn dies merkwürdige und ein wenig unheimliche Kind! Sie frug ihn, ob er denn glaube, man könne so etwas Trauriges träumen, wenn man zur Nacht gebetet habe. Sie bete jede Nacht mit ihrer Mutter! Darauf wußte Dr. Foundling nichts zu erwidern.
Er wollte von Adela wissen, welche Bewandtnis es denn mit dem »Verurteilten« habe. Er nahm sie ins Gebet, tat, als betrachte er die ganze Sache als Ausgeburt der Einbildung Sheilas, dieses phantasiebegabten Kindes, und warnte Adela, das Kind zu sehr zu erschrecken. Aber Adela gab darauf kaum Antwort. »Mein Herz ist schwer, Doktor – ich spreche aber nicht zum Arzt, wenn ich das sage. Ich will es Ihnen gestehen: ich kannte jenen Mann Garrat, den Gattenmörder, und nehme Anteil an seinem Schicksal. Er beharrt bei seinem: unschuldig! aber in meinem Herzen wünschte ich, er möchte bekennen, denn er hat ja die Tat begangen! O Gott!«
»Meine liebe Mrs. Malone, das ist ja eine entsetzliche Nachricht. Wieweit nehmen Sie denn Anteil an diesen Abscheulichkeiten? Bedenken Sie doch, welchen Eindruck 371 Ihr Kind für sein junges Leben mitnimmt, wenn Sie nachts aus Ihrem Traum aufschrecken und Ihre Hände klagend über sich strecken – Ihre teure Kleine hat es mir erzählt!«
Adela schüttelte den Kopf. Für ihr junges Leben! Was wußte denn dieser Landarzt? Sie wußte es besser. »Er kann ja nicht anders als schuldig sein. Und sie werden ihn nehmen und seinen Kopf in einen Sack stecken, und er wird ohne Geständnis als ein Sünder von hinnen gehen – ich sehe das vor mir!«
»Gott sei mit uns, Mrs. Malone! Ich beschwöre Sie, diese Erschütterungen sind ja gerade, was Sie zu vermeiden haben, wollen Sie sich Ihrem Kinde erhalten! Ich frage Sie in aller Welt – was können Sie denn dazu und dagegen? Dieser Mensch ist verstockt und wird bis zu seiner letzten Chance leugnen, um dem irdischen Richter zu entrinnen. Weil er an den himmlischen nicht glaubt, das ist es!«
»Nein, er ist es nicht,« sprach Adela erregt, »nicht verstockt! Ich weiß es ja so gut, was in diesen Tagen in ihm vorgeht!«
Dr. Foundling blickte sie erstaunt an: »Wie? Sie wissen? Wieso können Sie wissen? Übrigens –« fügte er hinzu »– was ich soeben vom irdischen und himmlischen Richter sagte – ich weiß es, Sie sind eine gläubige Lady, daher bediente ich mich dieser Ausdrucksweise, dieser Gegenüberstellungen – jawohl, aus dieser alleinigen Ursache, das ist es!«
»Er darf aber nicht, er darf nicht!« wiederholte Adela in steigender Erregung.
»Ich kann nur immer wieder sagen, meine liebe Mrs. Malone, was ein Arzt einer Leidenden sagen darf: belasten Sie Ihre Seele nicht zu schwer mit solchen Bildern. Wir alle stehen ja unter der unausgesetzten Suggestion, unter dem Druck, den diese abscheuliche Papierpresse auf unser Gefühlsleben ausübt . . . eben noch hat man uns mit Schilderungen und graphischen Darstellungen gefüttert: wie das 372 Gericht nach Ablauf des Beweisverfahrens vom Lordoberrichter weitergeführt werden wird, mit jenem Menschen und seiner Geliebten im Dock! Endlich! Ja, die verrottete Phantasie des Publikums lechzt ja förmlich nach dem Anblick jener beiden vor den Gerichtsschranken! Und nun kommt die neue Überraschung, der Stallbursche mit den gestohlenen Stiefeln, und die ganze Schilderung des mittelalterlichen Pomps, der Verhandlung vor dem Lordoberrichter und Old Bailey und all diese Vergiftungen der öffentlichen Moral! Das liebe britische Publikum! Es wartet nunmehr auf den Augenblick, da der Stallknecht womöglich dem Herrn seiner Dienstmagdgeliebten ins Gesicht sagen wird: daß die Lady des Hauses ihn ihrer besondern Gunst gewürdigt habe! Herrliches Schauspiel, wahrlich! Sie sollten diesen Kehricht in der Müllgrube verfaulen lassen, Mrs. Malone!« Er hatte sich in Wut geredet und in der Hitze der Worte das Glas ins Auge geklemmt. Adela sprach an ihm vorüber:
»Es wird nicht erspart bleiben.«
»Was?« frug der Arzt verwirrt und entfernte das Glas. »Was bleibt nicht erspart?«
Aber Adela antwortete darauf nicht mehr. Um Foundling zum Gehen zu bringen, versprach Adela, sie werde es versuchen, ihre Gedanken von Garrat abzulenken.
Als der Arzt gegangen, Sheila zu Bette gebracht war und sie selber im verdunkelten Zimmer zuhörte, wie nebenan Frau Weymann auf russisch leise mit ihren Kindern sprach, faltete sie die Hände und sagte unzählige Male die Worte nach: »Es wird nicht erspart bleiben. Es wird ja nicht erspart bleiben . . .«
*