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Sie erinnern sich, lieber Doktor Berrsche,Hofmiller hat bei der Überarbeitung an Stelle des »B.« den vollen Namen des Freundes gesetzt. D. H. des Sommernachmittags, an dem Sie mich zum »Corregidor« bekehren wollten. Seit 20 Jahren hatte ich das Werk nicht mehr gehört. Ihr dringendes Zureden lockte mich wieder hinein, obwohl ich Angst hatte, die zwiespältigen Gefühle des ersten Hörens aufs neue heraufzubeschwören. Nach dem Duett zu Beginn des zweiten Akts ging ich nach Hause: nicht enttäuscht oder verdrossen, sondern aus dem friedlichen Bewußtsein heraus, es sei für mich augenblicklich fördernder, den mir gerade durch Hugo Wolf wieder unheimlich klar gewordenen Abgrund zwischen Genie und Talent auf dem Heimwege durch die abendliche Maximiliansstraße durchzudenken, als weitere eineinhalb Stunden auf einen genialen Einfall zu warten. Tags darauf kam ich zu Ihnen, in der Absicht, mich, wie schon so manches liebe Mal, bekehren zu lassen. Sie begannen das Vorspiel, nachdem ich Ihnen noch offen gesagt hatte, ich fände das Corregidor-Motiv selbst, das sich durchs ganze Werk zieht, erklügelt, reine Schreibtischerfindung, alles, nur kein Einfall. Sie spielten Seite Eins des Auszugs. Als Sie umblätterten, bat ich, unterbrechen zu dürfen: von hier an schiene mir nämlich das Vorspiel ein kapellmeisterliches Weiterspinnen des an sich nicht interessanten Gedankens. Sie parierten meinen Einwand mit der pikanten Kastagnettenarie – die sei doch reizend. Worauf ich mir erlaubte Sie zu fragen, ob Sie den Auszug von Bizets Carmen zur Hand hätten. Auszug nicht, aber Partitur. »Desto besser: also zum Vergleich, bitte, die Stelle vom Wall von Sevilla und vom Freund Lilas Pastia.« Sie spielten sie, und beim fünften oder sechsten Takt lächelten Sie vor Entzücken. »Sehen Sie, bei Wolf sind wir beide ernst geblieben«, sagte ich. »Sie haben ja leider recht, aber Sie müssen noch eine sehr schöne lyrische Stelle hören aus dem letzten Akt, den Sie geschwänzt haben...« »Sehr schön in der Tat, aber weil wir bei Carmen sind, möchten Sie, bitte, die Stelle der Micaëla suchen, Sie wissen schon...« »Ja, das ist freilich etwas anderes.« »Sehen Sie! Das eine ist nun eine spanische Oper von einem Nicht-Spanier, und das andere ist auch eine spanische Oper von einem Nichtspanier, die eine mindestens 20 Jahre älter als die andre. Wenn ich nun die jüngere nur um den Preis genießen kann, daß ich nicht einen Augenblick daran denken darf, daß die ältere existiert und daß sie witziger ist, so seh ich nicht ein, warum ich nicht gleich die ältere hören soll. Aber wollen wir uns nicht wieder auf Mozarts Phantasie für die Orgelwalze einigen?«
Dies ist das eine Erlebnis. Das andre ist folgendes. Denken Sie noch daran, wir waren zu dritt in Ihrem Musikzimmer, Sie hatten einem Freund und mir den ganzen Nachmittag vorgespielt: unbekannten Mozart zuerst, dann unbekannten Schubert, frühesten Bach, Pfitzner, alte italienische Sachen aus Steinitzers musikalischem Atlas, dann waren wir aufgestanden und wollten zusammen fortgehen, – ich weiß selbst nicht mehr, wer in diesem Augenblick den Namen Wagner aussprach, jedenfalls waren wir alle drei so unwagnerisch aufgelegt wie möglich –: kurz, Sie schlugen die Stelle auf, wo Siegfried die Brünhild vergißt (ich glaube, um die Harmonie dieser paar Orchestertakte handelte sich's), ich weiß wieder nicht, wer es war, der sagte »das ist freilich unheimlich großartig«, nur soviel weiß ich: wir blieben etwa noch eineinhalb Stunden länger bei Ihnen oben, als geplant war, in dieser Zeit schlugen Sie bald aus dem Vorspiel, bald aus der Mitte, bald aus dem letzten Akt einen genialen Einfall nach dem andern auf, wir wurden nicht müde, Götterdämmerung zu hören, und noch hernach, wie wir längst bei einem Glas Wein saßen, bei allen Vorbehalten, allen Fragezeichen, Einwänden, Instinktwiderständen kamen wir immer wieder auf seine Genialität zu sprechen, seine ungeheure, unbeschreibliche, bestürzende Genialität ...
Warum ich die beiden Erlebnisse mitteile? Sehr einfach: weil man mir vorgeworfen hat, ich kritisierte die französische Literatur aus nationalistischen Gründen – die Deutschen sind niedlich: sie haben von den Franzosen das Wort nationaliste entlehnt, um es als Schimpfwort gegen Landsleute zu verwenden –, aus einer Nachkriegs-Psychose, und was derlei Unterstellungen mehr sind. Manche Leute können sich, wie es scheint, nicht vorstellen, daß man sich über Weltliteratur genau so sachlich unterhalten kann, genau so ohne Vorurteil, ohne Schielen nach politischen Grenzpfählen, wie über Musik, oder wie man durch eine große europäische Galerie geht: unwillkürlich bleibt man in den Niederländer- und Spanier-Sälen des Louvre länger, sieht sich jedes Bild genauer an und kehrt vor allem öfter wieder dorthin zurück, als zu den Franzosen des 17. Jahrhunderts. Diese Unbefangenheit, die sich in der Beurteilung von Werken der Musik und der bildenden Kunst so von selbst versteht, daß man sich schämen würde, sie zu betonen oder gar zu verlangen, ist uns für die Weltliteratur in einer Weise verloren gegangen, daß alle Begriffe und Kriterien, die für die andern Künste zum Handwerkszeug jedes Anfängers gehören: Talent, Genie, groß, tief, fein, zart, anmutig, nett, zierlich, hübsch, Kunst, Kunstgewerbe, Musik, musiquette – daß ästhetische Wertungen als solche in der Literaturgeschichte zusehends durch den fragwürdigen Begriff einer »Einfühlung« verdrängt werden, hinter dem nichts andres steckt als unzulängliche Kenntnis des Gesamtgebiets, Mangel an Geschmack und vor allem an Mut, vielleicht auch am Recht zum Geschmack. Aber ohne diese Kriterien wird die Betrachtung der Künste zu nichts anderm als zu einem psychologisch aufgeputzten oder philologisch begründeten Feuilleton. Es scheint mir nicht überflüssig zu betonen, daß ein Unterschied ist zwischen geistreichem Literaturjournalismus, auch wenn er dicke Bücher produziert, zwischen fleißigen Seminaraufsätzen, auch wenn sie sich als Kompendien geben, und zwischen großer Literaturgeschichte, wie wir sie früher hatten, und die nur einen Standpunkt kennen darf: den der vergleichenden Weltliteratur. Eine Weltliteratur wird heute nur noch von Dilettanten in Angriff genommen: Leuten wie Pater Baumgartner, Otto Hauser, Paul Wiegler, angeblich weil von den zünftigen Literarhistorikern vor lauter Gewissenhaftigkeit keiner mehr den Überblick, in Wirklichkeit, weil keiner mehr den Blick hat. Die Vertreter des Fachs, die über mittelalterliche und nachmittelalterliche Zeitabschnitte lesen, lassen sich zählen, und gehören fast durchwegs der älteren Generation an. Männer, die französische und deutsche Literatur gleichmäßig kennen und über beide etwas zu sagen haben, wo sind sie? Der Typus Uhland scheint mit Wilhelm Hertz und Konrad Hoffmann endgültig ausgestorben. Ängstliche Arbeitsteilung feiert ihre scheinbar billigen, in Wahrheit teuer erkauften Triumphe. Der eine Umstand, daß die 7. Auflage von Hettners klassischem Werk übers 18. Jahrhundert zwischen drei Spezialisten aufgeteilt werden mußte, sollte nachdenklich machen. Schließlich erleben wir einen Neudruck, bei dem jedes Kapitel von einer andern Koryphäe verantwortlich gezeichnet wird.
Wenn man schon dem lesenden Bücherfreunde immer wiederholen muß, daß nur durch Kennenlernen der fremden Literaturen der Blick erworben wird für das Wesentliche der eigenen, nur durch Studium der älteren der Sinn für die neuere, nur durch Kenntnis der Antike das Auge für Größe, die auf sich selber ruht, so müßte sich der Literarhistoriker erst recht in jedem Augenblick bewußt sein, daß es nur eine einzige Urteilskammer gibt: das, was Matthew Arnold a European jury nennt, the only competent jury in these cases.
Um was es sich handelt, ist also genau das Gegenteil von Nationalismus. Es ist der europäische Standpunkt, von dem aus das, was an dem Werk einer Nation wirklich groß, neu, eigenartig ist, erst überschaut werden kann, und der nicht das geringste zu schaffen hat mit jener Einfühlungsvirtuosität, die heute in diesen, morgen in jenen belanglosen Landsmann oder Ausländer hineinschlüpft, um ihr orakelhaftes »Immerhin« zutage zu fördern. Es fragt sich, ob wir nur noch die Pflicht zur Einfühlung haben, oder das Recht zu einem Standpunkt. Ob wir stillschweigend jeder Literatur einen andern Prozentgehalt zubilligen müssen, dabei aber nach wie vor uns derselben Terminologie sollen bedienen dürfen. Ob es sich in der Kunst um Gold handelt, oder um Valuta. Ob wir das Recht haben, die französische Literatur ins richtige Verhältnis zur Weltliteratur zu setzen, oder die Pflicht, sie nur noch mit französischen Augen zu sehen und keine andre Meinung mehr über sie vorzubringen als, um mit Rivarol zu sprechen, l'opinion qu'elle a su donner d'elle au reste du monde.
Wenn Stendhal sein ganzes Leben lang nicht müde geworden ist seinen Landsleuten zu sagen, sie verwechselten beständig le beau und le joli, werd ich's wohl auch sagen dürfen. Und wenn die Goncourts mit ihrem bekannten Ausspruch »Der große Dichter des 18. Jahrhunderts heißt Watteau« wissen, was große Dichtung ist, sollten dann vielleicht wir für ein Jahrhundert, in dem sie keinen großen Dichter finden, einen e rfinden? Ist es wirklich ein Fehler, wenn ich bei Betrachtung der römischen Literatur nicht vergessen kann, daß es eine griechische, beim Lesen einer Nachahmung nicht, daß es ein Urbild, bei der Beschäftigung mit irgend welcher Nationalliteratur, daß es eine Weltliteratur gibt? So gern ich mich übers grand siècle von Taine belehren ließe, und über französische Literatur mit Romain Rolland spräche, weil der eine die Griechen kennt und Shakespeare, der andre Michel Angelo, Dante und die Russen, so wenig gebe ich dem nächstbesten Grammatiker, und hätte er die Wissenschaft durch eine noch so erschöpfende Zusammenstellung übers unveränderliche Partizip Präsens bereichert, das Recht mitzureden, wenn von Werten der Weltliteratur die Rede ist.
Aber vielleicht trägt es zum Verständnis meiner Bemerkungen über das Französische bei, wenn ich mitteile, wie sie entstanden sind.
Den unmittelbaren Anstoß gab die neue Auflage der französischen Literaturgeschichte von Birch-Hirschfeld, die 1913 erschien, und die ich ausführlich zu würdigen vorhatte. Eine ziemliche Menge Aufzeichnungen hatte sich zu diesem Zweck angesammelt. Als im Juni 1920 das Heft »Die Franzosen« der Süddeutschen Monatshefte fertiggestellt werden sollte, gab ich, mangels eines andern Beitrags, diese Randeinfälle in ihrer aphoristischen Urform rasch zur Veröffentlichung und meinte damit, den Gegenstand wieder auf längere Zeit beiseite legen zu können.
Das war eine Täuschung. Durch die wenn auch geringe Tätigkeit des Abschreibens und Ordnens der Notizen für den Druck war mir die Frage nach dem absoluten oder relativen Werte von Literaturen, der französischen im besonderen, in eine Bewegung gekommen, die heute noch nicht zur Ruhe gelangt ist. Es war wie ein kleiner Bergrutsch, der mit dem Abbröckeln eines unterwaschenen Steins beginnt, worauf die nähere Umgebung anfängt lebendig zu werden, abzurieseln, auszubrechen, aus der Wand zu springen, eine Fallrinne schürft sich immer tiefer und breiter, nach oben ein Rißtrichter, den immer größere Brocken und Trümmer erweitern, um sich unten zu einem immer höhern Schuttkegel zu sammeln. Jedenfalls hat die Bergwand nachher ein anderes Gesicht als zuvor.
Es zeigte sich, daß mein Glaube an den absoluten Wert der französischen Literatur, mir selbst nur zum Teil bewußt, innerlich längst erschüttert war; daß sich sozusagen unterirdisch, in aller Stille, ganz andre Wertungen herausgebildet hatten und meine Zweifel und Einwände viel radikaler geworden waren, als ich dachte. Das ganze Problem war in Fluß gekommen und ließ mich nicht mehr los. Die in zwei folgenden Heften veröffentlichten Nachträge waren nur ein kleiner Teil der Aufzeichnungen, die sich mir nunmehr von Woche zu Woche und von Tag zu Tag ansammelten.
Auch hier kann ich wenigstens ein paar der äußeren Umstände angeben, die das Problem in Fluß brachten. Einer war z. B. die neue »Schulordnung für die Höheren Lehranstalten im Königreich Bayern« vom 30. Mai 1914, durch ihre Vorschrift: »Auf jeden Fall müssen die Schüler auf der Oberstufe ein Werk von Molière, am Realgymnasium und an der Oberrealschule außerdem ein solches von Shakespeare gelesen haben.« Die naive Gleichsetzung der beiden Dramatiker gab den Anstoß, über die relativen Werte der beiden Literaturen klar zu werden, Das Ergebnis dieses Vergleichs war der Aufsatz »Englisch oder Französisch?«, den man in meinem kleinen Buche »Vom alten Gymnasium« nachlesen kann.Das bei Bruckmann (München) erschienene Buch ist vergriffen. D.H. Die Rolle, die das Französische immer noch in den Lehrplänen der deutschen höheren Schulen spielt, ist lediglich ein Beweis für die Unfähigkeit der Deutschen, sich veränderten Situationen anzupassen.
Ein weiterer Anstoß war die während des Kriegs viel erörterte Fremdwörterfrage. Ein verdienter Vorkämpfer für sprachliche Reinheit behauptete, die Franzosen hätten keine, oder jedenfalls kaum nennenswert viele Fremdwörter. Das veranlaßte mich, mein dumpfes Gefühl von Unbehagen gegenüber den sogenannten mots savants des Französischen, gegenüber seiner sprachgeschichtlichen Entwicklung überhaupt, einmal nachzuprüfen. Ein weiteres kam dazu. Seit etwa dreißig Jahren sammle ich, rein zu meinem Vergnügen, französische Volkslieder, während ich offen gestehe, daß ich zur französischen literarischen Lyrik, mit ganz wenigen Ausnahmen, nur ein literarisches Verhältnis finde. Bei diesen Volksliedern nun galt es zu sichten, zu wählen; unter zwanzig Lesarten sich für eine bestimmte zu entscheiden. In manchen Texten störte vielleicht nur ein einziges Wort: unweigerlich wars ein mot savant. Das mot savant wurde in vielen Fällen zum Prüfstein, ob ein Lied als Volkslied anzusprechen sei. In meiner Abneigung gegen die mots savants in der Dichtung befinde ich mich in bester französischer Gesellschaft. Wie gut überhaupt die französische Gesellschaft ist, in der ich mich mit meinen Ketzereien gegen die französische Literatur befinde, davon haben meine deutschen Kritiker keine Ahnung. Von der Sprache dieser Volkslieder gilt, was Léon Gautier (L. Petit de Julleville, I, 98) von der des Rolandslieds sagt: à tout le moins, elle est une, et les mots savants, par bonheur, n'y ont guère pénétré.
Die Freude am Volkslied hatte mich längst in immer frühere Jahrhunderte geführt (die hübschen Schäferreime des 18. Jahrhunderts sind alles andre als Volkslieder): ins sechzehnte, ins fünfzehnte, dessen Erzeugnisse dem heutigen Leser noch augen- und mundgerecht gemacht werden können, wenn auch mit leichten Veränderungen, ins vierzehnte, wo sich plötzlich jede Modernisierung verbietet, weil die Reimvokale nicht mehr stimmen würden, auch aus anderen Gründen. Je weiter ich zurückschritt, desto stärker war das Gefühl: Dies ist doch wirklich Lyrik, dies ist Dichtung!Die kostbarsten mir bekannten Liebeslieder gab ich in einem Privatdruck der Bremer Presse heraus: Chansons d'Amour. Weitere Sammlungen (Balladen, religiöse Lieder, Kinderlieder usw.) sind geplant. Für Auswahl und Textgestaltung kommen rein künstlerische Gesichtspunkte in Betracht, nicht sprachliche oder volkskundliche. Ich gedenke, das Geschwätz über meine nationalistische Feindseligkeit gegen die französische Literatur am zweckmäßigsten durch die Tat zu widerlegen. (Die »Chansons d'Amour« sind im Karl Rauch-Verlag neu gedruckt worden. (5. - 6. Tausend 1938.)) Was bedeutet daneben Lamartine, Hugo, selbst Musset: »Das hätte ich alles ebensogut in Prosa sagen können«, wie Heine einmal bekennt. Lyrisches Feuilleton, wie Heine selbst, Rosen auf Draht. Ich weiß nicht, für wen die Tatsache, daß Heine der einzige deutsche Lyriker ist, der in Frankreich bis zu einem gewissen Grade Eingang fand, kompromittierender ist: für den französischen Geschmack oder für Heine ...
Es wurde mir allmählich immer klarer, daß gewisse Unzulänglichkeiten der französischen Lyrik in der Sprache selbst liegen, daß insbesondere jene hohe Lyrik, bei der das Gefühl zum Gedanken, der Gedanke zum Gefühl wird, – ich denke an manche Dichtungen Goethes, an die Sonette Michel Angelos, an die großen Engländer – im Französischen unmöglich ist, unter anderm aus dem triftigen Grunde, daß die Abstrakte einer andern Sprachstufe angehören, genau genommen, sogar einer andern Sprache als alles andre. Die einschlägigen Dichtungen Hugos, um nur dies eine Beispiel zu nennen, sind für mein Gefühl nichts als hübsch gereimte Leitartikel. Aber wozu der Reim? »Das alles hätte ich ebensogut in Prosa sagen können...«
Der fortgesetzte Vergleich mit andern Literaturen ist für die französische nicht günstig. Ich kann nicht zugeben, daß man jede Literatur nur mit ihrem eigenen Maße messen dürfe. Dies scheint mir der Verzicht zu sein auf allen und jeden Maßstab überhaupt. Es muß doch, sagte ich mir, ein gemeinsames Maß geben, das sich immer und überall gleich bleibt, das überall gilt, das sich nicht wie der Zaubermantel im Märchen entgegenkommend verniedlicht, um plötzlich wieder riesengroß zu werden. Ansprüche auf absoluten Wert können überhaupt niemals historisch begründet werden. Jedem Bauern und jedem Arbeiter kann ich die Odyssee in die Hand geben, den König Ödipus, den Kaufmann von Venedig, das Nibelungenlied, den Faust, ohne jede Einleitung und Gebrauchsanweisung, er wird instinktiv fühlen, auch wenn er nicht alles versteht: Das ist groß! Bei welchem Franzosen hat er dasselbe deutliche und untrügliche Gefühl: »Das ist groß«? Ist nun »groß« ein absolutes Maß oder ein relatives? Niemals werden wir uns ein Werk von Puccini oder Massenet oder d'Albert als große Musik aufreden lassen, weil wir ganz genau wissen, was große Musik ist und was nicht. In den bildenden Künsten wird unsere Sicherheit, was diesen Punkt betrifft, von den Kunstjournalisten seit Jahrzehnten unterhöhlt, und in der Literatur scheint das Gefühl, was groß sei, weiten Kreisen völlig abhanden gekommen.
Die unlösliche Verflochtenheit von Sprache und Literatur zwang im Falle des Französischen unerbittlich von einer Konsequenz zur andern. Beides bedingt sich gegenseitig, durchdringt sich gegenseitig, beides ist schließlich eines. Ursache wird zur Wirkung, Wirkung zur neuen Ursache, Symptom zur Erkrankung, Erkrankung zum Symptom. Das Ergebnis war die Erkenntnis der Relativität des Französischen an sich, verglichen mit dem Griechischen, dem Deutschen, dem Englischen, aber auch mit dem Spanischen und vor allem dem Italienischen.
Als einzige Analogie zeigte sich die römische Literatur. Es gibt wenige Gedankenlosigkeiten, die so erkenntnislähmend wirken, wie die landläufige Gleichsetzung Griechisch und Römisch. In Wahrheit gibt es kaum polarere Gegensätze. Sie sind Antipoden in allem und jedem. Wenn ein junger Mann nicht dieses Bewußtsein an die Hochschule mit hinausnimmt, hat er das Gymnasium vergeblich besucht. Diesen Gegensatz in seiner vollen Schärfe herauszuarbeiten, diese Grundtatsache der europäischen Kultur und der Menschheitsentwicklung den Heranwachsenden zur erlebten, erschauten und erfühlten Wahrheit zu machen, scheint mir die Hauptaufgabe des Gymnasiums, das aus diesem Grunde niemals auf das Griechische verzichten könnte, ohne sich selbst aufzugeben. Umgekehrt muß es das Bestreben jeder Geistesrichtung sein, die nicht Kultur will, sondern Zivilisation, nicht Bildung, sondern Wissen, diesen Gegensatz zu leugnen, zu verwischen, das Griechische als entbehrlich, als überflüssig hinzustellen, als überholt und nicht mehr zeitgemäß, es durch irgendein anderes »Fach« – als ob es sich um auswechselbare Fächer handelte! – zu ersetzen.
Der Lehrer am Gymnasium wird, wenn er kein bloßer Fachmensch ist, durch seine Tätigkeit selbst fortwährend genötigt, die Haupterscheinungen der Kultur in bezug auf ihren Erziehungs- und Bildungswert, ihren Lebenswert abzuschätzen und zu vergleichen; er empfindet dieses Gebot stärker als der Gelehrte, der sich innerhalb seines besondern Gebiets sein eigenstes Feld absteckt, auf dem er zu Hause ist wie kein anderer, auf die Gefahr hin und um den Preis, daß sein wertendes, richtendes Organ mehr oder weniger verkümmere. Aber ich habe bereits gesagt, daß ich für die modische Laxheit der Kunst- und Literaturkritik nicht das Geringste übrig habe. Bei allem noch mitzutun, seinen Stolz darein zu setzen, daß man immer noch »mitgehen« könne, sich in das Heterogenste noch einzufühlen, Entwicklungen nicht mehr richtend zu beeinflussen, sondern sich mit ihrem Verständnisse zu begnügen, gar mit ihrer Feststellung zu bescheiden, das scheint mir eine Verwechslung von Kulturkritik mit scheingelehrtem Reportertum. Eine Wissenschaft, die sich um das Problem des Wertens drückt, die überhaupt nicht mehr wagt, Wertprobleme zu sehen, zu entscheiden, die sich nicht getraut, von Zeit zu Zeit Inventur zu machen und alle bisherigen Ergebnisse und Urteile zu revidieren, eine Literaturgeschichtsschreibung, die nie über ihren eigenen Bezirk hinausblickt und nicht den Mut aufbringt, den Wert ihrer Gegenstände, ja ihres Gegenstands, ihren eigenen, sich selbst in Frage zu stellen, erstickt schließlich in Materialsammlung und wird für die Geistesentwicklung wertlos, ja schädlich.
Fürs Französische nun ist der Augenblick längst gekommen, bei dem es ums Ganze geht. Es handelt sich darum: Ist die französische wirklich eine große Literatur? Besitzt sie wirklich die Lebenswerte, die allein es rechtfertigen, daß wir die Jugend zwingen Französisch zu lernen? Ehe ich die erste Reihe dieser Bemerkungen hinausgab, habe ich einen Augenblick gezögert, weil ich fürchtete, offene Türen einzurennen. Ich habe mich inzwischen belehren lassen, daß diese Türen noch gründlich verriegelt sind. Was der Erkenntnis im Wege steht, ist das Vorurteil von über drei Jahrhunderten, die doppelte Unwissenheit bezüglich des Begriffs der großen Literatur, und bezüglich der tatsächlich vorhandenen absolut großen Literaturen, zu denen das Französische nicht gehört. Man empört sich über meine »nationalistischen« Ketzereien, schweigt gleichzeitig tot, was ich über die römische Literatur, unterschlägt, was ich über die englische sage und über den russischen Roman. Ist es Unwissenheit oder Heuchelei, wenn man tut, als würden solche Ketzereien zum erstenmal ausgesprochen? Als zöge sich nicht durch unsere Geistesgeschichte seit beinahe zwei Jahrhunderten der Widerstand gegen die französische Literatur? Als hätte dies Problem jemals aufgehört eines zu sein?
Unsere Schätzung der französischen Literatur des 17. Jahrhunderts stand und fiel mit unserer Stellung zur römischen. Mit dem Augenblick, wo man erkannte, daß nicht Vergil der große Epiker ist, sondern Homer, nicht Seneca und Terenz die großen Dramatiker, sondern Sophokles und Aristophanes, nicht Horaz, Catull, Tibull, Properz, Ovid die großen Lyriker, sondern die Griechen, waren Corneille, Racine und Molière keine absoluten Größen mehr, sondern relative. Die zeitweilige Vorherrschaft der französischen Literatur war nur die teuer bezahlte Vermittlung eines Pseudoklassizismus, eine weltliterarische Funktion, das Mißverständnis eines Mißverständnisses. Unsere Schätzung der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts stand und fiel mit unserer Stellung zur Aufklärung. Mit dem Augenblick, wo Goethe den »Urfaust« schreibt und den »Werther«, Kant seine »Kritik«, Herder seine »Ideen«, ist das französische 18. Jahrhundert erledigt; es ist relativ geworden, oder, wenn man dies lieber hört, historisch.
Unsere Schätzung der französischen Literatur des 19. Jahrhunderts steht und fällt mit unserer Stellung zum Gesellschaftsroman und zum Gesellschaftsdrama. Mit dem Augenblick, wo man beide als Sackgassen der Kunst erkennt, nicht als absolute, sondern als relative Werte, ist das französische 19. Jahrhundert selbst relativ geworden, es bedeutet uns keinen Lebenswert mehr.
Der geltende literarische Maßstab ist, verglichen mit dem in Musik und bildender Kunst, rückständig. Der klassizistische Charakter der französischen Barockarchitektur ist ein Gemeinplatz. Wir wissen längst, daß Mansard und Perrault als Barockarchitekten nicht in Betracht kommen neben Bernini und Borromini, Schlüter und Hildebrandt, Fischer von Erlach und Balthasar Neumann. Wir wissen, daß für die große Malerei kein zeitgenössischer Franzose in Betracht kommt gegenüber Rubens, Rembrandt und den Venezianern. Ich unterlasse es, auf das Gebiet der Musik einzugehen, da ich hier lauter deutsche Namen nennen müßte, und nur deutsche, eine Feststellung, die als – nationalistisch empfunden werden könnte. Allerdings nur in Deutschland.
Wir haben unsere Anschauungen über eine Menge Dinge revidiert. Es fällt niemanden mehr ein, im Laokoon und im Apoll vom Belvedere höchste Leistungen der antiken Bildhauerei zu erblicken. Kein Heutiger sieht mehr Guido Reni, die Carracci, die Bolognesen und Eklektiker mit den gläubigen Augen, mit denen sie Goethe sah; keiner mehr Correggio mit dem sinnlichen Enthusiasmus Stendhals. Wir lächeln, wenn wir lesen: »Tout le monde prononce le nom de Carrache, c'est un de ces noms privilégiés passés presque en proverbe dans les arts pour exprimer quelque chose de grand, de beau, de noble: c'est beau comme le Carrache, c'est savant comme le Carrache« (Brief des Malers Le Carpentier an Vien, zit. bei Tietze, Methode der Kunstgeschichte, S. 55). Aber haben wir, wenn wir die landläufigen Urteile über Racine und Molière nachsprechen, das Recht zu lächeln? Dryden ist uns gar nichts, Pope nicht viel mehr, selbst Milton sicher nicht mehr das, was er noch Klopstock und den Schweizern war – sie sind relativ geworden. Sonderbar! Die Relativität von allem darf man aussprechen, nur die eine nicht: die der französischen Literatur. Leute, die sofort mit einem tiefsinnigen »Immerhin« bei der Hand wären, stellte man den Kulturwert des Christentums in Frage, rufen nach dem Schutzmann, sobald man den des Franzosentums unter die Lupe nimmt.
Was alle heutigen Literaturgeschichten, die sich auch noch auf die lebende Generation erstrecken, so trostlos macht, ist die Verwischung der Qualitätsunterschiede. Wenn Oskar Walzel meint, »daß der Wissenschaft recht viel Wichtiges über Dichter und Dichtungen zu sagen bleibt, auch wenn das Werturteil nicht den Vordergrund beherrscht« (Vorrede zu seiner neuen Ausgabe von Scherers Literaturgeschichte), so fürchte ich nur, daß auch im Hintergrunde, statt des Werturteils, nur der Wunsch herrscht, sich darum zu drücken. Ich halte im Gegenteil jede für die allgemeine Leserschaft bestimmte Literatur-, Kunst-, Musikgeschichte, die darauf verzichtet, Qualitätsunterschiede auszusprechen, sie scharf und reinlich herauszuarbeiten, für eine überflüssige Stilübung. (Von gelehrten Untersuchungen, wo der Fachmann zu Fachgenossen redet, spreche ich nicht.) Das kann unmöglich geschehen, ohne daß wir die landläufigen Urteile von Zeit zu Zeit überprüfen, ob sie auch noch stimmen, ob sie für uns noch Geltung haben. Denn wir leben, darum brauchen wir Lebenswerte. Die Geschichte vom Pyramidenweizen, der aufgegangen sei, ist ein Märchen.
Man fragt sich unwillkürlich, worin die eigentümliche Horizontverengung begründet sei, durch die sich die neuere Literaturgeschichtsschreibung, nicht zu ihrem Vorteil, von der altern unterscheidet. Ich finde zum Beispiel die Behandlung alles Nicht-Belletristischen, vor allem der Philosophie, in den meisten unserer Literaturgeschichten armselig, oder vielmehr, ich finde eine Auffassung von Literaturgeschichte armselig, die die klassische deutsche Philosophie, lediglich aus dem zwar verständlichen, aber kompromittierenden Grunde, daß sie ihr geistig nicht gewachsen ist, beiseite schiebt, wohingegen kein Literarhistoriker sich erlauben dürfte, Piaton, Lukrez, Marc Aurel, Montaigne, Shaftesbury usw. zu ignorieren, ohne sich lächerlich zu machen. Eine englische Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts ohne Carlyle, Walter Pater, Ruskin, Newman schiene mir ein Hofball ohne Fürstlichkeiten. So wenig ich mir eine deutsche Romantik ohne Schubert, Schumann, Weber, Marschner, Wagner denken könnte, ebensowenig eine französische ohne Berlioz. Die übliche Vorbildung der jungen Literarhistoriker scheint mir daher erweiterungsbedürftig. Germanistik, Romanistik, Anglistik sind brauchbare Ausgangspunkte für die ältere Zeit. Für die neuere sind politische Geschichte, Kulturgeschichte, Kunstgeschichte, Musikgeschichte, jede für sich allgemein genommen, genau so unzulänglich wie Philologie, aber sicher brauchbarer, als nur Philologie. Es handelt sich nicht um gelegentliche feuilletonistische Glanzlichter, die den sogenannten Schwesterkünsten entliehen werden. Worum es sich handelt, ist: mit der Erkenntnis, daß alle geistigen Äußerungen einer Zeit zusammengehören, Ernst zu machen; nicht die Literatur in einer Schublade einzusperren und die Philosophie in einer andern, und darauf zu achten, daß der Inhalt beider nicht durcheinanderkomme. Die Literatur ist kein Bestandteil der Philosophie, gewiß. Aber ebensogewiß ist die Philosophie ein Bestandteil der Literatur. Die Auffassung von Literatur ist seit den Tagen Hayms und Hettners sehr viel kümmerlicher und banausischer geworden. Vor lauter kleiner Literatur ist uns der Sinn für die große abhandengekommen, vor lauter Psychologie der Begriff Qualität, vor lauter Arbeitsteilung das Bewußtsein des Ganzen. Um diese lang gewordenen Betrachtungen kurz abzuschließen: Es gibt in allen Künsten, auch in der Literatur, absolute und relative Werte. Wem es paßt, seine Augen vor diesen Tatsachen zu schließen, der tue es. Ich werde mich mit ihm allenfalls über den Postillon von Lonjumeau unterhalten, jedoch nicht über Pfitzners Armen Heinrich.