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Dass ein solches Wesen an einem bestimmten Tag eines bestimmten Jahres gestorben ist, und daß dieser Tag im Ring des Jahrhunderts wiederkehrt, beleuchtet uns grell das Paradoxe unseres Verflochtenseins mit dem hinter uns Liegenden, das wir mit dem Namen »Geschichte« verdecken. Einerseits ist es abgetan wie Sesostris oder Dschingiskhan, andererseits gegenwärtig, sogar leiblich in gewissem Sinne.
Er ist das letzte große europäische Phänomen. Denken wir ihn gelegentlich in geistigen Zusammenhängen, wie Menschenalter, Jahrhundert, so wird nicht er, aber unser auf ihn bezügliches Erlebnis der letzten hundert Jahre – denn die letzten hundert Jahre gehören geistig noch zu unserem Leben – durchsichtig.
Vor siebzig, achtzig Jahren war die europäische Phantasie von ihm erfüllt, aber noch ganz in der Region der Sympathie und Antipathie. Der größte Teil der Franzosen und ein sehr großer der Deutschen, überhaupt die Liberalen aller Nationen standen zu seinem Bilde in einem sentimentalen Verhältnis; er war das Objekt ihrer Sehnsucht, so äußerst unliberal, ja in gewissem Sinne ein Verächter des Liberalen er auch wieder gewesen war. Das Sentimentale schlug sich nieder in unzähligen Anekdoten, zum Teil in Gedichtform. Die Figur des kleinen Korporals, die Lieder von Béranger gehören hierher. Mit allem, was mit ihm irgendwie zusammenhing, wurde ein Kult getrieben: mit seinem Sohn, dem Herzog von Reichstadt, so gut als mit seinem kleinen dreieckigen Hut. Das Bild des gefangenen Adlers, der mit Zorn und Verachtung in die Stäbe seines Käfigs beißt, grub sich in Millionen Köpfe. Die Überführung der Leiche von St. Helena nach dem Invalidendom war für halb Europa eine Emotion, nicht den historischen Sinn, sondern das Gemüt aufregend; es ging nicht um einen Toten, sondern um eine noch lebende und wirkende Macht. (Das zweite Kaiserreich war die Umsetzung dieses Geistigen in Realität, bis zur Karikatur.) Demgegenüber steht in den gleichen Dezennien die Herabwürdigung und gewollte Kälte der Engländer, wie sie kulminiert in der Napoleonbiographie von Walter Scott. Aber Goethe war groß genug, gleich nach dem Sturz zu sagen: Laßt mir meinen Kaiser in Ruh! und Byrons Haltung war von Anfang an so wie allem Großen gegenüber; er hatte das Organ dafür.
Vor fünfzig Jahren rückte die Gestalt für die Gebildeten aus dem politisch emotionellen Bereich in das der analytischen Forschung. Man beleuchtete seine Abstammung, brachte ihn mit Italien und der Renaissance in näheren Zusammenhang. Er sei von Haus aus ein Kondottiere, durch Verkettung von Umständen erst im XVIII. Jahrhundert hervortretend, mitten in eine welthistorische Krise, die er mit Kälte und Überlegenheit behandelt, wie eine Stadtkrise des XVten. Zugleich wird die Besonderheit seiner Konstitution auseinandergelegt, das stupende Gedächtnis, die Willenskraft, die Fähigkeit, alle seine Kräfte zu kommandieren; daß er eine Angelegenheit mit völliger Drangabe seiner Kräfte behandeln, dann den ganzen Komplex wie in eine Lade legen, die Lade zustoßen, eine andere aufziehen kann; dies alles, so oft er will und immer wieder, ohne Ermüdung. Aber wozu das? Gerade was der Analyse und Interpretation widersteht, bei ihm wie beim Feuer und beim Wasser, davon geht die Gewalt über die Seelen aus. Was sich von ihm eigentlich erhält, ist eine magische Gegenwart. Er ist eines der wenigen Individuen, die von unzähligen Menschen auch heute noch körperlich vorgestellt werden, und zwar eindrucksvoller und genauer, als man meistens die Mitlebenden vorstellt. Von seiner körperlichen Erscheinung sind zwei Bilder fortwirkend. Das eine mager, mit römischem Profil, brennenden Augen, wirrem kurzem Haar, unzählig oft gemalt und idealisiert zum Typus des jungen Genius der Tatkraft und Herrscherschaft. Das andere noch wirklicher, aus den späteren Lebensjahren (aber er war noch nicht sechsundvierzig, als er von der Weltbühne abging), gedrungen, feist, die Gesichtsfarbe gelblich ungesund; das Auge verhältnismäßig klein im gefüllten, undurchdringlichen Gesicht, aber der Blick von rasender Kraft, wenngleich eiskalt; die Stirne immer gespannt, wie in Zorn oder Ungeduld; die Arme gewaltsam ruhig gekreuzt über der von riesenmäßigen Spannungen erfüllten Brust: die ganze Erscheinung beinahe bürgerlich, ganz unromantisch, scheinbar höchst faßlich, in Wirklichkeit aber unzugänglich, – der Analyse widerstrebend, ganz unmittelbar – außer eben durch die Vision. Das eigentlich Treibende, das, wovon im Innern dieser Erscheinung die Seelenlampe sich nährt, kaum mehr erratbar. Denn der Ruhmsinn ist spürbar schon aufgezehrt; eine schneidende Weltverachtung, beständige Gereiztheit, furchtbare Anspannung spricht aus jeder Äußerung; der innere Zustand scheint eine Art luziferischer Verzweiflung, balanciert durch ungeheure, noch immer unerschöpfte Kräfte des Planens und Handelns.
Das Verhältnis der tausend Einzelnen, die eine solche Figur in sich tragen, zu diesem auf nicht mehr vorhandener Wirklichkeit beruhenden Phantasiebild ist kaum auf klärbar: die Emotion, die davon ausgeht, zwischen Schauder und, trotz allem, Liebe; magischer Hingezogenheit und Sich-geschlagen-Fühlen; das ganze Verhältnis des modernen Menschen zu einer aktiven mythischen Gestalt. Der Kern davon, wenn wir eindringen, ist dieser: wir ahnen eine der größten Verwirklichungen des Individuums im okzidentalen Sinn: als Fusion des Fatalen (nicht des Ideellen) mit dem Praktischen. Insofern ist er, wie wenige, von beiden Hemisphären des europäischen Daseins aus gleichzeitig zu gewahren: von der praktisch-politischen und von der geistig-kontemplativen. So wird er, und gerade auch dem Orient gegenüber – und insbesondere gegenüber dem europäischen Orient, das ist Rußland –, zum Sinnbild des europäischen Titanischen und wirklich »quasi Alexander redivivus«. Das von der Renaissance Gewollte, von Wesen wie dem Hohenstaufer Friedrich II., Dante, Lionardo, Michelangelo teils Gelebte, teils Geahnte wird noch einmal Gestalt, das heißt geschichtliche Wirklichkeit und Sinnbild zugleich. Im Sinnbild ist alles beisammen: Allmacht und Sturz, wunderbar Praktisches und fast wahnsinnige Überhebung. Das fasziniert das tiefste Europäische in uns, das auf höchste Anspannung, ja bewußte Überspannung der individuellen Kraft hinauswill, nicht eigentlich am Einzelnen und Praktischen hängt, es aber auch nicht, wie der Orientale, verachten und aus dem Spiel lassen will, sondern es zu unterjochen und einem großen, bis ans Transzendente streifenden Plan unterzuordnen strebt.
Darum, weil er Symbol des handelnden europäischen Individuums ist – oder wie Goethe es ausdrückt: Kompendium der Welt –, geht er jeden an, der handelt oder zu handeln glaubt; darum ist auch jedes neue Detail merkwürdig, das von ihm bekannt wird, und wird begierig aufgenommen. Das Detail hat immer den ungeheuren Hintergrund des Ganzen: worin wir im Wesentlichen das gleiche Ganze, aus Ideen und praktischen Widerständen gemischt, erkennen, mit dem wir als Individuen zu ringen haben. Am ergreifendsten wirkt dann ein Ausspruch wie etwa dieser, getan auf dem Krankenbett, wenige Wochen vor seinem Tode: »Zu denken, daß es mich jetzt mehr Willenskraft kostet, das eine meiner Augen aufzumachen, als früher einmal eine offene Feldschlacht zu liefern.« Man spürt, daß das wörtlich wahr ist, und es wird einem schwindlig, wenn man sich diesen Abgrund von Kraft und Schwäche im Individuum vereinigt vorstellt.
Verstärkend tritt hinzu, daß er, wenn auch aus einem alten Geschlecht, doch aus ganz bürgerlichen Verhältnissen hervorkommt, dies etwa gegenüber Friedrich dem Großen. Der Artillerieleutnant, der in kleinen Garnisonen von der Besoldung lebt und mathematische Bücher studiert: von dieser Basis aus geht es dann ins Ungeheure; und es ist die Basis von immer wieder Millionen Existenzen junger Leute. Er ist nicht zunächst ein übernatürlicher Mensch. Die riesige Willenskraft, die magischen Zwang um sich verbreitet, offenbart sich erst allmählich an den Aufgaben. In gewissen neuen Situationen ist er unsicher, beinahe ängstlich, macht Fehler. (Die Einzelheiten des achtzehnten Brumaire sind in dieser Beziehung erstaunlich.) Der ungeheure Spielersinn entfaltet sich nach und nach, ganz begreiflich aus der mathematischen Anlage. Dazu kommt, als Ausgleich, eine wunderbare Gelassenheit Menschen und Verhältnissen gegenüber. Goethe vergleicht ihn einem Juden mit einem Probierstein in der Hand, der ganz kalt und ruhig auf alles zugeht, es mit einem Strich prüft, ob es Gold, Silber oder Kupfer. Er taxiert die Objekte, auch die ideellen, schwer zu durchschauenden Mächte, durchschaut sie, meistert sie: er gebraucht sie, aber er hängt nicht ab von ihnen. Jedes schwächere Individuum braucht Dinge oder Komplexe, die ihm aufhelfen, weil es immer wieder sich von sich selbst verlassen fühlt. Das ist seine Lage nicht. Er hat die Herrschaft über sich selbst; das ganze Wesen bleibt immer von einem Punkt aus zusammengehalten. Er kommandiert seinen Körper, sein Gedächtnis, seine Geduld, seinen Zorn. Denkkraft und Wille marschieren vereint. Jeder könnte so sein, fast niemand ist so.
Das eigentlich Singuläre aber ist dies: neben dem ungeheuren bon sens geht ein ungeheures Ernstnehmen der eigenen Pläne und der dahinter stehenden eigenen Person, das direkt ins Mystische führt. Hier sind wir mit einem Schritt durch den Erdmittelpunkt hindurch in die unserer normalen Welt entgegengesetzte Region gedrungen. Denn was wir die normale Welt nennen, ist die Welt der Selbstsucht, die aber bei wachsender Klarheit der Selbstironie umschlägt, weil früher oder später die Umstände übermächtig werden. Er aber kennt keine Übermacht der Umstände. Grenzenlos im Auf-sich-Nehmen von Entscheidungen, empfindet er sich selbst als Fatum gebend und kein Fatum empfangend. Goethe, der alles sah und verstand, hat auch dies gesehen und mit der größten Klarheit noch bei Jenes Lebzeiten ausgesprochen: »Bildet euch nur nicht ein, klüger zu sein als er: er verfolgt jedesmal einen Zweck; was ihm in den Weg tritt, wird niedergemacht, aus dem Wege geräumt, und wenn es sein leiblicher Sohn wäre. Er liebt alles, was ihm zu seinem Zweck dienen kann, so sehr es auch von seiner individuellsten Gemütsstimmung abweicht. Daher kommt es auch auf eins hinaus, ob man von ihm geliebt oder gehaßt wird. Er lebt jedesmal in einer Idee, einem Zweck, einem Plan, und nur diesem muß man sich in acht nehmen in den Weg zu treten, weil er in diesem Punkt keine Schonung kennt.« Das gleiche in lapidarer Kürze spricht er selbst aus, in dem Erfurter Gespräch mit Goethe, wenn er die Poetisierung des Schicksals durch die neuen Dichter als schwächlich und unwahr ablehnt. »Es gibt kein Schicksal, die Politik ist das Schicksal.« (Als Zentrum dieses Schicksals versteht er sich selbst, das ist sous-entendu.)
Hier geht er über das Europäisch-Individualistische, über das, was die Renaissance aus zwei Zeitaltern, deren Erbe sie eins ins andere geschlagen hatte, ausdestilliert hat, hinaus: in der Kraft, nicht in der Richtung. Etwas davon ist in uns allen. Das Menschliche und das Unmenschliche – das über die Menschen Hinweggehende – liegt in uns, als Antrieb oder Versuchung: welche Gewalt es gewinnen kann und in welchen Grenzen, das ist das moralische Hauptthema unserer Existenz. (Goethe stellte Napoleon aus der Welt der Moralität hinaus unter die großen physischen Ursachen.) Darum sehen die großen Russen, Tolstoi und Dostojewski, in ihm schlechtweg den Wirbel des Daseins. Seine Figur ist geradezu der Angelpunkt, um den ihr Dasein sich dreht, sofern es sich auf das Okzidentalisch-Europäische bezieht. Sie nehmen in einer großartigen Weise den Gedanken auf, der sich unter seinen Zeitgenossen festsetzte, als die ganze Wucht eines solchen Wesens auf ihnen lag: er sei dem Antichrist der Offenbarung Johannis gleichzusetzen. Damit machen sie ihn zum mythischen Träger dessen, was ihnen feindlich erscheint: des europäischen Okzidents. Der Feldzug von 1812 ist dann der Versuch, diesen, mit zusammengeballter Heereskraft und Technik in sich, dem europäischen Orient aufzudrängen, und dessen Abwehr durch Naturmächte: also ein großer mythischer Vorgang. – In dem Maße demnach, als wir uns europäisch orientalisieren würden, würde sein Bild verblassen, wofern ein neuer okzidentalischer Europäismus entstünde, würde es lebendig bleiben. Denn die mythischen Figuren sind gleich den Sternbildern: sie zeigen durch ihr Aufsteigen und Absinken den Wechsel der Zeit.
Für uns, die wir zwischen den Zeiten hängen, ist er ein ungeheures Sinnbild und kein Monstrum, wenngleich außerhalb der Sittlichkeit stehend. Wesen solcher Art wecken in uns ein Gefühl, das in keine der Kategorien paßt. Sie reinigen aber und stärken auch, indem sie etwas in uns berühren, das tot liegt und von keinem analytischen Denken berührt wird; nur die höchste, seltenste Synthese, vollzogen in der lebenden Gestalt, rührt uns ins Mark. Je nach der Glaubenskraft des Gemütes offenbart sich dann hinter dem Seltensten selber noch ein Höheres, Letztes, Absolutes, und die Seele beugt sich vor dem Höchsten, » der sich einmal von allgewaltiger Geisteskraft grenzlose Spur beliebte«.